Endless Skies – Die Welt zwischen deinen Worten - Gabriella Santos de Lima - E-Book
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Endless Skies – Die Welt zwischen deinen Worten E-Book

Gabriella Santos de Lima

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Beschreibung

Fly me to the Stars – Herzklopfen über den Wolken Ein ganzes Meer zwischen sich und ihre Vergangenheit bringen – nichts wünscht sich die frisch getrennte Delilah sehnlicher. Und dann sitzt sie im Flieger von Boston zurück nach London ausgerechnet neben dem charmanten Jonah Lowell, der sie trotz allem mit seiner viel zu tiefen Stimme fasziniert. Delilah spürt sofort eine gewisse Anziehung, doch sie hat sich geschworen, erst einmal die Finger von Männern zu lassen. Bis sie Wochen später Jonahs Stimme im Radio wiedererkennt, die ihr noch immer unter die Haut geht. So sehr, dass sie bereut, sich nicht bei ihm gemeldet zu haben … Ready for takeoff! Diese Liebesromane lassen dich nicht wieder los Heb mit der »Above the Clouds«-Trilogie jetzt Richtung Wolke sieben ab.  »Perfekt für alle, die das Reisen vermissen: Gabriella Santos de Lima schreibt so intensiv, dass es sich beim Lesen anfühlt, als würde man selbst mit den Figuren um die Welt fliegen.« @liv.k.schreibt »Die Geschichte von Delilah und Jonah ist wie der Ozean: Unendlich tief, atemberaubend schön, so faszinierend, dass man den Blick nicht abwenden kann, und ewig wie das Gefühl von grenzenloser Freiheit.« @mariesliteratur »Dieses Buch ist wie ein Lieblingssong – mitreißend und Gänsehaut verleihend. Wie ein Ohrwurm, den man nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Ein Meisterwerk unter den New-Adult-Romanen!« @bookspumpkin »Ein Emotionscocktail aus gefühlvollen Farben und wundervoll gebrochenen Herzen. Eine rohe und stürmische Flut – Gabriellas Poesie reißt mit jedem Wort mit!« @alinaxstark Gabriella Santos de Lima, geboren 1997 in São Paulo, studiert Kreatives Schreiben in Hildesheim und arbeitet nebenberuflich als Flugbegleiterin. Am liebsten schreibt sie mit Aussicht auf pulsierende Innenstädte mit laut aufgedrehter Musik. Die Autorin ist bereits in den Social Media bekannt, auf Instagram postet sie unter @gabriellasantosdelimaa Buchtipps und Neuigkeiten aus ihrem Leben.

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Das Mottozitat stammt aus: Emily Dickinson, The Poetry of Emily Dickinson (Word Cloud Classics). Canterbury Classics, Simon and Schuster, 2015.

Das Zitat im Kapitel 32 stammt aus: Franz Kafka, The Metamorphosis, In the Penal Colony, and Other Stories. Übersetzt von Willa Muir und Edwin Muir. Vorwort von Anne Rice. Knopf Doubleday Publishing Group, 1995.

Das Zitat im Kapitel 34 stammt aus: Mabel Loomis Todd (Hg.), Letters of Emily Dickinson. Dover Publications, 2012.

 

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Playlist

Unterwassersonne

Kapitel 1

Delilah

Kapitel 2

Jonah

Kapitel 3

Delilah

Kapitel 4

Jonah

Kapitel 5

Delilah

Kapitel 6

Jonah

Kapitel 7

Delilah

Kapitel 8

Jonah

Kapitel 9

Delilah

Kapitel 10

Delilah

Kapitel 11

Jonah

Kapitel 12

Delilah

Notiz

Kapitel 13

Jonah

Kapitel 14

Delilah

Kapitel 15

Jonah

Kapitel 16

Delilah

Kapitel 17

Delilah

Alte Notiz

Kapitel 18

Jonah

Kapitel 19

Delilah

Kapitel 20

Jonah

Kapitel 21

Delilah

Kapitel 22

Jonah

Kapitel 23

Delilah

Kapitel 24

Jonah

Kapitel 25

Delilah

Kapitel 26

Jonah

Notiz

Kapitel 27

Delilah

Kapitel 28

Jonah

Kapitel 29

Delilah

Kapitel 30

Jonah

Kapitel 31

Delilah

Kapitel 32

Delilah

Notiz

Kapitel 33

Jonah

Kapitel 34

Jonah

Kapitel 35

Kapitel 36

Delilah

Kapitel 37

Delilah

Kapitel 38

Jonah

Kapitel 39

Delilah

Kapitel 40

Jonah

Kapitel 41

Jonah

Kapitel 42

Delilah

Kapitel 43

Delilah

Kapitel 44

Jonah

Kapitel 45

Delilah

Kapitel 46

Jonah

Notiz

Kapitel 47

Delilah

Kapitel 48

Delilah

Kapitel 49

Jonah

Kapitel 50

Delilah

Kapitel 51

Jonah

Kapitel 52

Delilah

Kapitel 53

Delilah

Kapitel 54

Jonah

Kapitel 55

Delilah

Kapitel 56

Jonah

Kapitel 57

Delilah

Kapitel 58

Jonah

Kapitel 59

Delilah

Kapitel 60

Jonah

Kapitel 61

Delilah

Kapitel 62

Jonah

Für Penn

Kapitel 63

Delilah

Calypso Coral

Allessonne

Danksagung

Für J,

den Hai,

die Lücken

I’m nobody!

Who are you?

Are you nobody, too?

– Emily Dickinson

Playlist

Pyro von Kings of Leon

Marinade von Dope Lemon

Delilah von Florence + The Machine

There Goes The Fear von Doves

Chapel Song von Augustines

7 von Catfish and the Bottlemen

Seaside von The Kooks

I Want You von Kings of Leon

Please, Please, Please, Let Me Get What I Want von The Smiths

Tethered, Wrapped Around von Dekker

Ribs von Lorde

This Night Has Opened My Eyes von The Smiths

505 von Arctic Monkeys

I Bet You Look Good On The Dancefloor von Tamino (Cover)

Pink Rabbits von The National

Champagne Supernova von Oasis

My Cell von The Lumineers

Take Care von Beach House

Closing Time von Semisonic

Eternal Summer von The Strokes

Barcelona von George Ezra

Suburban Smell von The Districts

Cadaver Love Song von Icarus Himself

Heartbeats von José González

Glasgow von Catfish and the Bottlemen

Holy Smoke von Palace

Queen Of Peace von Florence + The Machine

Robbers von The 1975

It’s called: Freefall von Rainbow Kitten Surprise

This Modern Love von Bloc Party

Unterwassersonne

Es war das seltsame Jahr, in dem die Richards nebenan auszogen, Mum auf die Wahrsagerin ihres Vertrauens stieß und ich der Welt den Krieg erklärte. Dieser eine Samstag legte den Grundstein. Ein lauer Maiabend, perfekt und grenzenlos in sich selbst, während Kings of Leon aus dem Handy spielten und Penn mir vom Grönlandhai erzählte.

»Er kann über fünfhundert Jahre alt werden. Stell dir das mal vor!«, sagte er ganz aufgeregt, in der faszinierten Stimmlage eines Jungen, der sich für die nächsten Jahrzehnte nicht um die Endlichkeit von Herzschlägen scheren würde. Penn hatte nämlich eine Zukunft. Und Ziele. Riesige und kalte Ziele von einem Studium am Scott Polar Research Institut mit anschließender Karriere als Arktisforscher. Zwei Tage später träumte ich zum ersten Mal, ich träume eine dunkle Unterwasserwelt, bestehend aus leuchtenden Krabben, Kraken und einem gigantischen Grönlandhai. Ich träumte, ich träume von Penn. Meinem besten Freund, der mir erklärte, jene Spezies wüchse jährlich bloß einen Zentimeter. Wie Taucher schwebten wir in der Tiefe, das Neopren Shirts unserer Lieblingsbands. Von irgendwo spielte This Modern Love, zu dem das Meer rhythmisch wogte.

»Hast du dich schon mal an der Mitternachtssonne verbrannt?«, fragte er immer.

Kapitel 1

Delilah

#Punktlandung

Ryders Schritte knirschten, während er den Zeigefingernagel aggressiv in den Daumen bohrte. Das war sein persönlicher Tick, die manische Erinnerung ans Schweigen und der beste journalistische Kniff, den er beherrschte. Geheimnisse und Gedanken strömten nämlich aus, wenn er lange genug nichts sagte. Das hatte die Erfahrung als Interviewer ihm zumindest bewiesen. Nur war Ryder gerade kein Reporter und ich keine Zeugin. Wir brauchten keine Stille, um unsere fette Schlagzeile zu enthüllen.

Wahrheit mischte sich unter die Luft, wenn wir am Frühstückstisch lachten oder noch vor Monaten Händchen haltend in den Victoria Park geschlendert waren. Wahrheit quetschte sich zwischen unsere Körper, wenn wir miteinander schliefen. Er am liebsten hinter mir, weil er sich so am besten in meinen Nacken graben konnte, dort, wo nur Haut, Haarspitzen und wilde Pulsschläge existierten. Keine Spur meines gut versteckten Gesichts, als hätte ich gefährlich grässliche Medusaaugen, die man in jedem Fall meiden müsste.

»Du machst also Schluss«, flüsterte ich.

Er hockte sich auf den gegenüberliegenden Platz, wo er die Hände zusammenfaltete. Ein diplomatisches Dreieck. Sein letzter und jämmerlicher Versuch von Objektivität.

»Komm schon, Lilah. Das kann keine Überraschung sein. Erinnerst du dich an den Donnerstag vor meiner Abreise? Wir waren bei Dishoom. Du hast dasselbe wie immer bestellt, ich ja auch, und wir haben über Mister Collans Seminar geredet. Dieses über Fake News, das er seit acht Semestern ohne aktualisierte Lektüreliste gibt. Ich habe diese unnötige Diskussion zwischen Wyatt und ihm erwähnt, erinnest du dich? Du hast so gelacht wie immer, aber …«

»Aber was?«

»Es war irgendwie anders.«

Ich zog die Brauen zusammen, dabei lagen mir schwere und hässliche Worte auf der Zunge. Bullshit. Fahr zur Hölle. Deinetwegen bin ich vor zwei Tagen in einen Flieger nach Neuengland gestiegen, um dich an deinem Geburtstag zu überraschen. Und jetzt sitze ich vor dir. In Boston, während deines Praktikums. Mit dem verfluchten Geschmack von deinem Sperma im Mund. Weil du mir gerade noch deinen Schwanz hineingerammt hast. Und dann machst du ernsthaft mit mir Schluss, indem du sagst, mein Lachen sei wie immer gewesen, aber auch »irgendwie anders«? Fahr. Einfach. Zur. Hölle. Ryder.

»Dass ich nach Boston gegangen bin, hat es klarer gemacht. Das mit uns, meine ich.«

Statt sofort zu antworten, sah ich an mir hinab. Ich trug nur einen Slip und eins seiner schlichten Shirts. Mein Mund öffnete sich, aber Ryder war schneller.

»Eine Frage für eine Frage?«

Eine Frage für eine Frage, nicht mehr als ein lächerliches Friedensangebot in seiner Welt, in der man keine Story gegen eine andere tauschte. Nieniemals. Was für ein Wahnsinnsdeal, Augenrollen hoch tausend. Trotzdem war er der einzige, der mir blieb.

»D-du hast vorhin gesagt, es ist schon lange zwischen uns so. Was meinst du mit diesem so?«

Er senkte den Blick. Und das war wie ein Schlag ins Gesicht.

»Stumpfsinnig«, flüsterte er.

»S-stumpfsinnig?«

»Ja, stumpfsinnig, verdammt noch mal! Ich meine, hast du mich in den letzten drei Monaten überhaupt vermisst? So vermisst, wie eine verliebte Freundin ihren Freund vermissen sollte?«

Lange blinzelte ich ihm entgegen. Die kurz geschorene Frisur, das herzförmige Muttermal unter dem Auge, die ausgefransten Shirtärmel. Zwischen uns dampften Tassen auf Untertellern neben Teebeutelschälchen. Ryder stellte Timer fürs Eierkochen und das Ziehen von Biokräutertee. Selbst in seinen Artikeln saß jeder Satz, Buchstabe für Buchstabe, als fände er immer die perfektste Kombination.

Ich wollte etwas sagen, Worte, Fragen, Laute, brachte jedoch nichts heraus. Und so blutete uns die Wahrheit doch aus den Poren. Plötzlich war alles zu eng. Diese untergemietete Wohnung, mein Körper, die gesamte Welt. Am liebsten wäre ich aufgestanden, gegangen, gerannt und dann gesprintet. Zur Mittagszeit ziellos durch Boston, den Public Garden, vorbei an den fauchenden Eichhörnchen, die Einkaufsstraße und den Hafen entlang. Bis zurück nach London, wo ich in Mums Badewanne gestiegen wäre, weil ich mich unter der surrenden Badezimmerbelüftung am lebendigsten fühlte.

Zerschnittenes Licht fiel mir auf die Hand, als ich mich aufrichtete.

»Ich packe meinen Koffer.«

*

Ich schmiss Kleidung ins Innenfach. Shirts, Unterwäsche, Sport-BH. In London hatte ich mich auf sieben Tage vorbereitet, jetzt zog ich den Reißverschluss nach nur dreien wieder zu.

»Hey, mach mal langsam. Du musst nicht sofort gehen! Wieso …«

Ryder redete vom Türrahmen aus auf mich ein, doch ich hörte nicht zu. Ich musste raus, weg, weiter. Bevor ich das Gepäck auf seine Rollen hievte, bestellte ich per App ein Uber.

»Du kannst doch nicht einfach so abhauen! Du weißt doch nicht mal, wann ein Flug geht!«

»Ich bin seit fast vier Jahren Flugbegleiterin bei LondAir. Wir haben täglich welche von Boston zurück. Um acht Uhr vierzig, vierzehn Uhr fünfundfünfzig und zweiundzwanzig Uhr fünfzehn. Natürlich weiß ich, wann ein Flug geht.«

»Trotzdem …«

Trotzdem was? Er hatte mir gesagt, unsere Beziehung sei stumpfsinnig gewesen. Das Praktikum, die Distanz, die Wochen voller Chattext-Beziehungsfloskeln hätten das klargemacht. Wieso noch zögern?

»Eine Frage für eine Frage.« Plötzlich wurde er unendlich leise. »Du hättest mir jede stellen können. Ob ich dich noch liebe. Ob ich dich vermisst habe. Wieso ich seit Wochen denke, wir sollten Schluss machen, und erst jetzt etwas gesagt habe. Stattdessen fragst du mich, was ich mit so meine. Vielleicht solltest du mal nachdenken, was das über dich und deine Gefühle zu mir aussagt.«

Meine Nasenflügel bebten. Ich wollte ihm entgegenschreien, wir hätten gerade noch im Bett gelegen, wo er meinen Namen gestöhnt hatte. In. Verfluchter. Dauerschleife. Gott, Lilah, hör nie auf. Lilah, was machst du nur mit mir? Wieso fühlt sich das nur mit dir so an, Lilah? Dass ich schon vor zwei Tagen in Boston gelandet war. Und er viel früher mit der Sprache hätte rausrücken sollen. Stattdessen hatten wir mit seinen Redaktionskollegen des Boston Globe angestoßen und so getan, als wären wir glücklich.

Doch er öffnete den Mund erneut.

»Ganz schön verzwickte Arktiseiswelt, was?«

Minusgradzacken bohrten sich mir durch Stoffe, schonungslos stechende fünf Stück. Ich gefror auf der Stelle zu einem Gletscher. Angefangen bei den Zehen, über die Beine, hinweg über die Leisten, abgeschlossen mit meinem Herzen.

»W-was hast du gesagt?«

»Du hast mich schon verstanden. Manchmal murmelst du seinen Namen im Schlaf.« Er zuckte die Achseln, ganz lässig, als wäre es angebracht. »Falls du es noch nicht wusstest.«

»K-keine Ahnung, was du meinst.«

»Bist du dir da sicher?«

Ryder schluckte. Mein Blick verharrte auf dem springenden Kehlkopf, als mein Handy vibrierte. Carlo Santos, ein schwarzer Honda, das Kennzeichen endete mit einer Dreiundzwanzig. Das Uber wartete.

»Wie auch immer, Ryder«, sagte ich und rollte den Koffer aus der Wohnung.

Als hätte ich die Worte überhört, wahrgenommen und schnell vergessen. Vergessen. Als könnte ich das. Als wüsste ich nicht, wie es ist, aneinandergereihte Buchstaben unsichtbar auf der Haut zu tragen, lebensgroß, eingebrannt ins Gesicht, für die Länge meines gesamten Lebens.

Im Uber rauschte der Bostoner Verkehr an mir vorbei. Wenn der Wagen über grüne Ampeln raste, fiel Atmen leichter. An roten überlegte ich, meinen Freundinnen zu schreiben. Aber meistens fuhren wir schon weiter, und der Gedanke blieb neben Fußgängern zurück.

Nur als diese Akkorde erklangen, starrte ich statt aus dem Fenster die Radioanzeige an. Es war Samstag, der zwanzigste Februar. Es war kurz nach eins. Es war der Tag, an dem sich der Freund von mir trennte, den ich nie gewollt hatte. Und im Radio lief Pyro.

»Kings of Leon-Fan, was?«, fragte der Fahrer amüsiert und drehte den Song auf.

All the black inside me is slowly seeping from the bone. Everything I cherish is slowly dying or it’s gone.

Ich sah hinab auf meine Hände und dachte an Penns Abziehtattoo. Eine große Flamme zwischen zwei kleineren, in die Innenseite des kleinen Fingers gepresst, drei Leben lang her. Derselbe Finger, mit dem er das Handy bei seiner letzten Nachricht gehalten hatte. Die, die mich nie erreichte. Drei Punkte auf dem Bildschirm, die abbrachen. Regentropfenpunkte auf den Jeans, als ich mich an jenem weit entfernten Abend erhob. Beschämter Blick, bereuendes Schweigen, zwei riesige Augenpunkte in Penns Gesicht. Immer nur Punkte, ausgefüllte Kreise, eine eigentlich endlose Form.

Trotzdem endgültige Zeichen.

»Mam.« Der Fahrer drehte sich am Ziel nach mir um. »Logan International Airport. Da wären wir. Soll ich Ihnen mit dem Gepäck helfen?«

Durch die Scheibe erkannte ich die Flughafenfassade, bunte Koffer und sich verabschiedende Menschen. Ich beobachtete eine Frau, die sich einige Parkplätze entfernt an einen Typen klammerte. Seine Lederjacke wirkte abgewetzt, rissig und narbig. Als hätten sich schon Millionen Finger in den Stoff gekrallt. Tief einatmend wandte ich den Blick ab.

»Vielen Dank, aber das ist nicht nötig.«

Fünfzehn Minuten später kroch mir das Flughafentreiben beruhigend unter die Haut. Ich mochte die internationale Hektik und die farbigen Pässe, das Gepäckbandrattern und die grellen Anzeigetafeln, auf denen Mumbai, München und Miami dicht untereinander standen. Flughäfen waren echte Orte mit echten Menschen. Anfang, Ende, Mitte. Angsteinflößend und lebendig und echt. Flughäfen waren alles, was Ryder und ich nie gewesen waren.

Innerlich verfluchte ich die falsche Welt mit ihren falschen Menschen, als die Staff-Travel-App mir mitteilte, mein Flug sei mit acht Passagieren überbucht. Die echte falsche Welt natürlich, nie die andere.

Kapitel 2

Jonah

Terracotta

Als ich mich zum ersten Mal mit Delilah Dellaria unterhielt, redeten wir nicht miteinander.

Alles begann mit Bachs dritter Sinfonie. In den Beats dröhnte sie laut, während ich mir die zweite Zigarette anzündete. Klassische Musik und Kippen. Wäre ich eine Stadt, wäre in mir der Notstand ausgerufen. Heulende Sirenen, grelle Warnlichter, panische Menschenmassen. Stattdessen war ich ein einziger Mensch im Raucherbereich des Bostoner Airports. Außerdem war ich auch auf der Suche nach jemandem in Farbe. Am liebsten wäre mir eine blaue Person gewesen. Pazifikblau, Königsblau, Osloblau. Hauptsache Blau und Beruhigung.

Aber jede vorbeiströmende Silhouette war farblos.

In meiner linken Hosentasche vibrierte es dabei ununterbrochen. Cami, die Jungs, Gus. Ich dachte an Mum, die seit gestern nicht mehr mit mir redete. Da zog ich so tief, dass ich vom Husten beinahe abgekratzt wäre. Bei der plötzlichen Schulterberührung schob ich den linken Hörer zur Seite.

»Haste mal Feuer?«

Der Typ vor mir trug Hoodie, verschiedenfarbige Doc Martens und konnte kaum älter als neunzehn sein.

»Klar.«

Ich drückte die Kippe aus, kramte in der Jacke nach dem Feuerzeug und überreichte es ihm zusammen mit der Marlboroschachtel. Während ich den Rucksack vom Boden hievte, sah er mich verwirrt an.

»Ich bin kein Raucher«, erklärte ich.

»Du klingst wie mein Dad. Ich rauche, aber ich bin kein Raucher.«

Er zündete sich eine von meinen Kippen an, dicht über seinem Haar ein Flieger, der im Fünfundvierziggradwinkel anstieg. Beim Klicken der Flamme bekam er eine Farbe. Terracotta. Einfach so. Warmes Orangebraun. Glatt und simpel und schaurig, wenn man mit den Fingern darüberkratzte. Rauch vernebelte ihm das Gesicht, als ich mir den Hörer zurück über das Ohr stülpte.

»Wieso grinst’n du so dämlich?«, fragte er. »Hab ich was Lustiges gesagt oder …«

Ich setzte einen Fuß vor den anderen und sah nicht zurück, obwohl ich das wollte. Zurück im Allgemeinen. Ich wollte zurück in Allans Wagen und zurück an Mums Esstisch, bevor ich gesagt hatte, was ich sagte. Selbst wenn ich die Worte nicht bereute, weil sie stimmten und uns allen mehr Realität ganz guttäte. Am allerallerliebsten wollte ich ein, zwei, drei, vier, vierundzwanzig Jahre zurück. Ich wollte einen neuen allerersten Moment der Welt. Ich wollte diesen Augenblick anhalten und in ihn hineinkriechen, Bachs Präludium in C-Dur im Hintergrund. Ich wollte mir genau jetzt eine weiche Farbe aussuchen. Vielleicht blasses Melonengrüngelb oder Klarhimmelhellblau, an das ich mich klammern würde. Meine Schuhe aber schlurften zielstrebig über den Flughafenboden, und ich blickte mir in die eigene Miene, widergespiegelt in einer Glasscheibe. Leider, leider war ich nicht melonengrüngelb oder klarhimmelhellblau. Schadeschokolade. Ich war Jonah und seit Wochen verfickt fahl. Nur ein taubengrauer Schimmer ummantelte mir den Kopf. Das war nicht ich, aber irgendwie ja schon.

Das Handy vibrierte wieder, diesmal mit den Namen meiner Schwester und meines Stiefvaters zugleich. Als hätten sie sich mit den Worten abgestimmt. Und Cami sie mir nicht bei unserer letzten Umarmung ins Ohr geflüstert. So ungefähr hundertmal, wir umgeben von hupenden Taxis.

Allan: Ich möchte dir da wirklich nicht reinreden, Jonah. Aber bist du dir zu hundert Prozent sicher? Du hast in London immer noch Zeit, darüber nachzudenken.

Cami: Bist du dir wirklich wirklich wirklich wirklich sicher? 🤔

 

Statt ihnen zu antworten, tippte ich die Mail, die ich schon längst hätte abschicken sollen. Keine losen Enden.

Sehr geehrter Mister Moran,

ich danke Ihnen vielmals für das Jobangebot. Leider kann ich es nicht annehmen, da ich mich aus persönlichen Gründen entschieden habe, in London zu bleiben.

Mit freundlichen Grüßen

Jonah Lowell

 

Ich steuerte den LondAir-Schalter an, wo ich Ewigkeiten wartete. Wie vor der Sicherheitskontrolle und dem anschließenden Passcheck. Mein Puls raste noch immer, aber ich gab die Suche nach farbigen Menschen auf. Stattdessen konzentrierte ich mich bloß auf Bach. Mittlerweile war das Orchester beim Scherzo angelangt, dem dritten Satz der Sinfonie. Eine leichte Stimmung, in der beschwingte Töne gleitend ineinanderflossen. Ich beschwor eine Klaviertastatur herauf, um mich beim Spielen zu betrachten. Richtiger Fingersatz und Anschlag, im Kopf begleitete ich Glenn Gould fehlerfrei. Tja, brachte nichts. Denn als ich im Gatebereich das Barschild ausmachte, hielt ich es nicht mehr aus. In mir war alles eng und kantig, nichts glitt, alles eckte an.

Ich war kein Raucher, aber ich wollte die Kippen vom Terracotta-Typen wieder.

Ich war kein Angsthase, doch würde ich in den nächsten sieben Stunden garantiert sterben.

Ich war Bachfanatiker, konnte mir aber nicht mal mein liebstes Präludium in C-Dur geben.

Die Beats abnehmend, steuerte ich auf das Beer Works zu. Dahingenäselte Durchsagen, Hektik, klackernde Absätze in Kombi mit Kofferrollen, das disharmonierte. Beim Anblick eines vorbeirauschenden Pärchens schluckte ich. Schnell machte ich die letzten Schritte auf die Bar zu, wo ich ein Glas Rotwein bestellte. Eine sichere Nummer, um gleich einzupennen. Ich schnappte mir einen rostigen Barhocker, darum bemüht, das Lokal nicht panisch nach glotzenden Besuchern abzuscannen. Eine Nebenwirkung von »ICHKANNNICHTGLAUBEN, DASSDUDASGETANHAST, LOWELL!«. Die Konsequenz, die resultierte, wenn mir weder Alkoholrausch noch Londongetummel in den Knochen saßen. Direkt gegenüber schimmerten aneinandergereihte Alkoholflaschen, auf dem Bildschirm lief eine Footballschlacht. Dunkelblau gegen Limettengrün, gerade die Slo-Mo-Wiederholung irgendeines Tackles. Innerhalb von Sekunden wurde das Glas vor mir abgestellt. Ich murmelte ein »Danke«, hob den Stiel zum Trinken an, hielt aber inne. Kaum hörbar mischte sich ein leiseres Lied unter den Hintergrundjazz. Mit zusammengezogenen Brauen wandte ich den Blick nach links.

Und da saß sie.

Von Kopf bis Fuß eingekleidet in Schwarz. Ein leeres Glas in den Händen, spitz hervorstechende Knöchel. Diese mir noch fremde Frau – Delilah, wie sie mir erst viel später verraten würde. Ihr Haar war dunkel und reichte ihr bis knapp über die Schultern, die Haut durchsichtig blass. In dieser semi-gemütlichen Flughafenbar wirkte sie wie jeder andere Gast auch. Vor dem Gatetrubel geflüchtet, gedanklich versunken. Aber irgendwie tat sie es auch nicht. Sie erinnerte an einen ballernden Remix im Club, kurz vorm Heimkehren um fünf, du allein auf der Fläche, tanzend wie ein ewiger Zombie. Laut, dröhnend, stroboskopisch. Selbst der Barkeeper konnte nicht aufhören, ihr Blicke zuzuwerfen. Wein nippend fragte ich mich, welche Farbe sie wohl hätte. Und dann, dann dachte ich nicht, als ich in der Jacke nach dem Stift fischte. So wie immer, einfach so, so grundlos. Mein Kopf und ich, wir hatten es in diesem Jahr nicht gut miteinander. War leider mein Schicksal, da könne man nichts machen, hatte selbst Camis Tarotlegerin gemeint. »Dieses Jahr wird ihm sehr wehtun.« Haha, sag bloß, wäre ich nie drauf gekommen bei der Biografie.

Ich kritzelte Worte auf eine Serviette, die ich über die Theke schob. Noch bevor das Geschmiere sie erreichte, schlug sie den Blick auf. Sie machte keine Anstalten, die Ohrstöpsel rauszunehmen. Zusammengekniffene Lider, geisterhafter Blick. Was an ihr stach, war die Augenfarbe. Mitternachtsblau und leer.

Es tat weh, sie anzusehen.

Bei dem Gedanken verzog ich das Gesicht, weil das doch keinen Sinn ergab. Ich meine, seit wann tat der Anblick fremder Menschen weh? Vielleicht war sie doch eher der Typ Morrissey, rau und akustisch, wie in einer rohen Version von I Know It’s Over.

Kurz überflog sie die Worte, dann musterte sie mich. Frisur, Stirn, Ohren, Wangen, Nase, Mund, Hals. Am Kragen meiner Lederjacke verharrte sie komischerweise am längsten. Anschließend griff sie nach dem Kuli. Ihr Geruch kitzelte mir dabei in der Nase. Herbes Männerduschgel und Gin zugleich. Interessant? Keinen Schimmer, wieso, aber ich prägte mir genau diese zwei, drei, vier Sekunden ein. Als hätte ich es schon damals gewusst. Fucking verdammt noch mal alles, alles, alles. Wie das gedämpfte Licht sich um ihr Haar schmiegte. Die elegante Art, mit der sie sich ruckartig erhob. Das nur angedeutete Winken, bevor sie auf klackernden Absätzen verschwand. Ich sah ihr nach, solange ich konnte. Und dann noch ein bisschen länger. Erst dann fiel mein Blick auf die Serviette.

 

All the black inside me is slowly seeping from the bone, hm?

Everything I cherish is slowly dying or it’s gone, ja.

Du hast da übrigens Rotwein im linken Mundwinkel.

 

Ich wischte mir über den Mund, ehe ich das Handy zückte. Beim dritten Rufzeichen ging Gus ran.

»Hast du eine Ahnung, wie oft ich dich schon versucht habe zu erreichen? Mann, LJ! Wieso hast du dich nicht früher gemeldet? Ich –«

»At wird es mir nie verzeihen, oder?«

Kapitel 3

Delilah

#Flughafenwellen

Ringsum rauschten Schritte, Stimmen und Spülungen. In meinen Ohren piepte es. In mir drin starb es. Ich saß auf den Fliesen einer Toilettenkabine, facetimte mit Livy und umklammerte das Handy so fest, meine Finger krampften. Aber es war mir egal. Es war mir egal, dass der Boden unter mir schmutzig war, und es war mir egal, dass ich seit über zwanzig Minuten hier saß. Es war mir egal, dass Leute sich meinetwegen in die Hose pinkelten, und es war mir egal, dass ich Ryders Duschgel auf der Haut roch. Es war mir egal, dass ein Teil meines Herzens starb, obwohl ich das nicht wollte. Es. War. Mir. Egal.

»Okay, das reicht.« Livy stellte die Gießkanne ab, griff auf dem Schreibtisch nach dem Handy und hockte sich aufs Bett. »Ich verstehe nicht, wieso ich deine Pflanzen gießen soll und du mir dabei zuschauen willst. Das bringt nichts. Wir sollten über Ryder reden.«

»Keine Zeit. Der Flug, auf dem ich vielleicht einen Platz bekomme, geht in einer halben Stunde. Und um das mit Ryder zu besprechen, brauchen wir wahrscheinlich eine ganze Nacht. Und June. Und Wein. Am besten meine Lieblingsweinschorle von Tesco.«

Nachdem ich das Staff-Ticket gekauft hatte, wurde mein Gepäck auf gut Glück etikettiert. Als Airline-Angestellte konnte ich für den Bruchteil des Preises Flüge buchen. Immerzu, bis eine Stunde vor dem Start, ganz spontan und völlig bedingungslos. Der einzige Haken war: Ich kam nur mit, wenn Plätze frei blieben. An jedem Gate befand sich deshalb jemand, der auf verspätete Gäste hoffte. Heute war ich dieser Jemand. Eigentlich mochte ich diese Ungewissheit, Passagieren beim Einsteigen zuzusehen und gedanklich bereits Alternativpläne zu entwerfen. Eine Nacht länger in Madrid bleiben oder auf einen Flug mit Umstieg in Warschau switchen.

Bloß heute hätte ich nichts dagegen, auf direktem Weg nach Hause zu gelangen.

Mit einem Ozean zwischen uns, konnte ich Pixel-Livy nur beim Kopfschütteln beobachten. Wenn ich ihr sagte, ich wolle nicht darüber reden, redeten wir nicht darüber. Olivia Louise Green war eine Mathematikerin und gnadenlose Denkerin. Sie sagte nur wahre Dinge, selbst wenn sie wehtaten, doch meistens umarmte sie mich und flüsterte ein »Das wird schon, Lilah.« Und dann glaubte ich ihr.

»Du kannst dir noch eine Pflanze aussuchen, die ich gießen soll.«

»Genau deshalb bist du die beste Ersatz-Plantmum.« Ich wackelte mit den Brauen. »Du lässt mir immer ein paar übrig, um die ich mich kümmern kann.«

»Das ist so was von gelogen. June übertreibt es einfach nur mit allem.«

Achselzuckend musterte ich die Fensterbank. In meinem Zimmer war jeder Quadratzentimeter zugestellt mit Blumentöpfen. Ich mochte das grüne und lebende Gewusel. Das Gießen von Calatheas, das Abwischen von Monsteras, die feuchte Erde unter den Fingern, wenn sich ein neues Blatt bildete. Als hätte ich einmal alles richtig gemacht.

»Malmö sieht durstig aus. Sie rollt sich schon leicht ein.«

»Du bist die Einzige, die eine Tropenpflanze nach einer schwedischen Stadt benennt.«

Livy verdrehte die Augen, dann wackelte der Bildschirm, weil sie die Kameraansicht wechselte.

»Danke«, flüsterte ich zwei Minuten später.

»Kein Ding. Ich meine, vielleicht kümmere ich mich doch ein klitzekleines bisschen gern um dein grünes Chaos.« Sie lächelte ihr typisches Livy-Lächeln. Schief, krumm, fast zu schwach, um als echtes Lächeln durchzugehen. »Aber wirklich bloß ein bisschen.«

Ich grinste zurück, halb und irgendwie, während ich versprach, wegen des Flugs zu schreiben, sobald ich Bescheid wüsste. Bevor ich das Handy endgültig wegsteckte, fotografierte ich die Wandfliesen und postete das Bild in meine Insta-Story. Den Eintrag mit Pyro unterlegt, tippte ich in so kleiner Schrift, dass es nicht mehr lesbar war:

 

Vielleicht beobachten Flughafenhallen die ehrlichsten Küsse dieser Welt, aber vielleicht ertrinkt man auch am ehrlichsten in einer Gate-Toilettenkabine, ohne wirklich zu ertrinken.#Flughafenwellen

 

Zehn Minuten später erreichte ich Gate E10, wo mich die uniformierte Dame anstrahlte. Es war dieselbe, die mich eingecheckt hatte.

»Miss Dellaria!«, rief sie. »Ich habe gute Neuigkeiten!«

Hätte ich ihn nicht aus dem Augenwinkel bemerkt, hätte ich erleichtert ausgeatmet. Ein paar Reihen vom Schalter entfernt war er derjenige, der nun Kopfhörer über den Ohren trug. Große und massive Beats in einem Ferrariton. Der Rotweinmundtyp aus der Bar, der meine liebste Stelle aus Pyro dahingekritzelt hatte. Dunkelblondes Haar, graue Wirbelsturmaugen, abgewetzte Lederjacke. Sein Gesicht war eher interessant als schön, mit gefährlich kantigen Strukturen zum Zerdenken. Noch dazu hatte er einen fast verblassten Knutschfleck am Hals. Lila und alaskaförmig, eine breite Fläche mit welligen Rändern, unten auslaufend in kleinen Inseln. Skorpionstachel-Level. Ich hasste es, wie er mich in der Bar angesehen hatte. Grau, traurig, mich durchschauend. Als wäre es okay, Fremde mit so kribbelnden Blicken anzusehen, weil Typen wie er sich dessen doch bewusst waren. Das erkannte ich an ihrer allgemeinen Art. Unbekümmert, lässig, so selbstbewusst, sie schmierten mein Lieblingslied auf eine ranzige Serviette. Grundsätzlich wäre mir das egal gewesen. An einem anderen Tag, gestern zum Beispiel, hätte ich mich mit ihm über Kings of Leon unterhalten und dann unterschwellig klargemacht, ich hätte einen Freund.

Aber ich hatte keinen Freund mehr.

Als er mich anlächelte, verlangsamten sich meine Schritte. Er hatte ein schiefes Grinsen, das anders war als Livys. Schräg, aber nicht krumm. Bloß eine Millisekunde zu lang blieb ich daran hängen.

In den nächsten fünf Minuten erklärte mir Ronda, wie ich ihrem Namensschild entnehmen konnte, ich hätte wirklich Glück. Ein Miami-Flug würde mit einstündiger Verspätung eintreffen, neun Anschlusspassagiere waren bereits auf die nächste Maschine umgebucht.

»Es ist sogar ein Fenstersitz«, flötete sie, bevor sie mir die ausgedruckte Bordkarte überreichte und ich einen Warteplatz ansteuerte.

Während eine Frauenstimme »Mister Dubois nach Zürich, Mister Dubois nach Zürich, bitte« ausrief, betrachtete ich das Außengeschehen. Dicht an dicht drängte sich Maschine an Maschine. Deutsche, italienische und norwegische Airlines mit den unverkennbaren Logos. Gleich würde ich die vibrierenden Triebwerke unter mir spüren, gleich würde sich mein Brustkorb weiten. Ich mochte den Startflug mehr als den Sinkflug. Die Schieflage der Kabine, der Druck auf den Ohren, das Ruckeln, wenn die Räder eingefahren wurden. Orte, Städte und Metropolen, die auf Miniaturgröße schrumpften. Handys ohne Netz, den Blick von über dreißigtausend Fuß auf die Welt. Das einmalige und nur dort oben existierende Gefühl, davonfliegen zu können. So als könnte man Menschen, Gedanken und Träume wie Koffer mit Übergewicht auf Gepäckbändern liegen lassen.

Ich entdeckte einen Rampagent in neongelber Jacke und wünschte mir, ich säße schon auf meinem Fensterplatz. Am besten wäre ein Nachtflug gewesen, mit mir als Crewmember statt als Passagierin. Wenn Letztere schnarchten und Besatzungsmitglieder in der Cosmopolitan blätterten, schaltete mein Kopf sich friedlich aus.

Als wäre alles unter mir ausradiert.

Wenn man Welten wirklich ausradieren könnte, würde ich mir eine neue ausmalen. Meine Pflanzen wären echte Städte, ihre beschrifteten Töpfe Landesgrenzen, Wurzeln würden ineinandergreifen, Berlin wäre Berlin und Lissabon zugleich. Außerdem läge ich in genau diesem Moment in Mums Badewanne, während Livy mir erläutern würde, wieso die Sache mit Ryder, rein logisch betrachtet, tatsächlich keine Rolle spielte. Neben ihr befände sich June, die meinen würde, es sei auch okay, wenn es mir nicht egal wäre. Dann würde sie mir Fotos zeigen, auf denen ich so lachte, als wäre alles egal. Egal, ob Fliegen wirklich die Welt ausradierte. Egal, ob es Letztere überhaupt gab. Und vielleicht hätte ich ihnen dann von der Mitternachtssonne und den Grönlandhaiträumen erzählt. Weil alles außerhalb der Welt existieren könnte, wenn es die Welt selbst nicht gäbe.

Aber ich verabschiedete mich aus meiner Traumwelt, weil das Handy vibrierte. Ich blinzelte Wes’ Namen entgegen, einer meiner Kommilitonen an der Goldsmiths. Er fragte, ob ich Catherines neuesten Blogeintrag gelesen hätte. Seine zweite Nachricht bestand aus Fragezeichen, dringend und drängend, dazu hatte er einen Link geschickt.

Als ich seinen Namen erkannte, zitterten mir die Finger.

Kapitel 4

Jonah

Champagnergelbgrün

Ein Baby kreischte mir ins Ohr. Die Frau rechts machte Schsch-Geräusche. Ihre Schulter streifte mich, eine andere Schulter berührte mich links. Die schwitzenden Hände rieb ich mir ununterbrochen an den Jeans. Eine Regung, die meine linke Sitznachbarin angeekelt bemerkte. Wenn ich einen Blick auf ihren E-Reader warf, las ich bloß »Dixiklo«. Ohne Witz. Dixiklo hier, grünes Dixiklo da, komische Geräusche aus einem Dixiklo dort. Das Ganze war ziemlich lächerlich, aber ich dachte viel lieber an Dixiklos als daran, gleich dreißigtausend Fuß über dem Boden zu schweben. Fuck. Jetzt dachte ich wieder daran.

»No, no, no!«, rief die Mutter, bevor ihr Baby mir in die Haare fasste. »Perdón.« Sie löste den hartnäckigen Griff. »Er mag blonde Haare.«

Ich lächelte gequält, als würde ich das verstehen, was natürlich nicht der Fall war. Genau genommen verstand ich sowieso nichts mehr. Außer, dass es in Flugzeugen zu eng war. Und zu warm und zu laut und Gott, hyperventilierte mein Herz gerade? Konnten Herzen das überhaupt?

»Señor? Geht es Ihnen nicht gut?«

»W-was?«

»Sie sehen so pálido aus. Wie sagt man? Irgendwas mit b …«

»Blass. Mister Schweißhände sieht blass aus.« Das E-Reader-Mädchen seufzte. »Wieso gehen Sie nicht nach hinten und fragen nach einem Glas Wasser?«

»Ja.« Ich zupfte mir den Kragen. »Ja, doch, ja. Das ist eine wirklich gute Idee.«

»Dafür müssen Sie aufstehen, Blitzmerker.«

Sie rollte mit den Augen, während ich mich in Bewegung setzte. Wie ich durch den Gang torkelte, schweißgetränkt, schwankend, mit dem taubgrauen Gesicht. Das war definitiv Samstagnacht-Camden-High-Street-Level. Keine Ahnung, wieso ich dabei an Cami dachte, die sich vor leuchtenden Dingen fürchtete, wenn sie Bacardi Raspberry trank. Vor Ampeln, Taxirücklichtern und blinkenden Barschildern. »Voll verrückt, oder?«, erzählte sie immer. Dabei wollte ich gar nicht an sie denken. Für die nächsten sieben Stunden würde ich sie mir aus dem Kopf streichen. Gemeinsam mit Mum, Allan, Gus, At und den anderen. London, Boston, mein Kontostand, die Schuldgefühle, das unbestreitbare Ziehen im Herzen. Für die Flugdauer würde ich so tun, als hätte ich meine Probleme zusammen mit dem Gepäck aufgegeben. Das hatte ich nach dem Telefonat mit Gus beschlossen. Ich meine, wie könnte ich Flugangst und eine Existenzkrise gleichzeitig bewältigen? Camis seltsame Tarotlegerin behauptete, wir müssten in erster Linie nett zu uns selbst sein. Vielleicht war diese erzwungene Siebenstundenamnesie das beste Geschenk ever.

»Willkommen an Bord, Sir!« In der hintersten Bordküche strahlte mich der Flugbegleiter an. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Hey, äh, könnte ich ein Wasser bekommen?«

»Natürlich!«

Er schenkte mir ein Glühbirnengrinsen, öffnete ein oberes Fach und reichte mir eine Flasche. Der Steward fühlte sich quietscheentengelb an. Einfach so.

»Sie sitzen auf dreiunddreißig B neben der Dame mit dem Baby, oder?«

»Ja?«

»Fantastisch! Ich wäre gleich sowieso zu Ihnen gekommen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, den Platz zu wechseln?« Er zückte eine endlos lange Liste. »Ein vorheriger Flug hat Verspätung, also verpassen einige Passagiere diesen leider. In Reihe siebenundzwanzig sind deshalb zwei Sitze frei. Wenn Sie Ihren jetzigen verlassen, hätte die Dame mehr Raum für sich und das Baby.«

»Das wäre perfekt.«

Ich nickte, verabschiedete mich, taumelte zurück. Keine drei Minuten später fragte mich die Mutter, ob es mir besser ginge. Ich erwiderte ein »Ja«, lächelte nur semigequält und packte die Sachen zusammen. Jacke, Rucksack, Handyladekabel. Während ich erklärte, ich würde mich umsetzen, wirkte sie erleichtert. E-Reader-Mädchen tat so, als wäre sie im Dixiklo-Roman versunken. Ich erahnte ihre Farbe trotzdem. Hell und gleichzeitig sprudelnd, ein bisschen wie Champagnergelbgrün.

In Reihe siebenundzwanzig erkannte ich sie augenblicklich. Die Frau aus der Bar. Großartig. Sie hockte am Fenster und hatte wieder Kopfhörer drin. Im Schoß ein iPad, auf den knappen zehn Zoll: eine glatte Winterkulisse inklusive eines Polarfuchses. Ihr Mantel und die Tasche lagen auf den freien Plätzen, also streckte ich den Arm aus. Bevor ich sie streifen konnte, bemerkte sie mich aus dem Augenwinkel. Schon wieder. Ruckartig setzte sie sich auf. Statt etwas zu sagen, zog sie die Stöpsel raus und scannte mich erneut ab. Schnell und konzentriert, ja nichts auslassen, alles ansehen, nirgends verweilen. Bis sie meine Finger erreichte, die sich um das Wasser krampften. Die blasse Haut zu dem dunklen Haar. Der tonnenschwere Blick, die zarten Lippen. Der elegante Mantel, der Oversized-Hoodie. Pyro in der Bar, eine Polarfuchsdoku auf dem Fensterplatz. Jepp, sie war so was von ein Mensch, an dem nichts zusammenpasste.

»Ich will dir nicht zu nahe treten, aber du siehst ziemlich beschissen aus.« Sie klang britisch, adrett und einstudiert höflich, obwohl sie »beschissen« gesagt hatte. »Du weißt, dass dir Flugangst auf die Stirn geschrieben steht, oder?«

»Natürlich.« Ich nickte auf ihre Sachen. »Könntest du das wegräumen? Ich habe meinen Sitz gewechselt, damit eine Mutter mehr Platz für ihr Baby hat.«

Wortlos schob sie den Kram beiseite, während ich den Rucksack verstaute und mich niederließ. Menschen, Gepäck, dreitausend Plastiktüten vom Duty Free. Es war immer noch zu warm und zu eng. Der Boden, die Wände, gleich würde alles vibrieren, und ich würde mich fragen, wieso ich mir das antat und es Flugzeuge überhaupt gab. Ich würde mir sagen, das sei wahnsinnig, Menschen könnten doch nicht über dem Boden schweben, dafür seien wir nicht gemacht, und dann würde ich mich fragen, wozu wir denn gemacht waren. Der Gedanke, bei dem alles komplett für den Arsch wäre. Zu komplexe Fragen für ein zu matschiges Gehirn.

Fuck, fuck, fuck.

Ablenkung. Ich brauchte Ablenkung. Mit zitternden Fingern pfriemelte ich das Handy aus der Hosentasche, doch alle Apps blinkten grell und aggressiv mit ungeöffneten Nachrichten. Vielleicht sollte ich es noch mal mit Bach versuchen. Ich wollte gerade nach den Beats greifen, zuckte aber zusammen.

»Fliegst du nach Hause?«

Ich drehte mich meiner Sitznachbarin zu. Hinter ihr startete eine asiatische Airline, darüber der kotzgräuliche Himmel. Ja. Kotz, kotz, kotz.

»Ich habe keine Ahnung, wer du bist. Aber ich kann dir nicht den ganzen Flug lang dabei zusehen, wie du dir die Finger ins Bein bohrst. Deine Knöchel sind weiß. Sieht echt schmerzhaft aus.«

Scheiße, sie hatte recht. Meine rechte Hand krallte sich eindeutig in die Jeans. Wieso zur Hölle bemerkte ich das erst jetzt? So fest, ich spürte die Nägel bis auf die Haut. Sie würden Spuren hinterlassen. Genauso wie der Safety-Movie mir im Hirn. Grell leuchtete er auf, Bilder von Notausgängen, aufblasbaren Rutschen und Schwimmwesten. Vorkehrungen für Horrorszenarien über Horrorszenarien. Die Möglichkeiten für einen Flugzeugabsturz schienen endlos. Fremde Sprachen von fremden Leuten, lautes Lachen, gefolgt von »Im Falle eines Notfalls folgen Sie den Anweisungen der Kabinenbesatzung«.

Mein Magen drehte sich um.

»Ich habe meine Familie besucht, aber eigentlich bin ich aus London«, murmelte ich. »Mein Stiefvater hatte Geburtstag. Bin mit meiner Schwester hingeflogen, also hatte die mich am Hals. War angeblich ihr Karma fürs Haareziehen, als wir Kinder waren, whatever.«

Tut mir wirklich leid, dass ich erst später nach Hause fliege, Jonahlein. Hahaha, klar, Cami, verarsch mal lieber wen anders.

»Und was machst du in London? Studierst du?«

»Du musst keinen Small Talk mit mir machen.«

»Leider doch. Ich habe da dieses Helfersyndrom. Vor allen Dingen gegenüber Menschen, die mich beim Musikhören stören und später neben mir krepieren.«

»Charmant. Ich … ich habe gerade meinen Master für Lehramt gemacht.«

»Sport und Englisch?«

»Musik und Deutsch.«

»Du sprichst Deutsch?«

»Hab ein Semester in Hamburg studiert.«

»Was hat dir am besten gefallen?«

»In Hamburg?«

Sie nickte, bevor ich mich an die deutsche Metropole erinnerte. An Alster, Reeperbahn und Speicherstadt. An mein WG-Zimmer in St. Pauli, die toten Gassen am Morgen, das schillernde Geschiebe in den engen Straßen am Abend. Die U-Bahnen Richtung Dammtor, die Wochenenden an der Nordsee, den Flügel in dieser Bar, in der ich geklimpert hatte.

»Die Straße, in der ich gewohnt habe. Zwischen fünf und sechs Uhr morgens. Wenn die Letzten nach Hause getorkelt und genervte Angestellte aus der Bahn gestiegen sind. Manchmal habe ich das Ganze von meinem Fenster aus beobachtet. Nichts stand still, alles hat sich bewegt. Ich mochte das.«

Ringsum erinnerte eine Flugbegleiterin Passagiere ans Anschnallen. Mein Puls hämmerte mir aggressiv durch die eckigen Blutbahnen, als würde ich mich wappnen. Was doch absoluter Bullshit war. Ich würde für Stunden nur sitzen und bei jedem leichten Ruckeln denken »Okay, das war’s.« Da gab’s nichts, auf das ich mich vorbereiten konnte. Tja, verdammt doof gelaufen.

»Das hätte ich auch gemocht.« Sie verstaute die Handtasche unter dem Mittelsitz. »Wer ist dein Lieblingsmensch?«

»Was?«

»Wir rollen gleich Richtung Startbahn. Ich bezweifle, dass Small-Talk-Fragen noch reichen.« Sie strich sich einen Fussel von der dunklen Stoffhose. »Hast du eigentlich den ganzen Flug über so Panik?«

»Der Start ist das Schlimmste. Und … scheiße, Turbulenzen. Aber wenn ich Glück habe, verschlafe ich die.«

Die Maschine regte sich. Atmen, atmen, atmen. Rückwärts entfernten wir uns vom Flughafengebäude. Immer weiter weg von Boston, Allans Haus im Back-Bay-Beacon-Hill-Viertel und Mums Schweigen, das sich mit mir auf die Rückbank gequetscht hatte. Ich spürte ihr Schweigen hinter den Ohren, im Bauch und unter jedem Schritt. Superfantastischgroßartig. Nichtnichtnicht.

»Mein bester Freund«, flüsterte ich schließlich.

»Magst du Kings of Leon?«

»Smoother Themenwechsel.«

»Subtile Ironie.«

Sie lachte, was furchtbar war. Plötzlich fiel es mir schwer, sie nicht anzusehen, und das war doch auch scheiße. Aber ich fixierte die Sitztasche, blieb stark und dachte an den Wein, mit dem ich die Xanax runterspülen würde.

Wein, Wein, Wein, Schlaf, Schlaf, Schlaf, ich werde nicht sterben, ich werde nicht sterben, ich werde nicht sterben.

»Kings of Leon sind cool.« Ich blinzelte gegen die Decke an. »Ich schätze, du magst sie auch?«

»Pyro am meisten. Was ist dein Lieblingslied?«

»I want you.«

Über die Lautsprecher ertönte »Cabin Crew, prepare for departure«. Wir verharrten, es ruckelte, die Kabine begann zu vibrieren, ich wollte mich auflösen.

»Was hast du gesagt?«

»I want you.«

Ich wandte mich ihr doch zu. Hinter ihr raste die Flughafenlandschaft vorbei, Airbusse und Gebäude verschwammen zu graubraunen Flecken. Alles wackelte und brummte und ratterte. In meinem Brustkorb existierte kein Millimeter Weite. Da waren nur Atemnot und Panik. Ich dachte an beruhigende Farben. Blau über Blau in Blau. Glassplitterblau, Salzwasserblau. Novemberhimmelblau. Doch es brachte nichts. Fuck, fuck, fuck. Welchen beschissenen Sinn hatte es, Synästhetiker zu sein, deshalb ständig Kopfschmerzen zu haben und Farben dann, wenn ich sie einmal wirklich gebraucht hätte, nicht zu fühlen?

Ich muss hier raus, dachte ich.

»Ich muss hier raus«, sagte ich laut, bevor ich am Gurt herumfummelte.

Das Gedankenkarussell stoppte nur, weil sich eine Hand auf meinen Oberschenkel legte.

»Ich glaube, du solltest mir deinen Namen verraten.«

Und ich glaube, ich sterbe, ich sterbe, ich sterbe.

Die Kabine wankte. Von links nach rechts, jede minimale Bewegung war zu heftig. Scheiße, das konnte doch verdammt noch mal nicht normal sein!

»Jonah«, flüsterte ich.

»Okay, Jonah.« Ihr Griff verstärkte sich. »Schau mich an.«

»Keine besonders brilliante Idee. Ich versuche mich gerade davon zu überzeugen, dass wir nicht keine Ahnung wie hoch über dem Boden schweben.«

»Dann eben so.« Ein langes Durchatmen. »Die Wahrscheinlichkeit, dass du auf diesem Flug stirbst, liegt bei eins zu sieben Millionen. Eins zu sieben Millionen. Wusstest du das? Vor jedem Flug wird alles in und an einer Maschine mehrmals kontrolliert. Von Dutzenden Leuten. Ich verspreche hoch und heilig, dir wird während der nächsten Stunden nichts passieren.«

»Das kannst du doch gar nicht versprechen.«

Ich sterbe, ich sterbe nicht, ich sterbe, ich sterbe nicht.

»Ich sterbe, ich sterbe nicht, ich sterbe, ich sterbe nicht.«

»Du stirbst, du stirbst nicht?«, fragte sie.

»Lass mich und meine Todesangst lieber in Ruhe.«

»Du solltest mich wirklich anschauen.« Tiefes Seufzen, feste Stimme. »Ehrlich, Jonah.«

Ehrlich, Jonah.

Nein, Jonah leider nicht ehrlich.

Ganz vorsichtig öffnete ich trotzdem die Augen.

»Gut«, murmelte sie.

Verflucht noch mal nicht gut, wollte ich schreien, denn wie sie mich aus dieser Nähe betrachtete, war komisch. Tiefblau, nachtblau, schwarzblau. Blau über Blau in Blau. Meine Sitznachbarin hatte einen Blick voller Beruhigung. Doch je länger wir uns anstarrten, desto bunter wurde sie. Ihre Wangen verfärbten sich, die Ohrringe leuchteten, ihre Lippen schimmerten. Das Flugzeug vibrierte, die konservierte Luft zwischen uns aber flimmerte.

Mayday, Mayday, Mayday.

Vielleicht stürzt diese Boeing gleich ab.

Mayday, Mayday, Mayday.

Vielleicht geht mein Herzschlag voraus.

Was zur Hölle?

Plötzlich nahm sie meine Hand. In Zeitlupentempo führte sie mir die Finger in den Schoß, an die Metallschnalle, entlang des Verschlusses, kantig und kalt, anschließend ein Kopfdeuten in die Kabine.

»Zuerst öffnest du den Gurt. Du folgst der Notfallbeleuchtung am Boden, Exit-Schilder gegenüber den Toiletten, dann Flugzeugtür. Wenn sie schreien jump and slide, springst du raus. Einige verletzten sich beim Rausrutschen, aber das sind meistens bloß Bein- oder Armbrüche.«

»W-was?«

»Das Notfallszenario, für den Fall, dass du einer von sieben Millionen bist. Manche beruhigt es, wenn sie wissen, was zu tun wäre. Also, das ist dein Mantra. Gurt, Notfallbeleuchtung, Exit-Schilder, Flugzeugtür, jump and slide. Gurt, Notfallbeleuchtung, Exit-Schilder, Tür, jump and slide. Gurt …«

Als sie ihre Hand über meiner betrachtete, verstummte sie. Abrupt. Und da wusste ich, sie spürte es auch. Sie war in meiner Zone, ich war in ihrer Zone. Sie atmete mich ein, ich atmete sie ein. Großstadtnachthimmel, riesige Pupillen, Gin.

»Hey, äh, Jonah? Könntest du bitte etwas sagen? Ich bin mir unsicher, ob ich es besser oder schlimmer mache.«

»Ich … ich glaube, es ist besser.«

Ich musterte ihre Finger. Knöchel und Nägel und eine Farbe, die nicht entscheiden konnte, was sie sein wollte. Schwarzlila oder Schwarzblau. Da war Wärme, die sie erzeugte. Nicht durch ihre Berührung. Ganz allgemein. Wärme wie Januarsonne, kalt, klar, aber blendend. Dabei war es doch fucking absurd! Sie war ein fremder Mensch und ich Flugangst auf zwei Beinen, ein Körper randvoll mit Panik. Und dieser Fantasie.

Kann ich dich kennenlernen?

WTF? Litt ich an einer verkorksten Version vom Stockholmsyndrom? Aviophobie-Retterin-Syndrom, oder was?

Als das Anschnallzeichen endlich (endlich!) erlosch, machte sie sich ruckartig von mir los. Ich hingegen fischte nach den Xanax, die ich mit Wasser nachspülte. Scheiß auf den Rotwein. Anschließend ließ ich den Kopf gegen die Lehne fallen. Gelb- und Orangetöne pulsierten mir vor den Augen. Der Schweiß auf meinen Händen. Der tiefschwarze Mantel zwischen uns. Das war der friedlichste Moment meines Lebens.

»Hättest du die nicht früher nehmen können?«, fragte sie leise.

»Eigentlich nehme ich sie immer nach dem Service. Aber das hätte ich never ever so lange ausgehalten. Ähm, danke übrigens. Für gerade.«

Ein abwesendes Nicken, ausweichende Blicke. Als hätten wir eine Grenze überschritten.

»She said I want you, just exactly like I used to«, murmelte sie. »I want you. Ich mag das Lied auch.«

Ich drehte mich ihr zu, in der Hoffnung, dieses imaginäre Syndrom würde sein Ende finden. Aber, scheiße, das war nicht so. Mein Herz rannte, meine Wangen waren safe krebsrot. Mir wurde bewusst, was ich ihr über mich verraten hatte. Dabei kannte ich nicht mal ihren Namen. Ich wollte sie gerade fragen, da blieb eine Flugbegleiterin neben mir stehen. Aus dem Nichts, Falten um Mund und Augenpartie, zwei Gläser in den Händen. »Delilah«, rief sie, bevor sie uns den Champagner, Sekt, was auch immer, entgegenhielt. Aus Reflex nahm ich es an, Kondenswasser auf den Fingern.

»Macy? Du hier? Ich hab dich beim Einsteigen gar nicht gesehen!«

»Ich war in der First. Der Kabinenchefin tut es echt leid, dass sie keine Plätze mehr in der Business frei hatte. Wenn ihr irgendwas braucht, sagt einfach Bescheid. Ein Extrakissen oder was anderes zu essen, ganz egal. Und kein Wunder, dass du diesem Tatum in Schanghai gleich verklickert hast, du hast einen Freund.« Sie blickte freundlich auf mich herab. »Ryder, richtig?«

Zum Antworten war ich zu perplex, aber der Flugbegleiterin schien das sowieso zu entgehen. Sie schenkte meiner Sitznachbarin bloß ein letztes Lächeln, ehe sie verschwand.

Ich richtete mich auf. Und natürlich, während sie am Alkohol nippte, hätte ich eine Million Dinge fragen können. Warum sie sich die Polarfuchsdoku ansah, wieso sie mit den Notfallvorkehrungen vertraut war, ob ich mir im Panikrausch eingebildet hatte, wir hätten einen Moment gehabt, warum die Flugbegleiterin uns Champagner aufgedrückt hatte, wieso sie überhaupt ihren Namen kannte. Delilah. Ein fließender Name, so verflucht passend, mit den zwei Ls in der Mitte und dem weichen D am Anfang.

Aber das alles fragte ich natürlich nicht.

»D-du hast einen Freund?«

Kapitel 5

Delilah

#Kriegserklärungen

Jonahs Blicke waren wie seine Stimme, und seine Stimme unterschied sich von allen Stimmen, die ich kannte. Dunkel, verhangen und rau. Ihr Ton erinnerte mich an selbst gedrehte Kippen, die man in WG-Küchen schweigend bis auf den Filter rauchte. An von innen beschlagene Scheiben, Schattenspiele auf unverputzten Wänden, das Nachhallen von heiserem Lachen in leeren Straßen, kurz bevor man Händchen haltend durch Haustüren schlich.

Ich hasste Zigaretten, das betrunkene Festklammern an fremden Menschen und die Art, wie Jonah mich betrachtete.

Mittlerweile hatten wir die Reiseflughöhe erreicht, das Anschnallzeichen war erloschen. Aus irgendeinem Grund schien ihm das Sicherheit zu geben, denn er wirkte nicht mehr so, als würde er gleich abkratzen.

»D-du hast einen Freund?«, fragte er.

»Nein.« Mein Mund prickelte wie eine Brausetablette auf Promille. »Ich habe keinen Freund. Zumindest nicht mehr, weil mein Ex mit mir Schluss gemacht hat. Am Frühstückstisch. Ich, halb nackt. Mit einem Mund voll von Spermaresten. War natürlich mit Abstand der beste Moment meines gesamten Lebens.«

Was ich gesagt hatte, bemerkte ich erst, als es draußen war. Klar hätte ich hinzufügen sollen, es sei mir nur so rausgerutscht. Aber ich tat es nicht. Ich war ich, ein Mensch, der alles fühlen und nichts bereuen wollte. Ich machte Fehler. Viele, viele dumme und dämliche Fehler, doch es waren immer meine Fehler. Meine Aktionen, meine Entscheidungen. Und wenn ich mich entschied, dann blickte ich nicht mehr zurück.

Vergessen, vergessen, vergessen.

Während Jonah mein leeres Glas gegen seines austauschte, hörte ich auf nachzudenken. Für einen winzigen Moment nahm ich seinen Geruch wahr. Frühstückspancakes und Tabak. Könnte ein Parfum sein. Heißer Flugangstmensch, sinnlich und facettenreich, das Eau de Parfum des Jahres.

»Ich glaube, du solltest den auch trinken«, sagte er.

»Alkohol ist nie eine Lösung.«

»Auch gerade nicht?«

Achselzuckend nippte ich am neuen Champagner. Auf der linken Seite wurde ein Trolley nach vorn geschoben, Weißwein klirrte in Glasfläschchen, die Lippen meiner Kolleginnen strahlten hochsommerrot.

»Die, äh, Trennung hat dich kalt erwischt?«, fragte Jonah vorsichtig.

»Wir kennen uns kein bisschen. Zero. Das ist dir bewusst, oder?«

»Klar. Na ja, vorausgesetzt, dir ist bewusst, dass ich dir eine halbe Panikattacke schulde. Ich meine, ohne dich wäre ich gerade ziemlich aufgeschmissen gewesen. Und glaub mir, ich möchte dir wirklich nicht zu nahe treten, aber das mit deiner Trennung erklärt auch deinen Blick. Er ist so … leer.«

Ich kippte den Alkohol in einem Zug. Wahrscheinlich hätte ich es lassen sollen. Der starke Ginfizz in der Bar, die vorherige Champagnerflöte. Doch bei dem Wort zog sich alles in mir zusammen. Leer. Ein Begriff mit vier Buchstaben, die alles zusammenfassten, was ich niemals sein wollte. Ich stellte mir das Zuhause mit Leben zu und mein Leben mit noch mehr Leben voll. Ich war Flugbegleiterin und Studentin. Wäre ich eine Stadt, wäre ich hupendes New York und sonniges Miami zugleich. Leer, leer, leer. In meinem Kopf wurde das Wort mit jeder Wiederholung lauter. Es überschwemmte mir das Herz mit seinen nüchternen Buchstaben, ein Buchstabe für jede Kammer. Alle dunkel und salzig.

Vergessen, vergessen, vergessen, vergessen, vergessen, ver…

»Als meine Schwester sich von ihrem Ex-Freund getrennt hat, war sie super durch. Manchmal ist sie nachts vorbeigekommen und hat in meiner Küche erzählt, bis sie im Sitzen eingeschlafen ist. So richtig belangloses Zeug eigentlich. Na ja, nach ein paar Wochen haben ihre Nachtbesuche aufgehört. Außerdem hatte sie nicht mehr diesen leeren Blick, der ein bisschen aussah wie deiner.«

»Ist das jetzt Beweismittel A dafür, dass du ein guter Zuhörer bist, oder was?«

Ende der Leseprobe