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Else ist eine Frau, die wir von all ihren Seiten kennenlernen dürfen: als sudetendeutsches vertriebenes Kind, bei ihrem sozialen Aufstieg, der angeblich nur ihrem Ehemann Willy zu verdanken ist, und bei ihrer emotionalen Emanzipationsreise, als sie entscheidet heimlich einen Taxischein zu machen. Sie fährt uns stolz, fein und modern durch die Frankfurter Nächte der Sechziger- bis Achtzigerjahre und parkt uns in einer berührenden Szenerie an der Côte d'Azur, wo sie mit ihrer Enkelin auf eine letzte große Reise geht. "Frauen wie Else motivieren nicht nur, sie treten uns regelrecht in den Hintern. Aufstehen und das Glück anpacken!" Kerstin Weng, Vogue Inklusive QR-Codes mit multimedialen Inhalten und zeitgeschichtlichen Hintergrundinfos
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Seitenzahl: 328
Veröffentlichungsjahr: 2025
Jasna Fritzi Bauer / Katharina Zorn
Roman
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Titelseite
Über Jasna Fritzi Bauer / Katharina Zorn
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Katharina Zorn, geboren 1992, ist eine Künstlerin, Autorin und Filmemacherin aus Frankfurt am Main. Nach ihrer Karriere im Bereich Visual und Display Art widmete siesich multidisziplinärer Kunst. Ihre Arbeiten beginnen stets mit einem poetischen Ansatz und werden mit einem haptischen und digitalen Element vollendet. Sie kreiert sozialkritische Projekte wie HEUTESCHREIBEICH und arbeitet gemeinsam mit Jasna Fritzi Bauer als Regisseurin und Drehbuchautorin. Alle Arbeiten sollen einen full circle moment erleben, wie dieses Buch. Es begann mit einem Gedicht, dazu kam ein gesellschaftskritisches Thema, und es wird durch ein filmisches Element, die QR-Codes, abgerundet. Katharina Zorn lebt in Berlin und auf Mallorca.
Jasna Fritzi Bauer, geboren 1989, begann 2008 ihr Studium an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin. Im Anschluss wurde sie an das Wiener Burgtheater engagiert, von 2012 bis 2015 gehörte sie dort dem festen Ensemble an. Die Film- und Theaterschauspielerin war in diversen TV- und Kinoproduktionen zu sehen. Bauer wurde für ihre Arbeiten im Film mehrfach ausgezeichnet, wie z.B. mit dem Bayerischen Filmpreis, dem New Faces Award und dem Max Ophüls Preis. Gemeinsam mit Katharina Zorn arbeitet sie als multidisziplinäre Künstlerin an verschiedenen Projekten.
zur Kurzübersicht
Else ist eine Frau, die wir von all ihren Seiten kennenlernen dürfen: als sudetendeutsches deportiertes Kind, bei ihrem sozialen Aufstieg, der angeblich nur ihrem Ehemann Willy zu verdanken ist, und bei ihrer emotionalen Emanzipationsreise, als sie entscheidet heimlich einen Taxischein zu machen. Sie fährt uns stolz, fein und modern durch die Frankfurter Nächte der Sechziger- bis Achtzigerjahre und parkt uns in einer berührenden Szenerie an der Côte d’Azur, wo sie mit ihrer Enkelin auf eine letzte große Reise geht.
»Frauen wie Else motivieren nicht nur, sie treten uns regelrecht in den Hintern. Aufstehen und das Glück anpacken!« Kerstin Weng, Vogue
Inklusive QR-Codes mit multimedialen Inhalten und zeitgeschichtlichen Hintergrundinfos
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Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KGBahnhofsvorplatz 150667 Köln
© 2025, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Kosmos Design, Münster
Covermotiv: © Vintage Cars & People
ISBN978-3-462-31178-5
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Motto
Motto
Prolog
Alles noch da
Plopp, Plopp, Plopp
Vive la France
Match Day
Louise
Haselnussbrand und Doppelkopf
Zwischen den Noten der Zeit
Le Smoking
Ich Cannes net mehr
Druck raus, Zündung an
Monaco
Brodelnder Teer
Austern und Champagner
Ende der Scharade
Irgendwo brennt immer Licht
Kollaps
Königin der Nacht
Immer träumen oder immer leben?
Valentinstag
Bis bald
Hinweis
Danksagung
Für euch,
die Frauen von gestern,
die Frauen von heute,
die Frauen von morgen.
Als ich dich das letzte Mal sah, fragte ich mich, ob du mich eigentlich kennst, als ich die Treppen hinunterlief, drehte ich mich um. Ich setzte mich ins Auto und drehte mich zu dir, winkte und hoffte, du würdest mich sehen. Da wusste ich nur nicht, dass es das letzte Mal sein würde, dass wir uns sahen, ich wusste aber: Es war der Tag, an dem wir uns kennenlernten.
Ab da warst du für mich nicht mehr Oma Else, Elschen, das Elschen, ab dem Moment warst du für mich Elisabeth, eine Frau, die ich gerne kennenlernen würde.
Eine Frau, die ich erst bewundern lernen durfte, als du es wolltest. Als es eben so weit war. Ich danke dir.
Stell dir vor, wir sitzen in einem Zug
und begegnen uns das erste Mal.
Stell dir vor, du verliebst dich in mich,
in einen Menschen, den du nie zuvor gesehen hast.
Und dann fragst du mich: Freust du dich auf die Ankunft?
Der Weg ist geplant, das Ziel ist bestimmt.
Wer wolltest du sein, als du noch warst?
Content 1
2020
Sie starren in dieses Loch. Wie zwei neugierige Tiere stehen sie vor dem fast perfekten Rechteck des Eingangs zum Orakel von Delphi. Schön wär’s. Ob sich darin auch so viel Weisheit versteckt? Es ist fraglich. Zumindest darf man das infrage stellen, denn es ist viel passiert. Viel Fragliches, Wildes.
Zurück zum viel zu ordentlich gebuddelten Loch, das viel zu tief ist, um nur ansatzweise auf den Grund schauen zu können. Zumindest stelle ich mir das so vor. Denn ich wäre lebensmüde, bis an die Kante des Abgrunds zu gehen, nach Narnia, ans Ende der Welt, den Eingang zum Paradies, und genau in dem Moment, in dem ich mich in der Philosophie vom Beginn und dem Ende verliere, erheben sich – Achtung! – ihre Köpfe. Sie schauen sich um und beobachten die Szenerie. Manch einer scheint beeindruckt von dem Werk, mehr von Flora als von Fauna vermutlich. Manche kennen den Anblick schon sehr gut, sind eher gelangweilt. Kommt ja öfter vor in letzter Zeit. Ein bisschen wie ein Unfall, man will nicht hinsehen, muss aber. Es ist unangenehm. Die meisten würden jetzt aber auch gerne fragen: Na, wie fühlt es sich an? Da unten. In dem Loch. Das fragen sich vermutlich auch die beiden Köpfe neben mir, die nun wieder den Blick von der aufregenden Menge ins noch tristere Loch schweifen lassen.
Der eine Kopf gehört zu Marta, der andere gehört zu Antje, meiner Mutter. Marta war die beste Freundin meiner Großmutter. Sie ist Teil der Familie und wird von meiner Generation, auch wegen ihres Humors, als lebende Legende bezeichnet. Sie ist zierlich, meine Oma hätte gesagt ein Rippchen. Ihre schwarzen Haare, die sie heute färbt, unterstreichen ihr markantes Gesicht und lassen ihre grünen Augen noch mehr strahlen. Plötzlich werde ich nach vorne geschoben. Aha, wegen meines aufdringlichen Großcousins hinter mir trete ich nun doch an den Abgrund. Ah, gar nicht so tief wie gedacht, aber immer noch gruselig. Wenigstens bekomme ich jetzt das vermeintliche Geflüster der beiden neugierigen Damen mit, denn wenn Marta ihr Schlappmaul öffnet, ist eine gute Unterhaltung garantiert.
»Weißt du, was das Schlimmste am Totsein ist?«, sagt meine Mutter dramatisch zu Marta, die sich gerade angestrengt ihren Pelzmantel zurechtrückt.
»Nein. Offensichtlich nicht?«, blafft Marta trocken zurück.
»Du kannst nicht mehr für dich einstehen. Du kannst dich für deine Taten nicht mehr rechtfertigen. Du kannst dich weder entschuldigen, noch kannst du dich um Wiedergutmachung bemühen.«
Marta schaut Mama entgeistert an und kontert.
»Ja, und weißt du, was noch schlimmer ist? Wenn du nie für dich eingestanden bist.«
Meine Mutter blickt irritiert zu Marta, dann zu mir, und ich leite den Blick direkt weiter in den noch dramatischer anmutenden Himmel. Das Wetter passt zu diesem traurigen Tag; es ist kalt und feucht, ein typischer Herbsttag eben. Ich hoffe, ich sterbe im Sommer, oder will man es so apokalyptisch?! Bis ich sterbe, ist wahrscheinlich jeden Tag Sommer, auf der ganzen Welt. Okay, Emma, komm von der Gen-Z-Wolke herunter, es geht heute nicht um Klimakrise oder Weltfrieden. Es geht um Tante Britta und die ist tot.
Der Friedhof ist überschaubar. Ein Dorffriedhof, direkt neben einem Rapsfeld und einer Apfelbaumwiese. Ich folge den Augen meiner Mutter, wie sie den wahrlich übertriebenen Blumenschmuck fixiert, wohl gemerkt, am noch nicht mal vorhandenen Grabstein, also am Holzkreuz. Ich weiß genau, was sie denkt und was sie da macht, sie urteilt genau wie ich. Die Anzahl der Gäste passt nicht wirklich zu den vermeintlich mitgebrachten Kränzen. Die Gäste passen auch nicht zu den Widmungen auf den Kränzen. Eigentlich passt hier gar nichts zusammen. Ist es nicht immer so: Die, die am meisten weinen, zusammenbrechen, die standen der gestorbenen Person am nächsten? Das Gute ist, dass wir drei mit der Verstorbenen nicht verwandt oder verschwägert sind. Das bedeutet, nachdem wir kurz Front-Row-Luft geschnuppert haben, dürfen wir uns wieder in die dritte Reihe zurückziehen, samt Martas Mann Richie. Marta sieht sich um. Alles wird aufgesaugt, um später auf dem Rückweg feinst säuberlich auseinandergenommen zu werden. Neben den falschen Tränen wird die meiste Zeit des Gesprächs wohl die Kleidung der Leute in Anspruch nehmen. Ein ganzes Leben wurde doch generationsübergreifend beigebracht, dass es für jeden Anlass eine Kleiderordnung gibt. Zumindest in dieser Blase zwischen Altkanzler-Attitüde und intellektueller Elite. Auch an die Alternativen wie mich oder »Linksradikalen«, wie sie wahrscheinlich sagen, wurden diese Gesetze weitergereicht, was nicht bedeutet, dass das jedem gefällt.
Schon allein der Fakt, dass meine Mutter sich im Gegensatz zu den jungen Leuten, die hier in Jeans und Turnschuhen auftauchen, in ihre unbequemen Pumps zwängt, und das, obwohl sie sowieso schon 1,80 Meter groß ist, sich ihre langen blonden Haare stundenlang geföhnt hat, nur damit sie jetzt bei dem Ekelwetter wieder ruiniert werden, regt die Leute auf. Wenn wir uns hier umschauen, ist keine klare modische Linie zu erkennen. Vom recycelten Kommunionanzug der Enkel, dem Uralt-Pelz der feineren Damen, Regenjacken über Polohemden, Cord- und Chinohosen bis hin zum Wollsocken, Leggings und orthopädischem Schuh – hier ist alles dabei. Nicht zu vergessen das sexy Kleid mit Spitze der Großcousine. Hauptsache schwarz. Vorne rechts direkt hinter der Verwandtschaft steht einer der schickeren Sorte. Er muss sich anscheinend seines Platzes bewusst sein. Ihm ist die Hierarchie der Trauergemeinde bekannt. Herr Ackermann. Marta beschrieb ihn immer als »En klaaner Uffgestumpter«. Ich finde »Gockel« sehr passend. Mit schütterem Haar und silbernem Schnörres. Er trägt außerhalb des Tennisplatzes ausschließlich Maßanzüge. Der Herr Wichtig eben, wie alle ihn hinter seinem Rücken heimlich schimpfen. Viele von ihnen sind da. Viele Frau und Herr Wichtig. Diese Leute, die wichtigen. Das sind nicht die, die anderthalb Stunden vor Beerdigungstermin in den Blumenladen rennen – so wie meine Mutter –, um nach einem sehr, sehr schönen, aber auch sehr, sehr günstigen Kranz zu fragen. Nein, diese Leute sind aber auch nicht die, die sich einen inspirierenden Spruch einfallen lassen, um ihn hier kurz aufzusagen. Manchmal heißt die Rettung natürlich Ehefrau. Von Beruf leidenschaftlich, ja, die gibt es auch, Hausfrau und Lebensmanagerin. Die ein oder andere hat die Muße, Rilke-Bände herauszukramen und die Person mit einem schönen Gedicht, selbst wenn fast unbekannt, auf ihre letzte Reise zu entsenden.
Die Ehefrau hat direkt bei der Benachrichtigung über den Tod der lieben Bekannten die Nachbarin angerufen und gefragt, ob sich die eine Familie mit der anderen zusammentut und gemeinsam einen schönen, aber nicht zu teuren Trauerkranz mit der Aufschrift Ruhe in Frieden oder Als letzter Gruß besorgt.
Meine Aufmerksamkeit wandert zu einem der einfallsreicheren Kränze. Eine riesige rosa Schleife und die Aufschrift: Im Glauben an das ewige Leben und unsere ewige Liebe.
Andere Aufschriften lauten: Dein Wille geschehe, Für immer dein. Auf dem mit den roten Rosen steht natürlich: Für dich soll’s rote Rosen regnen. Könnte der wohl von Herrn Ackermann sein? Meinen angewiderten Blick teile ich mir mit Marta und ich weiß, dass wir einer Meinung sind. Nur meine Mutter blickt etwas naiv in Richtung Kranzmenge und sagt: »Schön haben sie das aber gemacht. Das Grab, die Blumen, die Musik …«
»Hat sie sich vermutlich noch selbst ausgesucht«, unterbricht sie Marta.
»Meinst du, die Tante Britta hat sich das hier alles selber ausgedacht? Hmm. Schön.«
Marta lächelt.
»Pff, die Tante Britta. Die hat sich doch immer genommen, was sie wollte!«
Die Augen meiner Mutter schwanken verwirrt zwischen links und rechts und irritiert von Martas herrischem Ton zieht sie die Augenbrauen hoch.
»Meine Damen, es wäre angemessen, den Moment der Stille zu nutzen, um Frieden mit sich und den Toten zu schließen?!«, ruft der Pfarrer den beiden mahnend zu.
»Mein ganzes Leben war ich still!«, sagt Marta laut und haut ihrem Mann Richie mit dem Gehstock gegen die Wade.
Ich persönlich empfand Richie als Kind immer recht gruselig, da ihm der linke Zeigefinger fehlt und er generell nicht der sympathischste Zeitgenosse war.
»Marta! Was soll das?«
»Kannst du dir aussuchen, für was das war!«
Ich bin irgendwie nur noch peinlich berührt.
Nacheinander werfen die Gäste der Trauergemeinde Blumen in das Grab und verabschieden sich. Die Stimmung ist jetzt endlich intim, ruhig und traurig.
Wie immer, wenn jemand geht, stellt sich die Frage, was die Person hinterlassen wird. Nicht in Bezug auf das materielle Erbe, sondern eher das geistige, emotionale. Wer ist am Ende da zum Trauern? Zeig mir deine Freunde und ich sag dir, wer du bist. Zeig mir, wer du warst, wenn überhaupt noch jemand da ist, der über dich sprechen kann.
Hier ist es gerade ganz schön still. Antje lässt ihren Blick über die Traube von Menschen schweifen. Es sind viele. Also ein Zeichen dafür, dass Britta beliebt war. Hier sind auch viele Tränen. Die Britta, sie wurde auch geliebt.
Jetzt ist es vollbracht. Die Menge zieht am Grab vorbei, Richtung Ausgang. Es ist ein ganzes Stück bis zum Parkplatz, er führt durch das kleine Feld am Waldrand. Entlang des Weges gibt es einen Eingang, wie ein Tor, einen Pfad, der in den Wald hineinführt, so dunkel und irgendwie so wunderschön beruhigend. Ich sehe mich hier als kleines Kind voller Neugier hineinrasen, mit blindem Vertrauen. Augen auf und rein. Ich sehe mich als Jugendliche mit vollem Kopf und rasendem Herzschmerz in dieses Tor flüchten. Ich sehe mich heute, als erwachsene Frau, stolz hineinlaufen, wissend, dass es etwas mit mir machen wird. Also gehe ich hinein, kapsele mich kurz von der Gruppe ab. Am Ende des Pfades steht eine Bank, fest verankert im Erdboden. Diese Bank, dieser Rückzugsort. Dass er immer noch da ist, ist schön. Ich setze mich. Es fühlt sich an wie früher. Ich schließe die Augen, die Töne sind noch gleich, es riecht nach Tanne und Fichte, ich fahre mit den Fingerkuppen über das moosige, wellige Holz, alles ist wie immer. Ich spüre: Du bist auch noch da, Oma. Ein paar Momente vergehen, bis ich wieder in meinen Körper zurückfahre, aufstehe und mich auf den Weg zum Parkplatz begebe, wo meine Mutter und die anderen sich schon verabschieden.
Ich schüttele Richie ordentlich die Hand, verabschiede mich herzlich von Marta, Mama drückt sie noch einmal ganz fest, sagt: »Oh je, das war’s dann jetzt wohl. Meine Lieben, wir sehen uns dann hoffentlich ganz bald wieder.«
»Mal gucken, ob ich dann noch sehen kann«, knurrt Marta zurück. Mama lächelt. »Ach Marta … Auf Wiedersehen!«
Dann gehen wir zu unserem Wagen, steigen ein, schnallen uns an, Mama nimmt sich einen Moment, atmet ein, atmet aus und steckt den Zündschlüssel ins Schloss. Der Motor startet, sie wirft noch einen Blick in den Rückspiegel, ich drehe mich um und wir sehen Marta, wie sie dem gebrechlichen Richie ins Auto hilft. Ein dolles Bild. Und dann fahren wir langsam los. Der Friedhof liegt in einem Vorort von Frankfurt, wo wir leben. Ich bitte Mama, das Radio einzuschalten. Ein tiefer Bass wummert durch die Boxen des alten BMW-Cabriolets. Beim Refrain »Stand by me« packt es mich dann und ich muss ein bisschen mitträllern. Alles fühlt sich heute an wie in Zeitlupe. Wir fahren die endlos scheinende Landstraße entlang. Es ist malerisch, die Bäume im Herbst, fast selig. Endlich an der Stadtgrenze angekommen, halten wir an einer Ampel. In Gedanken versunken starrt meine Mutter in das rote Licht. Ich denke, die Beerdigung hat sie doch trauriger gemacht, als sie erwartet hatte. Wir sind beide wie in einer Blase, wollen die vergangene Zeit noch nicht verlassen, sind noch nicht bereit für die Realität. Die Ampel schaltet auf Grün, meine Mutter reagiert nicht.
»Mama, es ist grün!« Sie reagiert immer noch nicht, starrt aus dem Fenster, als wäre sie vom Blitz getroffen worden. »Mama, was ist mit dir?« … Ihre Augen glänzen. Weint sie, was ist das? Freude, Trauer, wohin starrt sie denn da? Ich sehe aus dem Fenster und entdecke das Schild, das Schild zum Tennisplatz des TV 1923, der Verein, in dem unsere Familie so viel Zeit verbracht hat. Ich auch, auch wenn ich mich nur an einige Tennisstunden und nostalgisch schöne Momente mit meinen Großeltern erinnern kann.
»Hast du ’nen Schlaganfall? Irgendwas ist doch!« Mama antwortet nicht. Ich lege meine Hand auf ihre Schulter. Vielleicht geht ihr die Beerdigung doch näher, als sie behauptet hat. Vielleicht denkt sie auch an die Beerdigung von Oma Else, oder warum starrt sie so in Richtung Tennisanlage?
1968
Content 2
Heute ist Samstag. Es ist früh am Morgen. Vorsichtig schleicht Else, noch in ihrem Nachthemd gekleidet, aus dem Schlafzimmer durch den Flur der Sozialbauwohnung in die Küche. Leise geht sie an den Herd und setzt Wasser auf. Dieser eine Kaffee in der Stille, der soll ihr noch gegönnt sein, bevor der ganz normale Samstagswahnsinn losgeht. Sie schüttet das kochend heiße Wasser aus dem Topf in die schon am Abend vorbereitete Tasse mit dem Instantkaffee. Die kleinen braunen Krümel lösen sich auf. Ein Schuss Milch obendrauf, aber nur ein ganz kleiner, so mag sie ihren Kaffee am liebsten. Langsam lässt sie sich auf die Sitzbank am Tisch sinken und nimmt genüsslich einen Schluck. Wie schön es doch morgens ist, wenn es so ruhig ist, denkt Else. Diese fünf Minuten Stille, ihr Lebenselixier. Keiner schreit, keiner hat Hunger, keiner muss mal auf die Toilette. Alle schlafen, nur Else, die ist wach. Plötzlich schallt ein greller Pfiff über den Flur. Else zuckt vor Schreck zusammen. Jetzt geht es los, gleich kommt Willy mit seinen schweren Schritten in den quietschenden Lederschuhen über den Flur getrabt. Else verdreht die Augen. Gerne hätte sie noch ein paar Minuten gesessen, gerne wäre sie in Ruhe ins Badezimmer gegangen und gerne hätte sie sich alleine für den Tennisplatz fertig gemacht. Aber nun gut, was muss, das muss. Else steht auf und schielt in den Flur, in diesem Moment fliegt die Tür des Kinderzimmers auf und die kleine fünfjährige Susanne springt, wie ein Flummi, in Richtung Bad. Ihre honigbraunen Augen leuchten und ihr langes glattes brünettes Haar ist noch zerzaust von der Nacht. Gleich hinter ihr her trottet ihre große Tochter Antje aus dem Zimmer. Müde reibt sie sich die Augen. Else muss schmunzeln, unterschiedlicher könnten zwei Menschen wirklich nicht sein. Amüsiert folgt sie den beiden ins kleine Badezimmer.
»Guten Morgen, Mutti«, strahlt Susanne sie an.
»Guten Morgen, mein kleines Susannchen.« Sie gibt ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Und du? Mit welchem Bein bist du heute aufgestanden?« Mürrisch schaut Antje sie jetzt an und verdreht die Augen. Else lächelt. Vorsorglich hat sie schon gestern Abend die Kleidung für die beiden Mädchen und sich selbst ins Bad gelegt, heute ist Samstag und Samstag ist Tennis. Da wird sich in den feinsten Zwirn gepackt. Ordentlich und adrett sollen sie aussehen, so schickt sich das im Tennisverein. Else beobachtet die kleine Susanne, die auf ihrem Schemel steht, um sich besser im Badezimmerspiegel sehen zu können, geduldig und sehr ordentlich knöpft sie ihre Bluse und versucht sie dann fein säuberlich in ihren Rock zu stecken, ohne dass sie viele Falten schlägt. Daneben steht Antje, die missmutig ihre Zähne putzt. Ein wenig zerknautscht sieht sie heute aus, denkt Else, eine kleine Kissenfalte erstreckt sich über Antjes gesamtes Gesicht. Wie groß sie schon geworden ist, gerade erst vor ein paar Tagen haben sie Antjes neunten Geburtstag gefeiert. Auch Antje versucht sich jetzt in ihre Bluse zu knöpfen, was ihr nicht so recht gelingen will. Sie ist ungeduldig und müde. Else springt ihr schnell zur Seite. Sanft knöpft sie die Bluse zu, streift ihrer Tochter den Rock über den Kopf und gibt acht, dass die Bluse keine einzige Falte schlägt. Ihre Tochter lässt es einfach über sich ergehen. Danach schlüpft Else gekonnt routiniert aus ihrem Nachthemd, greift nach ihrer besten weißen Bluse und steigt in den cremefarbenen Tweedrock des Zweiteilers, der verdächtig an ein schickes Chanel-Kostüm erinnert. Ein paar gekonnte Handgriffe, als gelernte Frisörin ein Klacks, und ihre Frisur sitzt. Ein wenig Wimperntusche, einen Pinselschwung Rouge auf die Wangen. Sie betrachtet sich im Spiegel: wie ein neuer Mensch. In diesem Moment zupft etwas aufgeregt an ihrem Rockzipfel. Susanne strahlt ihre Mutter an.
»Mutti, gehen wir in die Küche?«
Else geht in die Hocke vor Susanne, betrachtet sie.
»Schick siehst du aus, mein Schatz.« Sie tätschelt Susanne liebevoll die Wange und schickt sie los in die Küche. Sie blickt ihrer Tochter hinterher den Flur entlang. Susanne rennt aufgeregt los und stolpert dabei fast über sich selbst, das passiert ihr öfter, mit ihren fünf Jahren ist sie manchmal noch ein wenig ungelenk. Im Augenwinkel sieht Else, wie Antje wieder genervt die Augen verdreht. Else dreht sich zu ihr um, betrachtet ihre Älteste, groß gewachsen ist sie, schlaksig, und hätte sie nicht gerade ihr Sonntagskleid an, könnte man sie durchaus für einen Jungen halten. Else hat ihr eine fesche Kurzhaarfrisur geschnitten, die unterstreicht jetzt doppelt das burschikose Erscheinungsbild ihrer Tochter, aber Antje hatte es sich so gewünscht. Wochenlang lag sie Else damit in den Ohren, bis sie sich ergeben hat. Wie ihr Mädchen so ernüchtert dasteht und ihr Werk im Spiegel anschaut. Manchmal weiß Else nicht so recht, was sie mit ihr anfangen soll, Antje ist so anders als sie selbst. Das Knarzen der Dielen unter den Lederschuhen reißt Else aus den Gedanken.
»Hopp, hopp, Antje. Ab in die Küche, der Vati kommt.« Langsam trabt Antje in die Küche, an ihrem Vater vorbei, dem sie ein freundliches, aber schüchternes »Guten Morgen, Vati« entgegnet.
Beschwingt pfeifend läuft Willy auf sein Elschen zu. Sie mustert ihn. Ein großer, massiger Mann. Sein Gesicht ist weich und pausbäckig und mitten in diesem weichen warmen Gesicht sitzt ein wunderschönes Paar Augen, so blau, stahlblau. In diese Augen hatte sich Else verliebt, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Er trägt eine graue Anzughose mit Bundfalte, große silberne Manschettenknöpfe an einem weißen Hemd mit gesteiftem Kragen und eine Krawatte. Seine Freizeitkrawatte. Die hatte Else ihm gestern Abend vorsorglich herausgelegt, sie weiß, dass er das mag. Es gibt ihm das Gefühl, dass sie ihn umsorgt, sich um ihn kümmert. Und ein fröhlicher Willy ist allemal besser als ein schon am Morgen schlecht gelaunter Willy.
»Guten Morgen, mein Elschen«, raunt er ihr fröhlich entgegen, beugt sich zu ihr runter und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Das zaubert Else ein Lächeln ins Gesicht. Sie mag das, wenn Willy ihr in kleinen Gesten zeigt, dass er sie gernhat. Sanft streicht sie ihm über die Hand, schlängelt sich gekonnt an ihm vorbei, denn wenn Willy das Badezimmer betritt, ist es komplett ausgefüllt. Else läuft zu den Kindern in die Küche. Die beiden sitzen nebeneinander auf der Bank und essen ein Marmeladenbrot. Selbst gemachte Erdbeermarmelade aus dem letzten Sommer. Einmal im Jahr macht Else einen großen Marmeladekochtag. Die Kinder werden als Helferinnen eingespannt. Die verschiedenen Obstsorten werden geschnitten und in großen Töpfen eingekocht, mit ordentlich Zucker gesüßt und mit kleinen Suppenkellen in Einmachgläser abgefüllt. Seit Antje schreiben kann, hat Else sie zur Etikettenschreiberin befördert, auch aus Gründen der absoluten Verweigerung zur Hilfe der Herstellung von Marmelade. Susanne hingegen hilft ihrer Mutter voller Inbrunst, sie eifert ihr nach und himmelt sie an. Samstags dürfen die Kinder ein Marmeladenbrot essen, vorsichtig müssen sie aber sein, mahnt Else die beiden im Hereinkommen. »Nicht, dass ihr euch die schönen weißen Blusen versaut.«
Und gerade als Else sich zu den Mädchen setzen will, klopft Willy auch schon an den Türrahmen.
»Los geht’s meine Damen. Der Platz ruft!«
Else macht seufzend auf dem Absatz kehrt, die Mädchen stecken sich ihre Brotreste schnell noch umständlich in den Mund und schütten einen Schluck Milch hinterher. Als die drei aus der Küche gehen, ist Willy schon mit einem Bein aus der Wohnungstür.
»Der Koffer ...«, raunt er noch in den Flur hinein. Else bedeutet Antje, den Tenniskoffer ihres Vaters zu holen, der im Flur bereitsteht, um ausgeführt zu werden. Antje verdreht mal wieder ihre kleinen stahlblauen Augen, die sie eindeutig von ihrem Vater geerbt hat. Als Else endlich die Wohnungstür schließt, ist Willy schon längst im Treppenhaus verschwunden, Susanne stolpert ihm die Treppe hinunter hinterher und Antje trägt den großen Koffer. Sie schleift ihn eher, als dass sie ihn trägt. Umständlich sieht das aus, denkt Else und nimmt ihr das Ding schließlich aus ihren kleinen schwitzenden Händen.
»Mutti, wenn der Vati das sieht, dann krieg ich doch gleich wieder Ärger!«
»Der wird’s schon nicht sehen.« Sie zwinkert ihrer Tochter verschwörerisch zu. Sie weiß, dass ihr Mann es nicht mag, wenn sie ihrer Großen bei Aufgaben hilft, die er ihr zugetragen hat, aber ab und zu da kann sie einfach nicht anders. Antje öffnet ihrer Mutter und dem Koffer die Haustür, vor der schon der himmelblaue Mercedes parkt. Lieber würde er sein letztes Hemd verkaufen als den himmelblauen Mercedes, das sagt er ihr immer, wenn das Geld mal wieder knapp ist. Und wenn er das sagt, dann verdreht Else ihre schönen azurblauen Augen.
Der himmelblaue Mercedes ist der einzige Mercedes weit und breit. Die Leute im Block sind geteilter Meinung über den Wagen. Einmal, als ein Freund von Antje bei ihnen zu Besuch war, nahm der kleine Bub sich all seinen Mut zusammen und sagte zu Else: »Mein Vater sagt, ihr Mann, der ist ein Angeber!« Else brach in schallendes Gelächter aus. Und einmal wollte sich eine Freundin von ihr vor dem Mercedes fotografieren lassen. Kopfschüttelnd fand sich Else dann mit einer kleinen Kompaktkamera vor dem Mercedes stehend wieder.
»Elschen, das ist der einzige Mercedes weit und breit.« Das sagt Willy immer.
Er ist blau. Blau ist eine schöne Farbe. Ihre Lieblingsfarbe. Willy sitzt bereits am Steuer und wartet ungeduldig darauf, dass alle eingestiegen sind. Else hievt den Koffer in den Kofferraum und schiebt sich dann selbst auf den Beifahrersitz.
»Ham’mers?« Willy startet den Wagen.
Die recht schmalen Reifen kommen auf dem Parkplatzkiesbeet zum Halten, sie bohren sich förmlich in den Boden, das passiert, wenn man viel zu kraftvoll die Handbremse hochreißt und gleichzeitig bremst, kuppelt und den Zündschlüssel rauszieht. Else macht einen Satz nach vorne, stützt sich aber rechtzeitig an der Armatur ab. Es gibt keine Sicherheitsgurte. Als die Mädchen Babys waren, haben sie sie immer in eine Trage gelegt und auf die Rückbank gestellt. Und ob drei oder sechs Personen im Wagen sitzen, ist auch egal. Geraucht wird immer.
Der Wagen steht. Sie sind da. Else beobachtet ihren Willy, wie er seinen großen Körper umständlich aus dem Auto hievt. Er kommt immer ganz groß an, ein bisschen zu schnell, ein bisschen zu laut. Doch leider bemerkt das niemand, denn der Parkplatz ist mehr als hundert Meter vom Tennisklub TV 1923 entfernt. Else stößt die Tür auf und setzt ihre Füße in den Kies, der so tief ist, dass ihr Schuh fast droht darin zu versinken. Derweil stapft Willy mit seinen großen schweren Lederschuhen um den Mercedes herum und holt den Tenniskoffer. Mit einem lauten Wumms knallt der Kofferraum zu. Willy stapft los, erst durch den Kies und dann durch den Park, der zu seinem geliebten Tennisklub führt. Else nimmt beide Kinder an die Hand und läuft ihm hinterher. Antje greift nach einem kleinen Ast und den restlichen Weg bis zum Tor schlägt sie ihn konsequent im Takt auf den Boden, so wie Kinder das aus unerfindlichen Gründen nun mal gerne tun. Else mag den Weg zum Klub. Sie mag den Geruch von nassen Blättern, den in Teilen moosigen Boden, genau wie die harte Erde. Sie mag das Klima. Egal, ob im Sommer oder Herbst. Es ist schattig, feucht. Else verträgt keine Sonne, ihre Haut ist so hell und sommersprossig. Im Urlaub ist sie immer mit riesigem Sonnenhut und Sonnenblocker unterwegs. Deshalb ist das Parkklima ihr perfektes, seliges Habitat. Ein bisschen als würde man sich auf etwas Besonderes vorbereiten oder zu einem heiligen Ort schreiten. Irgendwie ist der Tennisplatz ja auch ein heiliger Ort, für Willy zumindest. Am liebsten aber mag sie es, wenn das Licht durch die Bäume blitzt und am Morgen das Tor auf der linken Seite des Weges beleuchtet. Wenn man es nicht besser wüsste, würde man vermutlich daran vorbeilaufen. Vielleicht ist das Absicht, wie ein geheimes Tor. Je näher sie dem Tennisplatz mit den beiden Kindern an der Hand kommt, desto lauter können sie die aufgeschlagenen Tennisbälle hören.
Plopp. Plopp. Plopp. Das Tor zum Klub ist riesig, wie eine Wand, ein Schutzwall mit Efeu bewachsen, und mitten in diesem riesigen Schutzwall eine kleine Tür – in eine andere Welt. Willy geht vorsichtig hindurch, als wäre er ehrfürchtig vor dem, was jetzt kommt. Und tatsächlich ist er das auch, denn in den Tennisklub ist ihr Willy nur durch ein Missverständnis aufgenommen worden. Der TV 1923 ist ein ehrenwerter Klub. Nur Männer in höheren Anstellungen, Ärzte, Juristen und ihresgleichen, sind hier Mitglieder, von Frauen erst gar nicht zu sprechen. Sie werden an der Seite der Männer geduldet, sie dürfen da sein, um ihre Männer beim Tennis zu bestaunen und anzufeuern und auf Platz drei, hinten, wo sie keiner sieht, da dürfen sie seit Neuestem auch ab und an mal spielen. In den Klub wird man nur über eine Empfehlung eines sehr hochrangigen oder zwei anderer, etwas weniger hochrangiger Mitglieder aufgenommen. Ein Bekannter von Willy hatte ihm damals vorgeschlagen, sich doch einfach Mal beim TV 1923 umzusehen. Tennis sei ein wunderbarer Sport und in diesem Klub könnte man sich nicht nur beim Tennis verausgaben, sondern noch dazu wichtige Kontakte knüpfen. Willy rief kurzerhand beim Vorstand des Klubs an, der wiederum lud ihn ein, zu einem anstehenden Turnier zu kommen. Also warf Willy sich an besagtem Tag in seinen feinsten Zwirn und kreuzte beim TV 1923 auf. Anscheinend hatte er mächtig Eindruck hinterlassen, denn keine halbe Stunde nachdem er wieder nach Hause gekommen war, klingelte das Telefon. Der Vorstand lud ihn höchstpersönlich als Mitglied ein, er dachte, Willy sei auf eine Empfehlung eines Mitglieds gekommen. Ganz plötzlich war also der »einfache Arbeiter« Willy Mitglied im elitären Frankfurter Tennisklub. Natürlich war die Angelegenheit allen so peinlich, dass man das Missverständnis nie aufklärte. Und Willy als Mitglied gewähren ließ. Allerdings unter den Argusaugen des Vorstandes und unter der Häme der anderen Vereinsmitglieder. Willy spielte selten, wenn überhaupt nur hinten auf Platz drei, dort, wo man heute die Damen spielen lässt.
Als die Tür hinter Else und den Kindern laut ins Schloss fällt, drehen sich einige der auf der Veranda sitzenden Herren, die in Tennisweiß gekleidet sind und an tennisweißen Plastiktischen auf Plastikstühlen sitzen, genervt zu ihnen um. Willy wirft Else einen Blick zu, einen, vor dem man sich fürchten könnte, wenn man ihn nicht kennen würde. Else lächelt beschämt und guckt auf den Boden. Auf dem Tennisplatz scheint gerade ein wichtiges Match mitten im Gange zu sein. Else arbeitet sich flink, immer noch beide Kinder an der Hand, an Platz zwei vorbei und in Richtung Veranda des Klubhauses. Neben dem Klubhaus befinden sich die Zuschauertribüne und Platz eins. Die Männer, die auf der Tribüne in der ersten Reihe sitzen, schauen gebannt auf den Ball. Irgendwie sieht das witzig aus, wenn alle gleichzeitig im Takt des Balles den Kopf von einer in die andere Richtung drehen, findet Else. Plopp, alle Köpfe drehen nach rechts. Plopp, und alle Köpfe drehen nach links. Und Plopp. Rechts. Plopp. Links. Hinter den Männern in Reihe eins sitzen die Ehefrauen. Else sieht, wie Willy ein paar mit einem Handschlag begrüßt, die anderen würdigen ihn keines Blickes. Das tut ihr leid für ihren Willy. Vorsichtig schiebt sie Antje und Susanne an ihm vorbei und auf die Veranda.
»Ihr könnt euch drinnen ein Getränk bestellen«, raunt er ihnen zu. Das lassen sich zumindest die Kinder nicht zweimal sagen und stürzen ins Klubhaus. Else schaut Willy noch eine Weile hinterher, wie er, halb geknickt, halb aufrecht zur Herrengarderobe trottet.
Else geht auf die Theke zu, an der die beiden Mädchen schon hängen und versuchen, sich am Tresen hochzuziehen. Slava, der Wirt, ist um die fünfzig Jahre alt, groß gebaut, mit noch größerem Bauch und breitem Kreuz und wahnsinnig muskulösen Unterarmen. Seine Unterarme sind immer zu sehen. Er ist ja auch der Barmann, die Hemdsärmel werden hochgekrempelt. Das hat zur Folge, dass Else seine kleinen Tätowierungen sehen kann, deren Tinte schon so verschwommen ist, dass man kaum unterscheiden kann, ob es sich wirklich um Tattoos oder Adern handelt. Manchmal fragen die jüngeren Kinder, wieso er das da hat. Und Slava, die wenn auch mächtige, aber herzensgute Seele des Klubhauses, antwortet in bester deutscher Grammatik, aber mit unüberhörbarem osteuropäischem Akzent:
»Das sind kleine Erinnerungen aus einer anderen Zeit. Schmerzhaft, sie gehören aber trotzdem zu mir. Wie bunte Narben, wisst ihr. Wenn ihr hinfallt, tut es erst mal weh, aber wir alle heilen und am Ende können wir sogar stolz darauf sein. Mein Körper ist stark, ich konnte heilen.«
So einer ist er, der Slava. Mit seinen kantigen Falten im Gesicht und den buschigen Augenbrauen, diesem splitterharten Stoppelbart und den sanftesten smaragdgrünen Augen, die Else je gesehen hat. Vor zehn Jahren ist er mit seinen zwei Kindern, einem Sohn und einer Tochter, und seiner Frau aus Jugoslawien nach Deutschland gekommen. Sie wohnen in einer Sozialbauwohnung um die Ecke des Klubs. Slava und seine Frau betreiben seit vier Jahren das Klubhaus. Er an der Theke, sie in der Küche.
Slava sieht Else und die Mädchen an und begrüßt sie mit einem freundlichen Lächeln.
»Hallo! Kann ich bitte eine Apfelsaftschorle?«, ruft Susanne von unter der Theke hoch.
»Haben?!«
»Hm?«
»Kann ich bitte eine Apfelsaftschorle haben, heißt das!«, korrigiert Else ihre Kleinste.
»Okay, danke.«
Slava zwinkert Else liebevoll zu und reicht Susanne ihr Getränk mit einem blauen Strohhalm.
»Danke, Blau ist meine Lieblingsfarbe.«
»Nur weil’s Muttis Lieblingsfarbe ist …«, sagt Antje genervt.
»Du bist ja auch ein besonderes Mädel, mit deinen kurzen Haaren und so eher wie ein Bubb … ungewöhnlich für ein Mädchen. Und du, Kleine, magst Blau? Alle anderen Mädels wollen immer Rosa oder Rot.«
»Vielleicht kennen die ja keine anderen Farben!«, entgegnet Susanne Slava.
Else schaut sie mahnend an und lächelt entschuldigend.
»Für mich nichts, danke, Slava. Antje?« Antje schüttelt schüchtern den Kopf. Immer wenn Slava ihre Große anspricht, verstummt das Mädchen, fast so als würde sie sich schämen, vielleicht ist sie ein bisschen verschossen in den großen sanften Riesen, denkt Else. Slava lacht. Er dreht sich um, öffnet die Spülmaschine und verschwindet für einen Moment im heißen Dampf. Else beobachtet Antje, wie sie derweil gelangweilt durch das Klubhaus wandert. Entlang der Bildergalerie. Ordentlich gerahmt hängen sie da. Die Fotografien aus alten und aktuellen Zeiten der Vereinsgeschichte. Viele große Bilder der Herrenmannschaften und eines der Jugend. Ein mittelgroßes Bild. Darunter die Damen.
Else läuft zu ihrer Tochter, die gerade halt an einem Zeitungsartikel macht, welcher willkürlich an die Wand gepinnt wurde. Ein kleiner Artikel mit noch kleinerem Foto von einem Mann. Elses Blick wandert zu dem Papierzettel darunter. Ein Stück Papier, scheinbar mit Füller geschrieben und mit Lineal und Buntstift unterstrichen:
Unser Udo bezwingt die Eintracht!
Herzliche Glückwünsche an unser treues Vereinsmitglied zu diesem Sieg.
– Ein Prosit!
Else verdreht die Augen. Und wird dabei von Antje erwischt. Sie fühlt sich ertappt und fängt an zu lachen. Dann nimmt sie Antje mit zu einer Glasvitrine, bestückt mit sämtlichen Pokalen des Vereins.
Heiner, einer der älteren Herren um die sechzig, kommt flotten Schrittes und gut gelaunt in den Raum, er begrüßt Slava und bestellt.
»Für mich ’n Sauergespritzte.«
»Bitte …«
»Ja is gut Slava, bitte.«
»Danke.«
»Ai, wenn mer jetzt nur noch bitte und danke sage, dann komme mer gar net mehr zum Spiele.«
»Und net zum Trinke, gell. Ganz schon früh für Alkohol!«
»Du, Slava de Ebbelwoi is bei uns wie Wasser, de Frühschobbe gehört dazu. Wie de Handkäs zur Musik. Aber des lernste ach noch hier. Bist ja erst paar Tage da, gäh.«
»Genau, fünf Jahre vergehen wie im Flug.«
Else sieht, wie Slava schmunzelt und die Anfeindungen offenbar mit Humor nimmt. Sie sieht, wie Heiner seinen Äppler nimmt und auf sie und Antje, die noch immer vor der Pokalvitrine stehen, zugeht. Locker wirft er seinen Arm über Elses Schulter. Sie lässt es über sich ergehen, wie immer. Muss man ja. Das gehört sich so, Frauen haben hier nichts zu sagen.
»Na, Mädsche, schauste dir die ganzen Pokale an? Wenn du dich anstrenge tust und gut trainiere tust, kriegste vielleicht auch ma so ’n Ding.« Er grinst Antje an.
»Hat denn schon mal ein Mädchen etwas gewonnen?«
»Mädsche … weiß ich jetzt net, aber die Damen ja. Siehste doch.«
»Die Damen, wo denn?«
»Ai da unne …«
Heiner zeigt nach unten in die Vitrine. Die Blicke schwenken hinunter, fast auf den Boden. Else ist das alles ein wenig unangenehm. Heiner ist ihr unangenehm. Das Klubhaus ist ihr unangenehm. Die Fragen sind ihr unangenehm. Sie schaut sich um, sie hat Susanne ganz vergessen. Aber die sitzt glücklich mit ihrer Apfelschorle an einem kleinen Tisch und rührt wie wild mit dem blauen Strohhalm im Glas.
»Das haben die Damen gewonnen? Einen Bowlentopf?«, fragt Antje. Else zuckt zusammen und stößt einen ermahnenden Seufzer aus. Heiner aber lacht.
»Einen Wanderpokal. Der Erste! Mit Gravur sogar.«
»Onkel Heiner, da macht doch die Mutti immer die Bowle drin, wenn wir feiern.« Alle drei halten kurz inne. Es ist unangenehm. Heiner versteht nun. Antje auch. Else schaut ihn ein wenig verzweifelt an.
Mit einem Rumms geht die Eingangstür des Klubhauses auf und eine Dame, in kanariengelbem Kostüm, behängt mit feinen Goldketten und auftoupiertem brünett gefärbtem Haar steht im Rahmen. Marta. Ehe Else etwas sagen kann, sind ihre Wangen mit zwei altrosa Küsschen versehen.
»Elschen, schaut ihr euch etwa die drei Preise an, die dieser Verein in seiner Geschichte gewonnen hat? Warte, wie lang gibt es ihn schon … Na ja, zu lang. Ernüchternd. Apropos nüchtern.« Sie dreht sich schwungvoll zu Slava, ohne Elses Antwort abzuwarten.
»Was gibt es denn heute Feines für uns, damit das Ganze hier noch amüsant wird, Slava?«
»Für die feinen Damen nur das Feinste, frischer Apfelwein oder Bier.« Slava lächelt schelmisch.
Sein Gegenüber zeigt sich jedoch wenig begeistert.
»Dann nehmen wir doch gern eine große Flasche Sprudelwasser. Danke.«
Else zieht ihre Freundin leicht am Ärmel, deutet auf ihre Handtasche und zwinkert ihr zu. Die beiden haken sich beieinander ein und verlassen das Klubhaus kichernd, während sich die Kinder an ihnen vorbeiquetschen und zum Spielen rausrennen. Die beiden Frauen setzen sich an einen der runden weißen Tische, mit integriertem Sonnenschirm. »Ich bitte dich, Marta, du weißt doch, ich bin eine gute Ehefrau, tolle Mutter, aber eine noch bessere Freundin«, scherzt Else und zieht dabei mit einem verführerischen Blick eine Flasche Prosecco aus ihrer Handtasche. Marta schaut Else geschockt an.
»Elschen, Elschen, ich bin stolz auf dich, so langsam hast du die Tennisklub-Regeln gelernt.«