Endlich ist er tot - Jürgen Seibold - E-Book

Endlich ist er tot E-Book

Jürgen Seibold

4,4

  • Herausgeber: Silberburg
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Bauer Greininger, Mitte 50, ledig und allseits unbeliebt, liegt tot vor seiner Scheune. Ermordet. Im ganzen Wieslauftal findet sich niemand, der um ihn trauern würde, und bald hat die Polizei mehr Tatverdächtige, als ihr lieb ist. Kommissar Schneider, aus Karlsruhe zugezogen, hatte sich seinen Start in der Kripo-Außenstelle Schorndorf jedenfalls leichter vorgestellt. Aber nicht nur die Polizei sucht nach dem Mörder: In Greiningers Heimatdorf rumort es, ein Boulevard-Journalist wirbelt Staub auf - und im Hintergrund versucht der frühere Schultes den Schaden für die Dorfgemeinschaft zu begrenzen, denn der Mordfall fördert alte und düstere Geheimnisse zutage.

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Jürgen Seibold

Endlich ist er tot

Jürgen Seibold

Endlich ist er tot

Ein Schwäbischer-Wald-Krimi

Jürgen Seibold, 1960 geboren und mit Frau und Kindern im Rems-Murr-Kreis zu Hause, ist gelernter Journalist und arbeitet als Buchautor. Beim Silberburg-Verlag hat er bisher Kriminal- und Unterhaltungsromane sowie Sachbücher und einen historischen Roman veröffentlicht.

4. Auflage 2011

© 2007/2016 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.Umschlaggestaltung: Wager ! Kommunikation, Altenriet.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1694-6E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1695-3Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-87407-762-0

Besuchen Sie uns im Internetund entdecken Sie die Vielfalt unseres Verlagsprogramms:www.silberburg.de

Inhalt

Über den Autor

Dienstag, 7.00 Uhr

Dienstag, 9.15 Uhr

Dienstag, 9.30 Uhr

Dienstag, 9.40 Uhr

Dienstag, 9.45 Uhr

Dienstag, 9.50 Uhr

Dienstag, 10.00 Uhr

Dienstag, 10.00 Uhr

Dienstag, 10.15 Uhr

Dienstag, 10.20 Uhr

Dienstag, 10.20 Uhr

Dienstag, 10.25 Uhr

Dienstag, 10.35 Uhr

Dienstag, 10.45 Uhr

Dienstag, 10.50 Uhr

Dienstag, 10.50 Uhr

Dienstag, 10.55 Uhr

Dienstag, 11.15 Uhr

Dienstag, 11.20 Uhr

Dienstag, 11.40 Uhr

Dienstag, 11.40 Uhr

Dienstag, 12.00 Uhr

Dienstag, 12.05 Uhr

Dienstag, 12.05 Uhr

Dienstag, 12.15 Uhr

Dienstag, 12.30 Uhr

Dienstag, 13.15 Uhr

Dienstag, 13.25 Uhr

Dienstag, 13.30 Uhr

Dienstag, 13.45 Uhr

Dienstag, 13.55 Uhr

Dienstag, 14.00 Uhr

Dienstag, 14.30 Uhr

Dienstag, 15.00 Uhr

Dienstag, 15.10 Uhr

Dienstag, 15.20 Uhr

Dienstag, 15.20 Uhr

Dienstag, 15.35 Uhr

Dienstag, 15.40 Uhr

Dienstag, 15.45 Uhr

Dienstag, 15.55 Uhr

Dienstag, 17.00 Uhr

Dienstag, 17.15 Uhr

Dienstag, 18.00 Uhr

Dienstag, 18.20 Uhr

Dienstag, 18.30 Uhr

Mittwoch, 8.00 Uhr

Mittwoch, 8.45 Uhr

Mittwoch, 10.00 Uhr

Mittwoch, 10.30 Uhr

Mittwoch, 11.45 Uhr

Mittwoch, 12.00 Uhr

Mittwoch, 12.15 Uhr

Mittwoch, 12.15 Uhr

Mittwoch, 12.30 Uhr

Mittwoch, 13.30 Uhr

Mittwoch, 14.00 Uhr

Mittwoch, 14.30 Uhr

Mittwoch, 16.30 Uhr

Mittwoch, 20.00 Uhr

Mittwoch, 20.40 Uhr

Mittwoch, 21.10 Uhr

Mittwoch, 22.00 Uhr

Mittwoch, 23.00 Uhr

Mittwoch, 23.30 Uhr

Mittwoch, 23.45 Uhr

Donnerstag, 9.00 Uhr

Donnerstag, 9.45 Uhr

Donnerstag, 10.30 Uhr

Donnerstag, 10.50 Uhr

Donnerstag, 11:00 Uhr

Donnerstag, 11.15 Uhr

Donnerstag, 11.30 Uhr

Donnerstag, 13.00 Uhr

Donnerstag, 14.30 Uhr

Donnerstag, 16:00 Uhr

Donnerstag, 16.15 Uhr

Donnerstag, 16.45 Uhr

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Freitag, 0.30 Uhr

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Samstag, 11.30 Uhr

Samstag, 13.00 Uhr

Samstag, 15.30 Uhr

Samstag, 16.30 Uhr

Dank

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Der erste Tag

Dienstag, 7.00 Uhr

Der zähe Oktobernebel war fast zum Greifen dicht. Er legte sich wie ein Leichentuch über die Hügel, die Wiesen, die Wälder und über die Wieslauf, die hier noch ein kleiner Bach war. Munter, vom diesigen Wetter völlig unbeeindruckt, plätscherte das kalte Wasser voran, sprang über Steine und rundgeschmirgelte Felsstufen, über umgestürzte Äste und unter einzelnen Grassoden hindurch, die, noch nicht ganz ausgewaschen, trotzig in das Bachbett ragten. Das Wasser gurgelte und gluckste der jeweils nächsten Biegung entgegen – immer wieder, bis es irgendwann aus dem Wieslauftal herausgefunden haben und in die träger fließende Rems münden würde.

Jetzt aber drängte das Wasser noch das Tal hinunter, schlängelte sich die Baumlinie entlang, an der man den kleinen Bachlauf auf den Luftbildern von Kallental so gut erkennen konnte. Gerade hatte es die Talstraße im Süden des kleinen Ortes unterquert und näherte sich nun allmählich wieder der Landesstraße, die das Dorf in zwei ungleiche Hälften zerschnitt.

Die Häuserreihe rechts des Baches, zum Straßenrand hinüber, endete hier, und gegenüber verdeckten ein renoviertes altes Bauernhaus und der benachbarte, leicht den Hang hinauf versetzte Greiningerhof halb den Blick hinauf zum Waldrand. Drei abgeerntete Felder lagen im Dunst, um sie breiteten sich Streuobstwiesen, teils mit altem Gras bedeckt, das sich verfilzt wie ein schmutzighellbrauner Teppich am Boden duckte. Die ausladenden Bäume, jahrelang nicht beschnitten und nun nicht mehr zu bändigen, streckten ihre knorrigen Äste von sich, einige von grau verwitterten Holzstangen notdürftig gestützt.

Der großzügig über ein sanft ansteigendes Grundstück ausgebreitete Hof des jungen Greiningers lag still, obwohl auf den anderen Gehöften im Ort schon die ersten Traktoren gestartet und Anhänger rangiert wurden. Der Greininger war schon seit dreißig Jahren nicht mehr jung und wurde nur noch von den ganz Alten so genannt, die seinen Vater als den eigentlichen Greininger gekannt hatten. Eine windschiefe Scheuer grenzte sein Anwesen gegen das der Zugereisten ab –mit der Familie aus der Stadt, die erst seit 16 Jahren hier wohnte, konnte der alleinstehende Bauer nichts anfangen.

Jetzt ohnehin nicht mehr. Hinter dem schlampig geflickten Eck der Scheuer lugten die beiden Stiefel des Bauern hervor, und drin steckte ihr Besitzer – im Gras, das vom Morgentau und vom Nebel tropfnass war, lag er, ein blutiges Holzscheit neben dem Kopf und den Blick starr zur Seite gerichtet.

Dienstag, 9.15 Uhr

Kriminalhauptkommissar Ernst hatte seinen Chef schon gehört, bevor dieser Kallental erreichte. Gesehen hätte er den Porsche vom Greiningerhof aus nur als kurzes grellfarbiges Aufflackern zwischen den dichten Ästen der Bäume unten am Bach. Selbst von den Häusern an der Landstraße war von hier aus nur ein einziges durch eine Lücke in den Zweigen zu sehen.

Das satt grollende Röhren des Sportmotors aber war in dem sonst eher stillen Tal nicht zu überhören. Ernst konnte sich Wagen und Fahrer gut dazudenken: Erster Kriminalhauptkommissar Schneider, launisch, eitel, reich verheiratet. Dieses nicht sehr vorteilhafte Bild war schon im Rems-Murr-Kreis angekommen, bevor der neue Vorgesetzte dort persönlich auftauchte.

Schneider hatte sich von Karlsruhe weg auf die Kripo-Außenstelle Schorndorf beworben – zwar nur ein Kleinstadt-Posten, aber hier konnte er endlich den schon lange ersehnten Aufstieg in eine leitende Position verwirklichen. Selten genug wurden solche Stellen durch die Pensionierung eines alten Chefs frei – und lange genug hatte Ernst selbst auf diese Chance gewartet. Warten lohnte sich jetzt nicht mehr. Dazu war der Neue aus dem Badischen zu jung.

Ernst schaute noch einmal zu den Kollegen von der Spurensicherung hinüber, die sich rund um den Fundort der Leiche über jeden Grashalm beugten und vorsichtig die nähere Umgebung untersuchten. Er nickte dem Kollegen vom Polizeiposten Rudersberg noch einmal zu, der sehr gut über Greiningers Lebensumstände informiert war und ihn umfassend in Kenntnis gesetzt hatte. Dann trat er seufzend auf die Talstraße hinaus und wappnete sich für das Zusammentreffen mit seinem neuen Vorgesetzten.

»Konnten Sie nicht auf mich warten?«, schnauzte Hauptkommissar Schneider seinen Untergebenen an, als er sich aus dem Ledersitz seines Sportwagens wuchtete.

»Das wäre nicht sehr sinnvoll gewesen, Herr Hauptkommissar«, versetzte Ernst mit leicht genervtem Unterton. »Ich war heute Nacht hier in der Nähe und hatte nur ein paar Minuten Fahrt.«

»Ach, stimmt ja«, grummelte Schneider, leidlich besänftigt. »Sie kommen ja aus dieser ... Ecke.« Sein abschätziger Unterton machte deutlich, dass für den ehrgeizigen Schneider Menschen wie Ernst die geborenen Verlierer waren: nie so richtig abgenabelt von ihren kleinen Dörfern in irgendwelchen engen Tälern mehr oder weniger weit ab vom Schuss.

»Außerdem stinkt es hier nach Kuh«, schob Schneider nach. Es stank nach Schwein, aber Ernst hatte keine Lust, ihn zu korrigieren. Er bedeutete Schneider, ihm zu folgen, und ging in einem mit rotweißem Absperrband markierten Zugangskorridor quer über die spärlich geschotterte Fahrspur bis zur Scheune und dann um die Ecke herum zur Leiche des Bauern.

Der Tote lag leicht seitlich, gewissermaßen auf dem Bauch und der rechten Schulter. Sein Körper war verdreht, sein Kopf zur Seite gewandt, die Augen waren geöffnet und es schien, als richte sich sein gebrochener Blick in Richtung Bach. Zum Bach oder hinüber zu dem benachbarten Grundstück, auf dem ein beinahe putzig aussehendes, renoviertes altes Bauernhaus stand.

Wie ein Bauer aus dem Bilderbuch lag er vor ihnen auf dem Boden, in verdreckten Gummistiefeln, in einer groben Jeanshose, die an keiner Stelle so richtig passen wollte, mit einem karierten Hemd aus Baumwolle, darüber eine grobe Jacke, die am Ende der Ärmel schon an ein paar Stellen abgeschabt wirkte.

Die Haare auf seinem Hinterkopf waren verklebt, das Gras darunter war dunkel eingefärbt, und auch die Erde war an dieser Stelle von einer Flüssigkeit getränkt, die klebrig und bereits ein wenig eingetrocknet wirkte. Einen halben Meter von der Leiche entfernt lag ein Holzscheit: Rund zwanzig Zentimeter lang, hatte das Scheit oben und unten sowie an zwei ziemlich genau rechtwinklig aneinander stoßenden Seiten eine recht glatte Oberfläche – daran konnte Ernst erkennen, dass Greininger sein Holz nicht von Hand, sondern mit einem Spalter zerkleinert hatte. Gegenüber der beiden glatten Spaltflächen umschloss die dicke, in einer Mischung aus Grün, Grau und Braun gefärbte Rinde in einem Viertelkreis den Rest des Holzstücks – nur an den Rändern war etwas Rinde abgeplatzt. An einem dieser Ränder wies das Scheit einen dunklen Fleck auf: Blut.

Die Wunde am Hinterkopf und das große Holzscheit erklärten auch die Lage des Toten: Offenbar war er von hinten links getroffen worden, die Wucht des Schlags hatte ihn nach vorne fallen lassen, versehen mit dem nötigen Drall.

Nur rund zwei Meter entfernt befand sich der Eingang zur Scheune. Das mit Rollen auf einer Metallschiene aufgehängte Tor war vollständig geöffnet. An dem Balken, der den rechten Rand des Eingangs markierte, waren Spuren zu sehen, die zu einem kleinen Fleck aus ehemals flüssigen und festen Bestandteilen passten: Erbrochenes.

Zwei Männer mit Latexhandschuhen stachen rechteckige Proben aus der Wiese, nahmen Holzscheite vom Stapel nebenan und packten sie vorsichtig in Plastiktüten, die sie anschließend in einen Aluminiumkoffer legten. Dann schauten sie zu den beiden Kommissaren auf, und als Ernst wortlos nickte, nahmen sie auch das einzelne Holzscheit neben der Leiche und packten es in eine Tüte.

»Und?«, fragte Schneider knapp und sah Ernst herausfordernd an.

»Tot«, gab Ernst zurück. Das Grinsen erstarb ihm allerdings auf den Lippen, als er den Blick seines Vorgesetzten auffing. »Die Kollegen haben noch reichlich zu sichern, und dann muss ja auch noch die Gerichtsmedizin ran. Aber der Arzt, der gerade den Tod festgestellt hat, meinte, die Leiche sei nass und kalt genug, als dass der Tod schon gestern am späten Abend eingetreten sein könnte.«

»Erschlagen?«, fragte Schneider und nickte zu dem blutigen Holzscheit hinüber, das gerade eingetütet wurde.

»Eigentlich schon, aber dazu passt das Erbrochene irgendwie nicht, das dort am Scheunentor gefunden wurde. Das sieht eher nach einer Vergiftung aus – oder nach einem gewaltigen Rausch. Aber da müssen wir wirklich das Ergebnis der Autopsie abwarten.«

»Wie lange dauert das bei Ihnen auf dem Land in der Regel?«

Das »auf dem Land« sollte er sich den Laboranten und den Gerichtsmedizinern gegenüber lieber verkneifen, dachte Ernst. Wer in Stuttgart für das LKA im Labor arbeitete, galt nicht gerne als »vom Land«. Vor allem nicht diejenigen, die abends tatsächlich zurück ins Umland fuhren ... Und die Pathologie wurde inzwischen von Tübingen aus organisiert – in Stuttgart litten nicht wenige darunter, dass die Landeshauptstadt rechtsmedizinisch nur noch die zweite Geige spielte.

»Das dauert bei uns vermutlich auch nicht länger als in ...«

»Ja, schon gut«, knurrte Schneider und umrundete den Leichnam vorsichtig. »Wer hat ihn gefunden?«

»Fritz Müller, der Förster.«

»Und warum ist der nicht hier?«

»Er war auch vorhin nicht hier, hat nur per Handy auf der 110 angerufen und ist dann wohl nach Hause gefahren. Ich werde nachher bei ihm vorbeigehen. Er war auf dem Rückweg von der Jagd, und als er mit seinem Geländewagen den Weg da hinten aus dem Wald herunter kam, sah er Greiningers Stiefel – und da hielt er an, stieg aus und lief zur Scheuer herunter, wo er den Toten dann liegen sah.«

»Was denn nun: Ist Müller hier der Förster oder der Jäger?«

»Beides, und sein Vetter hat das Sägewerk am Ort – das passt also ganz gut zusammen.«

»Na, wunderbar«, seufzte Schneider. »Aber mit diesem Multitalent werde ich nachher lieber selbst reden. Die Adresse können Sie mir ja geben. Und jetzt erzählen Sie mir lieber, was Sie bisher über den Toten in Erfahrung bringen konnten.«

»Greininger heißt der Tote, Albert Greininger. 56 Jahre alt, ledig, keine Kinder, lebte allein hier. Ist seit zwanzig Jahren der Herr im Haus, davor hatte sein Vater den Hof. Die Mutter früh verstorben, der Vater ein ziemliches Raubein, dem schon mal die Hand ausrutschte. Der Sohn, also unsere Leiche hier, lebte richtig auf, als der Alte endlich unter der Erde war. Abgeworfen hat der Hof nicht sehr viel – musste er auch nicht: Die Greiningers hatten ein paar günstig gelegene Äcker, die Bauland wurden. Das hat dem Bauern wohl gereicht: Kühe hat er abgeschafft, ein paar Hühner hatte er noch, ein paar Felder, ein bisschen Forstwirtschaft. Vor einigen Jahren hat er drüben in Althütte drei Mehrfamilienhäuser hingestellt und die Wohnungen vermietet. Wie gesagt: Er konnte ein paar Grundstücke zu guten Preisen verkaufen.«

»Gute Preise? Hier?« Schneider schien der Gedanke, dass jemand in Kallental freiwillig ein Grundstück kaufen könnte, geradezu körperlich unangenehm.

»Na ja, wenn die Stückle groß genug sind. Und ein paar der Felder lagen am Ortsrand von Rudersberg, dem Hauptort weiter vorne im Tal. Da sind Sie vorhin durchgefahren. Außerdem hatte Greiningers Mutter einige Flächen auf den Gemarkungen von Althütte und Welzheim mit in die Familie gebracht.«

»Meinetwegen. Und weiter?«

»Nach Verdächtigen werden wir vermutlich nicht lange suchen müssen: Greininger war nicht sehr beliebt hier, um es mal vorsichtig auszudrücken. Er war wohl ein richtiges Arschloch. Wusste alles besser, durfte alles, musste nichts – so einer halt. Aus dem Verein der Dorfgemeinschaft haben sie ihn vor ein paar Jahren rausgeschmissen, wahrscheinlich weil er bei Abstimmungen einfach nicht verlieren konnte und hintenrum immer versuchte, seine eigenen Ziele doch noch durchzusetzen.«

»Dorfgemeinschaft?«, wunderte sich Schneider. »Gibt es dafür hier extra einen Verein?«

Ernst seufzte. »Das ist in der Gegend gar nicht selten«, erklärte er. »Wenn ein Ort für die gängigen Sportvereine zu klein ist, gibt es keine Gruppe, die dort Feste organisiert oder auch mal eine Versammlung, wenn irgendein Thema den Bewohnern unter den Nägeln brennt. Dafür ist so ein Dorfgemeinschaftsverein genau das Richtige. Das ist dann so eine Art Bürgerinitiative – nur nicht gegen etwas, sondern für das Dorf und seinen Zusammenhalt.«

»Aha«, machte Schneider. »Und die mochten ihn nicht mehr.«

»Ja, das kann man wohl so sagen. Auch mit der Gemeinde ist er immer wieder zusammengerasselt.«

Ernst deutete nacheinander auf ein paar etwas neuer aussehende Gebäudeteile, Mauern und Dachflächen: »Das wenigste von den Anbauten und Umbauten hier wurde wirklich genehmigt – oder zumindest nicht so, wie es der Greininger dann gebaut hat: zu hoch, zu breit, das hat ihn wenig gekümmert. Und dann ist es eben so, dass hier auf dem Dorf kaum einer das Maul aufmacht, wenn was nicht ganz nach den Vorschriften läuft – man will sich’s ja nicht mit den Nachbarn verderben.«

»Hm«, machte Schneider und zog ein Gesicht, als hätte sich für ihn ein lange gehegtes Klischee bestätigt.

»Gewehrt oder mit ihm angelegt«, fuhr Ernst fort, »hat sich im Grunde genommen nur einer: Heiner Follath, der mit seiner Familie da drüben in dem renovierten Bauernhaus lebt. Übrigens früher das Altenteil vom Greiningerhof. Der gehört aber nicht richtig zum Dorf, weil er erst seit 15, 16 Jahren hier wohnt. Ein Städter, der sich seither dörflicher aufführt als die Dorfbewohner selbst – wie es halt oft so ist.«

Schneider hob eine Augenbraue und versuchte nebenbei, sich im feuchten Gras einen übel riechenden Klumpen vom rechten Schuh zu streifen.

»Stimmt«, dachte Ernst, als er die Schuhe seines Chefs sah. Es hatte auch irgendwie nach Katze gerochen.

Dienstag, 9.30 Uhr

Vorsichtig schob Heiner Follath den Vorhang wieder in seine ursprüngliche Position. Nachdenklich setzte er sich an den grob gezimmerten Esstisch in der geräumigen Küche und nahm einen Schluck aus seiner großen Kaffeetasse. Er verzog das Gesicht, als er merkte, dass er noch keinen Zucker hineingetan hatte. Beim Umrühren wirkte er fahrig, ein paar Tropfen Kaffee schwappten auf die Tischplatte, und er legte den tropfnassen Löffel ganz in Gedanken auf die aufgeschlagene Tageszeitung vor sich.

Der Greininger war tot. Das war eine gute Nachricht, auf die er und seine Familie lange hatten warten müssen. Noch als es draußen dunkel war, hätte er seine Frau und die beiden Kinder, die noch im Haus wohnten, am liebsten geweckt, um ihnen die Neuigkeit zu überbringen. Die ganze Nacht hindurch war ihm das immer wieder in den Sinn gekommen, und immer wieder hatte er es sein lassen und sich stattdessen noch etwas nachgeschenkt.

Die paar Stunden Schlaf vor dem Morgengrauen, für die er auf die Couch im Wohnzimmer gekrochen war, um seine Frau im Ehebett nicht zu stören, hatten ihn kaum wieder klar werden lassen. Und so saß er am Küchentisch, mit angegrauten Bartstoppeln, ungekämmt und mit schwarzgrauen Rändern unter den Augen, blickte verschlafen und etwas verkatert drein und machte sich Gedanken. Trübe Gedanken.

Denn Heiner Follath wusste, dass der üble Kerl nicht einfach so gestorben war. Und dort, wo der Bauer lag, mussten sich auch Spuren von Follath finden. Ein Motiv hatte er allemal – »und wenn sie den Leichnam untersucht haben«, dachte er, »bin ich dran.« Seine Version des vergangenen Abends würde ihm sowieso niemand glauben.

Dienstag, 9.40 Uhr

»Der Greininger? Tot?«

Breitbeinig stand er auf seiner Wiese, die Gummistiefel zwischen halb verfaulten, vermackten, verwurmten und einigen intakten Äpfeln fest in den Boden gestemmt: Kurt Mader, für jeden zufälligen Beobachter von der abgegriffenen Schildkappe über die ausgebeulte Arbeitshose bis hinunter zu ebensolchen Stiefeln jeder Zoll ein Bauer – und im Herzen doch noch immer auch ein gutes Stück Ortsvorsteher. Seit drei Jahren hatte ihn zwar ein junger Nachbar in dem Amt abgelöst, aber das Dorf sah Mader noch immer als das seine an und die Bewohner als seine Schützlinge. Das war vor der Gemeindereform nicht anders gewesen, als er hier der Bauernschultes war – und so war es all die Jahre geblieben.

»Ja«, bestätigte die ältere Frau ihm gegenüber mit schnarrender Stimme. »Ermordet. Erschlaga. Dr Fritz hat’n gfunda.« Dass Ruth Wanner das mal wieder als eine der Ersten erfahren hatte, war ebenso wenig erstaunlich wie der Umstand, dass sie extra mit ihrem kleinen Schlepper heraus auf die Wiese getuckert war, um es ihm sofort zu erzählen. Aber etwas in ihrem Blick irritierte ihn.

»Ond? Woiß mr scho was Genauers?«, fragte Mader nach, als die Frau entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit keine Anstalten machte, von sich aus fortzufahren.

»Noi, nix G’naus ...«

»... woiß mr net – scho recht, Ruth«, kürzte Mader das Procedere ab. »Isch was mit dir?«

»Wieso? Was soll sei?«, antwortete die Wanner und verlagerte ihr Gewicht auf den anderen Fuß.

»I woiß net ..., recht ruhig bisch halt«, bohrte Mader.

»Ha ...«

»Ja?«

»Ha ... so recht schad isch’s um den Greininger ja net, oder?«

»Noi«, gab Mader zu. »Aber dät mr älle Bachel glei totschlaga, wär bald viel Platz uff dr Welt.«

»Hm ...«

»Jetzt komm, raus damit!«

»Kurt«, setzte die Frau an, als drüben im Dorf der Bus in Richtung Rudersberg anfuhr und das Geräusch seines alten Motors von der Landstraße herüber durch die Stille dröhnte. Die Pause verstrich, der Motor verhallte in einiger Entfernung, und Mader blickte die Wanner durchdringend an, bis sie endlich ansetzte: »Den hot doch em Dorf eigentlich koiner möga.«

»Schtemmt. Ond?«

»Ha, wenn ihn koiner möga hot, hätt ihn ja au jeder totschlaga könna.«

»Du au?«, fragte Mader nach und konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Aber die Wanner bemerkte davon nichts: Nachdenklich hatte sie den Blick auf die Wiese gesenkt und fuhr zögernd fort.

»Fascht jeder hätt en Grund ghet, und jeder wird verdächtigt werra.«

»Erscht mol, ja. Aber dr jonge Ernst, der in der Schtadt als Polizischt schafft, der wird scho dr Richtige fenda. Der isch doch scho da, oder?«

»Des scho, des scho. Aber au dr Richtige isch am End der Falsche – wenn älles bloß lang gnuag dauert.«

»Wie moinsch jetzt au des?«

»Die suchat vielleicht recht lang, nemmat sich oin mit – ond mir könnat gucka, wie mir aus onserm kloina Kallatal wieder a friedlichs Dorf machat. So viel Polizei so lang em Ort – des isch net guat für ons. Des dauert net lang ond koiner traut meh irgendoim. Ond no, gut Nacht.«

»Hm.«

»Guck amol, Kurt: Jetzt, wo mir obedingt zammahalta solltet, om die Tourismusbahn au für ons nutza z’könna – do brauchad mir a schtarke Dorfgemeinschaft, ond koi Durchanandr mit dr Polizei ond koin Schtreit wega dera Leich.«

»Do hosch Recht«, sinnierte Mader, »aber was willsch macha?«

Die Wanner stand still und sah Mader fast flehend an.

»I ...?«, fragte Mader. »Soll i mi do eimischa? Selber nochforscha, selber romfroga, selber ...?«

Mit jeder Frage schien ihm der Gedanke besser zu gefallen. Interesse und auch eine Spur knitze Abenteuerlust waren in seinem zerfurchten und von vielen Jahren auf den Wiesen und im Wald wettergegerbten Gesicht zu erkennen. Schließlich ließ er die letzte Frage halb ausgesprochen und legte der Wanner eine Hand auf die Schulter.

»Ha, worom net? Aber bloß, wenn du mitmachsch. I frog zerscht em Dorf rom, du uff de Wiesa – machsch des, Ruth? Und morga z’Mittag essat mir zamma en dr ›Krone‹, gell?«

Die Wanner schaute ihn kurz nachdenklich an, zuckte dann leicht mit den Schultern, drehte sich um und schlurfte ohne ein weiteres Wort zurück zu ihrem Traktor. Damit waren sie sich also einig.

Dienstag, 9.45 Uhr

Fast im Schritttempo holperte der Sportwagen den Hohen Rain entlang, eine Ansammlung von Schotterflecken und ausgewaschenen Dreckdellen, die Schneiders Ansicht nach alles Mögliche verdient hatte, nur kein Schild mit einem Straßennamen drauf. »Hoher Rain 17« lautete Fritz Müllers Adresse, und da hatte wohl jemand die Nummern mit viel Zuversicht vergeben, denn alles in allem kam dieser Weg auf höchstens acht oder neun Gebäude: Fünf standen gleich vorne eng beisammen, wo der Hohe Rain von der Landstraße nach Althütte abzweigte – die Abzweigung bildete einen kleinen ungleichmäßigen Asphaltring zum Wenden, in dem sich ein Fleck Wiese gehalten hatte, den ein knorriger Kastanienbaum dominierte. Irgendein Witzbold hatte vor den Stamm des Baumes eine Holzbank gestellt, die einen Blick auf die nur gut einen Meter entfernte, schmale Landstraße, auf die dahinterliegende Eisenbahnstrecke Rudersberg– Welzheim und hinunter ins Wieslauftal bot.

Schon nach einem kurzen Stück des Hohen Rains endete der kleine Häuserhaufen bereits wieder, und nur noch alle hundert Meter führte ein Fußweg links von dem Sträßchen ab und den Berg hinauf zu einzeln stehenden Gebäuden. Rechts war von hier aus zwischen einigen Bäumen hindurch unten im Tal Kallentals Ortsende in Richtung Welzheim zu sehen.

An der Zufahrt unterhalb des letzten Hauses am Hohen Rain war ein verwittertes Holzschild aufgehängt, das die Nummer 17 trug. Dem kräftig geschotterten Privatweg entlang floss ein kleiner Bach, der neben dem Hohen Rain in einen kleinen Kanal mündete. Neben der Abzweigung standen einige Mülleimer wie zur Abholung bereit, daneben verriet ein Briefkasten mit Zeitungsröhre, dass sich der Briefträger die letzten steilen Meter zum Haus sparen durfte.

Schneider bog mit dem Wagen in den Schotterweg ein. Steine spritzten gegen den Radkasten, als er auf dem lose aufgeschütteten Untergrund eine Spur zu viel Gas gab, und so rumpelte er gemächlicher dem Haus des Försters entgegen.

Als er oben in die Lücke rollte, die ein verdreckter Geländewagen auf einer kleinen ebenen Fläche vor dem Haus frei gelassen hatte, öffnete sich die Haustür und ein Mann mittleren Alters trat heraus. Schneider horchte kurz dem letzten Knurren des Motors nach, dann ließ er die Fahrertür aufschwingen, kletterte aus dem Sitz und ging auf den Mann zu.

»Fritz Müller?«, fragte er, und sein Gegenüber nickte abwartend. Sein schütteres Haar sah verschwitzt aus und war oberhalb der Schläfe rundum eingedrückt, als hätte ein lange getragener Hut seine Spuren hinterlassen. Er hatte ein grobes Baumwollhemd an, darüber eine aufgeknöpfte ärmellose Wollweste, eine nicht mehr ganz taufrische Kniebundhose von undefinierbarer Farbe, dicke, grob gestrickte Wollstrümpfe, an denen sich Kletten und kleine Aststückchen verfangen hatten – und die Füße steckten in ausgelatschten Hausschuhen.

»Hauptkommissar Schneider, Kripo Schorndorf«, leierte Schneider herunter und reichte Müller die Hand. Müllers Hand fühlte sich rau an, sein Händedruck war kräftig, und Schneider meinte Schwielen und Schorf zu spüren. »Ich komme wegen des toten Greininger. Sie haben ihn gefunden?«

»Ja, habe ich. Kommen Sie doch rein.« Müller drehte sich um, und Schneider folgte ihm ins Haus. In der Diele standen zwei Paar Frauenschuhe, mit der Spitze zur Wand sauber nebeneinander ausgerichtet, sonst war der Flur übersät mit schmutzigen Männerschuhen und fleckigen Jacken, die achtlos auf den Boden geworfen worden waren. Eine offene Tür führte in ein Wohnzimmer, das in Schneiders Augen den Jäger in Fritz Müller verriet: eine Essecke mit einem Wandregal mit steinernen Bierkrügen und zwei reich verzierten Pfeifen, einigen geschnitzten Tierfiguren, mehreren Wimpeln und Urkunden. Schneider schaute sich um und erwartete ausgestopfte Tierschädel an einer der Wohnzimmerwände – doch es waren keine zu sehen.

Stattdessen stand gegenüber eine etwas mehr als mannshohe Vitrine mit einigen Romanen und medizinischen Fachbüchern, im Eck ein Fernsehgerät, über dem ein selten hässliches Mobile aus auf winzigen Besen reitenden Hexen langsam seine Runden drehte. Auf dem Couchtisch vor dem Fernsehgerät stand eine angebrochene Flasche Schnaps mit einem leeren Gläschen davor.

»Sie haben gar keine Tiertrophäen hier im Zimmer hängen«, bemerkte Schneider und ließ den Satz fast im Tonfall einer Frage enden.

»Ich kann diese Protzerei nicht leiden«, knurrte Müller dazu nur, schob Schneider einen Stuhl hin und setzte sich auf die Eckbank. »Außerdem sind mir Tiere lebendig lieber als tot.«

»Lebendig lieber?«, meinte Schneider. »Sind Sie nicht Jäger?«

»Und? Sie sind bei der Kripo – sehen Sie die Leute lieber tot?«

Schneider räusperte sich kurz. »Wann haben Sie den Greininger denn gefunden?«, fragte er, um in dem Gespräch die Initiative zu ergreifen.

»Ja, schreibt ihr euch das denn nicht auf?«, brauste Müller kurz auf. Dann flackerte sein Blick ein wenig, und er blickte zum Fenster hinaus. »Ich habe ihn gesehen, dann habe ich sofort die Notrufnummer angerufen – obwohl es der Greininger wahrscheinlich nicht mehr so wahnsinnig eilig gehabt hat. Und dann bin ich heimgefahren. Das müsste so um acht herum gewesen sein.«

»Jetzt ist es bald zehn Uhr. Was haben Sie denn seither gemacht?« Schneider riskierte einen Seitenblick zum Couchtisch hinüber.

»Es wird ja wohl nicht verboten sein, einen Schnaps zu trinken, wenn man eine Leiche findet, oder?« Müller war seinem Blick gefolgt und wirkte nach wie vor ziemlich gereizt. »Wenn ich sonst aus dem Wald zurückkomme, trinke ich meinen Kaffee, esse was und schau die Morgennachrichten an. Bis auf den Kaffee habe ich das heute genauso gemacht.«

»Warum haben Sie denn nicht beim Greininger auf die Polizei gewartet?«

»Das hätte mir gerade noch gefehlt. Ich war seit Jahren nicht mehr länger mit dem Greininger zusammen, als es unbedingt hat sein müssen – und meine Knochen sind nicht mehr danach, dass ich freiwillig eine Stunde lang im Nebel rumstehe. Sie haben mich ja auch so gefunden.«

»Sie wohnen recht ... idyllisch hier.«

»Das passt schon.«

»Na ja, mir wäre es zu umständlich, jeden Morgen so weit zu laufen, um mir die Zeitung zu holen.«

»Wenn ich aufstehe, ist noch keine Zeitung da. Und wenn ich wieder zurückkomme, nehme ich sie halt mit nach oben. Das ist kein Problem. Aber deshalb sind Sie wahrscheinlich nicht hier heraufgekommen, oder?«

»Nein. Ich wollte gerne von Ihnen wissen, ob Ihnen am Greininger etwas aufgefallen ist – außer dass er tot war, natürlich.«

»Nein, nichts. Was soll mir denn aufgefallen sein?«

»Vielleicht erzählen Sie mir einfach noch einmal, wie Sie ihn gefunden haben.«

Müller schaute auf seine Armbanduhr, schien dann kurz zu überlegen und blickte dann resignierend auf den Polizisten: »Sie geben vorher wahrscheinlich eh keine Ruhe, stimmt’s?«

Schneider nickte, und Müller begann zu erzählen: »Ich kümmere mich um die ganzen Wälder hier um den Ort herum, und weiter weg schau ich auch nach ein paar. Deshalb wechselt das immer wieder mal, wo ich gerade zu tun habe. Heute bin ich so zwischen halb vier und vier losgefahren und habe mich im Gemeindewald umgesehen, der sich von der Landstraße Richtung Welzheim ungefähr im Halbkreis nach Osten und Süden erstreckt und bis an die Obstwiesen am Südwestrand vom Ort reicht. Das betrifft praktisch die ganze gegenüberliegende Seite des Tals.«

Müller schaute Schneider direkt an. Er wirkte ruhig, hatte seine anfängliche Aggressivität abgelegt und erzählte recht entspannt. »Ich habe mich nach Spuren von Wildverbiss umgesehen, bin auf ein paar Hochsitzen mit dem Fernglas angesessen und habe die Futterstellen abgeklappert – sah alles ganz normal aus. Schließlich war ich mit der Runde durch und bin dann mit dem Wagen aus dem Wald heraus zum Ort hinuntergefahren. Wenn ich da zu den ersten Häusern komme, schaue ich schon fast im Reflex zum Greininger hinüber – der Kerl macht mir das Leben schwer, seit ich denken kann.«

Müller stutzte kurz, seufzte dann. »Tja, das hat sich ja nun erledigt. Immer wieder hat er mir auf dem Weg aufgelauert und mit mir Streit angefangen, weil er meinte, dass mein Wagen auf diesem Weg nichts zu suchen habe. Das werden Ihnen sicher andere im Dorf gerne bestätigen, falls nötig. Wir waren nicht gerade Freunde. Wie auch immer: Als ich heute früh dort herunterkomme, schaue ich wieder hinüber zum Hof – und sehe dort die Stiefel im Gras. Also habe ich angehalten, bin hingelaufen und habe ihn liegen sehen.«

»Sie haben aus Ihrem Wagen heraus die Stiefel im Gras gesehen? Bei dem Nebel? Alle Achtung!«

»Was soll das heißen?« Müller richtete sichimSitzen etwas auf. »Ich bin halt gewohnt, genau hinzusehen – sonst würde ich als Jäger nicht viel reißen, das können Sie mir glauben.«

»Schon gut. Und weiter?«

»Nichts weiter. Ich habe den Greininger gesehen, habe gesehen, dass er tot war, und habe mit dem Handy den Notruf gewählt. Das war’s.«

»Wie sind Sie denn heute früh in den Wald gefahren? Auch beim Greininger vorbei?«

Müller fixierte Schneider mit zunehmendem Unwillen: »Was wollen Sie denn damit sagen?«, schnappte er.

»Mich würde einfach interessieren, ob Ihnen auf dem Hinweg auch schon etwas aufgefallen ist. Wir können jeden Hinweis gut brauchen.«

Müller ließ seinen Blick noch kurz auf Hauptkommissar Schneider ruhen, dann fuhr er fort: »Nein, ich bin ein Stück Richtung Welzheim gefahren und dort über einen Forstweg in den Wald hinein. Wie ich schon sagte: Der Wald beschreibt etwa einen Halbkreis ums Dorf.«

»Und wann sind Sie heute früh los? Um halb drei?«

»Nein, später, so etwa zwischen halb vier und vier. Aber hatte ich das nicht gerade ...?«

»Wie sieht denn eine Nacht bei Ihnen so aus? Ich meine: Wenn Sie so früh aufstehen müssen, schlafen Sie dann vor?«

»Ja. Meistens lege ich mich am späten Vormittag oder am frühen Nachmittag ein, zwei Stunden aufs Ohr.«

»Und wann gehen Sie abends ins Bett?«

»Gegen zehn, elf Uhr meistens.«

»Davor, nehme ich an, waren Sie hier im Haus?«

»Bin ich jetzt verdächtig oder was? Ja, ich war hier, und übrigens war auch meine ...« Er brach mitten im Satz ab und fuhr dann mit etwas leiserer Stimme fort: »Ja, ich war hier.«

»Sie wollten gerade etwas sagen?«

»Nein.«

»War Ihre Frau denn auch hier?«

»Sie ...« Müller stand auf, holte die Flasche und das Glas vom Couchtisch und schenkte sich einen Klaren ein. Er schaute Schneider kurz an, dann trank er das Glas aus. Schneider glaubte, in seinen Augen etwas Feuchtes blitzen zu sehen.

»Sie ist gestorben«, murmelte er dann. »Ist noch nicht lange her.«

»Sind das ihre Schuhe draußen im Flur?«

»Nein«, sagte Müller, ohne aufzusehen. »Ihre Schuhe sind alle weggeräumt. Die hat sie schon lange nicht mehr gebraucht.«

Dienstag, 9.50 Uhr

Hauptkommissar Ernst drehte sich um. Schon jetzt atmete er schwer, und dabei hatte er noch nicht einmal ganz den Weg zum Waldrand hinauf geschafft. Von hier oben konnte er Kallental ausgebreitet vor sich sehen. Die Wieslauf schlängelte sich zwischen einer dicht stehenden Baumlinie hindurch, die sich von Ost nach West durch Ernsts Blickfeld zog. Auf beiden Seiten der Bäume waren die Häuser des Ortes verteilt, ein wenig entlang der Landstraße, mit Ausbuchtungen für ein etwas neuer wirkendes Wohngebiet den Hang gegenüber hinauf und für die Häuser an der Talstraße zu ihm herüber.

Rechter Hand markierte das Sägewerk das eine Ende des Ortes, während nach links die Bebauung mit kleineren Wohnhäusern endete. Weiter oben auf dem Hang in Richtung Althütte, also etwa in nordöstlicher Richtung, standen einige Häuser beisammen, und eine kleine Straße führte zu drei, vier abseits stehenden Gebäuden. Das war der Kurzenhof, ein kleiner Ortsteil von Kallental, der einige teils versprengte Häuser am Hang oberhalb des Dorfes umfasste, und dort oben wohnte Fritz Müller, zu dem sich sein Chef gerade aufgemacht hatte.

Einige Geräusche drangen vom Dorf zu Ernst herauf. Traktoren mit klappernden Anhängern. Leute, die einander kurze Kommandos zuriefen. Ein Linienbus, der an der Haltestelle in der Dorfmitte anfuhr und allmählich beschleunigte. Eine Limousine, die recht schnell aus Richtung Rudersberg ins Dorf gefahren war und nun wegen des anfahrenden Busses bremsen musste. Eine dröhnende Motorsäge, mit der sich irgendjemand drunten in den Streuobstwiesen zu schaffen machte. Ein alter Schlepper, der langsam einen Wiesenweg zum Waldrand hinaufschnaufte, am Steuer eine alte Frau, die sich gegen die Schräglage ihres Gefährts lehnte. Und an den Schweinestall, der außerhalb des Ortes Richtung Oberndorf inmitten der Wiesen stand, fuhr ein geschlossener Transporter heran.

Ernst atmete noch einmal tief den unverwechselbaren Geruch eines Oktobertages ein, der schön zu werden versprach. Der Nebel hatte sich schon fast verzogen, und das Gras war noch nass vom frühen Morgen. Die Sonne ließ, wo ihre Strahlen durch den restlichen Dunst drangen, den Boden, die Wiesen, die Bäume dampfen – Ernst sog den Duft genüsslich ein und stapfte dann weiter hinauf zum Waldrand.

Der Weg wurde glitschig hier im Schatten der Bäume. Das Gras trug schwere Tropfen, und die Wiesen schienen einen nassen Untergrund zu haben – auch wenn das hier oben, wo alles sofort abfließen konnte, unsinnig schien. Ernst zog seinen rechten Schuh aus einer tiefen Pfütze: Nun wusste er es besser.

Am Waldrand änderte sich der Weg: Der Wiesengrund, der gerade noch morastig und tückisch gewirkt hatte, wurde von einem Schritt auf den anderen abgelöst durch festen, ziemlich trockenen und von braunen Blättern bedeckten Waldboden. In Ernsts Nase drängte nun ein noch intensiverer Geruch: durchgefaulte Erde, Pilze, Harz – in seiner Kindheit war eine ganz ähnliche Umgebung sein Revier gewesen. Stundenlang war er durch den Wald gestreift, hatte versucht, geräuschlos zwischen dem Unterholz hindurchzuschlüpfen, und war sich dabei vorgekommen wie ein Indianer.

Zum Indianer fehlte ihm heute mindestens die Kondition. Mit schweren Schritten drang er tiefer in das Halbdunkel ein, er zertrat lautstark trockene Äste, die auf dem Pfad lagen, und sah vor sich an einem Baum ein Zeichen auf die schorfige Rinde gemalt: ein blauer Kreis auf weißem Grund. Ein Wanderweg. Er hielt Ausschau nach dem nächsten Zeichen, und er fand es rund hundert Meter weiter im Wald, allerdings war der Weg dahin bestenfalls als Trampelpfad zu bezeichnen: Im Zickzack zwischen den Bäumen ging es auf zerdrückten Blättern ziemlich steil den Berg hinauf – das war wohl eher etwas für ganz hartgesottene Wanderfreunde.

Links vom Weg öffnete sich Ernst der Blick auf eine weniger idyllische Szenerie: Halb überwuchert von Büschen lagen einige zerbrochene Betonrohre auf dem Boden, alte Kanalisationsrohre, wie es schien, vielleicht etwas kleiner. Ernst kam in den Sinn, dass so etwas früher mal zur Erschließung größerer Privatgrundstücke benutzt worden sein könnte. Da hatte wohl jemand seinen Schutt abgeladen, und das wiederum hatten offenbar andere zum Anlass genommen, Ziegelstücke und schartige Betonbrocken direkt daneben zu entsorgen. Aus einigen größeren Stücken ragten verrostete Stahlstangen hervor. Ernst schaute den Weg hinunter, den er gegangen war: Diese Steigung war mit einem normalen Auto nicht zu schaffen. Mit einem Geländewagen vielleicht, mit einem Traktor sicher.

Dienstag, 10.00 Uhr

»Was war denn mit Ihrer Frau?«, fragte Schneider.

»Sie hatte Rheuma, ziemlich schlimm. Irgendwann konnte sie nicht mehr laufen, dann nicht mehr sitzen und schließlich brauchte sie auch zum Liegen Schmerzmittel.«

»Wer hat sie denn gepflegt?«

»Das habe ich gemacht. Waschen, umziehen, in letzter Zeit auch immer wieder umbetten – die Gemeindeschwester hat mir alles gezeigt, und sie hat auch ab und zu nach dem Rechten gesehen. Einmal am Tag kam auch Erna vorbei, eine Freundin meiner Frau, die vorne in einem der Häuser an der Landstraße wohnt. Sie hat für uns gekocht, ein bisschen geputzt und mit meiner Frau Dorftratsch ausgetauscht. Das hat beiden gutgetan, glaube ich – die Erna ist noch ganz gut zu Fuß, aber seit vor drei, vier Jahren ihr Mann gestorben ist, hockt sie doch viel allein daheim.«

Schneider sah Müller an und versuchte sich vorzustellen, wie dieser grob wirkende Mann seine Frau umhegte und ihr Salbe auf wundgelegene Stellen strich.

»Warum haben Sie sie nicht in ein Pflegeheim gebracht? Das wäre doch sicher leichter für sie beide gewesen.«

»Sie sind nicht verheiratet, oder?«

»Doch, warum?«

»Hoffentlich wird Ihre Frau nicht so bald krank. Ich finde, Mann und Frau müssen sich aufeinander verlassen können. Und meine Frau wollte hier leben – und sie hat sich darauf verlassen, dass ich das für sie möglich mache. So einfach ist das.«

»Hm«, machte Schneider und wirkte nachdenklich.

»Beruflich konnte ich es mir ja einrichten. Wer früh rausgeht, findet tagsüber immer wieder mal Zeit.«

»Wann ist Ihre Frau gestorben?«

»Vor drei Wochen, Ende September. Kurz nach ihrem Geburtstag. Alle aus dem Dorf kamen zur Beerdigung. War schwer, da am Grab zu stehen und allen die Hand zu geben – aber irgendwie hat es auch geholfen.«

»Ist der Greininger auch gekommen?«

»Nicht zu mir ans Grab. Das hätte ich ihm auch nicht geraten. Aber er stand ganz hinten auf dem Friedhof, an der Hecke Richtung Ausgang. Ich selbst habe ihn nicht gesehen, ich habe überhaupt kaum etwas gesehen an diesem Tag. Aber die Erna hat es mir erzählt, ein paar Tage später, als sie mich besuchte.«

»Was hatten Sie denn für Probleme mit dem Greininger?«

Müller rückte unbehaglich auf der Bank hin und her.

»Sie hatten gesagt, er habe Ihnen das Leben schwer gemacht. Wie denn?«

»Der Greininger war ein Arschloch, und ich glaube nicht, dass ihm hier im Dorf jemand eine Träne nachweinen wird. Nicht hier und auch nicht in Rudersberg.«

»Und warum?«

»Er war halt nicht sehr beliebt, und er hat viel dafür getan, dass das auch so blieb.«

»Jetzt werden Sie halt mal genauer: Was hatten Sie für Probleme mit dem Greininger?«

»Dem gehören einige Stückle im Dorf und drum herum. Zum Beispiel die meisten Wiesen zwischen unserem Bach und dem Waldrand. Dort, wo ich heute früh mit dem Wagen aus dem Wald kam. Die Wege gehören der Gemeinde, soweit sie befestigt sind. Die Wiesenwege gehören eigentlich zu den Wiesen, sind also Privatgrund – aber seit jeher gibt es da Überfahrtsrechte, die auch im Grundbuch stehen. So kommen die Leute mit ihren Traktoren zu ihren Obstwiesen oder rauf in den Wald, wo sie sich ihr Holz holen. Und so komme auch ich mit meinem Wagen in den Wald, um meine Hochstände und die Futterstellen zu überprüfen. Das hatte ich Ihnen ja vorhin schon erzählt. Na ja, und der Greininger hielt halt nicht viel davon, dass ich da mit dem Wagen unterwegs war. Und deshalb mochten wir uns nicht so besonders.«

»Und das war alles?«

»Ja, mehr oder weniger.«

»Was heißt das nun wieder?«

»Man rasselt in so einem Dorf schon auch mal wegen irgendwelcher Kleinigkeiten zusammen. Wenn einer sich in der Wirtschaft daneben benimmt, wenn einer in Versammlungen herumstänkert oder einfach an allem etwas auszusetzen hat. So was kommt immer wieder mal vor. Aber das betrifft nicht nur mich, sondern eigentlich so ziemlich jeden im Dorf.«

Dienstag, 10.00 Uhr

Ernst ging weiter, erinnerte sich daran, dass mit entsprechend kleinen Schritten auch die stärkste Steigung einigermaßen schonend zu schaffen war, und folgte dem markierten Weg hinauf. Nach einer Weile bog nach rechts ein zweiter Pfad ab, der ebenso steil wieder nach unten führte – Ernst folgte ihm und blickte sich dabei immer wieder aufmerksam um. Dabei fielen ihm weiter rechts die Überreste eines Jägerstands auf, der umgestürzt im Dickicht lag.

Allmählich näherte er sich wieder dem Waldrand. Die Luft wirkte nun wieder etwas frischer, der Waldgeruch wurde leicht zurückgedrängt, und der Wind, der draußen über die Wiesen blies, war nun lauter zu hören, wie er an den Blättern und Ästen der Büsche und Bäume rüttelte, die die Grenze zu den Wiesen hin markierten.

Der Pfad schien zu enden, aber nach ein paar Schritten um einige abgefallene Äste und etwas Dornendickicht herum sah Ernst ihn wieder vor sich. Nicht auffälliger als ein selten genutzter Wildwechsel zog er sich zwischen den hier etwas lichter stehenden Bäumen hindurch und wies nach wenigen Metern in eine natürlich wirkende Senke hinab, die auf seiner Seite steil und gegenüber etwas sanfter abfiel.

Ernst kletterte die gut zwei Meter Abhang hinunter, rutschte ab und konnte sich im letzten Moment an einem kleinen Baumstamm halten. Die Senke, auf deren weichem, etwas feuchtem Untergrund er nun stand, bildete eine Art Schlucht, die nach Nordosten hin von einem umgestürzten Baum und zum Teil auch von Gestrüpp blockiert war, sich dahinter aber zum Dorf hin öffnete und dort in einen Wiesenweg mit zwei geschotterten Fahrrinnen mündete. Der Weg führte links den Waldrand hinauf und schließlich weiter oben in den Wald hinein. Nach rechts ging es zum Dorf hinunter, wo links des Weges Greiningers Hof und rechts ein kleines Einfamilienhaus den Beginn des Ortes markierten. Er konnte den Hof und das gegenüber stehende Haus von hier aus teilweise sehen. Ein Mann im Anzug stieg gerade aus einer Limousine, die vor Greiningers Hof angehalten hatte.

Wenige Schritte den Weg hinunter zweigte ein kleiner Trampelpfad ab, der dicht am Waldrand recht steil eine drei, vier Meter hohe Böschung erklomm. Ernst suchte auf den ausgetretenen Erdstufen nach Halt und stützte sich vorsichtig mit den Händen an den Grasbüscheln links und rechts ab. Oben auf der Böschung sah er einen alten Bauwagen vor sich, der auf einer ungepflegten Wiese mit langem, braunem Gras stand und zum Wald hin mit einem provisorischen Vordach aus gewellten Eternit- und Kunststoffplatten erweitert war.

An der Tür des Bauwagens hing ein sehr massiv wirkendes Vorhängeschloss, davor lagen zwei ähnliche Schlösser zerbrochen, verbogen und verrostet auf dem Boden. Unter dem Vordach wirkte das Gras wie ein alter, verfilzter Teppich – offenbar war es über lange Zeit hinweg immer wieder niedergetrampelt und nie gemäht worden. Glassplitter und der eine oder andere noch unversehrte Flaschenhals lugten aus dem Schatten unterm Wagen hervor. Weiter rechts lagen Kondome halb verborgen im Gras.

Grinsend wandte sich Ernst von dem Bauwagen ab, schlug sich durch die nasse Wiese wieder zum Waldrand durch und schlüpfte durch eine Lücke im Gestrüpp in den Wald zurück.

»Verdammt!«, entfuhr es ihm. Über seinen Handrücken zogen sich zwei lange Risse, deren Hautränder zunächst etwas blasser wirkten, sich dann ein wenig aufwölbten und sich mit Blut füllten. Ernst schaute zu dem Gestrüpp zurück – zwischen verfilztem Gras, Brennnesseln und wild gewachsenen Apfelbaumtrieben ragte ein einzelner Ast hervor, der ungefähr wie der Stiel einer Rose aussah, allerdings länger, krummer und biegsamer war. An einigen Stellen zweigte ein kleiner Stängel ab, der ein paar spitz zulaufende und am Rand gezackte Blätter trug. Vom Ast selbst spreizten sich nach allen Seiten hin kleine, spitze Dornen ab. Ernst seufzte. Das hatte er seinem Bürojob zu verdanken – an diesen Dornen hätte er sich früher sicher nicht die Hand aufgerissen.

Er machte sich wieder auf den Weg, rieb über die juckenden Striemen und verschmierte dabei etwas Blut. Ein paar Schritte weiter öffnete sich rechter Hand eine kleine Anhöhe, die fast wie eine winzige Lichtung wirkte. Als Ernst oben stand, konnte er weite Strecken seiner bisherigen Wanderung überblicken: Nur an manchen Stellen verdeckt von Büschen und einzelnen Ästen sah er unter sich die schluchtartige Senke, durch die er vorhin aus dem Wald gekommen war. Der Wanderweg den Berg hinauf lag vor ihm. Und wenn er sich umdrehte, sah er zwischen den letzten Blättern am Waldrand hindurch das Wieslauftal vor sich liegen. Auch der Bauwagen, sein Vordach und der Platz darunter waren von hier aus gut zu sehen, während er selbst mehr als hüfthoch von dicht belaubten Büschen verdeckt war. Weiter links, hinter dem Bauwagen, sah er den Greiningerhof liegen. Er sah das Haupthaus, die Scheuer – und den Holzstoß an der Scheunenmauer, vor dem der tote Greininger im Gras gelegen hatte. Das alles konnte er mit bloßem Auge einigermaßen erkennen. Wie genau würde er die Details wohl mit einem Fernglas sehen?

Der Boden unter ihm war fest und trocken. Rund um ihn herum endeten kleinere Büsche in ein, zwei Metern Abstand. Zweige, die in seine Richtung wuchsen, endeten abgeknickt, und nicht weit davon entfernt lagen eingetrocknete Ästchen mit verwelkten Blättern. Seine Schuhe hinterließen auf dem wie gestampft wirkenden Untergrund keine Spuren, aber einige Zigarettenkippen fielen ihm auf. Er nahm eine der kleinen Plastiktüten, die er meistens bei sich trug, aus der Jackentasche, stülpte die Tüte mit geübtem Griff über einige der Kippen und sammelte sie ein, ohne sie mit der bloßen Hand zu berühren.

Auf zwei der Kippen war noch ein verwaschenes »RB« knapp oberhalb des Filters zu erkennen, zwei Buchstaben, die ursprünglich in durchscheinendem Grau fast wie ein Relief auf dem weißen Zigarettenpapier wirkten: »Redfern’s Blend«. Ernst kannte die Marke aus seiner Zeit in Freiburg, dort hatte er eine Weiterbildung gemacht. Tagsüber hatte er für die Polizeiarbeit gepaukt, und abends hatte er in den Freiburger Studentenkneipen lieber kein großes Aufhebens von der Art seines Berufs gemacht.

Dort hatten viele den lose verpackten »Redfern’s«-Tabak gekauft und ihn in diese »RB«-Hüllen gestopft, weil das billiger war und irgendwie auch angesagt. Ernst selbst hatte damit nie viel anfangen können, und seit Jahren waren ihm keine solchen Kippen mehr aufgefallen. Sicher auch, weil Ernst Nichtraucher war – aber trotzdem schienen ihm »Redfern’s« irgendwie nicht zu diesem Dorf zu passen.

Dienstag, 10.15 Uhr

»Wem gehören denn nun die Frauenschuhe draußen auf dem Flur?«, hakte Schneider noch einmal nach.

»Die Schuhe?« Müller sah ihn irritiert an, dann schien ihm der Sinn der Frage langsam klar zu werden. »Meiner Tochter.«

»Wohnt die denn hier bei Ihnen?«

»Nein, leider nicht«, antwortete Müller. »Sie kommt ab und zu her, aber sie will nicht mehr hier wohnen. Nicht einmal über Nacht bleibt sie noch. Ich habe sie schon ein paar Mal drum gebeten, wieder hier einzuziehen, weil sie ja mit ihrer Ausbildung fertig ist. Sie hat sich selbstständig gemacht und könnte ihre Arbeit auch gut von hier aus erledigen. Und mir hätte sie dabei helfen können, meine Frau zu pflegen. Sie hat ihre Mutter wirklich geliebt, die beiden konnten stundenlang die Köpfe zusammenstecken. Aber sie will einfach nicht mehr in Kallental leben.«

»Kann ich verstehen«, meinte Schneider. »Raus aus der Enge, hinaus in die Welt, weg vom Elternhaus – sind so nicht alle jungen Leute?«

Müller sah ihn nachdenklich an, zögerte kurz und sagte dann: »Da haben Sie wohl recht. So wird es sein.«

Er stand auf und trug die Schnapsflasche und das leere Glas in die Küche hinüber. »Wollen Sie sonst noch etwas wissen?«, fragte er, als er wieder im Wohnzimmer stand. »Ich müsste nämlich langsam los. In Rudersberg habe ich ein paar Dinge auf dem Rathaus zu erledigen.«

»Nein, das wäre für den Moment alles. Falls mir noch etwas einfällt, weiß ich ja, wo ich Sie finde.«

Schneider nickte knapp, und Müller begleitete ihn zur Tür. Rechts vor der Haustür stand ein Aschenbecher auf dem Dielenboden. Schneider sah ihn und grinste.

»Dürfen Sie im Haus auch nicht rauchen? Das kenne ich ...«

»Jetzt darf ich ja«, antwortete Müller mit versteinerter Miene.

Schneider schluckte, spürte Hitze in seinem Gesicht aufsteigen, verabschiedete sich schnell und machte, dass er in sein Auto kam.

Dienstag, 10.20 Uhr