Emma und das vergessene Buch - Mechthild Gläser - E-Book
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Emma und das vergessene Buch E-Book

Mechthild Gläser

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Beschreibung

Buchspringer-Autorin Mechthild Gläser greift in diesem humorvollen Fantasy-Roman erneut ein literarisches Thema auf. Zum 200. Todesjahr von Jane Austen adaptiert sie Figuren und Motive aus den Büchern der beliebten Autorin und greift damit die schönsten Liebesromane der Literaturgeschichte auf, nicht ohne daraus eine ganz eigene fantastische Geschichte mit vielen Überraschungen zu zaubern. Als Emma beim Aufräumen in der Bibliothek ihres Internats ein altes Notizbuch findet, denkt sie zunächst, es wäre eine Art Chronik der Schule. Aber es ist genau umgekehrt: Alles, was man in dieses Buch hineinschreibt, wird tatsächlich wahr. Natürlich beginnt Emma sofort damit, den Schulalltag auf Schloss Stolzenburg ein wenig zu "korrigieren". Doch nichts geschieht so, wie sie es sich gedacht hat. Zumal auch schon früher Chronisten das Buch genutzt haben. Zum Beispiel eine junge Engländerin, die Ende des 18. Jahrhunderts ein Märchen über einen Faun verfasst hat und später eine erfolgreiche Schriftstellerin wurde. Oder Gina, die vor vier Jahren plötzlich verschwand, nachdem sie ihre Geheimnisse der Chronik anvertraut hatte. Als sich jetzt auch noch Ginas Bruder Darcy einmischt, ist das Chaos perfekt. Denn Emma und Darcy sind einander in herzlicher Abneigung zugetan – zumindest glauben das die beiden.

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Seitenzahl: 411

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Zitat

Im Anfang war das Wort

Johannes 1,1

Vorspann

Eines Nachts

Sie weinte, als sie den Griff herumdrehte und daran ruckte. Das Fenster klemmte, denn es war alt. Altehrwürdig, wie alles hier. Es gehörte zu einem dieser Orte, die wirkten, als könne die Zeit ihnen nichts anhaben, als wehe sie bloß an ihnen vorbei wie Blätter im Wind. Ein Ort, an dem alles schon immer so gewesen war, für den Sekunden und Jahre bedeutungslos sein mussten. Selbst die Nacht schien hier seit Jahrhunderten die Gleiche zu sein. Finster, schwärzer als schwarz, thronte sie auf den Wipfeln der Bäume und strich um die mächtigen Mauern wie eh und je und doch hatten sich die Dinge verändert. Die Dinge, die Menschen und die Worte.

Und zwar nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.

Mit zitternden Knien stieg sie auf das Fensterbrett, blinzelte die Tränen fort und atmete die uralte Dunkelheit. Nicht einmal der Mond, so kam es ihr vor, wollte dabei sein, jetzt, wo es so weit war. Aber sie wusste auch so, dass sie allein war. Einen Moment lang zögerte sie noch, dann schloss sie die Augen und alles geschah wie von selbst. Die Nacht strömte in ihre Lungen. Das Blut brauste in ihren Ohren, als sie sich vorlehnte, die Finger vom Rahmen löste, die Füße über die Kante schob. Worte blitzten in ihren Gedanken auf, versuchten, sie zu locken. Aber sie konnten sie nicht mehr erreichen, sie würde die Worte hinter sich lassen, genau wie alles andere.

Sie brachte sie zum Schweigen, indem sie sprang.

Für die Dauer eines Herzschlags war sie Teil der ewig gleichen Nacht, dann kam die Erde, schnell. Trotz allem überraschend.

Doch der Aufprall war nicht so hart, wie sie befürchtet hatte. Hart ­genug allerdings, um sich den Knöchel zu verstauchen. Sie biss die Zähne zusammen und rannte los. Waren es noch Menschenfüße, die sie trugen?

Der Schmerz durchzuckte sie bei jedem Schritt, heiß und scharf. Trotzdem lief sie weiter. Sie konnte längst nicht mehr zurück, selbst wenn sie es gewollt hätte. Es war sowieso zu spät, nichts mehr zu ändern. Nichts mehr zu machen. Nicht weit bis zum Rhein.

Er wartete schon auf sie.

Kapitel 1 – Es ist eine …

Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass es kaum etwas Schöneres gibt, als nach langer Abwesenheit wieder nach Hause zu kommen. So ging es mir jedenfalls, als ich an einem regnerischen Freitag nach Stolzenburg zurückkehrte. Um den Bergfried hingen Nebelschwaden und der Schlosshof wirkte grau im diesigen Licht des Nachmittags. Für August war es ungewöhnlich kühl.

Trotzdem blieb ich lange vor den Doppeltüren des Eingangsportals stehen, schloss die Augen und sog den Geruch nach nassem, uraltem Mauerwerk tief in meine Lungen. Tropfen platschten mir ins Gesicht wie ein stürmisches Begrüßungs­komitee, während der Wind an meinem Pferdeschwanz zerrte, als versuche er, mit ihm zu tanzen.

Endlich! Endlich war ich wieder zu Hause!

Jedenfalls war dies der Ort, den ich seit vier Jahren so bezeichnete, der erste Ort in meinem Leben, der sich wie ein echtes Zuhause anfühlte. Ich wollte gerade die Arme ausbreiten und mich vor Freude im Kreis drehen, als das Geräusch eines herannahenden Autos mich im letzten Moment davon abhielt.

Durch das Tor bog eine schwarz glänzende Limousine, aus der kurz darauf Helena von Stein schwebte (Klassenbeste und amtierende Schulsprecherin) und einen eleganten Schirm aufspannte.

Ich ließ die Arme wieder sinken.

»Emma.« Helena musterte meinen vom Regen durchweichten Trolley und die Schlammspritzer auf meinem roten Sommermantel, während der Chauffeur ihr eigenes Gepäck (Koffer, Hutschachtel und Beautycase) aus dem Wagen lud. »Oje, bist du etwa hergelaufen?« Sie hob eine Augenbraue.

»Hallo, Helena.« Ich strahlte sie an. Nicht einmal die Steinprinzessin würde mir heute die Laune verderben können. Es stimmte, ich hatte ein ganzes Stück zu Fuß zurücklegen müssen, nachdem mein Vater schon wieder vergessen hatte, mich vom Flughafen abzuholen. Genauer gesagt war ich von Köln-Bonn aus mit einem Zug und zwei Bussen gefahren und dann die letzten drei Kilometer vom Dorf bis zur Burg heraufgewandert. Alles in allem war ich inzwischen seit über acht Stunden unterwegs. Aber das würde ich Helena bestimmt nicht auf die Nase binden. »Ich liebe es, spazieren zu gehen«, erklärte ich ihr. »Und wie waren deine Ferien? Du wurdest hoffentlich nicht wieder von diesem Poolboy gestalkt?«

Helenas Mundwinkel zuckten. »Unsinn«, sagte sie und deutete auf ihre gebräunten Wangen. »Ich komme direkt von Mauritius und es war traumhaft. Und du? Hast bestimmt wieder deine Mutter in England besucht, was?« Aus ihrem Mund klang das Wort England einem Gähnen nicht unähnlich. Weil ihre Eltern Diplomaten waren, hatte Helena allerdings auch schon so viele Länder gesehen, dass man sie wohl höchstens mit einem Mondflug hätte beeindrucken können.

»Wir haben dieses Mal eine Rundreise gemacht«, erklärte ich trotzdem. »Eine, äh, kunsthistorische Studienreise, wenn du es genau wissen willst. Das war wahnsinnig interessant.«

»Ah klar, wie … öhm … spannend. Na dann.« Sie warf ihr dunkles Haar zurück und folgte ihren Koffern ins Innere des Schlosses, ehe ich etwas erwidern konnte. Und das war vermutlich auch besser so, denn ich hätte, ehrlich gesagt, lieber ein weiteres Mal meinen Trolley vom Dorf bis zur Burg geschleppt, als Helena irgendwelche Einzelheiten über die vermeintliche »Studienreise« zu erzählen. Dabei hatte der Vorschlag meiner Mutter am Anfang gar nicht schlecht geklungen.

Dass die Sommerferien in diesem Jahr mit einer Vortragsreise von Mamas neuem Freund zusammengefallen waren, erschien zunächst sogar wie eine glückliche Fügung. »Wir haben Einladungen im ganzen Land«, hatte sie vorher geschwärmt. »Dann siehst du auch mal ein bisschen was und nicht immer nur Cambridge.« Obwohl meine Mutter dazu neigte, sobald John in der Nähe war, nur noch mit rauchiger Stimme zu sprechen und sich andauernd die Lippen nachzuschminken, hatte ich mich auf die sieben Wochen mit ihr und Ausflüge nach London, Manchester, Brighton und Newcastle gefreut.

Es hatte sich jedoch bald herausgestellt, dass John (seines Zeichens angesehener Literaturprofessor) wenig von unseren geplanten Mädelsausflügen hielt und stattdessen darauf bestand, dass wir ihn auf Schritt und Tritt begleiteten, um seine Unterlagen zu tragen, ihm Wasser einzuschenken und den Stift zum Signieren seiner Bücher zu reichen. Am Ende, nach zwei­undvierzig Stationen in zweiundvierzig muffeligen Gemeindesälen irgendwo zwischen Surrey und Sussex, war ich jedenfalls sicher gewesen, auf der Stelle vor Langeweile zu sterben, wenn ich das immer gleiche, vierstündige Referat über Schriftstellerinnen des vorletzten Jahrhunderts noch ein einziges Mal würde anhören müssen. Von wegen Urlaub! Trotz allem hatte ich beschlossen, positiv, ja gestärkt aus dieser Reise hervorzugehen. Natürlich war ich weder von einem süßen Poolboy noch von dem vermögenden Erben eines cornischen Landsitzes »belästigt« worden. Aber dafür waren meine Ferien derart langweilig gewesen, dass man sie geradezu als … meditativ bezeichnen musste. Ja, das war das richtige Wort. Andere Leute verbrachten sieben Wochen auf einem Nagelbrett in einem tibetischen Bergkloster, um zur inneren Erleuchtung zu kommen, und ich hatte es eben (eindeutig nicht minder asketisch) in zweiundvierzig britischen Gemeindesälen so weit gebracht.

Dort war mir nämlich zwischen Johns geschwollenen Reden und dem atemlosen Kichern meiner Mutter über jeden seiner noch so lahmen Witze letztlich bewusst geworden, was ich tun würde. Denn inzwischen war ich immerhin sechzehn Jahre alt und es erschien mir daher an der Zeit, ein paar Dinge in Angriff zu nehmen. Dinge, die vielleicht sogar längst überfällig waren. Zum Beispiel, der Steinprinzessin endlich den Schulsprecherinnenposten streitig zu machen. Eine Bibliothek zu entrümpeln. Überhaupt ab sofort klüger und eleganter und unabhängiger zu sein. Ach ja, und dann war da noch die Sache mit Frederick …

Nachdem Helena verschwunden war, dachte ich allerdings zuerst darüber nach, es noch einmal mit dem Tanzen im Regen zu versuchen. Weil ich jedoch befürchtete, dass der Chauffeur jeden Moment zurück oder weitere Schüler ankommen könnten und mir außerdem langsam kalt wurde, entschied ich mich letztlich dann doch dagegen.

Stattdessen beschränkte ich mich darauf zu seufzen, den Kopf in den Nacken zu legen und noch einmal tief durchzuatmen. Pure, regenkühle Stolzenburgluft. Ja, es war wirklich gut, wieder hier zu sein, zurück in Deutschland und auf dem Schloss. Die Gärtner hatten sogar einige der Kübel, die die Einfahrt säumten, mit den pinkfarbenen Fuchsien bepflanzt, die ich so mochte. Ich lächelte in mich hinein.

Das neue Schuljahr würde am Montag beginnen und ich, Emma Magdalena Morgenroth, hatte das Gefühl, nie bereiter gewesen zu sein. Bereit für die 10. Klasse. Bereit, erwachsen zu werden. Ich wuchtete meinen Koffer die Freitreppe hinauf, dann straffte ich die Schultern und betrat die imposante Eingangshalle des Internats.

Noch am selben Tag fand ich das Buch.

Später fragte ich mich manchmal, was geschehen wäre, wenn ich nicht darauf gestoßen wäre. Wenn wir gar nicht erst in die Bibliothek gegangen wären. Oder, wenn ich es zwar gefunden, aber einfach beiseitegelegt hätte. Wenn ich es irgendwo in ein Regal geschoben hätte? Was wäre dann geschehen?

Die westliche Bibliothek lag, wie der Name vermuten ließ, im westlichen Flügel des Schlosses und damit in jenem Teil des Gemäuers, der kaum noch für den Schulbetrieb genutzt wurde. Während sich im nördlichen Trakt die Unterrichtsräume und im Ostflügel die Schlaf- und Aufenthaltsbereiche der handverlesenen Schüler des Internats befanden, stand der Westflügel seit der letzten Umbauphase vor etwa achtzig Jahren in weiten Teilen mehr oder weniger leer.

Einer der früheren Schulleiter hatte damals entschieden, das Lehrpersonal nicht länger auf der Burg selbst, sondern stattdessen in eigenen Wohnungen in den angrenzenden Wirtschaftsgebäuden unterzubringen. Der Westflügel, der im Übrigen der älteste Teil Stolzenburgs war, wurde seitdem vornehmlich als Lager für zerfledderte Karten, ausrangierte Möbel und Kisten mit vergilbten Klassenarbeitsheften genutzt. Mit seinen meterdicken Mauern und den steinernen Treppenhäusern war er nur schwer zu heizen und im Winter froren hier regelmäßig die Wasserleitungen ein. Einzig der Ballsaal im ersten Stock kam regelmäßig zum Einsatz. Die Etagen darüber hingegen befanden sich die meiste Zeit über in einer Art staubig-kaltem Dornröschenschlaf.

Ich hielt das schon länger für eine ziemliche Verschwendung, wenn man bedachte, wie schön zum Beispiel die westliche ­Bibliothek war. Dass der Raum perfekt für unsere Zwecke sein würde, hatte ich bereits geahnt. Doch nun, da ich es mit eigenen Augen sah, war ich begeistert: Regale bedeckten die Wände vom Fußboden bis zur mit edlem Holz vertäfelten Decke. Selbst um die Fenster herum hatte man Borde angebracht und alle waren gefüllt mit alten, kostbar gebundenen Büchern (denen das Medienzentrum des Internats, auf das jeder Schüler per WLAN zugreifen konnte, natürlich längst den Rang abgelaufen hatte).

Außerdem gab es einen offenen Kamin und einen gigantischen Eichenschreibtisch, mehrere Sessel und Couchen mit geschnitzten Beinchen, einen kleinen Intarsientisch und einen ausladenden Kronleuchter, der noch aus den Anfangszeiten der elektrischen Beleuchtung stammen musste. Nur die kaputten Möbel und Lampen, die zerfledderten Papiere und die Kisten voller alter Atlanten, garniert mit Tonnen von Schmutz und Spinnweben, störten ein wenig. Aber das ließ sich ja ändern. Ich krempelte die Ärmel meines Pullovers hoch.

»Hübsch«, sagte Charlotte, während sie mit dem Handy ein Foto von dem Gerümpel vor uns machte, um es später zu posten. »Aber bist du dir sicher, dass dein Vater nichts dagegen hat?«

Charlotte war Engländerin, etwas kleiner und zierlicher als ich und sah aus wie eine Porzellanpuppe mit honigfarbenen Locken. Sie trug am liebsten Shirts mit Katzenmotiven (heute eine Variante mit zwei schwarzen Kätzchen, deren Schwänze ein Herz bildeten) und außerdem war sie meine allerbeste Freundin. Seit vier Jahren, seit dem Tag, an dem ich nach Stolzenburg gekommen war, saßen wir in jedem Fach nebeneinander und erzählten uns alle Geheimnisse.

»Ach, Quatsch«, sagte ich. »Der Raum wird doch sowieso nicht genutzt.« Während der langweiligsten Ferien in der Geschichte der Ferien hatte ich mir alles genau ausgemalt. Wir würden uns diese Bibliothek als unseren ganz privaten Rückzugsort herrichten. Fernab von allem Schulstress und dem Gedränge in den Gemeinschaftsräumen. Um das Einverständnis meines Vaters machte ich mir keine Sorgen, er neigte dazu, mir so gut wie alles zu erlauben, worum ich ihn bat. Es war daher eher eine Formsache und ich würde ihn bei Gelegenheit fragen.

Wir kletterten über Kartons und Gerümpel. »Sieh dir nur all die Bücher an. Ist es hier nicht wunderschön?«, sagte ich, als wir die Mitte des Raumes erreicht hatten. »Und der Kamin! Im Winter machen wir uns ein Feuer, trinken Tee und lesen gewichtige Klassiker, während die Standuhr dahinten die Stunden schlägt und sich am Fenster Eiskristalle bilden. Das wird gemütlich.«

Charlotte musterte mich. »Klassiker? Du meinst so spannende Lektüre wie Nathan der Weise von Lessing?«

Erwischt! Charlotte konnte sich natürlich genau an meine gelangweilten Kommentare zu dem Stück erinnern, das wir in der neunten Klasse gelesen hatten.

Ich schob eine klapprige Stehlampe zur Seite. »Es geht dabei ja auch nicht unbedingt um die Bücher. Ich dachte eher an so eine Art Geheimbund.« Seit ich neulich einen Artikel über berühmte Studentenverbindungen in den USA gelesen hatte, war ich fasziniert von der Vorstellung, meinen eigenen kleinen Elitetreff auf Stolzenburg zu unterhalten. Wir waren hier schließlich auf einer der besten und ältesten Schulen Europas und insgeheim träumte ich von einer Organisation wie Skull and Bones. Nur ohne peinliche Sachen, wie nackt in Särgen rumliegen oder so. »Wir könnten uns hier treffen und in Ruhe quatschen, Hausaufgaben machen, Filme schauen. Du wirst sehen, das wird super.«

»Sich nicht jeden Abend um die Couchecken im Gemeinschaftsraum streiten zu müssen, hätte schon etwas für sich«, räumte Charlotte ein. Einen Moment lang sah sie sich noch im Zimmer um, dann seufzte sie. »Aber wir sollten Staub­ wischen.«

»Danke!« Ich strich mir den Pony aus dem Gesicht und konnte mit einem Mal nicht mehr verhindern, wie ein Wasserfall loszusprudeln: »Also, ich habe mir alles genau überlegt. Als Erstes müssen wir diesen ganzen Krempel hier loswerden, ich dachte an das Schlafzimmer gegenüber, da ist ja genug Platz. Wobei ich nicht weiß, ob wir alles alleine tragen können. Aber wir versuchen es einfach mal. Dann fegen wir und unternehmen etwas gegen die Spinnweben und ihre ekligen Bewohner. Und diese Kommode hier … hey, warum umarmst du mich plötzlich?«

»Ich hab dich vermisst. Mir ist jetzt erst klar geworden, wie sehr«, sagte Charlotte und drückte mich. Sie roch noch ein wenig nach Strand und Sonnenmilch, denn auch sie war gerade erst aus dem Urlaub zurückgekommen. Ihre Familie war auf Lanzarote gewesen. »Es war echt nicht so toll bei deiner Mum, was?«, fragte sie dann.

»Ach, es ging«, murmelte ich. Charlotte kannte mich zu gut. Sie wusste, je enthusiastischer ich mich in unser Internatsleben stürzte, umso weniger war ich mit meiner Familie im Reinen. Dabei hatten Mama und ich uns ja nicht einmal gestritten. »Man konnte es ertragen. Es war nur …« Ich überlegte einen Moment lang, warum mich die verpatzten Ferien derartig wurmten. Langeweile war kein Weltuntergang – und trotzdem … »Ich glaube, mir ist bloß insgesamt klar geworden, dass ich nicht mehr darauf zu warten brauche, dass meine Eltern irgendetwas für mich regeln. Das ist alles«, erklärte ich schließlich.

Im Grunde war das nun wirklich keine bahnbrechende Erkenntnis gewesen. Wenn ich ehrlich war, war ich bereits seit der Trennung meiner Eltern vor fünf Jahren auf mich gestellt. Mein Vater hatte viel zu viel mit sich selbst und seinem Schulleiterposten zu tun und meine Mutter war in England mit ihrem eigenen verrückten Leben beschäftigt. Ich hatte schon mit elf, als wir noch in Hamburg wohnten, meine Klamotten gewaschen, meine Hausaufgaben selbst kontrolliert und überlegt, was ich zum Essen einkaufen sollte.

Nein, die Erkenntnis bestand höchstens in dem Eingeständnis, dass das, was ich bisher immer als eine Art vorübergehenden Zustand betrachtet hatte, sich wohl nie mehr ändern würde. Mein Vater würde immer so viel zu tun haben wie jetzt und meine Mutter würde weiterhin mit der Suche nach sich selbst ausgelastet sein. Und ich war inzwischen sechzehn und damit definitiv kein Kind mehr. Nur ich konnte mein Leben in die Hand nehmen und das würde ich eben ab sofort tun. So einfach war das. Von nun an würde ich jemand sein, der die Dinge anging.

Charlotte zupfte an meinem Zopf. »Also gut«, sagte sie. »Dann lass uns dieses Schuljahr zum besten unseres Lebens und diese Bibliothek zu unserem Hauptquartier machen.«

Wir grinsten uns an, dann begannen wir mit den Aufräumarbeiten. Gemeinsam schleppten wir Kisten und Papiere, dreibeinige Stühle und knittrige Lampenschirme in eines der Nebenzimmer auf der anderen Seite des Korridors. Darauf stapelten wir Globen mit veralteten Staatsgrenzen, mottenzerfressene Kissen und morsche Tennisschläger. Es dauerte beinahe zwei Stunden, all das überflüssige Zeug hinüberzuschaffen. Dann jedoch stand nur noch eine alte Kommode in der Mitte des Raumes, die sich beim besten Willen nicht bewegen ließ. Ein zentnerschweres Mistding war das! Wir lehnten uns mit unserem gesamten Gewicht dagegen, stemmten die Beine in den Boden und schoben und zerrten mit aller Gewalt. Aber das Biest rührte sich keinen Millimeter von der Stelle.

Auch zu dritt waren wir nicht erfolgreicher, als kurz darauf Hannah, erst seit heute an der Schule und außerdem meine neue Zimmergenossin, dazukam, um uns zu helfen. »Ist das Teil vielleicht am Boden festgeschraubt?«, ächzte sie, während sie und Charlotte schoben und ich so fest zog, wie ich konnte.

»Oder angewachsen«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Verankert im Erdinneren. Wahrscheinlich haben sie das ganze Schloss um diese Kommode herumgebaut.«

Hannah kicherte.

Wir waren uns gleich sympathisch gewesen. Schon als Hannah den Inhalt ihres Koffers kurzerhand in den Kleiderschrank gekippt hatte, weil sie meinte, es mache keinen Unterschied, sie würde ohnehin jeden Morgen in ihren Sachen wühlen, bis sie das Richtige fände, hatte ich sie ins Herz geschlossen.

Natürlich hätte ich am liebsten mit Charlotte zusammengewohnt, jetzt, wo Francesca, meine bisherige Bettnachbarin, die Schule verlassen hatte. Aber Charlotte war seit Jahren mit der Steinprinzessin geschlagen und Frau Bröder-Strauchhaus, die Biologie und Mathematik unterrichtete und daneben auch über die Zimmerverteilung entschied, zeigte sich diesbezüglichen Veränderungen gegenüber alles andere als aufgeschlossen. (Die alberne Begründung dafür hatte irgendetwas mit Sozialkompetenz zu tun.)

Zum Glück war Charlotte der toleranteste und gutmütigste Mensch, den ich kannte, und ertrug Helena von Steins Launen seit der fünften Klasse, ohne sich je zu beschweren. Und zum Glück hatte Hannah im Gegensatz zu Charlotte und mir keine Angst vor Spinnen und setzte nun ein Exemplar nach dem anderen im Efeu ab, der neben den Bibliotheksfenstern die Schlosswand emporrankte.

Unterdessen fegte Charlotte den Dielenfußboden, während ich mir die Kommode in der Raummitte noch einmal vornahm. Ich hatte beschlossen, sie auszuräumen. Bestimmt würde das Ding dann leichter und letztendlich beweglicher werden. Ich begann, in den Schubladen zu kramen. Zuerst förderte ich eine Sammlung furchtbar hässlicher Gestecke aus Trockenblumen zutage, danach einen Stapel noch schrecklicherer, bemalter Porzellanteller. Es folgten Kerzenleuchter, bröselige Seifenstücke und vergilbte Stofftaschentücher.

Und dann, ja dann entdeckte ich das Buch.

Es steckte in einer Art Geheimfach, verborgen hinter einer Klappe in der untersten Schublade der Kommode, die ich fast übersehen hätte. Der Spalt im Holz war beinahe unsichtbar, er fiel mir überhaupt nur deshalb auf, weil ich mit dem linken Handgelenk daran hängen blieb und im ersten Moment befürchtete, mir einen Splitter in die Haut gerissen zu haben. Aber dann fühlte ich noch einmal über den Schubladenboden und ertastete die Ränder des rechteckigen Fachs. Ich fuhr mit dem Fingernagel hinein, hebelte ein wenig auf und ab und schaffte es schließlich, den dünnen Holzdeckel beiseitezuschieben. Darunter, in einer Vertiefung, die wie für es gemacht schien, lag das Buch.

Es war alt. Das sah man schon an dem abgegriffenen Einband aus dunklem Leinen. Die Ecken waren ausgefranst und der Stoff so fleckig, dass ich nicht erkennen konnte, welche Farbe er ursprünglich gehabt hatte. Grau? Braun? Blau? Vorsichtig hob ich das Buch aus seinem Versteck. Es war schwerer als gedacht und wärmer. Lebendig, dachte ich und erschrak selbst darüber.

Mit dem Ärmel wischte ich über den Einband, eine kleine Staubwolke bildete sich. Gleichzeitig wurden auf dem Leinen zarte Linien sichtbar. Keine Buchstaben. Kein Titel, sondern die schemenhafte Darstellung einer Gestalt. Eingeprägt in das Gewebe. Mehr zu erahnen, als zu erkennen. War es ein Mann? Oder … Nein, die Gestalt schien nicht wirklich menschlich zu sein. Auf dem Kopf trug sie so etwas wie geschwungene Hörner und auch die Beine wirkten merkwürdig krumm.

Ich strich mit den Fingerspitzen über den rissigen Stoff. Was stand wohl darin? Warum hatte jemand dieses Buch verborgen? Vor wem?

Mit einem Mal lag ein Wispern in der Luft, ein Flüstern, so leise, dass ich es mehr fühlte, als hörte. Ein raschelndes Murmeln, ein Summen, das die Härchen auf meinen Armen zum Vibrieren brachte und beinahe nach einem Namen klang.

Meinem Namen.

Äh, ja, klar.

Emma, wisperte das Buch entgegen jeglicher Vernunft. ­Eeeemmmmaaaaa!

Ich erschauderte …

… und schüttelte entschieden den Kopf. Also wirklich, so ein Blödsinn! Jetzt spielten mir meine Sinne schon Streiche.

Aber es war auch ein langer Tag gewesen. Zu lang. Die Rückreise von England nach Deutschland, der Weg vom Flughafen bis zum Schloss und dann auch noch diese Entrümpelungsaktion. Ich war seit so vielen Stunden auf den Beinen, da war es kein Wunder, dass ich langsam ein wenig dösig wurde. Ich war vollkommen übermüdet und selbstverständlich rief das Buch nicht meinen Namen oder sonst irgendetwas. Schon gar nicht war es lebendig. Ich sollte mich echt zusammenreißen. Oder schlafen. Ich gähnte.

»Lasst uns den Rest ein andermal machen. Ich glaube, es reicht für heute«, erklärte ich schließlich und hatte dann doch Mühe, den Blick von der schemenhaften Figur auf dem Bucheinband loszureißen.

Aber Charlotte und Hannah hatten ihre Reinigungsbemühungen sowieso schon eingestellt, wie mir nun auffiel. Der Besen lehnte in einer Ecke, die beiden stützten sich auf dem Fensterbrett ab und spähten in den Schlosshof hinunter.

»Sind das auch Schüler hier?«, fragte Hannah gerade. Sie stand auf den Zehenspitzen und beugte sich so weit aus dem offenen Fenster, wie sie konnte, ohne hinauszufallen.

»Eher nicht«, antwortete Charlotte. »Die beiden scheinen mir dafür ein bisschen zu alt … obwohl, auf die Entfernung ist das schwer zu sagen.«

»Na ja, zumindest sehen sie nicht schlecht aus, wenn du mich fragst. Das kann man auch von hier oben erkennen.«

»Mhm«, machte Charlotte und sah sich über die Schulter zu mir um. »Kennst du die Typen?«

Rasch trat ich ebenfalls ans Fenster und bekam gerade noch mit, wie zwei hochgewachsene junge Männer die Freitreppe hinaufstiegen. Sie verschwanden irgendwo unter uns im Schloss, bevor ich einen Blick auf ihre Gesichter erhaschen konnte. »Ich glaube nicht«, sagte ich trotzdem und betrachtete den Mini Cooper mit britischem Kennzeichen, der genau am Fuße der Treppe im Kies stand. »Aber anscheinend halten sie sich für zu wichtig, um den Parkplatz für Normalsterbliche zu benutzen.«

Ich hatte meinem Vater versprochen, mit ihm zu Abend zu essen. Als Charlotte und Hannah schließlich in Richtung Cafeteria aufbrachen, nahm ich deshalb den Weg über den Hof.

Mein Vater wohnte in der alten Remise in einer Wohnung mit hellen Parkettböden und Fenstern, die auf den Park hinausgingen. An den Wänden hingen afrikanische Masken und Trommeln. Papa selbst hatte Europa noch nie verlassen (das machte schon seine Flugangst unmöglich). Aber er bekam häufig Geschenke von Eltern oder ehemaligen Schülern oder Leuten, die sowohl das eine als auch das andere waren und wussten, dass er ein Faible für alles Exotische hatte.

Daher war ich, als wir uns kurz darauf im Esszimmer niedergelassen hatten, äußerst erleichtert zu sehen, dass ihm in diesem Jahr keiner der Schüler in Honig geröstete Heuschrecken oder ähnliche Insektensnacks aus den Ferien mitgebracht hatte. Die hatten unser letztes gemeinsames Essen vor einigen Wochen nämlich ganz schön versaut. Denn auch wenn Papa sie für noch so gesund hielt, ich würde nie, nie, Entschuldigung, aber wirklich niemals in einen Chitinpanzer beißen. Und Tiere, die mehr als vier Beine hatten, waren für meinen Speiseplan leider auch indiskutabel.

Für heute hatte er zum Glück Essen bei meinem Lieblingschinesen bestellt, sodass der Tisch aus poliertem Mahagoniholz nun übersät war mit Schachteln, Essstäbchen und Servietten.

»Meine arme kleine Emma«, sagte Papa nun schon zum dritten Mal und stocherte in seinem süß-sauren Hühnchen herum (wahrscheinlich bedauerte er im Stillen, dass es nicht so knusprig wie eine Riesenheuschrecke war). »Es tut mir so leid, dass ich dich nicht abgeholt habe. Hoffentlich hast du dich nicht erkältet. Bei dem Regen, herrje, warum hast du denn nicht angerufen?«

»Habe ich. Dein Handy war aus.« Wie übrigens immer. Denn mein Vater und moderne Technik passten schlicht nicht zusammen. Dass er für die Arbeit inzwischen überhaupt mittels E-Mail kommunizierte, grenzte sogar regelrecht an ein Wunder. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er weiterhin Briefe auf seiner alten Schreibmaschine getippt und das Internet nur genutzt, um sich über Google Earth fremde Länder aus sicherer Entfernung anzusehen. Wenn überhaupt. Das Internet war nämlich böse und ein Quell »unkontrollierbarer Reizüberflutung«. (So ähnlich hatte Papa es jedenfalls vor knapp achtzehn Jahren in seinem berühmten Erziehungsratgeber Das moderne Kind formuliert, der bis heute als Standardwerk in vielen elterlichen Bücherregalen zu finden war und dafür gesorgt hatte, dass Papa diesen Job bekommen und ich – quasi das ultimative »moderne Kind« – erst im vergangenen Jahr und nach langen Diskussionen in den Besitz eines Smartphones gekommen war.)

»Und der Festnetzanschluss im Büro?«, fragte mein Vater weiter. »Da hättest du mich doch auf jeden Fall erreichen ­können.«

»Besetzt.«

»Tatsächlich? Die ganze Zeit?«

Ich hob die Brauen. »Ich habe es siebenmal probiert. Um eins, um viertel nach, um halb zwei, um viertel vor, um …«

Mein Vater stützte die Stirn in die Hände und seufzte. »Ach ja, dieser nervige Scheich, der am liebsten noch die Schuhgrößen aller Lehrkräfte wissen würde, bevor er seinen Sohn herschickt«, murmelte er. »Drei Stunden hatte ich den in der Leitung, schon bei der Erinnerung bekomme ich wieder Migräne.«

Wenn man nach seiner Technikaversion und den zahlreichen Gebrechen und Krankheiten ging, unter denen mein Vater tagtäglich litt oder zumindest meinte zu leiden, hätte man sein Alter vermutlich locker auf etwa 120 Jahre geschätzt. Dabei würde er im übernächsten Monat erst seinen 56. Geburtstag feiern. Dank seiner schrulligen Art gelang es ihm jedoch gut, diese Tatsache zu verbergen (und als pädagogische Koryphäe mit zwei Doktortiteln konnte er sich das erlauben, ohne dass man gleich seine Fähigkeiten, ein Eliteinternat wie Stolzenburg zu leiten, bezweifelte).

»Wie war es denn bei deiner Mutter?«, fragte er nun zwischen zwei Gabeln Reis.

»Gut. Ich soll dich von ihr grüßen«, sagte ich und biss in eine Frühlingsrolle. Normalerweise vermied ich, wo immer es ging, in Papas Gegenwart von Mama zu sprechen. Wegen des Ausdrucks, der dann in seine Augen trat. Schon bei der kleinsten Erwähnung bekam er erstaunliche Ähnlichkeit mit einem traurigen alten Hund, den man getreten hatte.

Auch jetzt wirkte er so, als erwarte er bloß den nächsten Hieb. »Danke. Geht es ihr … ist alles in Ordnung?«, fragte er.

»Ja, ja, sie lebt immer noch in Cambridge und kocht neuerdings nur noch ayurvedisch. Also, wenn sie kocht, meistens läuft es ja doch eher auf Pizza hinaus … Na ja, du kennst sie ja.« Ich räusperte mich. »Aber jetzt erzähl doch mal, wie war denn dein Sommer?«

»Mhm …« Er schluckte den Reis herunter, dann begann er, sichtlich erleichtert über den Themenwechsel, einen langen Bericht über Halsweh, Probleme mit Herrn Schade, dem Hausmeister, Schüttelfrost, Neunanmeldungen und Elterngespräche und natürlich Fieberkrämpfe, die ihn beinahe um den Verstand gebracht hätten. So wie die Migräne in den letzten Tagen. »Und dann tauchen heute auch noch unangemeldet diese beiden jungen Herren hier auf und verlangen, für ein paar Wochen bei uns unterzukommen. Als hätten wir noch freie Betten bei dreihundert Schülern auf der Warteliste! Aber was soll ich machen, ich kann sie ja schlecht im Hof campieren lassen«, schloss er und begann, seine Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger zu massieren. Wohl um eine neuerliche Kopfschmerzattacke abzuwenden.

»Warum eigentlich nicht?«

Er schnaubte. »Nun, den einen jungen Mann, einen gewissen Toby Bell, kenne ich nicht, den würde ich, ohne mit der Wimper zu zucken, vor die Tür setzen. Aber der andere ist Darcy de Winter persönlich, von daher … Aber alles, was ich ihnen auf die Schnelle anbieten konnte, waren Zimmer im West­flügel.«

»Verstehe«, nuschelte ich mit vollem Mund, obwohl das eigentlich nicht der Fall war. Klar, beim Namen de Winter blinkte irgendwo in meinem Hinterkopf etwas auf. So hieß schließlich der alte englische Lord, dessen Familie Stolzenburg einst bewohnt und eines Tages die Schule ins Leben gerufen hatte. Es war allgemein bekannt, dass ein Sohn aus dem Geschlecht der Stolzenburger vor mehreren Hundert Jahren in einen Seitenarm der de Winters in Großbritannien eingeheiratet hatte, wodurch der Besitz letztlich an diese fiel, als die Stolzenburger selbst eines Tages ausgestorben waren. Aber von einem Jungen namens Darcy de Winter hatte ich noch nie gehört. »Haben sie denn gesagt, was sie wollen?«

»Nicht so richtig. Angeblich sind sie auf einer Europareise und gedenken, hier einen Zwischenstopp einzulegen.«

»Mehrere Wochen lang? So viel gibt es hier ja nun wirklich nicht zu sehen.«

Papa seufzte.

»Merkwürdig«, murmelte ich, doch meine Gedanken schweiften bereits weiter. Sie wanderten von den Typen, die jetzt also irgendwo im Westflügel wohnen sollten, zu meiner wunderschönen Bibliothek im selben Teil des Schlosses und von dort wieder zu diesem Buch. Vor allem zu dem Buch.

Irgendwie hatte ich mich nicht dazu entschließen können, es zurück in sein Geheimfach zu legen, sondern es stattdessen eingesteckt, um es mir genauer anzusehen. Warum, wusste ich selbst nicht so genau. Doch irgendetwas hatte dieses Buch an sich, das mich neugierig machte. Überaus neugierig sogar.

»Wie dem auch sei, ich habe ihnen zwei von den älteren Gästezimmern im zweiten Stock gegeben. Die wollte ich zwar eigentlich für das Gefolge des Scheichs freihalten, falls dieser sich doch zu einem persönlichen Besuch entschließen sollte, aber für ein paar Nächte wird es gehen und dann sehen wir weiter«, fuhr Papa fort, während ich noch immer über das Buch nachdachte, das nur wenige Zentimeter entfernt in der Umhänge­tasche neben meinem Stuhl darauf wartete, gelesen zu werden. Es hatte ja im Grunde unscheinbar ausgesehen, ein Buch, wie es sie vermutlich zu Hunderten, möglicherweise sogar zu Tausenden in diesem Gemäuer gab. Ein altes Schulbuch vielleicht. Oder eine sterbenslangweilige Abhandlung über Gartenkräuter oder eine uralte, kitschige Liebesgeschichte. Nichts, wo­rüber man sich Gedanken zu machen brauchte. Und trotzdem …

Schon allein, weil ich diese Hirngespinste, dass irgendetwas an ihm besonders war, loswerden wollte, nahm ich mir das Buch, als ich später am Abend wieder in unserem Zimmer war, noch einmal vor.

Während Hannah in ihrem Bett an der gegenüberliegenden Wand in einem zusammengewürfelten Schlafanzug (das Oberteil war pink, die Hose rot mit Weihnachtsmännern drauf) tief und fest schlief, blätterte ich im Licht meiner Nachttischlampe vorsichtig durch die Seiten. Ich konnte mich kaum noch wachhalten, aber diese Sache wollte ich unbedingt noch klären. Mit dem Gefühl, am eigenen Verstand zweifeln zu müssen, schlief schließlich niemand gerne ein.

Und natürlich bestand kein Grund zur Beunruhigung.

Wie erwartet, war es einfach nur ein Buch. Allerdings kein Roman und auch kein Gartenratgeber, sondern eher so etwas wie eine Chronik. Zuerst erschien es mir wie eine Art Tage­buch, immer wieder standen Datumsangaben über einzelnen Abschnitten. Die Eintragungen waren samt und sonders handschriftlich gemacht worden, und zwar von verschiedenen Schreibern. Während die Abschnitte zu Beginn des Buches in altertüm­lichen Schmuckbuchstaben mehr gemalt als geschrieben worden waren, fanden sich zur Mitte hin Passagen in einer altmodischen Füllfederschrift und weiter hinten sogar Texte neueren Datums, die jemand mit Kugelschreiber, manchmal auch mit Filzstift notiert hatte.

Inhaltlich ging es, soweit ich entziffern konnte, vor allem um Stolzenburg. Chronisten aus unterschiedlichen Epochen hatten große und kleine Ereignisse aus der Geschichte des Schlosses festgehalten. So fand ich sowohl einen Bericht über den Brand im Küchentrakt, damals im Sommer 1734, als auch über die Gründung des Internats im Jahre 1825 oder die Schneemengen im Winter 1918. Genauso hatte jemand etwas über Bombennächte im Zweiten Weltkrieg und wieder jemand anderes über die Einweihung des neuen Chemielabors vor fünf Jahren notiert. Und das Papier war so hauchzart, dass es deutlich mehr Seiten sein mussten, als ich auf den ersten Blick angenommen hatte.

Also gut, ein kleines bisschen besonders war das Buch vielleicht schon. Bloß nicht auf freakige, Namen rufende Weise.

Eine Weile lang blätterte ich hin und her. Gleich zu Anfang stand ein wirklich alter Text, der aus der Bauzeit des Schlosses zu stammen schien. Er erwähnte sogar das ehemalige Kloster, dessen Ruinen nicht weit entfernt noch heute im Wald zu finden waren, und die Mönche, die dort einst gelebt und angeblich eine ganz besondere Papiersorte für ihre Bücher hergestellt hatten.

Einige Kapitel weiter fand ich außerdem eine Tuschezeichnung der Figur, die auch auf dem Einband zu sehen war. Mit spitzen Federstrichen hatte jemand das Wesen auf Papier gebannt. Es war hier besser zu erkennen als in der Leinenprägung. Der Oberkörper war tatsächlich der eines Menschen, doch er ruhte auf den Beinen einer Ziege, die in gespaltenen Hufen endeten. Und auf dem verformten Kopf thronten zwei gewaltige, geschwungene Hörner, die von einer Wolke aus Blättern und Insekten umgeben waren. Alles in allem erinnerte das Wesen an die Gestalten aus antiken Sagen. An einen Faun vielleicht. Ja, an einen Faun mit düsterem Blick.

Ich blätterte weiter zu den Eintragungen aus der Zeit, in der Stolzenburg bereits ein Internat gewesen war. Damit begann der interessanteste Teil des Buches. Bälle waren hier beschrieben worden, genauso wie Schulleiterwechsel und die Besuche von Herzögen, Politikern und berühmten Schauspielern. Informationen, die in der Tat Gold wert sein konnten, wenn im Frühsommer wieder die Schulsprecherwahl anstand. Informationen, die vielleicht doch irgendein Schicksal dazu veranlasst haben könnten, dass ausgerechnet ich dieses Buch fand. Oder?

Gähnend legte ich es auf mein Nachtschränkchen. Ich würde demnächst noch einmal in Ruhe darin lesen. Wenn ich etwas wacher wäre.

Kurz darauf glitt ich hinüber in einen unruhigen Schlaf voller Träume, die mich verwirrten.

In einem von ihnen hatte sich die westliche Bibliothek in ein Klassenzimmer verwandelt. John spielte den Lehrer und hielt eines seiner endlosen Literaturreferate. Erstaunlicherweise hingen meine Mitschüler förmlich an seinen Lippen, als wäre das alles furchtbar spannend. Besonders Charlotte schien jedes seiner Worte in sich aufzusaugen. Unterdessen wandte sich Helena in der Reihe vor mir nach hinten um und fragte mich, warum ich denn durch den Regen gelaufen wäre, meine Frisur wäre eine Katastrophe. Frederick, der neben ihr saß, meinte, das sei doch egal, ich würde auch mit nassen Haaren süß aussehen. Und meine Eltern tanzten derweil im Hintergrund von Johns PowerPoint-Präsentation einen selbstvergessenen Tango.

Dann landete plötzlich etwas auf meiner Hand.

Ein Tier.

Im ersten Moment fürchtete ich, dass es eine der Spinnen sein könnte, die Hannah heute in den Efeu befördert hatte. Ich hatte oft Albträume von Spinnen. Doch noch während ich mich darüber wunderte, wie klar ich in meinem Traum denken konnte, erkannte ich, dass das Tier keine Spinne, sondern eine Art Libelle war. Allerdings eine seltsam gefärbte: Statt eines blau-grünlich schillernden Körpers besaß sie einen schneeweißen Rücken und perlmuttfarbene Augen. Nur an wenigen Stellen zeigten sich gräuliche Flecken, die sich bei genauerem Hinsehen als winzige Buchstaben entpuppten. Das lag wohl daran, dass es überhaupt keine echte Libelle war, die da auf meiner Hand saß, sondern ein kompliziert gefaltetes Stück Papier, das bloß so aussah wie ein Insekt. Ein Origami-Objekt aus einer alten Buchseite vielleicht.

Obwohl … gerade als ich das erkannt hatte, begann die Papierlibelle mit den schimmernden Flügeln zu schlagen und erhob sich in die Lüfte. Sie sirrte über die Köpfe meiner Mitschüler hinweg, umkreiste John, dann meine Eltern. Anschließend kehrte sie zu mir zurück, entfernte sich wieder ein Stück, wartete, kam erneut zu mir.

Niemand in meinem Traum schien das Tier wahrzunehmen. Aber es sah so aus, als wollte es, dass ich ihm folgte. Ich erhob mich von meinem Platz und kletterte über die Beine und Schultaschen meiner Mitschüler.

Die Papierlibelle flog nun schneller. Sie führte mich durch die Korridore der Schule hinaus ins Freie, quer durch den Schlosspark und tief hinein in den Wald. Das Mondlicht leuchtete auf ihrem bleichen Papierleib, ihre Flügel raschelten leise, wie Seiten, die umgeblättert wurden.

Erst am Flussufer machte sie halt. Sie landete auf einem Felsen (oder war es ein Mauerrest?) und streckte mir die kleinen Fühler entgegen. Ich hockte mich vor ihr ins Gras und beobachtete, wie sie auf zarten Papierbeinchen auf mich zukroch, bis sie nur noch wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt sitzen blieb. Sie blinzelte mit ihren Perlenaugen, während ich die Buchstaben und Worte auf ihrem Körper zu entziffern versuchte.

Emma, raschelte die Libelle plötzlich und ich zuckte zusammen. Eeeemmmmaaaaa!

»So ein Blödsinn«, sagte ich und schnaubte. Mein Atem ließ die Libelle ein Stück nach hinten trudeln, beinahe wäre sie ins Wasser gefallen. Doch sie krabbelte sofort wieder zu mir. Emma, wiederholte die Libelle. Eeeeemmmaaaaa!

»Lass das«, sagte ich. »Du bist aus Papier. Du kannst weder fliegen noch sprechen.«

Emmmmaaaa, zischte die Libelle trotzdem und da wurde es mir zu bunt. Ich holte tief Luft und pustete.

Die Libelle raschelte missbilligend, als sie davonwirbelte, weit, weit auf den nächtlichen Rhein hinaus.

Im nächsten Augenblick erwachte ich in meinem Bett und wunderte mich. Eine sprechende Papierlibelle? Also bitte, liebes Unterbewusstsein, ging es vielleicht noch eine Spur al­berner?

13. August im Jahr des Herrn 1603

Die Brüder aus der Abtei des Heiligen Georg lieferten unserem Herrn, dem hochwohlgeborenen Grafen zu Stolzenburg, heute die versprochenen drei Ries ­Papier aus ihrer neu errichteten Papiermühle und erhielten sogleich den Auftrag, sechs Bücher daraus zu binden und mit schmückenden ­Malereien zu versehen, ähnlich diesem hier, das der Graf mir gnädigerweise für meine Aufzeichnungen überließ. Der Graf wünscht, die Bücher seiner edlen Frau Gemahlin zur Geburt seines zweiten Kindes zu überreichen.

Da einer der Brüder bei der Arbeit zwischen das Radwerk der Mühle geraten ist, erbaten diese jedoch einen Aufschub von einer Woche, um den Bruder beerdigen und betrauern zu können. Er wurde ihnen großzügig gewährt.

Auch scheinen sich einige der heiligen Brüder seither vor der Mühle und dem, was sie erzeugt, zu fürchten. Wahrscheinlich ist es dem Schrecken geschuldet, denn nicht wenige von ihnen sahen das Unglück mit eigenen Augen.

Kapitel 2 – Darcy de Winter …

Darcy de Winter und Toby Bell, gut aussehend, gut gekleidet und, soweit man wusste, natürlich auch aus gutem Hause stammend, betraten die Schlosskeller am nächsten Tag gegen 21.15 Uhr. Seit ihrer Ankunft auf dem Schloss waren sie das Gesprächsthema schlechthin gewesen, vor allem beim weib­lichen Teil der Schülerschaft. Doch bisher hatten nur wenige einen Blick auf die beiden werfen können, die sich anscheinend irgendwo im Westflügel verschanzt hatten. Auch ich war ihnen noch immer nicht begegnet und musterte sie daher neugierig, als sie den größten der Kerker betraten, in dem sich die Tanzfläche befand.

Hannahs Ferndiagnose schien schon einmal zu stimmen: Die beiden waren wirklich alles andere als unansehnlich. Der eine war groß und blond. Sein Gesicht war übersät mit Sommersprossen und er sah insgesamt so aus, als habe er den Sommer surfend am Atlantik verbracht. Lächelnd betrachtete er die feiernden Schüler, während er sich einen Weg zur Bar bahnte.

Der andere Typ hingegen erschien eindeutig weniger sonnig, schon allein wegen des missmutigen Zugs, der um seine Lippen lag. Er war ebenfalls groß, überragte seinen Freund sogar noch um einen halben Kopf. Sein dunkles Haar war ordentlich gescheitelt und schien exakt den gleichen Farbton wie seine Augen zu haben. Im Gegensatz zum Surfer blieb er bei der Tür stehen, als wäre er unschlüssig, ob er nicht lieber gleich wieder gehen sollte.

Ganz falsch lag er mit dieser Überlegung nicht, wie ich fand. Eingeladen hatte ihn schließlich niemand. Die Erste Stunde, wie die Party hieß, mit der die Stolzenburger seit jeher am letzten Samstag vor Beginn des neuen Schuljahres selbiges einläuteten, war eine reine Schülerveranstaltung. Früher einmal, als Bildung ein noch weitaus luxuriöseres Gut gewesen war als heute, war das noch anders gewesen. Damals hatten die Internatsschüler bei dieser Gelegenheit tatsächlich die erste Unterrichtsstunde des Jahres besucht. Pfeife rauchende Professoren mit Backenbärten und strengen Mienen hatten dann reihum Antrittsvorlesungen gehalten. Währenddessen hatte die versammelte Schülerschaft bis spät in die Nacht auf unbequemen Stühlen ausgeharrt und war vermutlich hauptsächlich damit beschäftigt gewesen, nicht versehentlich einzu­schlafen.

Doch inzwischen war die Veranstaltung längst zur lehrerfreien Zone erklärt worden. Nicht einmal Frederick war gekommen, was mich ein bisschen wurmte. Ich hatte mir extra Mühe mit meinem Äußeren gegeben und mir das Haar von Charlotte zu einem komplizierten Knoten aufstecken lassen. Aber Frederick war eben kein Schüler mehr, er arbeitete nur noch regelmäßig in den Semesterferien auf den Ländereien. Ich verstand natürlich, dass er heute nicht hier war, aber ich hatte bis zuletzt anderes gehofft.

Was machten also die beiden merkwürdigen Besucher auf der Party? Das Auftauchen der Gäste schien außer mir niemanden so recht zu stören. Im Gegenteil: Beide waren auffallend plötzlich von ganzen Trauben aus Schülerinnen umgeben.

Ich seufzte und wandte mich wichtigeren Dingen zu. Der Dekoration zum Beispiel. Dieses Mal war unsere Stufe mit der Organisation an der Reihe gewesen und Charlotte und ich hatten vor den Ferien wochenlang im Kunstunterricht an Dekoelementen aus Pappmaschee und Alufolie gebastelt. Auch das war Tradition: dass der scheidende Abiturjahrgang für das kommende Schuljahr ein Thema festlegte und die auf dem Internat verbleibenden Schüler damit klarkommen mussten. »2001 – Odyssee im Weltraum« war da noch ein vergleichsweise glimpflicher Vorschlag gewesen.

Ich erinnerte mich noch mit Schaudern an die Spinnenparty im vorletzten Jahr. Überall hingen haarige Beine und falsche Spinnweben herum, die man unglücklicherweise nicht von den echten hatte unterscheiden können (von denen gab es in den Schlosskellern ebenfalls die eine oder andere). Dann doch lieber Planeten aus Luftballons, Zeitungspapier und Kleister. Die krabbelten wenigstens nicht.

Es hatte Charlotte, Hannah und mich beinahe den ganzen Tag gekostet, alles so aufzuhängen, wie wir es uns vorgestellt hatten. Vor allem die unteren Jahrgänge zeigten sich in diesem Jahr begeistert (und ich hoffte sehr, dass sie sich bei der Schulsprecherwahl im Frühjahr noch an dieses Gefühl erinnern würden). Prunkstück der Dekoration war ein großer Satellit aus Schuhkartons und Spiegelscherben, der sich dank des eingebauten Motors drehte und als Discokugel in der Mitte des Raumes fungierte. Na ja, also er hätte sich jedenfalls drehen sollen.

Ich überlegte gerade, ob es sehr unangebracht wäre, einen Stuhl auf die Tanzfläche zu schleppen, daraufzuklettern und im Innern des Satelliten nach dem Rechten zu sehen, während alle anderen um mich herum zu einem Song von Fanta 4 tanzten. (Die Musik war heute ebenfalls von 2001). Da fiel mir Hannah auf, die am Rande der Tanzfläche stand und Sinan aus unserer Klasse dabei beobachtete, wie er eine Limo trank. Dabei knetete sie geistesabwesend die Schleife an ihrem Kleid, die schon arg ramponiert aussah. Oje.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich, nachdem ich mich bis zu ihr vorgearbeitet hatte.

Hannah nickte. Ihr Blick klebte noch immer an dem Jungen, der ein paar Meter von uns entfernt an der Wand lehnte.

»Äh, du verhältst dich ein wenig auffällig«, versuchte ich es vorsichtig. »Sollen wir mal rübergehen?«

»Wohin?«

Ich nickte in Sinans Richtung.

Hannah wurde rot. »Quatsch. Wieso, ich …« Sie betrachtete die zerknitterte Schleife.

»Komm, ich stelle euch vor.«

»Was? Nein! Ich weiß nicht. Nein, lieber nicht.« Hannahs Gesicht nahm die Farbe eines gekochten Krebses an, während die Musik zu irgendetwas von Madonna wechselte. Nicht weit von uns tanzte nun der Surfertyp, und zwar zum Ärger sämtlicher Fünftklässlerinnen mit … Charlotte! Die beiden schienen sich prächtig zu unterhalten, während der finstere Freund des Surfers weiterhin mit verschränkten Armen neben der Tür lehnte und missgelaunt in die Runde schaute. Warum blieb er überhaupt, wenn er die Party augenscheinlich so blöd fand?

Nein, Charlotte machte es richtig. Dieser Abend war dazu da, um Spaß zu haben. Entschlossen hakte ich mich bei Hannah unter. »Also gut, dann komm mit.« Ich zog sie mit mir auf die Tanzfläche und schon kurz darauf verloren wir uns in den Beats, wirbelten uns gegenseitig herum und feierten den Beginn des neuen Schuljahres.

Nun waren wir also in der Zehnten! Ein weiteres Jahr auf Stolzenburg für mich und das allererste überhaupt für Hannah stand an, an der besten Schule des Landes, ach was, vielleicht sogar der Welt! »Du kannst dich wirklich glücklich schätzen, dass du dieses Stipendium bekommen hast«, erklärte ich ihr zwischen zwei Songs. »Stolzenburg ist fantastisch.«

»Das glaube ich auch«, freute sich Hannah und drehte sich über das Parkett, während Megan Stevens aus der Elften in Karl-Alexander von Stittlich-Rüppins Armen (alter schlesischer Adel, daher der bescheuerte Name) an uns vorbeitanzte und »So ist es, Baby!« rief.

Auch Charlotte tanzte einige Tracks später noch, und zwar mit dem Surfer. Nach einer Weile gesellten sich die beiden jedoch zu uns.

»Das ist Toby«, stellte Charlotte uns ihren Begleiter vor. Sie war etwas außer Atem. Ihre Augen leuchteten.

»Hi, ich bin Emma und das ist Hannah.«

»Freut mich. Wollt ihr auch etwas trinken?«

Wir nickten.

»Bin gleich wieder da.« Er verschwand in der Menge.

»Er scheint nett zu sein«, sagte ich, kaum dass er fort war, und musterte Charlotte aufmerksam.

Die grinste. »Sehr nett«, sagte sie. »Unheimlich, absolut obernett, um genau zu sein.« Auch ihre Wangen waren leicht gerötet. »Ist sein Akzent nicht furchtbar niedlich?«

Ich musste lachen. »Er klingt genau wie deiner, Charlotte. Könnte daran liegen, dass ihr beide Engländer seid.« Überhaupt stammten sogar sehr viele der Stolzenburger Schüler seit jeher aus Großbritannien. Dies war eine internationale Schule. Ein Akzent sollte also gerade hier niemanden überraschen.

»Trotzdem«, seufzte Charlotte.

»Hat er gesagt, was mit seinem Freund los ist?« Ich deutete in Richtung des Miesepeters, bei dem es sich dann wohl um Darcy de Winter handeln musste. »Der scheint die Party ja echt zu hassen.«

»Danach habe ich nicht gefragt«, sagte Charlotte. »Aber mir ist wieder eingefallen, dass die de Winters mal Schüler hier waren. Bis vor etwa vier Jahren, Darcy und seine Zwillingsschwester müssen damals ungefähr sechzehn gewesen sein. Ich war erst zwölf und selbst noch neu hier. Insgesamt habe ich die beiden höchstens ein, zwei Mal gesehen. Und Darcy ist dann nach der Sache, du weißt schon, nach dieser Sache mit Gina nach Eaton gewechselt, glaube ich.«

»War sie etwa das Mädchen?«, fragte ich.

Charlotte nickte und Hannah fragte: »Wer?«

»Gina de Winter«, murmelte ich, ja, jetzt, wo Charlotte es erwähnte …

In diesem Moment kehrte Toby mit vier Colas im Arm zurück.

»Danke.« Charlotte strahlte ihn an, als hätte er gerade die Welt gerettet, und nippte an ihrem Glas.

Auch ich nahm einen Schluck. »Also gut«, begann ich dann und sah dem Surfertyp in die blauen Augen. »Wer seid ihr beiden und was wollt ihr auf unserem Schloss?«

Er lächelte. »Darcy und ich studieren zusammen in Oxford«, erklärte er. »Aber im Moment haben wir noch vorlesungsfrei und bereisen den Kontinent. Wir kommen gerade aus Frankreich und machen hier Zwischenstation. Darcy behauptet nämlich, ihm gehöre der Kasten.« Er machte eine Handbewegung, die vermutlich den Kerker sowie sämtliche Stockwerke über unseren Köpfen umfassen sollte, und grinste.

Ich schnaubte. »Na ja, ihm persönlich ja wohl bestimmt nicht.« Das wurde ja immer besser! Bestimmt hatte Toby da etwas missverstanden. Diese Schule war schließlich eine Stiftung und … ich hätte nicht so viel Cola trinken sollen. Das war schon mein drittes Glas heute Abend. »Würdet ihr mich kurz entschuldigen?«

Als ich einige Minuten später von der Toilette zurückkehrte, hatte dieser Darcy zumindest aufgehört, stumm in der Ecke zu stehen. Unglücklicherweise sprach er ausgerechnet mit der Steinprinzessin.

»… Kinderdisco mit alberner Deko … sieht aus wie in einer Grundschule, oder? Und dieser Schuhkartonsatellit, ich bitte dich!«, sagte Helena gerade, als ich an den beiden vorbeigehen wollte, und deutete auf die Pappmacheeplaneten über unseren Köpfen.

Ich blieb stehen.

Darcy nickte. »Lächerlich. Aber was will man erwarten, für diese Kids ist das Internat die Welt und diese Party das Ereignis des Jahres.«

»Für mich nicht«, sagte Helena.

»Ich weiß.« Er seufzte. Weshalb eigentlich? Weil er uneingeladen hier aufgekreuzt war? Weil die Dekoration nicht seinem Geschmack entsprach? Ernsthaft?

»Hallo«, sagte ich laut, noch bevor ich darüber nachdenken konnte.

Darcy de Winter fuhr herum und bedachte mich mit demselben Blick, mit dem er bereits haufenweise Unterstufenschülerinnen in die Flucht geschlagen hatte. Von oben herab und mit einem undurchdringlichen Ausdruck in den dunklen Augen.

Trotzdem lächelte ich mein liebenswürdigstes Lächeln und tat so, als hätte ich seine Bemerkung über unsere Beschränktheit nicht gehört. »Ich bin Emma. Du warst früher selbst Schüler hier, habe ich gehört. Willkommen zurück! Gefällt dir die Party nicht?«, fragte ich betont freundlich.

»Nein, nicht besonders«, gab er zu und wollte sich wieder abwenden. Aber ich ließ ihm keine Chance dazu und schob mich blitzschnell zwischen ihn und Helena, die deshalb einen Schritt zurückweichen musste. »Es, ähm, ist schade, dass du dich langweilst«, fuhr ich fort. Was machte ich hier eigentlich? Sollte er doch weiter schmollen. Mir doch egal. Ja, ich würde weitergehen. Sofort.

Doch meine Füße rührten sich nicht von der Stelle.

Er runzelte die Stirn. Erst jetzt sah er mich richtig an. »Äh, entschuldige, aber kennen wir uns?«

»Nein. Ich bin Emma.«

»Das sagtest du bereits.«

»Ja.«

»Mhm.«

Wir starrten uns an. Seine Nase war wirklich sehr aristokratisch. Als wäre sie es gewohnt, bei jeder Gelegenheit über etwas oder jemanden gerümpft zu werden. Tatsächlich kräuselte sie sich nun ein wenig. War es Belustigung oder Missfallen? Oder eine Mischung aus beidem? Und wieso überließ ich diesen unhöflichen Kerl nicht einfach sich selbst? Oh Gott! Die Hochsteckfrisur klemmte wahrscheinlich gerade mein Gehirn ab. Ich atmete tief durch. Der Moment zog sich in die Länge.

»Was willst du, Emma?«, fragte Helena schließlich.

»Können wir dir irgendwie helfen?«, ergänzte Darcy.

»Ach so, nein. Es ist nur so: Ich … wir mögen unsere Kinderdisco«, informierte ich ihn, ohne Helena zu beachten. Langsam wurden meine Gedanken wieder ein wenig klarer. »Du wirst dich vielleicht noch erinnern: Die Erste Stunde ist für alle gedacht, auch für die jüngeren Schüler. Es geht darum, etwas zusammen zu machen, mit allen Stolzenburgern. Und das ist wichtig für uns.«

Darcys Mundwinkel zuckten. »Ist mir schon aufgefallen. Ich wollte dich selbstverständlich nicht damit beleidigen, dass ich nicht in Partylaune bin.«