Elternabend - Robert Novakovits - E-Book

Elternabend E-Book

Robert Novakovits

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Beschreibung

Herbst im Südburgenland. Weintaufe, Weidegänse, Laternenumzüge und der Landespatron stehen im Mittelpunkt. In der kleinen, zweisprachigen Gemeinde St. Stefan/ Sveti Stefan ist in der Volksschule ein Elternabend angesetzt. Er fällt aus, denn der Schulleiter ist tot. Die Aufregung ist groß und die Idylle ist gestört. Selbstmord oder Mord? Das ist die erste Frage, auf die Marko Lovac mit seinem Ermittlungsteam eine Antwort sucht. Viele weitere folgen: Waren es Ausländer, die über die nun offenen Grenzen kommen, war es eine Liebesaffäre zu viel oder liegt der Grund in den Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten, wegen der radikalen Ansichten des Pädagogen bezüglich der nötigen Schulreform? Die Behinderungen der Ermittlungen werden immer heftiger. Warum eigentlich? Wer hat was zu verbergen?

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Seitenzahl: 310

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Für meine Familie!

Die Geschichte spielt in Berglein/Mali Vrh und St. Stefan/Sveti Štefan. Dazwischen liegt die Siedlung Kozinberg. Die genannten Orte, die Handlung, die Behörden und alle Personen sind vollkommen frei erfunden.

Es wäre jedoch sehr verwunderlich, wenn es keine Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit gäbe.

Inhaltsverzeichnis

Donnerstag, 10. November

Freitag, 11.November

Samstag, 12. November

Sonntag, 13. November

Montag, 14. November

Dienstag, 15. November

Mittwoch,16. November

Donnerstag, 17. November

Freitag, 18. November

Samstag, 19. November

Sonntag 20. November

Montag, 21. November

Dienstag, 22. November

Mittwoch, 23 November

Donnerstag, 24. November

Freitag, 25. November

Samstag, 26. November

Sonntag, 27. November

Montag, 28. November

Dienstag, 29. November

Mittwoch,30.November

Donnerstag, 1. Dezember

Freitag, 2. Dezember

Samstag, 3. Dezember

Sonntag, 4. Dezember

Montag, 5. Dezember

Donnerstag, 10. November

Er stieg aus der Dusche. Während des Abtrocknens betrachtete er sein Spiegelbild. Nicht schlecht für seine 45 Jahre. Das musste man ihm lassen.

„Bist schon ein Bild von einem Mann“, sagte er halblaut zu sich.

Weder hatte er vorgehabt, noch erwartet, dass es heute Mittag zu Sex kommen würde. Nach seinem bisherigen vergeblichen Bemühen hatte sich alles wie von selbst ergeben. Miteinander essen, plaudern und dann, ganz selbstverständlich - und es war guter Sex gewesen. Zärtlich, dann wieder wild und wow! Immerhin galt er in dieser Beziehung als sachverständig.

„Kleines Luder“, entfuhr es ihm, als er die Spuren am Hals bemerkte. Damit war die Frage nach der Bekleidung gelöst. Er streifte einen Rollkragenpulli über.

Nun wurde es Zeit, dass er weiterkam. Nach dem Elternabend war er dann noch in Berglein bei der Weintaufe verabredet.

Nicht weit davon entfernt parkte Oberärztin Christina Lovac ihr Auto ein. Sie war anscheinend die Letzte, die zum „Martini-Gansl-Essen“ der Intensivstation des „Ladislaus Bathyany Krankenhauses“ eintraf. Noch ein rascher Kontrollblick in den Make-up-Spiegel.

„Passt“, sagte sie zu sich selber.

Durch den Nebel schimmerte das Licht in den Kürbisköpfen und Laternen, die den Eingang zum Dorfgasthaus markierten. Sie liebte diese Zeit, wenn der Nebel und der erste Frost kamen. In ihrer Kindheit hatte sich das Leben von draußen, aus der Kälte auf den Feldern und Wiesen immer mehr in die Wärme der Häuser, Scheunen, Keller und Küchen verlagert. Daran erinnerte sie sich gerne.

Die Bürgermeisterin hatte es sich nicht nehmen lassen namens der Gemeinde den Aperitif beizusteuern und einige Grußworte zu sprechen. Christina hörte noch etwas von der geballten medizinischen Kompetenz des Bezirkes, die heute in St. Stefan versammelt war. Höflicher Applaus erklang zum Dank.

Der Chef dankte knapp. „Und jetzt kein Wort über Operationen – zumindest zu mir nicht. Über die Südburgenländischen Weidegänse spreche ich gerne. Danke fürs Kommen“.

Er war der Leuchtturm ihres kleinen, aber feinen Teams. Als Chef war er eindeutig der Beste, den sie bisher gehabt hatte. Na dann rein ins Vergnügen! Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass noch genügend Zeit blieb. Zur Weintaufe in ihrer Heimatgemeinde wollte sie aber unbedingt rechtzeitig kommen.

Die paar Meter zur Schule ging er zu Fuß. Niemand war auf der Straße. Vor dem Gasthaus sah er Autos. „Wieder einige Gansln weniger“, dachte er bei sich und musste, warum auch immer, über diesen Gedanken lachen

„Einige Gansl weniger“, sagte er jetzt laut. Eigentlich lallte er den Satz mehr. Was war los mit ihm?

Die Lichter aus den Häusern schimmerten durch den immer dichter werdenden Nebel. Er wollte sich beeilen, konnte aber nicht schneller gehen. Komisch, seine Beine schienen zu versagen. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, würde er glauben, zu viel getrunken zu haben. Kurz setzte er sich auf die Bank beim Lindenbaum.

Oder war es der Kreislauf? Vielleicht musste er etwas trinken? So schnell er konnte ging er weiter. Torkelnd erreichte er die Schule.

Das Aufsperren der Eingangstür fiel ihm schwer. In seiner Klasse brannte Licht. Leise Musik war zu hören. Das konnte nicht sein. Er war ja als Erster gekommen und die Schule war zugesperrt gewesen. Jetzt musste er über sich lachen. Seine Wahrnehmung spielte ihm einen Streich.

„Ich träume“.

Da sah er auch noch eine schwarze Gestalt in seiner Klasse.

„Was tust du da?“ fragte er. „Geh weg!“

Keine Antwort. Um ihn herum wurde es immer schwärzer. Noch mehr Gestalten schienen auf ihn zuzukommen. Auf einmal waren sie weg. Angst packte ihn. Er schüttelte seinen Kopf. Was war das gewesen? Was wollte er da?

„Trinken, trinken“, durchzuckte es ihn. Er stürzte einen Becher Wasser hinunter. Es ging ihm besser. Plötzlich sah er klar. Er ging zu seinem Schreibtisch und startete sein Notebook.

Was hatte er gewollt? Warum war er hier?

„Die großen Fragen unseres Lebens“, sagte er laut zu sich selber und musste wieder lachen. Laut und immer lauter.

Doch – da war sie wieder. Diese Figur. Sie schien ihn zu bedrohen. Er wollte schreien, aber er konnte nicht. Sie drängte ihn immer mehr zurück, zur Tafel hin. Zurück – nein, das war nicht er. Nach vorne war seine Richtung, Angriff sein Motto. Und ihn würden sie nicht klein kriegen. „Mich werdet ihr nicht klein kriegen!“

Er schrie es hinaus. Um ihn herum drehte sich alles. Wie sollte er da noch wissen wo vorne ist?

Da bekam die Gestalt ein Gesicht. Und er staunte. Den Schlag spürte er nur noch ganz schwach.

Nach einem kurzen Blick auf das Display drückte Marko die Annahme-Taste und sagte: „Zu spät!“

„Wir haben einen Toten“, antwortete seine Frau.

Im selben Moment meldete sich auch das Telefon von Franz.

„Kommt ja bei euch öfter vor, aber ich dachte du feierst.“

Sie sollte ruhig seine Verärgerung spüren. Zuerst „Martini – Gansl - Essen“ mit Schwestern und Ärzten ihrer Station, dann mit Franz und Helene zur Weintaufe der Pfarre. So hatten sie sich verabredet. Und jetzt einen Toten.

„Und was geht das mich an?“

„Du weißt genau, dass ich nicht im Krankenhaus bin. In St. Stefan in der Volksschule gibt es einen Toten. Es wäre gut, wenn ihr kommen würdet.“

Schon hatte sie aufgelegt. Fast im gleichen Moment hörte Franz ebenfalls zu telefonieren auf. „Der Volksschuldirektor von St. Stefan hat sich in seiner Klasse erhängt. Meint der Kommandant der Polizeiinspektion. Das Ganze scheint aber irgendwie aus dem Ruder zu laufen. Ich fahr hin. Kommst du mit?“

„Nachdem meine Frau schon dort ist, warum nicht?“

„Was? Wieso?“

„Keine Ahnung. Ich fahre.“

Fast gleichzeitig blickten beide Helene an.

„Das bedeutet, dass ich jetzt alleine mit dem Pfarrer den Wein taufe.“

„Ich sehe nur nach dem …“

„Schon gut“, unterbrach sie ihren Mann und war bei der Tür draußen.

„Also gehen wir!“

Polizeimajor Markus Lovac war im Landeskriminalamt Leiter der Gruppe „Leib und Leben“. Seine Dienststelle war 120 km von seinem südburgenländischen Wohnort Berglein/Mali vrh entfernt. So wie viele in der Gemeinde gehörte er der Burgenländisch-Kroatischen Volksgruppe an. Nun hatte er sich auf ein freies Wochenende gefreut. Christina würde ihn jedoch nicht umsonst alarmieren.

Während er am Steuer saß, telefonierte Bezirkskommandant Jagowitsch auf der kurzen Fahrt in die Nachbarortschaft. Franz war einer seiner engsten Freunde seit Jugendtagen. Schon im Oberstufengymnasium waren sie in der gleichen Klasse und gleichzeitig hatten sie sich zur Wiener Polizei gemeldet. Während Franz aber schon bald zur Gendarmerie ins Burgenland wechselte, hatte Marko der Dienst als Kriminalbeamter von Anfang an fasziniert. Und erst nach der Umstrukturierung hatte er sich um seine Versetzung zum Landeskriminalamt Burgenland bemüht.

Auch wenn man nicht wusste, wo die Volksschule in St. Stefan stand, jetzt konnte man sie nicht verfehlen. Wahre Blaulichtspiele sahen sie schon von weitem. Drei Polizeiautos, ein Notarztwagen und zwei Fahrzeuge der Freiwilligen Feuerwehr waren vor der Schule aufgefahren und blinkten um die Wette. Der erste, der ihnen entgegenkam, war der Feuerwehrkommandant.

„Hallo Marko!“

„Servus, was tut Ihr hier?“

„Keine Ahnung!“

Als er merkte, dass dies etwas blöd klang, setzte er fort:

„Irgendjemand hat Sirenenalarm ausgelöst, mit dem Auftrag in der Volksschule einen Toten zu bergen. Jetzt sind wir da. Die Polizei hat uns gebeten abzusperren und die Zuschauer fern zu halten.“

Das war ein guter Gedanke gewesen. Wenn man bedachte, dass der Ort knapp 700 Einwohner hatte, herrschte inzwischen auf dem Vorplatz der Schule ein ganz schönes Gedränge.

„Da muss ja die halbe Ortschaft da sein. Wieso kommen die Leute alle her?“

„Du weißt ja wie das ist: Sirenenalarm, Telefone und ein kleiner Teil kommt eigentlich zum Elternabend.“

„Und die, die noch nicht da sind, die werden jetzt kommen, um zu schauen, was die Blaulichter bedeuten!“

„Ich lass unsere gleich abschalten, aber für die Polizei bin ich nicht zuständig“, sagte der Kommandant sehr kurz angebunden und ging.

Eigentlich wollte Marko nicht schroff sein. Zumal er als Feuerwehrmann wusste, dass man in diesen kleinen Orten nicht lange fragte, ob es sinnvoll war auszurücken, wenn alarmiert wurde. Lieber zu oft ausgefahren als einmal zu spät, war die Devise.

„Tut mir leid. War nicht so gemeint. Und danke“, rief er noch.

„Macht ihr euren Job, ich mach meinen“, kam es zurück.

Obwohl so viele Leute da waren, herrschte doch Ruhe auf dem Platz. Die Feuerwehr hatte eine Absperrung gespannt. Rundherum standen die Zuschauer. Nur Getuschel war zu hören. Irgendwo im Dorf heulte ein Hund. Ein zweiter kläffte immer wieder dazwischen. Dann und wann mischte sich ein tiefes, kurzes Gebell ein. Dazu der Nebel, die blinkenden Lichter und die Stille– eine gespenstische Stimmung. Und jetzt begannen auch noch die Kirchenglocken zum Abendgebet zu läuten.

„Und wo ist die Leiche“, hörte er Franz fragen, während sie sich Handschuhe und Schuhschutz überstreiften.

„Erste Klasse“, kam die Antwort von einer Polizistin.

Gemeinsam mit Franz betrat Lovac das Klassenzimmer. Marko hatte schon viele Todesfälle untersucht, aber jetzt verschlug es ihm die Sprache. Inzwischen war es Standard, dass beim Eintreffen an einem Tatort professionelle Betriebsamkeit herrschte. Eine zugedeckte Leiche, Arzt, Techniker in Wegwerfoveralls, Fotografen und vor allem eine Absperrung. Was er jetzt sah ließ ihn tief einatmen, seine Lippen fest zusammendrücken und die Luft durch den gespitzten Mund langsam ausatmen. Viel Glück jenen, die hier Spuren suchen mussten.

Die Klasse war einer dieser typischen Schuhschachtelräume. Am Lehrertisch saß seine alte Oberlehrerin Anna Borr. Die Mutter des Toten musste nun über 70 Jahre alt sein. Sie versuchte sich aufrecht zu halten, war aber trotzdem in sich zusammengesunken. Ihre Augen waren starr auf den Leichnam ihres Sohnes gerichtet. Dabei fuhren ihre Hände scheinbar automatisch über den Lehrertisch und ordneten die vorhandenen Utensilien. Ihr zur Seite stand ein junger Mann und hielt seine Hand auf die Schulter der Frau.

In einer Ecke, die mit Regalen und Sitzmöbeln etwas abgeteilt war, befragte eine Polizistin eine junge Frau. An der gegenüberliegenden Wand standen Sanitäter, Polizisten und Zivilisten aufgereiht. Sie schauten scheinbar unbeteiligt oder tuschelten mit ihren Nachbarn. Eine Frau, wie sich herausstellte war es die Schulwartin, hielt ein Kreuz und eine Kerze in der Hand. Offensichtlich wartete sie darauf, dass der Leichnam aufgebahrt wurde.

Die Schultafel hatte an einer Seite einen Kartenhalter. Von diesem baumelte ein Stück einer Paketschnur herab. Es sah aus, als ob jemand gerade beim Löschen eines Textes unterbrochen worden war. „ .. das Licht geht aus, wir gehen nach Haus’, rabimmel, rabammel, rabumm“ war noch zu lesen. Darunter hatte jemand einige Schülertische zusammengeschoben. Darauf war der Leichnam gelegt worden. Über diesen gebeugt standen Christina und der Gemeindearzt einander gegenüber. Sie waren offensichtlich in einem Disput. Sekundiert wurden sie von dem Kommandanten der Polizeiinspektion und der Bürgermeisterin. Wie hieß sie nur?

„Mein Gott“, stieß Franz aus.

Es blieb offen, ob er die Tragik des Todes oder das Durcheinander in der Klasse meinte. Wahrscheinlich beides.

„Ich schau mal, dass ich Ordnung in das Chaos bringe. Könntest du bitte klären, was beim Leichnam los ist?“

Ohne ein lautes Wort begann Franz jetzt die Klasse zu leeren und die Personen zu ordnen. Er begann mit der Bürgermeisterin. Ihre leisen, aber eindringlichen Proteste ignorierte er.

Lovac ging zum Leichnam. Vor ihm lag der Volksschuldirektor Hubert Borr. Jeans, Rollkragenpullover und Jacke hätten bei einem Lebenden einen sportlich, eleganten Eindruck gemacht. Marko konnte beim ersten, flüchtigen Blick keine Spuren eines gewaltsamen Todes erkennen.

„Wo liegt das Problem“, fragte er nach einem kurzen Hallo.

„Das musst du Christina fragen. Ich sehe nämlich kein Problem. Aber die Frau Oberärztin kann nicht akzeptieren, dass man in einen Totenschein die Ursache Erhängen anführt“, lautete die Antwort des Gemeindearztes.

„Weil ich nicht sicher bin, dass dies die Todesursache ist.“

Inzwischen war Marko mit den beiden Ärzten alleine. Er blickte seine Frau fragend an.

„Es fehlen einfach die typischen Zeichen. Natürlich gebe ich dem Kollegen recht, dass auch keine Anzeichen einer anderen Todesart erkennbar sind, aber ich glaube, man kann es nicht ganz ausschließen.“

„Ich will gar nicht streiten. Ich habe nur vorgeschlagen den Leichnam in unsere Leichenhalle zu bringen. Dort kann ich ihn später dann genauer untersuchen.“

„Mein Vorschlag wäre, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Dort könnte ihn der Kollege mit dem Pathologen gemeinsam untersuchen. Sollte es notwendig sein, wäre so auch sofort eine gerichtsmedizinische Untersuchung möglich.“

„Blödsinn. Entschuldige, wenn ihn ein Pathologe untersucht brauch ich nicht dabei zu sein.“ Eigentlich war es dem Gemeindearzt hoch anzurechnen, dass er nicht auf seine Zuständigkeit pochte. Und wie seine Frau überhaupt hierherkam, wollte Marko später auch noch klären.

„Nun, wie sieht’s aus“, mischte sich da, Gott sei Dank, Franz ein.

Der Gemeindearzt war schneller.

„Zurzeit und hier können wir die Todesursache nicht feststellen. Ich schließe aus, dass er auf natürliche Art verstorben ist. Meiner Meinung nach sollte man den Leichnam in die Leichenhalle bringen, wo ich ihn später untersuchen kann. Aber der Vorschlag der Kollegin Lovac, ihn in die Pathologie zu bringen ist auch sinnvoll. Es geht nur darum, wer die Kosten verantwortet.“

„Da auch die Berichte der Polizisten bisher so sind, dass zumindest eine weitere Klärung erfolgen muss, möchte ich alles tun, um Fremdverschulden auszuschließen. Daher hätte ich von mir aus auch die Einweisung in die Pathologie vorgeschlagen. Die Staatsanwaltschaft wird dann entscheiden, ob eine gerichtsmedizinische Untersuchung notwendig ist. Jedenfalls danke ich euch beiden. Und dich Marko, möchte ich jetzt ganz offiziell um Amtshilfe ersuchen.“

„Kann man etwas über den Todeszeitpunkt sagen?“

Marko stellte die Frage routinemäßig.

„Wie heißt es so schön: erst nach der Obduktion. Aber auf Grund des Zustandes des Leichnams und der äußeren Umstände würde ich sagen vor ungefähr eineinhalb bis zweieinhalb Stunden. Oder, Frau Kollegin?“

„Das wäre dann zwischen 15,15 und 16,15 Uhr?“ Marko blickte seine Frau an, die Zustimmung signalisierte.

„Das ist ja schon etwas“, meinte Franz und bedankte sich noch einmal bei den Ärzten.

Unter der Versicherung gegenseitiger Wertschätzung verabschiedeten sich diese.

„Wir warten auf euch bei der Weintaufe“, sagte Christina, während ihr der Gemeindearzt in den Mantel half.

„Nicht wahr, Herr Kollege?“

„Selbstverständlich. Vorher möchte ich aber noch nach den Damen sehen, die den Toten gefunden haben.“

„Sag Helene es wird noch dauern“, bat Franz.

Er gab die nötigen Anweisungen zum Abtransport der Leiche. Frau Borr nahm die Entscheidungen scheinbar teilnahmslos zur Kenntnis.

„Kann ich jetzt wissen, was eigentlich los ist?“

Schon leicht ungeduldig stellte Lovac diese Frage.

Der Bezirkskommandant bat im zweiten Klassenzimmer zu einer ersten Lagebesprechung. Teilnehmer waren neben Major Lovac der Kommandant der Polizeiinspektion von St. Stefan, Walter Kroboth, sein Bruder Michael, den alle Mike nannten, und die Inspektorin Jelka Dragin. Diese beiden waren bald nach der Alarmierung am Tatort gewesen. Sie waren im Bezirk für Kriminalfälle zuständig. Von Kursen kannte sie Marko flüchtig

Walter Kroboth begann mit seinem Bericht.

„Bei dem Toten handelt es sich um Hubert Borr. 49 Jahre, geschieden, zwei erwachsene Kinder. Soweit wir wissen, lebt er allein. Wir wurden um 16,42 Uhr alarmiert. Um 16,51 war ich mit der ersten Streife vor Ort. Unmittelbar nach uns kam die Streife mit Jelka und fast gleichzeitig Mike. Der Tote lag schon auf den Tischen. Bei ihm waren seine Mutter, die Schulwartin, die Lehrerin, der Gemeindearzt und die Oberärztin Lovac. Wir haben dann routinemäßig mit der Untersuchung begonnen. Mike hat sich um den Leichnam gekümmert und Jelka hatte den Auftrag, die Anwesenden zu befragen“.

„Am Leichnam waren für mich keine Spuren eines gewaltsamen Todes oder eines Kampfes ersichtlich.“

Mike Kroboth setzte den Bericht seines Bruders fort.

„Ich habe dann Fotos gemacht. Aufgefallen ist mir die Schnur. Man hatte sie abgeschnitten und sie war nicht um den Hals geschlungen, sondern unter dem Kinn und über den Kopf gewickelt.“

Während dieser Erklärung betrachteten sie die Bilder auf dem Laptop.

„Das Gesicht zeigt keinerlei Verfärbung und er sieht eher friedlich aus.“

„Für mich schaut er überrascht drein“, meinte Jelka Dragin.

„Was du schon wieder siehst. Jedenfalls stimmt mit dem Aufhängen etwas nicht“, merkte Mike an.

„Wer hat ihn gefunden?“

Marko wollte jetzt Fakten sammeln. Seiner Erfahrung nach war es für die Ermittlungen hinderlich mit Spekulationen und Phantasien zu operieren.

„Nach den ersten Befragungen scheint die Lage so gewesen zu sein“, begann Inspektorin Dragin etwas unsicher ihren Bericht. Die Schulwartin Frau Nemski und Frau Sudac, die Lehrerin seien fast gleichzeitig bei der Schule eingetroffen. Es war mit dem Direktor vereinbart, dass sie ab 16,30 Uhr die letzten Vorbereitungen für den Elternabend durchführen sollten.

„Man kann davon ausgehen, dass sie einige Minuten vorher da waren. Eine genauere Zeitangabe ist noch nicht möglich. Sie wunderten sich, dass die Eingangstür weit offen stand. Aus der Klasse hörten sie das Laternenlied. Auf dem Laptop lief eine Aufnahme des Martinfestes der Schule. Dann fanden sie den Toten. Die beiden Frauen haben mit der Schere den Leichnam abgeschnitten. Jenny wollte ihn wiederbeleben. Frau Nemski rief die Mutter des Verstorbenen an, deren Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegt. Dann alarmierten sie das Rote Kreuz. Es war aber beiden Frauen klar, dass Hubert tot sei. Auf die Bitte von Frau Borr hin legten sie den Leichnam auf die Tische. Dann wurde der Polizeinotruf getätigt.“

„Das dauerte ja eine Ewigkeit“ stöhnte Franz.

„Und von wem wurde die Polizei gerufen?“

Jelka blätterte in ihren Aufzeichnungen.

„Das weiß ich nicht.“

„Das gibt’s doch nicht“, brauste Mike auf.

„Weißt du es?“

„Ist wahrscheinlich gar nicht wichtig“, versuchte Marko jetzt zu entschärfen.

„Etwas Anderes ist mir aufgefallen“, ergänzte Jelka.

„Frau Borr saß bei unserem Eintreffen am Lehrertisch und wiederholte andauernd, jetzt hat sie ihn umgebracht oder jetzt haben sie ihn umgebracht.“

„Waren die Ärzte schon da“, fragte Marko.

Jelka schaute unsicher. Da meldete sich Walter Kroboth.

„Wir sind erst nach ihnen eingetroffen. Der Gemeindearzt war durch die Zentrale verständigt worden und Frau Dr. Lovac war als First Responder alarmiert worden.“

Jetzt begriff Marko warum seine Frau hierhergekommen war.

„Also ich muss sagen, mein Kompliment. So ein genaues Lagebild bekommt man nicht oft. Überhaupt wenn es derart chaotisch zugeht. Danke.“

Die Anwesenden, mit Ausnahme von Franz, blickten ihn erstaunt an. Marko wusste, dass es bei den Dienststellen vor Ort Vorurteile und Ängste gegenüber den Zentralstellen gab.

„Und wie geht es jetzt weiter?“

Walter Kroboth wollte natürlich wissen, wer die Verantwortung zu tragen hatte.

„Zunächst einmal erhält die Staatsanwaltschaft einen Bericht von mir“, kam die Antwort von Franz.

„Die Indizien sprechen dafür, dass hier eine genaue Untersuchung der Todesursache zu erfolgen hat. Mit dem Landeskommandanten ist vereinbart, dass Major Lovac diese leiten soll. Mit Unterstützung der Kräfte des Bezirkskommandos. Das heißt, Jelka und Mike, ihr werdet ab sofort dem Major unterstellt.“

„Beide?“

Die Frage von Mike klang nicht gerade freundlich.

„Brauchen wir sie wirklich? Das kann ich allein auch!“

„Ich diskutiere das jetzt nicht mit euch.“

„Optimierbares Arbeitsklima“, dacht der Major. Er bedauerte, dass sein Team vom Landeskriminalamt nicht zur Verfügung stand.

Weitere technische Details wurden noch geklärt. Auf dem Bezirkskommando werde ein Raum zur Verfügung stehen. Bei Bedarf auch die Sekretärin des Bezirkskommandos. Die Spurensicherung war angefordert.

„Wissen wir, wer bei der Staatsanwaltschaft für die Ermittlung zuständig ist?“

„Das erfahre ich angeblich bald.“

„Wir müssen davon ausgehen, dass die Schule mindestens bis Dienstag oder Mittwoch nicht betreten werden darf. Und am liebsten wäre mir, wenn wir alle Schlüssel einsammeln könnten.“

Marko wollte nun Druck machen.

„Gut, ich werde mich darum kümmern“, versprach der Kommandant der Inspektion.

„Dann können wir hier nichts weiter tun. Euch beide bitte ich morgen, sagen wir um 10 Uhr, auf dem Bezirkskommando zu sein. Und diese Überstunden sind nötig“, dämmte er jeden Protest seitens des Bezirkskommandanten sofort ein.

Der Platz vor der Schule war nun fast leer. Feuerwehr, Rettungskräfte und Leichenwagen waren abgezogen. Nur noch Polizeiautos standen da. Der Nebel war noch dichter geworden. Die Luft war feucht und kalt.

Genau gegenüber der Schule stand die Kirche, die man wegen des Nebels fast nicht sah. Dahinter lag, vom scheinbar unvermeidlichen Thujenzaun umgeben, der Friedhof. Dessen Eingang konnte man durch die Beleuchtung des Kriegerdenkmals sehen. In einem Respektabstand begannen auf beiden Seiten die Häuserzeilen. Dabei bildeten links das Gasthaus und rechts der Pfarrhof jeweils den Beginn.

Neben der Schule waren das Gemeindehaus mit der Arztordination und dem Kindergarten auf der einen Seite, das Feuerwehrhaus und das Haus der Kulturvereine standen auf der anderen Seite am Beginn der Häuserreihen. Drei mächtige Lindenbäume grenzten den Vorplatz zur Straße hin ab.

Marko prägte sich das Bild ein. Dabei beschäftigte ihn die Frage, wo sich zur fraglichen Zeit des Todes und vor allem davor eventuell jemand aufgehalten hatte. Viel Hoffnung auf irgendwelche Zeugen machte er sich nicht.

Bei einem der Bäume unterhielt sich noch eine Gruppe von Menschen. Die Bürgermeisterin war an ihrer Stimme auch durch den dichter werdenden Nebel zu erkennen. Anscheinend hatten sich die Entscheidungsträger des Dorfes um sie versammelt.

„Wir besprechen gerade das Begräbnis.“

Ungefragt kam sie näher und wandte sich an die Polizisten.

„Mit dem Pfarrer haben wir schon den kommenden Samstagvormittag ausgemacht.“

„Das dürfte kein Problem sein“, beeilte sich der Postenkommandant zu antworten.

Auch er zählte offensichtlich zur Gruppe der Dorfmächtigen.

Nach Markos Erfahrung bestand die größte Schwierigkeit im Polizeidienst nicht im Aufspüren und Festnehmen der Täter oder in der Durchsetzung von Gesetzen. Nein. Einmischungen, Anmaßungen, Grenz- und Kompetenzüberschreitungen erschwerten die Arbeit und stellten die größte Belastung dar. Und so wollte er jetzt Klarheit schaffen.

„Das können wir heute überhaupt nicht sagen. Zunächst haben Staatsanwalt und eventuell Gerichtsmedizin das Sagen.“

„Aber verrennt ihr euch da nicht?“

„Wir verrennen uns nicht, wir ermitteln.“

Es konnte nicht schaden einige Informationen weiter zu geben. Marko zählte darauf, dass bald das ganze Dorf Bescheid wusste.

„Die Schule bleibt daher bis mindestens Mittwoch geschlossen.“

„Und wo sollen wir die Kinder hin?“

„Bis Mittwoch, was wollt ihr da solange tun?“

„Das könnt ihr den Eltern nicht antun!“

„Und was sagt die Schulbehörde?“

Immer lauter kamen jetzt Fragen und Proteste aus dem Nebel. Da hielt neben der Gruppe ein SUV und ein etwas korpulenterer Mann mühte sich heraus. Marko kannte den Schulinspektor Kratki flüchtig.

„Gut, dass du kommst. So ein tragischer Tag, für uns, für die Schule, die Kinder “, begann die Bürgermeisterin.

„Das ist das Leben!“

Viel knapper konnte man eine Tragödie kaum kommentieren.

„Wird die Schule gesperrt bleiben müssen?“

Die Frage war zwar offensichtlich an Franz gerichtet aber Marko beeilte sich zu antworten, dass mindestens bis Mittwoch die Schule als Tatort gesichert werden musste. Das Wort „Tatort“ hatte wie ein Stein im Wasser ein Geblubber an Worten in der Gruppe ausgelöst.

„Wenn es sein muss. Dann brauchen wir einen Platz für den Unterricht. Ich möchte die Kinder keinesfalls in dieser Situation zu Hause lassen. Am Montag kommen in der Früh Schulpsychologen.“

Sachlich und entschieden.

„Und wie lange kann das dauern?“

Die Frage war wieder an Jagowitsch gerichtet.

„Major Lovac leitet die Untersuchung“, war die nicht ganz logische Antwort.

„Zum derzeitigen Zeitpunkt können wir keine Prognosen stellen. Ich hoffe nur, dass wir die nötige Unterstützung bald bekommen. Staatsanwalt, Spurensicherung, Gerichtsmedizin.“

Das schien Kratki nun nicht zu interessieren. Er wollte in erster Linie das Problem der Schule lösen.

„Welche Möglichkeiten hätten wir?“

Er wandte sich jetzt an die Bürgermeisterin.

„Da fällt mir das Feuerwehrhaus und das Haus der Kulturvereine ein. In jedem ist Platz für eine Klasse.“

„Das wäre akzeptabel. Dann brauche ich nur noch einen Lehrer.“

In diesem Moment hielten weitere Fahrzeuge an. Aus dem ersten stieg voller Schwung der Herr Landesrat, der aus dem Bezirk stammte. Er war in Begleitung einer Mitarbeiterin. Fotografen und Reporter von Bezirkszeitungen und dem Regionalradio waren in seinem Schlepptau.

„Grüß euch!“

Er begann die Anwesenden mit Handschlag persönlich zu begrüßen. Bei einem Politiker nicht anders zu erwarten. Ein tiefer Blick in die Augen da, ein Klopfen auf die Schultern dort. Die Bürgermeisterin wieselte ihm nach und erstattete Bericht.

„Eine aufgezogene Puppe“, dachte Marko.

„Ich habe“, begann sie jeden Satz und endete mit Zeitwörtern. „Gesehen, getan, angeordnet, angeschafft.“

Wie ein Volksschulkind betete sie Reihensätze herunter. Dabei entwickelte sich eine Melodie. Mit jedem Satz stieg sie die Tonleiter hinauf, dabei steigerte sie gleichzeitig die Lautstärke, bis sie mit einem Crescendo hervorstieß:

„Ich habe die Landeshauptfrau angerufen.“

„Jetzt hat sie einen Orgasmus“, murmelte irgendjemand in Markos Nähe.

„Und die Chefin hat mich gebeten, hier Sicherheit und Ordnung aufrecht zu erhalten“, kam die Antwort des Landesrates.

Und ohne dass es ihm peinlich war, setzte er fort.

„Ich habe meinen Besuch bei der Rentner-Feier natürlich sofort abgebrochen. Du leitest die Ermittlungen.“

Keine Frage, sondern ein Auftrag. Jetzt war Marko dran „handgeschüttelt“ zu werden. Wie auf Kommando durchzuckten Blitze den Nebel. Der Landesrat lächelte zu den Fotografen.

„Nun wie weit sind wir?“

Erneutes Handschütteln.

„Wir“, Marko betonte es so, dass jeder spüren konnte, was er von dieser Vereinnahmung hielt, „wir können überhaupt nichts sagen. Zunächst müssen wir“, und wieder eine Betonung, „abwarten, was der Staatsanwalt anordnet.“

„Aber ich bitte dich, ich will mich doch nicht in eure Untersuchungen einmischen. Die Frau Landeshauptfrau und ich haben nur Interesse, dass nicht mehr Staub als nötig aufgewirbelt wird. Sicherheit ist nun einmal ein großes Bedürfnis. Die Bürger“ – eine Handgeste in die Runde- „sollen nicht unnötig aufgeregt werden. Und wenn einmal die Medien“ – jetzt ein kurzer Blick zu den Fotografen, den Redakteuren und in die laufende Kamera– „mit ihren Berichten begonnen haben, kann ich mir bald die Schlagzeilen vorstellen.“

„Was sollen wir deiner Meinung nach tun?“

Offensichtlich merkte der Landesrat nicht, wie paradox die Situation gerade durch ihn geworden war. Schon gar nicht hörte er den Sarkasmus in der Frage. Erst mit ihm waren die Medienvertreter erschienen und erst jetzt begann sich der aufgewirbelte Staub mit dem Nebel zu mischen. Der ideale Nährboden für Gerüchte.

„Die Frau Landeshauptfrau meint, ich soll klären, ob eine Ermittlung überhaupt notwendig sei. Sie hat gehört, es wäre Selbstmord. Man solle vor allem an die Kinder denken und jede unnötige Aufregung vermeiden.“

Jetzt wurde dem Major das Ganze zu bunt. Niemand konnte von ihm verlangen, sich diesen Blödsinn anzuhören. Außerdem kannte er die Landeshauptfrau und hatte den Verdacht, dass sie keine Ahnung hatte, wofür sie herhalten musste. Bevor er jedoch scharf antworten konnte, mischte sich Franz ein:

„Wir sind Beamte und machen unsere Pflicht.“

„Natürlich, natürlich, das sollt ihr auch. Aber könnt ihr ungefähr sagen, wie lange es dauern wird, bis ihr eure Pflicht erledigt habt?“

„Wir sind es gewohnt, rasch zu arbeiten. Aber es hängt von den Ermittlungen ab.“

„Und von der Unterstützung“, fügte Marko hinzu.

„Ohne Spurensicherung können wir nicht weitermachen. Wann die kommt, wissen wir nicht.“

Ein fragender Blick war die Antwort und so erklärte er noch, dass eben keine Überstunden angeordnet wurden.

„Ja, ja, sparen müssen wir alle.“

Mehr fiel dem Landesrat dazu nicht ein. Abrupt drehte er sich weg und wandte sich der Bürgermeisterin und dem Schulinspektor zu. Und mit ihm die Reporter, Blitzlichter und Scheinwerfer. Plötzlich stand Marko im Dunkeln. Das war ihm ganz recht. Die Einladung der Bürgermeisterin, mit ihnen ins Wirtshaus zu kommen, lehnte er ab.

„Was machen wir jetzt?“

Jelka stellte die Frage.

„Zunächst noch einen Kondolenzbesuch. Kommt ihr zwei mit?“

Das war für sie selbstverständlich.

„Franz, ich rufe nicht an, sag du Christina, dass ich so bald als möglich komme!“

„Dann auf in die Thujenburg“.

Jelka packte ihr Notebook zusammen. Auf die fragenden Blicke des Majors fügte sie hinzu:

„So nennen die Leute das Haus von Frau Borr.“

Als sie ankamen war sofort klar, warum das Haus bei der Dorfbevölkerung so hieß. Es war jetzt zwei Jahrzehnte her, dass im Zuge einer Dorferneuerung Bepflanzungen subventioniert worden waren. So wuchsen die Thujenhecken im ganzen Land. Marko schätzte das Borrsche Ergebnis dieser Verschönerungsaktion auf gut drei Meter Höhe, so dass vom Haus nur der Dachfirst zu sehen war. Verstärkt wurde dieser Festungscharakter durch ein hohes Tor aus Metallpaneelen.

Natürlich war es nicht notwendig, dass sie jetzt zu dritt bei Frau Borr aufmarschierten, aber Marko hielt es für wichtig, dass sein Team von Anfang an, so weit als möglich, miteinander auftrat. Außerdem wollte er Mike und Jelka bei der Arbeit beobachten. Viel Zeit blieb ihm nicht, sich ein Bild von ihrer Arbeitsweise zu machen.

Ein junger Mann öffnete auf ihr Läuten hin. Es war Simon, den Sohn des Toten, der auch in der Schule gewesen war. Marko kannte ihn eher flüchtig. Er hatte nur gehört, dass er, trotz seiner Jugend als Erziehungswissenschafter an einer Pädagogischen Hochschule in Wien unterrichtete.

„Sie sind es? Ich dachte meine Schwester sei gekommen.“

„Guten Abend. Zunächst unser Beileid. Wir hätten noch ein paar Fragen.“

„Aber meine Oma schläft schon.“

„Ist auch nicht notwendig, dass wir sie wecken.“

Inzwischen waren sie im Wohnzimmer angekommen.

„Herr Borr, wo waren Sie, als die Nachricht kam?“

„Ich war im Haus meiner Mutter in Rauchwart. Um 16,47 hat mich Frau Nemski telefonisch benachrichtigt.“

Immer wenn eine Zeit so exakt angeführt wurde, läuteten bei Marko die Alarmglocken. So, als ob er seine Gedanken lesen könnte, führte Simon weiter aus.

„Ich habe vorhin meine Nachrichten nachgelesen. Da habe ich die Anrufzeit gesehen.“

„Wer ist Ihre Mutter?“

Jelka mischte sich ein.

„Nur für mein Protokoll.“

„Annamaria Kapelan, die Volksschuldirektorin von Gamischdorf. Wir waren bei ihr zu Hause. Meine Schwester, ihr Freund, meine Mutter, ihr Mann und ich. Die beiden Frauen sind dann einkaufen gefahren. Ich sage Ihnen gleich, dass das Verhältnis zwischen meinem Vater und mir frostig ist, besser gesagt, war. Gelinde ausgedrückt.“

Dann nach einer Pause fuhr er ungefragt fort.

„Offen gesprochen: ich hielt ihn für einen Arsch. Meine Eltern sind seit 20 Jahren geschieden und seither gehe ich ihm aus dem Weg.“

„Wissen Sie vielleicht ob Ihr Vater bedroht wurde?“

Mike wollte anscheinend auch zur Befragung beitragen. Sichtlich genervt antwortete Simon, dass er ja gerade sein Verhältnis zu seinem Vater erklärt habe.

„Das ist jetzt keine Antwort auf meine Frage“, replizierte Mike im Stile eines Fernsehkommissars.

Das Gespräch ging in eine Richtung, die Marko ganz und gar nicht behagte. „Vernehmungstaktik“ dachte er, „darüber müssen wir uns baldigst unterhalten.“

„Ich darf Sie bitten, morgen zwischen 10 und 12 Uhr am Bezirkspolizeikommando in Güssing vorbei zu kommen, damit wir Ihre Aussage protokollieren können.“

Simon und Mike schauten Marko aus unterschiedlichen Gründen verdutzt an.

„Meine Aussage. Aber ich habe doch…“

„Und Ihre Fingerabdrücke werden wir auch nehmen. Wo finden wir Ihre Schwester?“

„Fingerabdrücke? Meine? Also das ist doch! Wissen das Ihre Vorgesetzten?“

„Das ist reine Routine“, hakte Mike ein.

„Wir müssen alle Fingerabdrücke in der Klasse mit denen jener Personen abgleichen, die am Tatort waren.“

„Tatort, ich höre Tatort. Warum können Sie nicht akzeptieren, dass er Selbstmord begangen hat. Übrigens seine erste gute Tat seit langem.“

„Ist schon gut Simon. Die Herren machen nur ihre Arbeit.“

Das ist jetzt typisch für Frau Borr, dachte Marko. Plötzlich zu erscheinen und die Frau in ihrer Mitte einfach zu übersehen. Eigentlich akzeptierte sie nur den Offizier. Und das zeigte sie jetzt auch.

„Herr Kommissar oder Oberkommissar oder wie spricht man dich an?“

„Unsere Dienstgrade tun nichts zur Sache. Wir drei haben die Ermittlungen übertragen bekommen.“

Hier wurde nach seinen Spielregeln gespielt. Das sollte sie ruhig merken.

„Wann haben Sie Ihren Sohn zum letzten Mal gesehen?“

„Gestern Abend war er hier und hat mir Einkäufe vorbeigebracht. Er blieb nicht lange, weil er noch für den Elternabend heute vorzubereiten hatte. Sagte er. Wo er wirklich hingegangen ist, weiß ich nicht. Schon lange nicht mehr!“

Nun hakte Jelka ein.

„Frau Borr,“

„Frau Direktor Borr“, fiel ihr Simon ins Wort, „so viel Zeit muss sein.“

„Als ich in die Klasse kam, haben Sie zu Frau Nemski gesagt, jetzt haben sie ihn umgebracht und jetzt hat sie ihn umgebracht. Was haben Sie damit gemeint?“

Jelka schien sich nicht leicht einschüchtern zu lassen.

„Ich habe kroatisch gesprochen. Mit Frau Nemski spreche ich kroatisch.“

„Sada su ga umorili. Sada ga je umorila. Diese zwei Sätze habe ich gehört.“

Marko hörte interessiert zu. Sie ließ nicht locker, war aber nicht so plump wie Mike.

„Alles hat ihn umgebracht. Seine Art zu leben, seine Weibergeschichten, lass nur Simon, ich kenne sie, nicht alle, aber viele. Seine Berufsauffassung, seine Besserwisserei, das alles hat ihn umgebracht. Getötet hat er sich dann selber.“

„Sehen Sie Frau Direktor und daran gibt es Zweifel.“

„Dann müsst Ihr jetzt einen Mörder suchen.“

Nur kurz ließ sie sich die Überraschung anmerken.

„Mörder, was heißt Mörder?“

Die Frauen der Familie Borr hatten anscheinend alle dieselbe Gabe. Lautlos und unerwartet zu erscheinen. Und wenn es sich um Sophie, die Tochter des Verstorbenen handelte, konnte man sicher sein, dass sich alle Blicke ihr zuwandten. Die der Männer bewundernd, die der Frauen wahrscheinlich mit gemischten Gefühlen. Sicher war häufig auch Neid dabei. Natürlich pfiff Marko jetzt nicht. In Gedanken schon. Er musste zugeben, dass er sie äußerst unprofessionell taxierte. Freundlich gesagt.

An ihrem Auftreten merkte man, dass sie sich ihrer Wirkung auf Männer sehr bewusst war. Sie war äußerst hübsch, hatte eine sportliche Gestalt und offensichtlich Stil. Ihr gesamtes Gehabe schien zu sagen:

“Seht her, wie attraktiv ich bin.“

Da die Männer mit Anstarren beschäftigt waren, ergriff Jelka das Wort.

„Guten Abend. Wir müssen leider davon ausgehen, dass Ihr Vater ermordet worden ist.“

Die Angesprochene ignorierte Jelka. Mit niederen Dienstgraden gab sie sich nicht ab.

„Müssen Sie? Warum?“

Die Fragen kamen knapp, eher teilnahmslos und waren an Marko gerichtet. Inzwischen hatte sich dieser wieder gesammelt.

„Die Indizien sprechen dafür.“

„Sie werden wissen, was Sie zu tun haben, Herr Lovac. Aber, was geht uns das an?“

„Wir wollen uns einfach ein Bild machen. Wann haben Sie Ihren Vater das letzte Mal gesehen?“

„Gesehen? Kann ich Ihnen beim besten Willen jetzt nicht sagen. Da müsste ich in meinem Terminkalender nachschauen. Dann und wann haben wir miteinander telefoniert oder einander kurz geschrieben. Aber wir haben ganz selten persönlichen Kontakt gehabt. Und seit ich mit Julian zusammen bin, hat es sowieso dauernd nur Streit gegeben.“

„Julian Kapelan ist ihr Verlobter!“

Mike mischte sich ein.

„Genau. Und bevor Sie jetzt weiter Zeit mit Erhebungen vertrödeln: Er ist aus erster Ehe der Sohn des Mannes meiner Mutter. Wenn Sie so wollen eine Patchwork Liebe. Macht uns das jetzt verdächtig?“

Attraktiv aber bitter, dachte Marko. Laut antwortete er.

„Das macht Sie nicht verdächtig.“

Die Betonung des „das“ war eigentlich zu heftig ausgefallen.

„Aber ich muss Sie fragen: wo waren Sie heute am Nachmittag zwischen 15 und 17 Uhr?“

„Meine Mutter und ich waren im EO shoppen. So ungefähr um halb fünf waren wir zu Hause. Wenn Sie mich nach Zeugen fragen, jede Menge, aber ich kenne niemanden. Dann kam der Anruf.“

„In der Schule waren Sie aber nicht?“

„Simon wollte sich um Oma kümmern. Wüsste nicht was ich dort noch zu tun gehabt hätte.“

„Frau Direktor, wie ist das Verhältnis zu Ihrer ehemaligen Schwiegertochter?“

Die Angesprochene schaute Marko an. So, wie sie ihre Schüler früher nach einer besonderen Dummheit angesehen hatte.

„Wenn sie einander treffen, grüßen sie sich, aber das ist es schon.“

Sophie kam zu Hilfe. Marko fand, dass es jetzt Zeit wurde, zu gehen. Er konnte sich nicht vorstellen, hier noch sachdienliche Hinweise zu erhalten. Er wiederholte seine Aufforderung bezüglich des Protokolls.

„Darf ich meinen Vater noch einmal sehen?“, fragte jetzt die Tochter.

„Selbstverständlich. Wir werden das morgen arrangieren.“

Ein kurzer Gruß und sie ließen die Familie alleine zurück. Wie auf Kommando atmeten alle drei laut aus, als sie das Tor passiert hatten.

„Ich denke, das war es für heute. Treffen wir uns Morgen um halb Zehn im Büro. Dann haben wir noch Zeit, uns abzusprechen. Es hat keinen Sinn, jetzt noch nach Güssing zu fahren.“

Bevor Marko ins Auto stieg sandte er noch schnell eine SMS an seinen Sohn, um ihm Glück zu wünschen. Ein kurzes „zenks“ kam prompt zurück. Also hatte ihr Auftritt noch nicht begonnen.

Er nahm den Güterweg nach Berglein. Bei Korbinian, einer von den Tirolern, die in der Pension vermehrt hierherzogen, löste der Dorfname Belustigung aus. „Klein ja, aber wo isch der Berg?“, war lange so ein Standardsatz gewesen. Als sie aber vorigen Sommer mit den Rädern zum Buschenschank nach Winten gefahren waren, hatte er schon anders getönt.

„Dieses dauernde Auf und Ab isch aauch nit ohne“, meckerte er während der Hinfahrt.

Und beim Rückweg kam die Erkenntnis, dass „den Berg dann merkscht, wenscht Uhudler getrunken hascht. Je mehr du trinkscht, umso höher wird er, “ war dann die philosophische Erkenntnis gewesen.

„U dobru i zlu“ tönte die Melodie aus seinem Telefon.

„Franz!“

„Wie weit bist du?“

„Auf dem Weg zu euch!“

„Dein Chef hat mich gerade angerufen.“

„Hat er sein Gansl schon verdrückt? Mich hat er nicht erreicht?“

„Er meinte, er wolle mir nur direkt Bescheid geben. Als Bezirkskommandanten.“

Sein Chef und er hatten ein gestörtes Verhältnis. Besser gesagt sie fanden einfach keinen Draht zueinander. Marko hatte sich um die Leitung der Kriminalabteilung im Burgenland beworben. Sein derzeitiger Chef Weber war als Landeskomman