Ende der großen Ferien - Pavel Kohout - E-Book

Ende der großen Ferien E-Book

Pavel Kohout

4,2

Beschreibung

Kohouts Roman erzählt von den Schicksalen zufällig zusammengekommener Menschen, die zur Sonnenwende 1983 ihrem Vaterland den Rücken kehren und sich in die freie Welt absetzen. Ein bestimmtes Datum wurde gewählt, weil sich Fluchtbedingungen ständig verändern; weder die Zeit und die Schauplätze noch die Nationalitäten sollten jedoch darüber hinwegtäuschen, dass die Emigration weltweit ein Jahrhundertproblem darstellt, das in wechselnden Kulissen und Kostümen ähnliche Sorgen und oft auch Tragödien mit sich bringt. Biografische Anmerkung Pavel Kohout, 1928 in Prag geboren, zählt zu den international bekanntesten Schriftstellern und Dramatikern. Als einer der Wortführer des "Prager Frühlings" von 1968 wurde er aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und über 20 Jahre totgeschwiegen. Mitverfasser der "Charta 77", daraufhin 1979 ausgebürgert. Zu seinen bekanntesten Werken gehören "Die Henkerin" (1978), "Wo der Hund begraben liegt" (1987) und "Sternstunde der Mörder" (1995). 2010 erschien seine Autobiografie "Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel". Pavel Kohout lebt heute wieder in Prag.

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Pavel Kohout

Ende der Großen Ferien

Roman

Ins Deutsche übertragenvon Georg Birno

Saga

Dieser erdachte Roman erzählt über Schicksale von zufällig zusammengescharten Menschen, die zur Sonnenwende 1983 ihrem Vaterland den Rücken kehren und sich in die freie Welt absetzen.

Ein bestimmtes Datum wurde gewählt, weil sich Fluchtbedingungen ständig verändern; weder die Zeit und die Schauplätze noch die Nationalitäten sollten jedoch darüber hinwegtäuschen, daß die Emigration weltweit ein Jahrhundertproblem darstellt, das in wechselnden Kulissen und Kostümen ähnliche Sorgen und oft auch Tragödien mit sich bringt.

Ich widme dieses Buch meinen Lieben und Freunden im ungewollten Exil, das von einem neuen Aufbruch der Demokratie in der Tschechoslowakei beendet worden ist, und insbesondere, als Dank für ihre entscheidende Mitwirkung, Jelena Kohout und Albrecht Knaus.

20. Juli 1990

P.K.

I

Anfang der grossen ferien

Der Tag davor

Montag, den 20. Juni 1983

1. Der Schauspieler

Von jedem ausgefallenen Haar

Nahm Abschied er

Als wär’s ein Freund

Auf Nimmersehn verreisend...

Diese Strophe aus einem plumpen Gedicht, das er gestern als sein letztes «Opus» in der Heimat fürs Radio aufgezeichnet hatte, schien sich ihm unauslöschlich eingeprägt zu haben. Obwohl er dagegen ankämpfte, wiederholte er es am Steuer wohl alle fünf Minuten aufs neue. Höchstens gelang es ihm, den Rhythmus zu zersetzen, die Worte aber drängten wieder und wieder auf seine Zunge.

Jeder seiner Psychiaterfreunde, von denen er als eine scheinbar starke Persönlichkeit in all den Jahren eine ganze Sammlung angelegt hatte, als sie sich an seinem Ruhm aufzurichten und nach einem Halt für ihre eigene Verwirrung suchten, hätte ihm gewiß verraten, was er bereits wußte: Der blöde Satz sprach sein Zentralproblem aus.

Milan Čech – nomen est omen – noch immer ständiges Mitglied des Nationaltheaters in Prag und ein Fixstern aller großen Serien des tschechischen Fernsehens, verließ nun doch für immer das verrückte Land, in dem er durch einen unglücklichen Zufall geboren wurde, um den Sternenhimmel des normaleren Teils der Welt zu stürmen.

Von einem einzigen unerläßlichen Stopp abgesehen, saß er bereits in der sechsten Stunde am Volant. Obwohl er vor Erregung nachts kaum geschlafen hatte und sich Dora als Chauffeur seinem ewigen Dazwischenreden zum Trotz völlig sicher war, gab er seit Prag das Steuer nicht ab, als läge gerade darin der Erfolg des Unternehmens. Jetzt wurde ihm langsam klar, die Sache zu weit getrieben zu haben. Seine letzte, wahrscheinlich überflüssige Absicherung war dieser Umweg über Komarom. Er wollte damit selbst dem wachsamsten Auge des Staates beweisen, daß er in der Tat über Südjugoslawien nach Bulgarien wollte. Als Dora einwandte, dies sei übertriebene Vorsicht, die ihnen nichts als hundert Kilometer schlechte Straße einbrächte, fuhr er sie an, wie er es gewöhnlich tat, wenn er seine eigenen Zweifel zum Verstummen bringen wollte.

Die Spannung zwischen den Eltern bewirkte, daß Petřík, im allgemeinen nur der Stumme dahinten, sich jetzt noch dazu unnatürlich versteifte, was seltsamerweise den Schauspieler noch zorniger machte: Er verspürte darin eine Verbocktheit, wie sie der Entfremdung vorauszugehen pflegt, doch er wußte sich keinen Rat. So schwieg auch er. Ab Bratislava herrschte Ruhe im Auto, und irgendwann mußte Dora eingeschlafen sein; sie reagierte selbst dann nicht, als man in das Gebiet etlicher riesiger Wasserbaustellen einfuhr, in denen sich ein wahres Labyrinth von Umleitungen auftat.

Der Stolz verbot ihm, sie zu wecken, um ihr unglaubliches Orientierungstalent zu Hilfe zu rufen, und so verirrte er sich bald hoffnungslos. Mit jedem Kilometer wuchs seine Verbitterung. Doras Teilnahmslosigkeit wie auch die Stumpfheit seines Sohnes, er will mit mir seit unserer Abfahrt überhaupt nichts zu tun haben! riefen in ihm ein zunehmendes Gefühl der Verlassenheit und des Unrechts hervor. Ich tu’s doch nur für sie! sagte er sich und erinnerte sich an seine Devise, mit der er seine ledigen Jahre verbracht hatte: Ich muß mir täglich nur einen Liter Wein und eine Semmel verdienen, zu einem Bett lädt mich schon jemand ein.

In diesem Winkel der Großen Schütt, offenbar zur Überflutung freigegeben, schien keine Menschenseele mehr zu hausen, er fuhr durch eine Mondlandschaft, in der nur immer neue Umleitungen zwischen Betondämmen eine monströse Zivilisation bezeugten. Endlich kapitulierte er, hielt an, ließ die Fensterscheibe herunter und versuchte sich zu orientieren. In den helleren Wolken hinter ihm erahnte er den Westen. Voller Bitterkeit entschloß er sich, zu wenden und weitere sechs Stunden an dieser Richtung festzuhalten. Er stellte sich vor, wie er die beiden Mitreisenden nach Mitternacht vor ihrer Prager Wohnung weckt und sagt, wie er es in einem dummen Schwank gesprochen hat.

«Mit euch gelangt man höchstens dorthin, wo man losmarschiert ist...»

In diesem Augenblick hörte er ihre Stimme.

«Na, endlich!»

Noch bevor er es schaffte, sich aufzuspielen, sah auch er vor sich, was sie, kaum aus dem Schlaf erwacht, bereits erblickt hatte: eine fast unleserliche Tafel, auf der durch den Schmutz die Inschrift Staatsgrenze 2 KM schimmerte.

Der Übergang, der zu ihrem Tor in die neue Welt werden sollte, diente hier vorwiegend dem kleinen Grenzverkehr. Jene berüchtigten technischen Einrichtungen, die die Grenze gegen die Welt der Kapitalisten schützen und deren drohende Dominanten die mammutartigen Hochsitze für Scharfschützen bildeten, lohnten hier nicht. Hier konnte man nur aus einem Käfig in den anderen flüchten, und das Lebensniveau, beiderseits tief abgesunken, ließ selbst die einst blühende Schmuggelei verdorren.

Der Offizier der Grenzwache, der ihre Reisepapiere zur Kontrolle mitnahm, machte jedoch die gleiche aufmüpfige Miene wie seine Kollegen bei den großen Passierstellen. Doch als sich der Fahrer absichtlich aus dem Fenster des Škodas hinauslehnte und der Mann das vom Böhmerwald bis zu den Tatrabergen bekannte Fernsehgesicht erkannte, verwandelte er sich rasch, bezaubert vom Flimmer eines unerreichbaren Lebens, in einen Heimatburschen ostslowakischer Kartoffelfelder, der er auch immer geblieben war.

«Sind Sie nicht...» fragte er, beinahe liebenswert naiv, er konnte sich davon doch von Amts wegen überzeugen aus den Papieren, die er in der Hand hielt, «nicht der...?»

«Sieht so aus», half der Fahrer wie gewohnt nach und grinste ihn an, für sich hinzufügend: Bolschewist du blöder!

Der junge Mann, den über das Mittelmaß nur die Uniform hinaushob, glaubte, eine Erscheinung vor sich zu haben.

«Du lieber Gott, Sie waren doch gerade im Fernsehn, es ist keine halbe Stunde her!»

Der Schauspieler dachte nach, was es sein könnte. Halb sieben! Was für Kinder?

«Als was kam ich?»

«Was meinen Sie?»

«Was ich darin spielte.»

«Den Prinzen doch...»

«Ach so!»

«Aber wie kommt es denn, daß Sie hier sind...» erst jetzt hat er im Paß den Namen nachgeblättert und fast feierlich ausgesprochen «Herr Čech?»

Der Schauspieler war es natürlich aus diesem verdammten Land gewohnt, sich mit jedem Idioten unterhalten zu müssen.

«Ach, das haben wir bereits im April gedreht», erklärte er geduldig, obwohl in ihm schon alles kochte, «und weil ich ab heute keine Proben mehr habe und nicht mehr spielen muß, springt für mich eine Woche Ferien mehr heraus!»

Er hat das mit jenem verschwörerischen Grinsen begleitet, mit dem die Tschechen und Slowaken jedem stolz erzählen, wie sie das nun mal wieder geschafft haben, das Regime reinzulegen, das eben ohne diese kollektive Schlitzohrigkeit längst vor die Hunde gegangen wäre.

Der Grenzverteidiger quittierte dies mit der üblichen Mischung von Neid und Bewunderung.

«Na ja, ihr Künstler, ihr wißt es schon zu richten! Und der Bub, der schwänzt halt die Schule, was?»

Er beugte sich zum Fahrer runter, als wollte er nur besser auf das stille Kind blicken, auf dem Hintersitz unter dem Gepäck fast vergraben; es war jedoch klar, daß er vor allem verstohlen die schöne Dora anschaute. Dem Schauspieler schlug aus seinem Mund Sauerkrautgeruch des Abendessens entgegen. Er erinnerte ihn an seine eigene endlose, wenn auch ziemlich fesche Wehrpflicht und an den ganzen Berg von militärischen und danach auch zivilen Schindereien, die er soeben hinter sich lassen wollte. Was geht dich das an, du Hanswurst, dachte er wütend.

«Er hat eine ärztliche Bescheinigung», sagte er und zwinkerte ihm zu. Auch diese Biedermannsart war einer der Tricks, zu denen in diesen Regionen Menschen, vor welchen sich in der übrigen Welt der Plebs beugte, greifen mußten, um sich der grenzenlosen Frechheit von Funktionären, Waffenträgern aller Sorten und, wenn man ordentliche Ware haben wollte, sogar von Obst- und Fleischhändlern zu erwehren. Nein, weg von hier, nichts wie weg!

Auch dieser Lakai des Regimes hat angebissen und schaute nicht so aus, als wollte er diesen Reisenden seine Macht zum Beispiel dadurch beweisen, daß er sie bis zum letzten Schräubchen und Slip durchsuchen läßt, um dann mit Siegesgeschrei die paar unchristlich hochbezahlten Devisen ans Licht zu holen. Im Gegenteil: Überraschenderweise zog er aus seiner grünen Bluse eine abgegriffene Brieftasche und aus ihr das Photo eines massigen Wesens weiblichen Geschlechts: Üppige Farben verliehen ihr das Aussehen einer Schlampe.

«Das ist die Resi», vermeldete er stolz, «meine Verlobte!»

«Aha...» sagte der Schauspieler und half sich mit einem Jux aus der Peinlichkeit, «möchten Sie sie mir geben? Für gewöhnlich erlaubt das die Gattin nicht, aber Sie können’s per Befehl schenken, stimmt doch?»

Der Waffenträger brauchte einen Augenblick, um das zu verarbeiten.

«Du lieber Gott, das nicht, ich hab’ nur dieses! Aber Sie könnten für sie darauf unterschreiben, ja?»

«Warum nicht», stimmte der Schauspieler zu, ließ aber noch nicht lokker, «nur erkläre ich hiermit, daß ich für Sie keine Alimente zahle, das haben nämlich mit mir schon drei andere probiert.»

«Na klar... Sie haben ja auch kein richtiges Paradiesleben, wie man glaubt...» plötzlich schien er ganz froh, in der eigenen Haut zu stecken, als er jetzt dem Schauspieler seinen Kugelschreiber gab, «ich werd’ Sie inzwischen abfertigen.»

Er verschwand in der Einheitsbaracke, und sie waren wieder allein. Einen knappen Kilometer vor ihnen schaute über die Maisfelder der ungarische Zoll herüber, ebenso menschenleer.

«O Himmel!» stöhnte der Schauspieler, als stünde er auf der Bühne, «gib, daß dies mein letztes Autogramm ist – in diesem beschissenen Land!»

«Petřík schläft nicht», sagte Dora.

«Um so besser! Kinder sollen hören, was ihnen die Eltern vermachen.»

«Für so was ist er vielleicht doch noch zu klein.»

«Und bleibt bis in den Tod blöd, wenn du mit ihm wie mit einem Mädel umgehst. Mir hat mein Vater vielleicht als erstes Wort gesagt, der Bolschewik wär’ eine Hure, und trotzdem habe ich fünfunddreißig Jahre gebraucht, um das Loch aus dem Käfig hier zu finden!»

Abergläubisch klopfte er sich schnell auf den Kopf und fügte hinzu.

«Mein Sohn muß es besser haben!»

«Dreh wenigstens das Fenster rauf...»

«Sei nicht ewig so ängstlich, er ist es ja auch schon! Hier gibt es doch keinen weit und breit.»

Dann ließ er das Reden und widmete sich dem Photo. Schrieb und grinste.

«Worüber lachst du so?»

Er führte es ihr vor. Für resi, die heissgeliebte, dass sie unsere verrückten stunden nie vergisst, malte er in seiner üblichen Versalschrift, Für immer ihr milan čech.

«Du bist verrückt geworden!»

«Der merkt nichts mehr. Er wird die ganze Bande hierherschleppen, um sich wichtig zu machen!»

Wie war ihr seine Angeberei zuwider, doch bald mußte sie seine Menschenkenntnis erneut bewundern: Wie aufs Stichwort marschierte aus der Baracke eine ganze Riege Uniformen an. Ihr Betreuer natürlich vorneweg.

«Hier, Milan», brüllte er, gab ihm beide Pässe und nahm das Photo an sich, «mach’s gut und bring uns ’ne Flasche bulgarischen Mastika, wenn du zurückkommst, wir übersehen dafür eure neuen Pelze! Abfahren!»

Er drückte bereits die Schalttaste der elektrischen Schranke, um die neue Bekanntschaft mit niemandem teilen zu müssen und dabei ihre Wackeligkeit zu verraten.

Der Schauspieler ließ den Motor an und trat das Gaspedal, als bräche er zu einer Rallye auf. Kaum hunder Meter weiter, nachdem er die Säule mit dem Hoheitszeichen der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik hinter sich gelassen hatte, bremste er heftig und lehnte sich aus dem Fenster.

«Ich hab’ deinen Kuli geklaut, Blödmann!» schrie er nach hinten.

«Waas...?» rief der Kerl, winkte sogar zum Abschied und joggte strebsam Richtung Ungarn.

Der Schauspieler wartete, bis der Offizier auf Hörweite herankam, und dann, ehe er das Gaspedal durchtrat, schrie er seinen letzten Gruß in die Heimat.

«Leckt mich!»

2. Der Korporal

Er schaute zu, wie die blendende orangefarbene Sonnenscheibe schnell hinter den Wall des Mischwalds auf dem Nachbarhügel sinkt, doch anstatt des Gefühls eines stillen Behagens, das diesen Augenblick früher begleitet hatte, stellte sich wieder der dumpfe Magenschmerz ein. Um ihn loszuwerden, atmete er die feuchte Vorabendluft tief ein, die nach frischem Heu roch, und ließ dabei im Fernglas die ihm liebsten Details im Blickwinkel des Wachturms herankommen: Buschgruppen, die niedrige Remise, verwilderte Birnbäume auf Rainen, die ihm als lebendige Denkmäler längst vergangener Zeiten vorkamen. Er, ein leidenschaftlicher Großstädter, der gern sagte, sein Moos sei der Asphalt und Schornsteine seien ihm die liebsten Bäume, begann ziemlich bald, diesen verlassenen Winkel Südmährens zu mögen, bis er ihm plötzlich ans Herz gewachsen war, um so überraschender, als es hier um eine vergewaltigte Landschaft ging, ihrer Natur beraubt, bevölkert höchstens von Halberwachsenen in Uniform, die eine schon seit langem sinnlos gewordene Aufgabe erfüllten: im Herzen Europas, das feierlich Verträge über gemeinsame Sicherheit und Zusammenarbeit unterschrieb, künstlich die Zeit der zerrissenen Wege und abgebrochenen Brücken zu verlängern. Obwohl er schon früher so gefühlt hatte, und er verheimlichte das kaum, galt er allgemein als ein guter Soldat, und er war es auch. Sein Charakter lehnte alle zu simplen Ansichten ab, sei es für oder gegen. Seit der Kindheit wollte er alles in der Welt selbst entdecken, wenn es ging persönlich, und zwang sich bis dahin, immer den möglichst objektiven Standpunkt zu vertreten. Darum war er auch zu einer Staatsmacht loyal, auf die er nach der Ausbildung den Eid geleistet hatte, obwohl die meisten ihrer Vertreter ihn abstießen. Armeen hat man auch auf der anderen Seite, warum sollten deren Politiker und Generäle besser sein. Übrigens, zum Militär hierzulande mußte man pflichtgemäß, und er hat sich diesen Elitedienst beim Grenzschutz nicht mit krummen Tricks erkauft. Er war, versteht sich, im Jugendverband, wollte sich in den legalen politischen Strukturen engagieren, weil ihm all die diversen Chartas wie Heimatvereine aus den Zeiten der nationalen Wiedergeburt erschienen waren, niemals aber nahm er sich ein Blatt vor den Mund, offensichtlich ein Grund dafür, warum er es zwei Jahre nacheinander nicht zur Hochschule für Ökonomie gebracht hat. Er ist keinen der üblichen Schleichwege gegangen, nie hat er die Miesepeter vom Stadtkomitee, die ihn wahrscheinlich auf dem Gewissen hatten, um etwas angebettelt, obwohl sie gewiß darauf gewartet haben. Er wich selbst vor Eltern und Brüdern nicht zurück, die er ehrlich mochte, als sie ihn davon zu überzeugen versuchten, daß Starrköpfigkeit zu gewissen Zeiten nur eine Art von Dummheit ist, und ein vernünftiger Kompromiß hat noch niemanden um seine Ehre gebracht. Für so was, sagte er, bliebe ihm Zeit genug, ebenso wie für Mädchen, die anscheinend nur das eine wollen. Gelassen ließ er sich einberufen, und in der Armee stellte man bald fest, wen man da vor sich hatte. Nicht einmal dort ließ er sich jedoch etwas einfallen, was er nicht unbedingt mußte; das war auch der Grund, warum man ihn, den hochgewachsenen, starken, wendigen und außerdem auch hübschen Jungen, den städtischen Jugendmeister in Karate, nicht mehr zum Offizier drängte, man freute sich, einen so tüchtigen Mann ganze zwei Jahre am Grenzzaun zu haben. Jetzt wurde er schon Unteroffizier, hatte einen Spezialkurs für Nahkampf absolviert; seinen dritten Hochschulantrag hat die Armee vorbehaltlos empfohlen, und so genoß er die letzten Wochen des Lebens in der freien Natur, die er für sich entdeckte und die ihm während der Zeit hier so vertraut wurde. «Ein Paradies fürs Auge...» fing er an, die tschechische Hymne zu verstehen, die ihm lieber war als die eigene slowakische, in der es nur so blitzte und donnerte.

Doch dann schlug auch hier ein Blitz ein.

Nach achtzehn Monaten, in denen hier nur die Hufe des Hochwilds den glattgeeggten Ackerboden des Sicherheitsstreifens stempelten, hat es in der ersten Mainacht gerade im Abschnitt seiner Kompanie einen Fluchtversuch gegeben. «Der Störer» hat wirklich Alarm ausgelöst, und die hochgedrillte Militärmaschinerie war ihm im Handumdrehen auf der Spur, griff nach seinem Nacken. Dann machte der Jüngling die letzte Dummheit seines kurzen Lebens. Statt sich zu ergeben und sich die drei Jahre aufbrummen zu lassen, die bei guter Führung halbiert werden konnten, stand er auf, gewiß durch den Schrei seiner Jäger verblödet, das Hundegebell und die leckenden Zungen der Scheinwerfer, und ist direkt auf die österreichische Grenze zugerannt. Nicht einmal so wäre er ihnen entwischt, es hat ihn überdies der Stacheldrahtzaun erwartet, und vielleicht wäre er schließlich vor dem Fluß zurückgeschreckt, noch immer angeschwollen nach dem Sturzregen im April. Zum Unglück jedoch kreuzte gerade Oberleutnant Scherg seinen Weg. Sein Name war auch seine Visitenkarte, unterschiedslos hetzte er hier alle, als versuchte er seinen ewigen Frauenfrust, sie konnten seinen beißenden Schweiß nur schwerlich ertragen! mit Kraftmeierei auszugleichen, die ihm das Gefühl, ein Mannsbild zu sein, wieder verschaffte. Er lief einem Rekruten nach, der soeben aus dem Ausbildungskamp angekommen war, ohne die geringste Ahnung, wie es hier in Wirklichkeit zugeht, und brüllte ihm ins Ohr wie von Sinnen.

«Schieß, Himmelherrgott, schieß!»

Da zischten bereits die Leuchtraketen ringsumher hoch, und der Nachthimmel blühte mit weißen, grünen, blauen und orangen Girlanden auf, sie markierten Schießsektoren. Der Rekrut hat nachtwandlerisch reagieren müssen, denn gleich darauf hat Scherg losgelegt.

«Los, Feuer, Kruzitürken, sonst kommst du vor den Kadi!»

So pumpte er ihn von hinten mit Blei voll, schoß auf fünfzig Meter das Magazin explosiver Geschosse leer, wonach man dann den armen Teufel zum Kübelwagen in der Plane tragen mußte und die Reste erst bei Tagesanbruch einsammeln konnte. Er hat genug für zehn abbekommen. Während der Untersuchung hat sich Scherg feige verteidigt, er habe nur zum Warnschuß kommandiert, der Grünschnabel hätte das doch wissen müssen, und falls er bei der Schulung gepennt haben sollte, sei das doch sein Problem! Natürlich hat den Leutnant keiner gefragt, warum er denn nicht selbst geschossen hat, er hielt doch seinen Neun-Kaliber in der Hand! Aber es sollte noch schlimmer kommen. Als der Schütze, die Hose voller Angst, zum Regiment gebracht wurde, hat jeder fest damit gerechnet, der Mann kriegt wenigstens zwei Wochen Bau, statt dessen hat ihnen abends der Kommandantvertreter einen Helden eingeliefert, den die Bonzen, bevor sie ihn mit Bier vollaufen ließen, für den Mord mit einem Lobvermerk und einer Woche Urlaub belohnten. Er trat ihn an, sobald er seinen Rausch ausgeschlafen hatte, und der Korporal hatte bereits zehn andere im Visier, die ebenso dringend nach Hause zu ihrer Alten mußten und sich nun im klaren waren, wie das am schnellsten zu deichseln sei. Sie waren jetzt fähig, ganz ohne Warnung selbst auf Heidelbeeren- und Pilzsammler loszuballern, die sich ab und zu bis in die äußere Schutzzone verirrten. Scherg, den man, weil er sich von dem Malheur so distanzierte, bei dem Lobspenden ausgelassen hatte, wollte nun das Versäumte nachholen und gab in der Offizierskantine, wenn er sich wieder einmal besoffen hatte, diverse Schreiereien von sich, es habe sich damals um eine geheime Richtlinie gehandelt, die er kannte, und deswegen habe er das Kommando gegeben.

Das schlimmste daran war, daß ihm der Korporal glaubte.

Erst dann befiel ihn die Angst, und die meldete sich immer wieder mit chronischen Magenschmerzen. Die Landschaft, an der er Gefallen fand, vor allem ihrer weichen Arglosigkeit wegen, begann ihm wie eine Falle vorzukommen, auch ihm, ihrem Beschützer, gestellt. Er hörte nicht auf, darüber nachzudenken, wie er sich selbst in einer solchen Lage verhielte. Natürlich hätte er zuerst in die Luft geschossen, dessen war er sich sicher, aber was wäre, wenn der Angsthase weiterliefe? Ihn nicht zu treffen, mit Absicht? Auf die Entfernung und mit der tollen Knarre? Wer sollte ihm hier auf den Leim gehen? Scherg wäre jedenfalls der Letzte. Auf die Beine zielen – leicht gesagt, doch es klappt nur im Schießstand, im Terrain reicht es, wenn einer der beiden stolpert. So hätte er ihn wahrscheinlich weniger durchlöchert, doch sicher mit dem gleichen Ergebnis. Die zweite Möglichkeit bot nur der Divisionsankläger an, und der Korporal bezweifelte nicht, daß er von Scherg während der Ermittlungen in die Pfanne gehauen würde, der hat hier doch seine unbeugsame Starrköpfigkeit am schlechtesten vertragen. Und obendrein hätten die niederschmetternden Kaderbegutachtungen ihn total fertiggemacht, von den Bratislaver Jugendverbandsonkeln freudig ausgestellt. Alles in allem würde dabei dasselbe herausspringen, was auch der Trottel für versuchte Republikflucht bekommen haben könnte, wäre er nicht in Panik geraten. Auch wenn der Korporal ein Gottloser war, die Eltern, gläubige Kommunisten, haben alle Söhne für die Partei erzogen, da fehlte nur er noch als Benjamin! hat er seit jener Nacht im stillen wiederholt gesagt: Mein Gott, verkünde wenigstens deinen flüchtenden Christen, sie sollten diese Kompanie meiden, solange ich bei ihr mir die Beine in den Bauch stehen muß, sonst wüßte ich ehrlich nicht, was ich anfangen würde... In diese trüben Gedanken fiel das Gerassel des Feldtelefons ein. Er verließ das Fernrohr, durch das er ohnehin seit langem nichts mehr wahrnahm, und griff nach dem Hörer.

«Die Wolke hier, ich höre.»

«Die Sonne. He, paß auf, bald kriegst den Sheriff! Ende!»

Der Kamerad in der Kompaniezentrale schaffte es nur knapp abzuklingeln, da sah der Korporal bereits den Geländewagen, wie er mit dichtem Staubschleier hinter sich aus dem Wald auf ihn zuraste. Der Hauptmann fuhr selbst und winkte ihm zu, er solle oben bleiben. Als er bremste, blieb er am Steuer sitzen und sprach ihn an, während sich die Staubschleppe langsam legte.

«Tono, das Staatsgut möchte morgen die Wiese vor dem Felsen drüben runternehmen, die haben wieder neue Leute gekriegt, überprüfte, heißt es, doch ich will keine neue Scheiße haben. Du hast das Kommando, hol dir noch einen dazu, und kannst den ganzen Tag in der Sonne fünfzehn machen!»

Dem Korporal schien, man hätte ihm in den Magen getreten. Ein totaler Blödsinn fiel ihm ein: Und was, wenn man mir keinen Christen schickt, sondern einen Heiden, den der Himmel nicht warnt? Jesus, was dann?

3. Der Alchimist

Er hob den Finger zur Klingeltaste und wünschte sich dabei, sie wären nicht zu Hause, denn er wußte genau, wie es ausgehen wird. Aber wo sonst könnten sie zu dieser Stunde sein? Die Kleine mußte bald zu Bett, und Zdena schien noch keinen neuen Partner zu haben; in den seltenen Gesprächen, die sie am Telephon führten, kam sie ihm ebenso wehleidig vor wie letztes Jahr, als sie endlich begriffen hatte, daß ihre Ehe auseinanderging. Ich könnte mir den sinnlosen Ausflug sparen! überlegte er sich, wenn bei den Kreuzungen ein Rot nach dem anderen fiel, doch fuhr er weiter, quer durch ganz Prag, und jetzt schellte er bereits.

Erst Kinderrufe, dann schlurfende Schritte und das Klappern im Guckloch. Endlich machte ihm die Tochter auf. Sein Blick fiel auf die ausgelatschten Schlappen und den uralten Hausrock mit Papageien, den er einst, sie war noch ledig und man wohnte gemeinsam, ihr aus Paris mitgebracht hatte. Ihre fettigen Haare, sicher tagelang nicht gewaschen, und das aschgraue, ungeschminkte Gesicht machten das traurige Bild vollkommen. Wie immer hob in ihm das schlechte Gewissen eine Mitleidswelle empor. Und wie immer sorgte Zdena dafür, daß sie schleunigst wieder abebbte.

«Na, so was!» sagte sie zu dem Mädchen, das hinter ihr im Nachthemd stand, «der Opa persönlich hat den Weg zu uns gefunden, na, da staunen wir, nicht wahr, Zuzi?»

So wichtig war ihm diese Begegnung, daß er sich beherrschte und zu lächeln versuchte.

«Ich glaubte, ihn niemals verloren zu haben... Grüß dich, Zdena, grüß dich, Zuzilein...»

Es gelang ihm, sie beide zu küssen. Daß die Tochter nicht zurückzuckte, wie so oft, um ihm klarzumachen, wie die raren Zeichen seiner Zuneigung sie vielmehr erschreckten, hielt er bereits für ein gutes Omen, doch sie hat ihm sofort einen ihrer Kratzer versetzt.

«So begrüß doch den Opa schön, Zuzi, und frag ihn, was er dir mitgebracht hat!»

«Opilein», kürzte das Kind den Auftrag ab, «hast du was mitgebracht?»

Am liebsten wäre er in die Erde versunken, daß es ihm ausgerechnet heute nicht einfiel, doch er hat sich zu diesem letzten Versuch erst vor einer Stunde durchgerungen, als die Geschäfte schon zu hatten. Zdena sah doch seine leeren Hände, und es war von ihr darum noch ungerechter, als er den beiden immer etwas anschleppte, zugegeben, aus dem Ausland vorwiegend Kleinigkeiten, aber mehr war bei den bescheidenen Spesen eben nicht drin: Er führte zwar oft Delegationen an, doch solange ihn die Partner nicht zu einem ordentlichen Essen einluden, lebte er sogar in guten Hotels von Brötchen, Wurst und Dosenbier, die er an den sich verbeugenden Türhütern vorbei im Aktenkoffer ins Zimmer schmuggelte.

«Entschuldige, Zuzilein», sagte er demütig, «heute habe ich es tatsächlich nicht geschafft, morgen fliege ich fort, und bis jetzt war ich in der Arbeit...»

«Tja, der Opa flog immer so herum, weißt du», erklärte die Tochter der Enkelin, «drum hat er schon für mich keine Zeit gehabt.»

Sie strafte ihn auch noch mit dieser Anrede, die ihm, wie sie wußte, tief zuwider war. Er zwang sie sogar einst, jetzt schämte er sich für solche Eitelkeit, ihn «Karel» zu nennen. Mit «Papa» trotzte sie seiner Entscheidung, die Mutter und sie zu verlassen wegen einer der vielen austauschbaren, meist gefärbten Blondinen, die es endlich geschafft hatte, ihn so weit zu bringen. Als er sie dann sogar heiratete, verlor die Tochter an ihn drei Jahre kein einziges Wort. Dann nahm sie ihn wieder in Gnaden auf, weil er sich wenigstens um sie beide anständig kümmerte, und vor allem, weil das tolle Frauchen inzwischen mit einem Jüngeren verschwand, der noch dazu Devisenausländer war. Ausschlaggebend wurde, daß er damals für seine Bitte um Versöhnung ausnahmsweise überzeugende Worte fand.

Er durfte sogar seine Tochter zum Standesamt führen, und bei der Hochzeitstafel, die er als anständiger Brautvater natürlich ausgerichtet hatte, saßen alle mal wieder zusammen. Dann jedoch hat auch die Tochter der Ehemann verlassen, und sie kehrte ihre ganze Bitterkeit gegen den Vater, als wäre er der wirkliche Urheber dieses Verrats. Sie hörte auf, ihn direkt anzureden, sprach zu ihm nur über die Kleine, grundsätzlich in der dritten Person.

«Zdena!» flehte er sie an, «ich muß dich dringend sprechen. Darf ich wenigstens rein?»

«Aber gewiß doch...» sagte sie, durch diesen Ton überrascht.

Auch er konnte sich nicht darauf besinnen, diesen Wunsch je geäußert zu haben, dem er selbst so oft kein Gehör gab, als seine erste Frau oder die Tochter mit ihm das ziemlich abgedroschene Thema noch einmal erörtern wollten, er solle sie doch nicht verlassen. Er hat jedoch mit dem Staunen der Tochter gerechnet und es in seine Überlegungen einkalkuliert. Er hoffte, wenn auch schwach, daß Zdena ihren Schützengraben verläßt, den sie vor allem gegen ihn ausgehoben hatte, und bietet ihm an, was eigentlich? wenn nicht gerade Liebe, so doch einiges Verständnis. Und würde sie das tun, hatte er sich auf dem Weg hierher geschworen, werde ich auf alles andere husten, springe aus diesem Zug, ehe er mich dorthin führt, von wo es keine Rückkehr mehr gibt. Bald bin ich doch fünfzig! und ich kann mir an den Fingern abzählen, was mir früher oder später auch mit Gerda bevorsteht, obwohl sie mir heute jedesmal in den Armen zu sterben pflegt und schwört, nie einen Besseren gehabt zu haben. Übrigens, kann ich mit Sicherheit ausschließen, daß dabei nicht Geld auch eine Rolle spielte? Für diesen big deal kriegt sie doch bestimmt eine Provision!

Solche Gedanken schossen ihm durch den Kopf, als er geistesabwesend die Enkelin befragte, wie sie sich im Kindergarten fühlt, und ihr Geplapper, gleichermaßen gierig und wirr, beim anderen Ohr rausgehen ließ, während Zdena in der Küche ihm einen Türkischen kochte, das erste Zeichen einer Gunst? oder bloß eine Atempause, um sich inzwischen gegen mich zu wappnen?

Doch sie machte sogar den Fernseher im Zimmer an und erlaubte der Tochter, die Abendnachrichten anzuschauen; ihn lud sie in die Küche ein, damit ihn das Kind nicht störte, die Nervosität des Vaters kannte sie nur zu gut.

«Wieder mal ’nen Korb gekriegt?» verkniff sie sich nicht.

Er überging das und versuchte, die Barriere zu durchbrechen.

«Ich möcht’ mich mit dir beraten...»

«Du mit mir?»

Ganz und gar auf seine Worte konzentriert, rührte er sinnlos lang im Kaffee herum.

«Zdena, du kannst über mich denken, was du willst, doch du weißt gut, mir lag schon immer etwas an dir!»

«Wissen tu’ ich’s nicht, sonst wärst du bei der Mutter geblieben.»

«Ach, bitte, sprich mit mir nicht wie ein Backfisch, du hast doch deine eigene Erfahrung hinter dir!»

«Jawohl, daß das Beispiel Schule macht.»

«Willst du damit sagen, er hätte dich meinetwegen sitzenlassen?»

«Nein, das nicht...» sagte sie leise und wirkte plötzlich so alt und erbärmlich, daß es ihm eng ums Herz wurde, «worüber also wolltest du mit mir...»

«Ich habe ein Angebot bekommen...» begann er ganz allgemein undeutlich, weil ihm erstaunlicherweise bis jetzt nicht einfiel, was und wie er ihr mitteilen will und vor allem darf, «ein tolles. Jemand will mich endlich beschäftigen und bezahlen, wie ich es verdiene.»

Sie schaffte es sogar zu lächeln.

«Wie Mutter immer sagte, für Bescheidenheit könntest du nicht bestraft werden.»

«Nur», wehrte er sich, «wenn jemand in diesem rückständigen Land es noch versteht, kompliziertes Laborglas in Spitzenqualität herzustellen, dann bin ich es.»

«Das kann wahr sein», gab sie nach und fügte freundlicher hinzu, «lange habe ich doch gedacht, du wärst ein Alchimist! Und es stimmt ebenfalls», hat sie das sofort mit einem Giftpfeil ausgeglichen, «man hat dich sehr schlecht bezahlt, gemessen an den Alimenten, die du uns geschickt hast.»

«Ich hab’ immer geschickt, war ihr gebraucht habt!«

«Entschuldige, ich möchte dich nicht weiter unterbrechen...»

Er rührte weiter in seinem Kaffee.

«Und deswegen bin ich auch hier. Es war vor allem die Arbeit, die mich euch wegnahm, glaub mir! Die Weiber... waren meine Schwäche, doch habe ich noch immer zurückgefunden, das Glas aber – das ist meine wahre Liebe! Von dem weiß ich zehnmal mehr, als man mich hier zeigen ließ. Nehme ich den Job, werde ich auch darum glücklich sein, weil ich dir und dem kleinen Zuzilein reichlich entgelten kann, was ich euch schuldig blieb, wie du meinst.»

«Aha? Das klingt ganz interessant.»

«Die Sache hat aber einen Haken.»

«Alles hat einen. Mußt du deswegen wieder mal heiraten?»

«Warum sollte ich müssen», fragte er verblüfft.

«Na, wenn dich draußen mal nicht eine reiche Witwe haben möchte, damit du ihre Glashütte übernimmst!»

Nicht zu fassen, daß sie die Witwe erraten hat. Mit dem anderen lag sie leider daneben.

«Es geht jetzt nicht um meine, wie du es gern nennst, Techtelmechtel, sondern um den Job, der in der Tat im Ausland sein soll.»

«Na und, dort bist du doch unentwegt.»

«Nun, würde ich annehmen, müßte ich auf Dauer übersiedeln.»

Sie wurde aufmerksamer.

«Du meinst also auswandern?»

«Ja.»

«Und wohin?»

«Je nachdem, wo mich die Firma brauchen würde», sagte er zunächst vage, je weniger sie weiß, um so besser für sie, auch für den schlimmsten Fall; dann jedoch wurde er präziser, «wahrscheinlich in Asien.»

«Und das würden dir die Unseren erlauben?» fragte sie mißtrauisch, «du bist doch so was wie ein Geheimnisträger, oder nicht?»

«Mag sein», wich er aus, «wie du aber siehst, man läßt mich dennoch in den Westen. Bei uns, du weißt doch, kann man sich alles richten.»

«Und wie willst du die schmieren?» forschte sie nach, «pauschal oder in Prozenten? Hoffentlich bleibt da für uns noch was übrig.»

Er wußte, sie spielt nur ihr Spiel, geldgierig war sie nicht, die Spielregel hat ihr die Mutter beigebracht mit ihrer Kampfparole: Was er uns nicht gibt, schnappen sich seine Hurenweiber! Zdena wollte nichts von ihm, niemals. Und wenn er dann fragte, was er ihr mitbringen soll, bestellte sie immer etwas für die Mama, damit sie sich endlich einen Mann anlacht! Dazu hatte er natürlich keine Lust, und so kaufte er für die Tochter, was ihm seine Reisekollegen empfahlen, die sich besser auskannten. Nie hat er was davon an ihr gesehen, bis sie ihm endlich sagte, er solle lieber, wenn es schon sein müsse, etwas für die Kleine mitbringen, für sie habe er nun einmal kein Auge.

«Zdena», bat er sie jetzt, «laß das Sticheln, du meinst das sowieso nicht ernst.»

«Und ob ich das meine!» sagte sie plötzlich unerwartet hart, so daß es ihn um so mehr verletzte, «denn viel mehr als etwas Geld hast du mir nie gegeben. Und wenn du mich tatsächlich ernsthaft fragen willst, ob ich dich entbehren werde, so sage ich dir, wie ich das fühle: Falls du irgendwo landest, wo der Pfeffer wächst, und ich weiß, daß du auf dieser Halbkugel einfach nicht mehr stattfindest, käme es mir natürlicher vor als jeder deiner Besuche, bei denen du ja nur an die Zeit denkst. Nein! bitte, unterbrich mich nicht, solange ich den Mut habe, dir das zu sagen. Ich bin schließlich erwachsen, ich glaube, seit dem Augenblick, in dem du mir verboten hast, dich ‹Papa› zu nennen. Gut, ich gebe zu, das mit der Mutter habe ich übertrieben, es war vielmehr nur ein pubertärer Trotz, ab und zu verstand ich sogar, daß du es mit ihr nicht aushalten konntest, so wie ich jetzt selbst manchmal helle Momente habe und beinahe begreife, warum es mit mir genauso ausging. Frauen sind Weibchen oder Raubkatzen, der Unterschied besteht darin, daß die Raubtiere sogar ihren Wurf auffressen, wenn er sie stört. Mutter und ich, wir sind beide nun mal Weibchen, die gewillt sind, eigene Ambitionen für ein Familienleben aufzugeben. Schon daß der Mann auf die Jagd geht, ertragen wir kaum, das muß ihn zum Aufstand provozieren. Doch wie du zu verfahren? so niveaulos, so brutal, daß jeder unser Elend sieht und sich daran weidet? Weiber zu haben, die uns menschlich nicht einmal bis zur Gürtellinie reichen, na, bitte: Vielleicht sind die gut im Bett! Aber uns öffentlich zu brüskieren, das macht man einfach nicht! Der größten Schlampe, entschuldige, aber das weißt du inzwischen selber, hast du durch die Scheidung von der Mama und eure Hochzeit direkt ein Diplom ausgestellt, das sie nur deswegen haben mußte, um uns zu degradieren, dich hat sie dann wie einen kleinen Studiker sitzenlassen. Ich lehnte es ab, mit dir zu reden, jawohl, bei dir hat es aber drei Jahre gedauert, was die meisten Väter über Nacht begreifen, mir einen Kuß zu verpassen und zu sagen, was du so spät gesagt hast: Ich bin vielleicht ein Saukerl, aber dich, meine Tochter, dich mag ich! Darum habe ich dich auf der Stelle gebeten, mir Geleitschutz zu geben bei meinem Schicksalsschritt zu jenem Herrn, der dir so ähnlich war, daß ich ihn an deiner Statt zu lieben anfing. Keine Angst, ich werde dir nicht vorwerfen, du hättest mir das damals nicht ausgeredet, denn du hattest keine Chance. Was mir aber dabei nicht entging, als er mich sausenließ, war deine, ich sage nicht etwa Zufriedenheit, das nicht, wohl aber eine Art Genugtuung, daß ich nun endlich dich begreifen werde.»

«Zdenka, das glaubst du doch selber nicht...»

«Einen Moment mal, ich bin gleich fertig! Natürlich glaube ich es, nur du bist nach wie vor nicht imstande, vor dir selbst etwas zuzugeben, denn ehrlich zu sich selber zu sein, das tut am meisten weh. Ich habe es dir heute an der Tür fast geglaubt, du möchtest dich mit mir tatsächlich beraten. Nur wolltest du mir verkünden, daß du jetzt auf mich total pfeifen willst, und falls ich das absegne, blätterst du wieder mal leicht was hin, um ein reineres Gewissen zu haben.»

Er war entsetzt.

«Das denkst du von mir?»

«Was sonst? Würde ich dir näherstehen als der Job, wie du es nennst, hättest du ihn gleich abgelehnt, mir davon gar nichts erzählt, damit ich nicht bis ans Lebensende mit dem Vorwurf leben muß, ich hätte dir so eine Chance verdorben! Verstehst du denn tatsächlich nicht, daß du mit mir hier Gefühlserpressung treibst? Oder noch schlimmer, ein Schmierentheater aufführst, weil du gar nicht dahin willst, aber ich soll dir bis ins Grab dankbar sein?»

Niedergeschlagen schüttelte er den Kopf und dachte.

«Nein, das hat keinen Sinn...»

In der Tat sagte er das laut. Seltsamerweise beruhigte sie sich.

«Ja, da hast du recht», sagte sie, «jedenfalls heute nicht und mit Sicherheit nicht in diesem Punkt. Bleibe am besten dabei, was du dein ganzes Leben lang gemacht hast: Tu, was du willst.»

«Also gut», griff er nach einem Satz, den wiederum sie nie ausstehen konnte, «überlassen wir das Denken den Pferden, die haben die größeren Köpfe.»

Er stand auf. Sie fühlte nun offenbar das Bedürfnis nach einem versöhnlichen Schluß.

«Trinkst du deinen Kaffee nicht aus?» fragte sie, «genug umgerührt ist er.»

Alles in ihm versteifte sich jedoch, er fühlte sich ganz wie aus seinem unzerbrechlichsten Glas und legte endlich den Löffel auf die Untertasse.

«Er ist schon kalt.»

«Soll ich einen neuen machen? Wird gleich fertig...»

«Nein, danke, eigentlich bekommt er mir abends nicht.»

«Danach bist du immer am sichersten eingeschlafen», erinnerte sie sich unwillkürlich.

«Bin nicht mehr zwanzig», verriet er ihr und gedachte seiner Eltern, die sie als Kleines so liebten; nach der Scheidung hat sie sie nimmer besucht, nicht einmal zu ihrem Begräbnis ging sie. Bitter fiel ihm ein: Soeben hast du, mein Töchterlein, entschieden, daß mein Grab am anderen Ende der Welt liegen wird. Doch immer noch stand er da, denn er wußte nicht, wie man für immer geht. Selbst dabei half sie ihm.

«Wenn es dir nichts ausmacht, lass’ ich die Zuzi im Wohnzimmer, sie regt sich bei dir immer so auf.»

«Gewiß, laß sie nur...» er war bereits an der Tür, «also, verzeih mir...»

«Verzeih du...»

Er war wieder gefaßt, sogar ein Lächeln gelang ihm.

«Bon, so verzeihen wir uns also gegenseitig.»

Dann hat sie ihm den letzten Schlag versetzt.

«Adieu, Papa», sagte sie zu seinem Rücken hin, «du hast nicht einmal gefragt, ob ich nicht vielleicht mit möchte.»

Und schloß die Tür.

Ziemlich lange hatte er Leere im Kopf. Er setzte sich in sein Auto und wartete, als würde sie nachkommen. Er zog aus der Brusttasche den Dienstreisepaß, betrachtete das Photo eines Mannes, der ihm bekannt vorkam, dessen Identität ihm jedoch entschwand, er las wieder und wieder: Ing. Karel Markalous, aber das half ihm nicht weiter. Nach einer Weile startete er und widmete sich ganz dem Fahren.

Das erste, was ihm in den Sinn kam, war einer der wenigen Sätze, die ihm aus der Geschichtsstunde geblieben waren, dem einzigen nichttechnischen Fach, das ihm Spaß machte. «Die Würfel sind gefallen.» Dabei ist ihm gleich klargeworden, daß er mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit durch diese Straßen nie mehr fahren wird. Aus einem plötzlichen Impuls dirigierte er seinen lieben Renault, der bald dem Staat anheimfallen sollte, auf einem Umweg zum Hradschinplatz, um noch einmal von der Burgrampe aus Prag zu sehen. Gerade gingen die Lichter an. Kaum hatte er angehalten, fiel ihm ein, daß er sich schon morgen mit Gerda lieben wird, und eine plötzliche Sehnsucht hat allen Schmerz verscheucht.

«Ein Saukerl», dachte er trotzig, «das hat auch seine guten Seiten.»

4. Die vier Zufallsbekannten

Die Pianistin hat wie auf Dornen warten müssen, bis sich das laute Mädchen endlich entschied, welche ihrer allesamt fürchterlichen Blusen es zum Abendbrot überziehen würde, sich die Haare noch einmal hochtoupiert und das Gesicht übergeschminkt hat, als ginge sie zu einem Ball. Erst dann durfte auch sie so tun, als müßte sie ihr Äußeres in Ordnung bringen. Und bat die Zimmergenossin, eine hochtoupierte Kaufhausverkäuferin, die sie zum erstenmal heute morgen gesehen hatte, ihr da unten einen Tischplatz zu sichern. Erst dann konnte sie blitzartig die nächtliche Flucht vorbereiten.

Wie sie sich das augedacht und auch ihm ins Gedächtnis eingeprägt hatte, hoffentlich sitzt er bereits am Tisch, damit die gleichzeitige Verspätung keine Aufmerksamkeit erregt! hängte sie auf den Kleiderbügel ein paar abgewetzte Sachen, die sie opfern wollte. Über das Waschbekken legte sie die Reservezahnbürste und ein halbes Dutzend minderwertiger Cremes, wodurch die Szene perfekt war. Alles wirklich Wertvolle befand sich in ihrer Handtasche und dem Koffer, den sie unauffällig an der Tür abstellte. Es genügte, den Mantel vom Haken zu nehmen und weg... wenn das Mädchen, so hoffte sie, schon schläft. Daß er nicht verschlafen wird, dessen war sie sich sicher, sie bangte nur, daß es vor lauter Aufregung nicht ihr passiert.

Das kleine oberösterreichische Hotel war bei aller Schlichtheit sagenhaft sauber, mit vielen weitaus teureren, aber schlechteren in Böhmen nicht zu vergleichen. Das tat ihr wohl, als sie hinunterging. Solange sie hier konzertieren durfte, kam sie in große Städte, in denen Komfort nichts Überraschendes hatte. Das Niveau dieses kleinstädtischen Betriebs, den sich die tschechische Reisegesellschaft für ihre ziemlich billige Busfahrt leisten konnte, wirkte aufmunternd, er erschien ihr wie ein letztes Zeichen dafür, daß sie für sie beide richtig entschieden hatte.

Die Reisegruppe mußte sie nicht erst suchen, aus dem ersten Stock hörte sie einen Lärm, typisch für jeden Tschechenhaufen, sobald er die Alltagsbindungen wegwirft und sich in eine Zufallsgemeinschaft verwandelt. Sie jedoch ging nicht dem Geräusch nach, sondern in die Gegenrichtung. Der Eingangsraum, als Rezeption verwendet, war leer, auf der Theke lag eine Tastenbox mit der Inschrift Klingeln. Sie drückte und hoffte, daß keiner der Landsleute sich hierher verirrt. Sie hatte Glück, als unmittelbar darauf ein nettes Mädchen erschien, dem es nichts ausmachte, daß es offensichtlich beim Essen gestört würde. Nach all den verlorenen Jahren durfte die Pianistin nun ihr Deutsch testen, auf das sie einst so stolz war: Sie hatte den besten aller Lehrer dafür – die Liebe...

«Entschuldigen Sie, bitte, ist hier Telephon...?»

Es amüsierte sie, daß auch die andere sich um korrektes Deutsch bemühen mußte, aufgewachsen in oberösterreichischer Mundart.

«Natürlich, Sie können hier, ich schalte nur den Zähler ein.»

Sie tat das und wollte gleich wieder weg. Die Pianistin fragte schnell:

«Bleibt das Haus nachts offen? Wenn wir hinaus möchten...»

«Ihr Reisebegleiter hat die Schlüssel für alle schon geholt.»

Die Tür konnte sie also vergessen. Es gab hier aber auch ein Fenster, und das ging direkt auf den Stadtplatz. Für ihn waren die zwei Meter ein Witz! Sie wählte die Rufnummer, die sie auswendig gelernt hatte, und freute sich auf Margrits stürmischen Jubel, nachdem sie ihr die sensationelle Neuigkeit mitgeteilt haben würde, man könne sie um zwei Uhr nachts vor der hiesigen Kirche für immer abholen, sogar mit einem viel jüngeren Liebling, wie ihn gerade Margrit ihr einst empfohlen hatte. Die Freundin meldete sich jedoch bloß von einem rauschenden Gerät.

«Konzertagentur Prohaska. Sie haben Pech, weil ich gerade eben unterwegs bin, doch vielleicht auch Glück, falls ich in Ihrem Interesse reise. Rufen Sie nächsten Montag wieder an, ich freue mich schon heute darauf!»

Zuerst erschrak sie, als hätte sie entdeckt, daß sie auf einer leeren Insel gestrandet war. Erst, als das andauernde Rattern des Zählers zu ihrem Gehirn durchgedrungen war, legte sie auf und konnte wieder logisch denken. Na und? Was soll’s? Auch Margrit könnte nichts anderes tun, als sie beide gleich morgen ins Flüchtlingslager zu bringen, wo jeder, wie bekannt, ausnahmslos das Fegefeuer der amtlichen Formalitäten passieren mußte. War das nicht sogar besser, gleich allein zu zweit anzufangen, ohne fremde Hilfe? Gewinnt damit nicht das Ganze einen tieferen und deshalb dauerhafteren Wert? Wird sich vor allem er nicht besser fühlen?

Der Zähler zeigte sechs zwanzig. Verschwenderisch legte sie ein Zehnschillingstück auf die Theke und folgte zum letztenmal den heimatlichen Stimmen, um Václav durch das verabredete Zeichen mitzuteilen, nun gelte seine Ersatzlösung.

Durch die geätzte Mattglastür trat sie in das Vereinszimmer. In Zigarettenqualm gehüllt, saßen dort Männer, Bierröte im Gesicht, die ihre gute Laune erklärte. Ihn hat sie gleich erblickt, obwohl er fast verdeckt wurde von dem ausladend herumfuchtelnden Mann, der sie den ganzen Tag lang an jemanden erinnerte. Jetzt wußte sie es: an den seligen Komiker Fernandel, den dieser Schuft von Ilja so liebte, der Teufel soll ihn holen! Eben hat er sein Pferdegebiß gefletscht und gewiehert wie ein Roß. Dabei lehnte er sich nach hinten, bis er fast vom Stuhl kippte, so daß ihre Augen sich nun unbeschattet mit denen von Václav treffen konnten.

Wenn auch seine Erregung, das wußte sie, größer war als ihre, denn ihn erwartete noch zusätzlich eine ganz unbekannte Welt, strahlte sein asketisches Gesicht jene innere Ruhe aus, die sie bereits damals, bei seinem ersten Besuch, bezaubert hatte. Indem sie so tat, als suchte sie das Mädchen, das ihr einen Stuhl freihalten sollte, kämmte sie sich die Haare mit der Linken. Linkshänder war er, so erfuhr er, daß es nach ihm gehen soll.

Die Verkäuferin sah sie gleich. Sie sprang auf und setzte sich in dem Lärm mit ihrer Stimme und wilder Gestik mühelos durch.

«Hier! Heda, hallo, hierher!!»

Sie atmete auf. Sie fürchtete schon, dieses Weib hat sich vielleicht davongemacht. Die drei Blödmänner, zu denen sie sich nun absichtlich hinsetzte, um sie allesamt für ihre Sache zu gewinnen, waren, wie sie soeben mit Schrecken erkannte, in einem solchen Fall imstande, die ganze Gruppe mit Gewalt in den Bus zu stopfen und noch nachts in Budweis abzuliefern. Der Reiseleiter hat sich gleich beim ersten Treff am frühen Morgen als «verdientes Parteimitglied» vorgestellt und tat auch weiter so, als käme er direkt aus der Klapsmühle. Selbst die Pinkelpause hat er mit dem Ruf begleitet, sie müßten alle wachsam bleiben, und als der Bus im ersten österreichischen Dorf an vollgestopften Schaufenstern vorbeifuhr, griff er nach dem Mikrophon und grölte, sie sollten auf die Errungenschaften stolz sein, die in der Heimat wieder auf sie warteten.

Der zweite Knacker war um so schlimmer, als er das Mikrophon überhaupt nicht aus der Hand ließ, und wenn sie ausstiegen, blökte er weiter in eine Blechtüte. Es war ein Lehrer in Rente, aber er verlangte immer, daß man ihn mit «Genosse Lektor» ansprach. Auf der Platte saß ihm ein schlecht haftendes Toupet mit Lockenwelle, die Taschen quollen über von Broschüren, aus denen er unentwegt ganze Seiten über die Arbeiterbewegung in Österreich herunterleierte. Es war zum Verzweifeln.

Der Dritte im Bunde war der Busfahrer, vermutlich zugleich der Spitzel, der auf sie aufpaßte. Seine gut hundertzwanzig Kilo hatten ihre Bleibe vor allem in seinem Bierwanst. Das hinderte ihn kaum, sich für einen unwiderstehlichen Verführer zu halten. Unentwegt pfiff er vor sich hin und blinzelte wie verstohlen all den Frauen zu, die solo mitfuhren. Ihr persönlich hat er seine Gunst bedeutet, als er ihren Leinenkoffer im Gepäckraum nach oben schmiß, damit deine Robe nicht zerknautscht wird, wenn wir aufbrechen, im Prater das Tanzbein zu schwingen, Genossin! Oh, du meine Omi, das war der Gipfel!

Wenn sie sich trotzdem zu diesen Typen hinsetzte, hatte das seinen guten Grund. Nie hätte sie gedacht, daß fünfzig Erwachsene sich das gefallen ließen wie dieser Verein. Die Bezeichnung «Thematische Fahrt» hielt sie wie alle anderen für den üblichen Vorwand, in die Welt losziehen zu dürfen. Daß sie aber beim ersten Ausflug in den Westen, der ihre ganzen Ersparnisse verschlang, per Schub von einem Museum ins andere befördert wurde und das gleiche Geschwafel anhören mußte wie zu Hause, nahm ihr den Glauben an die Menschheit. Angestrengt suchte sie nach einem Verbündeten, bis sie ihn in der Indianerin fand.

So nannte sie für sich dieses Weib, das inmitten der geschmacklos aufgetakelten Muttertypen selbst in dem einfachen, aber eleganten Sommerkleid geradezu exotisch wirkte, auch dank der gewaltigen Make-up-Schicht, die sicher ihre Falten zuklatschte. Auf jeden Fall sah sie für ihre vierundvierzig, die Verkäuferin warf an der Grenze ein schnelles Auge auf die Liste in der Hand des Reiseleiters, ganz passabel aus, vor allem dank ihrer Figur. So gut sogar, daß sich in sie sowohl der Dauerquatscher wie auch der Schnüffelbauch verknallt hatten. Deshalb hängte sie sich an sie und konnte leicht an den gemeinsamen Zimmerschlüssel gelangen. In der Schar ausgedörrter Glucken und überfälliger Mastgänse war auch der Indianerin keine bessere Wahl geblieben.

Nur darum ging es der Verkäuferin: schnellstens die Wiener Boulevards zu erreichen, von denen sie so viel gehört hatte, und ihren Plan auszuführen. Nein, sie war nicht auf den Kopf gefallen wie die Behämmerten, die so hastig abgehauen waren, kaum daß sie das erstemal dem Käfig entflogen, um dann in Flüchtlingslagern dahinzusiechen und mit Kerlen unterzugehen, die gerade zur Hand waren. Sie hatte die Klügeren vor Augen, die sich zunächst einen richtigen Mann geangelt und ihn um den Finger gewickelt hatten, so daß er ihnen durch die Hochzeit die Welt zu Füßen legte; das verschaffte ihnen die Möglichkeit der steten Rückkehr zu Muttilein, na, und auch zu den tschechischen Jungs natürlich, die ihnen selbst das bißchen ersetzten, was sie durch den Heimatwechsel entbehrten.

Die Verkäuferin stand im Briefwechsel mit einer alten Busenfreundin, in Australien verheiratet, die ihr einmal zwar abgetragene, aber noch immer so kühne Modellkleider geschickt hatte, daß man da nur zu Hause reinschlüpfen konnte, wenn man nicht vom erstbesten Bullen als Spionin oder Nutte kassiert werden wollte. Das wahrlich leuchtende Beispiel aber war für sie Jarina Jiráková. Die stinknormale Göre, mit der sie einmal einen Gemeinschaftsurlaub in der Dedeärr durchgealbert hatte, hatte sich gleich im Anschluß den vielleicht reichsten aller Amerikaner ergattert, dem Hotels, Spielkasinos und Wolkenkratzer gehörten. Die alten Jiráks folgten der Tochter, noch ehe die Zurückgebliebene sich die Adresse verschaffen konnte.

Darum war sie ausgereist und hatte nun diese Indianerin nötig, die gewiß in allen Sprachen brabbeln konnte, als sie sich durch ganz Europa klimperte; die wird sie zur Wiener Hauptpost bringen, wo Telephonbücher liegen sollen, für überallhin. Jarina Climb! Von denen kann es in Nijork nicht so viele geben, als daß sie nicht ausfindig zu machen wäre. Und die hundert Mark, die sie schwarz gewechselt und in den BH genäht hatte, die müßten für ein Gespräch langen, in dem sie erklärt, um was es ihr geht. Daß Jarina auch diesmal die Kurve kriegt und ihr nach Budweis einen Freier schickt, so ausgewählt, daß er auf sie fliegen würde, daran zweifelte sie nicht. Und wenn er dann weich landet und erlebt, wie eine echte böhmische Buchtel schmeckt, beißt er nie mehr in etwas anderes rein.

«Na, sieh mal!» rief der Lehrer freudig aus, als sich die Pianistin zu dem letzten Vorspeisenteller setzte, «ich hatte schon Angst, ein Kapitalist hätte Sie zu was Besserem entführt!»

Der Fahrer grinste und räumte die Mundhöhle frei, die eben ein Schnitzel mampfte.

«Und ich wiederum dachte, es hätte Sie die Sudetenrache erwischt!»

Als sie nicht verstand, machte er es ihr klar.

«Man kriegt es hier manchmal busweise, es kommt von der Vollmilch. So rächt man sich an uns für den Abschub der Fritze nach dem Krieg.»

«Und was soll das sein?» fragte sie unbeholfen.

«Ganz normal, mit Verlaub, heißt es Schieteritis!»

Er lachte laut. So was Plumpes! dachte sich sogar die Verkäuferin und warf auf die Indianerfrau einen Verschwörerblick, der, was sie erfreute, zur Kenntnis genommen wurde. Die Pianistin stand im Brennpunkt des Interesses beider Verehrer.

«Er wollte schon Ihre Vorspeise wegputzen», verpetzte der Lehrer den Rivalen, «doch ich habe es ihm nicht erlaubt!»

«Hätte ich es gewollt», sagte der Fahrer kampfentschlossen, «so könnte mich keiner daran hindern, ich aber zum Glück», fügte er großzügig hinzu, «wollte nicht!»

Wüßte sie nicht, daß es nicht möglich war, könnte sie den Zweikampf der beiden ausgedienten Platzhirsche für eine Farce halten, die sie lächerlich machen sollte. So aber fiel ihr ein, daß sie in letzter Zeit tatsächlich gut aussieht. Es hat ihr geschmeichelt; sie brauchte ein bißchen weibliches Selbstbewußtsein, gerade jetzt, wenn sie den doppelten Salto mortale riskieren wollte.

«Ich danke Ihnen», sagte sie also zu den beiden und machte sich, obwohl sie gar keinen Appetit hatte, an den kalten Aufschnitt, um diesem Geschwafel zu entgehen. Nur noch diese Stunde, ermunterte sie sich, und ich habe es hinter mich gebracht, in Ewigkeit Amen.

«Ich wollte gerade den Genossen hier vorschlagen», eröffnete die Verkäuferin ihren Versuch, «wir könnten doch morgen früh direkt nach Wien fahren, oder? Die Museumser haben wir heute genug genossen, nicht, Genossen, oder wie denkt ihr darüber?»

Sie hing an der Pianistin mit geradezu flehentlichen Augen, so daß diese begriff, warum sie mit diesem Trio infernale tafeln mußte. Es war eigentlich das letzte, was sie noch wollte, doch ehe sie die Kleine enttäuschen konnte, tat es der Reiseleiter selbst.

«Genossin... Karhánková, nicht wahr?»

«Havránková!»

«Ach ja... Du mußt kapieren, daß die Mehrheit hier an anderen Sachen interessiert ist als nur an Kaufhäusern. Wir machen eine Studienfahrt auf den Spuren der Gewerkschaftsbewegung!»

«Aber ich arbeite doch in einem Kaufhaus, dort ist die Bewegung auch.»

Das Mädel ist klüger, als es aussieht, dachte sich die Pianistin. Daß sie und Václav die gleiche Reise bekommen hatten, sie durch Bestechung, er dank seiner Frau, lag jedoch gerade an der Reizlosigkeit der Ziele.

«Dann solltest du dir eine andere Reise kaufen!» das verdiente Mitglied beharrte auf seinem Standpunkt.

«Ja, und welche denn? Die besseren waren alle, ehe sie noch in die normalen Reisebüros kamen.»

«Willst du damit etwa andeuten, da sei irgendein Schmu im Spiel, Genossin Varhánková?»

«Havránková! Das wollte ich nicht, aber warum lassen Sie nicht wenigstens darüber abstimmen, wer morgen direkt nach Wien möchte?»

«Das Abstimmen ist nicht dazu da, die Beschlüsse der Mehrheit zu verändern.»

«Wann ist hier was beschlossen worden?»

Die schrille Stimme der Verkäuferin, mit der sie offenbar auch die gängigsten Informationen von sich gab, war sogar in diesem Gelärme klar zu hören. Von den Nachbartischen drehten sich ihnen die Köpfe zu, die Augen verrieten gespanntes Interesse. Der Reiseleiter schien in seinem Element zu sein und antwortete mit der Donnerstimme eines geschulten Massenredners.

«Darüber hat jeder von uns abgestimmt, auch du, eben durch den Kauf dieser Reise!»

In der still gewordenen Gaststube fragte jemand.

«Wann geben die uns eigentlich unsere Pässe zurück?»

Die Pianistin spitzte die Ohren. Mit den Pässen ginge alles wesentlich einfacher. Sollten sie soviel Glück haben? Diese Hoffnung hat der Reiseleiter gleich ausgelöscht.

«Keine Angst, Genossen, jetzt hat sie die hiesige Polizei. Es heißt, zur Anmeldung. Warum wirklich, wird man uns kaum sagen, hier sind wir nicht bei uns zu Hause, sondern im Westen, wo es von Geheimdiensten nur so wimmelt. Darum, Genossinnen, laßt die Pässe auch danach besser bei mir.»

Darauf hat keiner gemuckst, und es wurde der Schweinsbraten aufgetragen; mit dem Geklimper der Bestecke wurden auch die Stimmen wieder lauter. Die Verkäuferin begriff, daß der Widerstand in dieser Herde keinen Sinn hat, nachdem ihr nicht einmal die Indianerin beisprang. Die aber würde sie, wenn man nur so kurz in Wien sein soll, noch viel dringender brauchen. Um nichts zu vermasseln, machte sie sich mit Appetit ans Essen.

Der Mann hatte graumelierte Haare wie Stacheldraht, eine krumme Nase, und das ganze Gesicht war wie zerknautscht. Beim Essen schlürfte und schmatzte er, beim Sprechen spuckte er, aber immerhin verstand er Witze zu erzählen, er schüttelte einen nach dem anderen aus dem Ärmel, bis sich der Tisch vor Lachen bog. Bei den Pointen lächelte selbst der Gärtner, obwohl sie ihm meist geschmacklos und grob vorkamen: Er saß neben dem Erzähler und sollte mit ihm ein Doppelzimmer gerade in dieser Nacht teilen, was dem unschuldigen Mitschläfer allerlei Unannehmlichkeiten bereiten konnte. So wollte er ihm wenigstens diese Freude machen.

Der Gärtner war ein tiefgläubiger Mensch. In seinem Glauben lag auch seine Kraft: Weil er sich nur vor Gott fürchtete, hatte er vor niemandem auf der Welt Angst. Daß er dennoch nicht, nicht einmal für seinen Glauben, auf die Barrikaden ging, war keine Äußerung von Schwäche, sondern von Demut. Er hielt sich nicht für so wichtig, als daß er die Sorgen seiner Nächsten vermehren wollte, solange ihn niemand dazu zwang, seinen Glauben aufzugeben.

Er bedurfte dafür keiner sichtbaren Symbole, er war einfach ein Christ, das wußte er und mußte es nicht vorführen. Es fiel ihm also nicht schwer, die Besuche in der Ortskirche einzustellen, als ihn Věras Vater so dringend darum bat. Er hatte sich auch mit der standesamtlichen Trauung abgefunden. In allem war er der Sohn seiner Eltern, schlichte Gärtnersleute, die ihr Inneres Christus geweiht hatten und glaubten, ihm durch ein Leben in Wahrheit und Anstand besser zu dienen, als sich für ihn in der Arena von Löwen in Stücke reißen zu lassen.

Zu diesen zählte auch Věras Vater, und ein Christ in der Familie tat ihm geradezu weh. Nur daß er bei dem Ruf der Tochter nicht allzu wählerisch sein konnte. Daß sie zu guter Letzt noch einen so fleißigen und gutaussehenden Mann ergattern würde, war an sich schon ein Wunder, also versöhnte sich der Vater damit, daß er, Hauptmann der öffentlichen Sicherheit, einen Schwiegersohn aus einer bigotten, katholischen Sippschaft bekommen sollte. Er hat es von den Kameraden bei der Staatssicherheit erfahren, nachdem er ihn dort vorsichtshalber durchleuchten ließ; der künftige Eidam hatte zum Glück nicht einen einzigen Ritzer auf dem Kerbholz, was irgendwelche Aktivitäten betraf. Als er kam und um Věra anhielt, redete der Brautvater in Uniform mit ihm Klartext. Der junge Mann war so verknallt, daß er hoch und heilig versprach, sich von den Schwarzröcken fernzuhalten.

Heute wußte der Gärtner, daß er damals mehr versprochen hatte als nötig. Andeutungen seiner Umgebung entnahm er bald, daß fast jeder schon vor ihrer Hochzeit etwas mit Věra gehabt hatte. Doch ein Bestandteil seines Glaubens, so seine Überzeugung, war die Pflicht zu verzeihen, und zu den biblischen Geschichten, die ihn am meisten ergriffen haben, gehörte die von Maria Magdalena. Er mochte Věra, deshalb galt für ihn nur ihr gemeinsames Leben. Sie waren aber immer weniger zusammen, nachdem es sich ergeben hatte, daß sie keine Kinder bekommen würden, und sie wieder in das Büro der Baugenossenschaft zurückging. Mit der Zeit bekam er spitz, daß die «Prämien», die ihr Normalgehalt weit überstiegen, Belohnungen für Manipulationen der Wohnungszuteilungsliste darstellten, und er machte sich zunehmend Sorgen um sie.

«Und was ist dabei?» scherzte sie anfangs, «bei euch heißt es Ablaß, bei uns Schmiergeld, wenn man da anfangen würde, jemanden einzusperren, müßten längst alle sitzen. Außerdem ist mein Vater ein Bulle.»

Später fing sie an, ihn auf eine Art zu quälen, die ihn besonders traf.

«Eigentlich bist du ein Scheinheiliger», sagte sie, als sie sich gerade am heftigsten liebten, «anstatt zu beten, bumst du mich andauernd!»

Sie verursachte, mit Absicht, wie er heute glaubte, seine sich steigernde Unlust, sie zu umarmen. Sie war übrigens immer weniger zu Hause, die abendlichen «Baustellenkontrollen» wurden immer häufiger, was spinnst du? die Genossenschaftsmitglieder müssen tagsüber arbeiten! Auch Partys gab’s jetzt häufiger, wir müssen doch die Lieferanten motivieren! Er war bald überzeugt, daß sie ihn betrügt, doch vielmehr schmerzte ihn das Bewußtsein, daß sie ihn verabscheute. Auf der Leiter der Menschen, mit denen sie zu tun hatte, befand sich ein Gärtner auf der niedrigsten Sprosse, nicht einmal gut genug fürs Malochen: Beim Städtebau gab es für Grün weder Platz noch Geld.

Er litt darunter, und weil er in jenen Jahren auch die beiden Eltern verlor, blieb ihm außer Gott nur noch sein Beruf, und um so mehr hing er an ihm. Als Gärtner für das ehemals Rosenhainsche Schloß Klíčov gesucht wurden, ein verlorener Posten in den Wäldern, wohin niemand wollte, legte er sich ein Motorrad zu und nahm an; schon damals ging er gewissermaßen ins Exil.

Dort hat ihn an einem verregneten Samstag eine Besucherin angesprochen, die er wegen ihrer Kapuze nicht einmal richtig sehen konnte. Er wußte selbst nicht, warum er ihr versprach, am Sonntag die Hecke ihres nicht weit entfernt liegenden ehemaligen Bauernhauses zu stutzen. Er kam, schnitt und hörte dabei den ganzen Tag zu, wie sie Klavier spielte. Bei der Jause erklärte sie ihm knapp, sie halte sich bloß in Form, weil sie schon im vierten Jahr nicht auftreten dürfe. Das nahm ihn für sie ein, dazu entdeckte er bei sich ein Bedürfnis nach Musik, von dem er vorher keine Ahnung hatte. Als sie ihm sein Geld gab, fragte er scheu, ob er den Rest nicht ein anderes Mal erledigen könnte.

Heute nacht sollte er sich mit dieser Frau, die er vor einem Jahr noch nicht einmal kannte, gegen alle Gesetze versündigen; er war glücklich, daß sich kein göttliches darunter befand. Er war Věras Vater dankbar, daß er ihnen die kirchliche Heirat untersagt hatte. Seine einzige, aber um so schwerere Sorge bestand aus einem Hindernis, das er erst heute entdeckt hatte, obwohl er es hätte voraussehen können: Er verstand hier niemanden.

Als er vorhin das Zeichen auffing, daß es mit ihrer Freundin nicht geklappt hatte und somit seine Ersatzlösung dran war, traf ihn die Einsicht, daß seine Sprachunkenntnis ihm mehr zu schaffen machen würde als geahnt und er auch der zweiten Frau, die er je liebte, lästig fallen und sie verlieren könnte. Die vor ihm liegende Aufgabe war federleicht, überstieg aber trotzdem seine Kräfte. Es hat ihn so bedrückt, daß er seinen Nachbarn zuerst überhörte.

«Ich frage», wiederholte der Mensch, «schnarchst du bereits hier?»

«Nein, nein...»

Sie beide blieben allein am Tisch. Tschechen haben es sich schon längst abgewöhnt, die Nächte durchzumachen, denn der Tag war verdammt lang. Er schaute zu ihr hin. Offenbar hat sie nur darauf gewartet, denn sie stand sofort auf, das Mädchen folgte ihr. Der «Lektor» und der Fahrer versuchten vergeblich, sie zu überreden.