Engel trifft man überall - Gisela Rest-Hartjes - E-Book

Engel trifft man überall E-Book

Gisela Rest-Hartjes

0,0

Beschreibung

Nicht von der »göttlichen«, sondern von der menschlichen Weihnacht erzählen diese Geschichten. »Menschlich werden« ist allerdings keine einfache Sache; sehr oft, vielleicht zu oft, ist es ja bereits schiefgegangen. Mindestens ist mit Gottes Menschwerdung offenbar die Rettung der Welt noch keineswegs gelungen. Deshalb beginnen diese Erzählungen mit einem weiteren, neuen Versuch Gottes, diesen Misserfolg wiedergutzumachen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 162

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Franco Rest Gisela Rest-Hartjes

Engel trifft man überall

Geschichten und Gedichte von einer anderen Weihnacht

Karin Fischer Verlag

FÜR MEINE KINDER

Hörst du den Vogelruf, mein Kind,

spürst du des Windes Rauschen,

kannst du der Sehnsucht lauschen

und träumen mit dem Wind?

Kannst du in Menschenaugen

Bruder und Schwester sehn,

willst du mit ihnen gehn –

an einen Schöpfer glauben?

Hörst du die Sterne singen

vom wunderbaren All,

das auf dem Erdenball

in dir will wiederklingen?

Hüte die Sehnsucht gut, mein Kind,

bewahr dein Traumherz dir,

da allzu viele Ketten hier

dem Fliegen abhold sind.

ZUR EINSTIMMUNG

Weihnachten ist zwar ein emotionales und kommerzielles Fest, aber es ist zugleich und immer noch das Fest der wichtigsten christlichen Botschaft: Gott wird Mensch, ohne dadurch sein Gottsein zu verlieren. Vor langer Zeit hatte eben Gott für sich beschlossen, er könne Mensch werden, also einer von uns, einer wie wir. Warum er das tat, ist sein »Geheimnis«, und deshalb verweigern viele Menschen, sich mit dieser Frage zu befassen.

Aber angesichts dieses Beschlusses Gottes wird in uns Menschen mindestens einmal jährlich, nämlich zur Weihnachtszeit oder zum Jahresende, der Wunsch wach, es diesem Gott gleichzutun, der uns ja angeblich ohnehin nach seinem Bilde geschaffen hat. Also reift in vielen von uns, mindestens in jenen, die sich noch an den Ursprung des Festes erinnern, der Wunsch, doch auch »menschlich« zu werden! – Davon, also nicht von der »göttlichen«, sondern von der menschlichen Weihnacht erzählen die folgenden Geschichten.

»Menschlich werden« ist allerdings keine einfache Sache; sehr oft, vielleicht zu oft, ist es ja bereits schiefgegangen. Mindestens ist mit Gottes Menschwerdung offenbar die Rettung der Welt noch keineswegs gelungen. Deshalb beginnen unsere Erzählungen mit einem weiteren, neuen Versuch Gottes, diesen Misserfolg wiedergutzumachen.

Vielleicht noch ein Wort zu uns, den beiden Verfassern: Frau Gisela Rest-Hartjes war ca. 25 Jahre lang überzeugte Lehrerin; dann ereilte sie eine schwere Krankheit; die verbliebenen Kräfte investierte sie in Poesie, Lyrik und Erzählungen (bis es nicht mehr ging); und sie begründete in Deutschland die Poesietherapie. Franco Rest war bis zu seiner Entpflichtung Professor für Erziehungswissenschaften und Sozialphilosophie/Sozialethik; er gehört zu den Gründungsvätern der deutschen Hospizbewegung, was sich inzwischen auch in seinen Gedichten und Erzählungen niederschlägt.

MENSCHLICH

Es war wohl die beste Idee,

die Gott jemals hatte

nach der Erschaffung der Welt,

nämlich menschlich zu werden,

um die Welt zu retten

vor sich selbst;

denn das wäre wohl auch

für die Menschen die beste Idee

nicht nur für Christen,

sondern für Juden, Muslime

und all die anderen,

nämlich menschlich zu werden;

denn Humanitas heißt eben nicht nur

Menschheitseinheit,

Menschenwesentlichkeit und

Menschengemäßheit,

sondern immer noch und vor allem

Menschlichkeit.

DER STURZ DER ENGEL

Bei den letzten internationalen Fangabkommen

wurden ausdrücklich

die Engel zum Abschuss freigegeben.

Auf der Börse haben Engelsflügel,

Engelaugen und Engelhaare –

auch Engelsherzen sind gefragt –

schon im Voraus einen hohen Preis.

Um ihre Verwertung streiten

die Ökonomen mit den Ethnologen,

die Botaniker mit den Zoologen,

die Mediziner mit den Soziologen,

die Astronauten mit den Astrologen,

die Zyniker mit den Meteorologen,

die Esoteriker mit den Theologen.

Einige armselige Poeten, immer noch

auf Beflügelung durch die Musen hoffend,

wollen demnächst mit Engelsfedern schreiben –

sie trainieren jetzt Bodybuilding,

um den leichten Federn

schweren Nutzen abzutrotzen.

Erst vorgestern wurde ein berühmter Wissenschaftler

ins psychiatrische Krankenhaus eingeliefert.

Man munkelt, er habe einen Engel gesehen,

der zur Tarnung die Gestalt eines

unscheinbaren Kindes angenommen hatte.

In Kalifornien soll man versucht haben,

ob sich ein Kind nach Abschuss

in die bekannte Engelsform zurückverwandelt.

Über die Ausbeute ist noch nichts bekannt.

Es soll nur ein Erdbeben mittlerer Stärke

im Zentrum von Los Angeles

gemeldet worden sein.

Zusammenhänge jeglicher Art

werden heftig bestritten.

Bei den letzten internationalen Fangabkommen

wurden ausdrücklich

die Engel zum Abschuss freigegeben.

EIN ZWEITER VERSUCH ZUR RETTUNG DER WELT

»Weihnachten«, flüsterte der Regenwurm zur Amsel, ehe diese ihn fraß, »enthält für mich zwei besondere Unklarheiten: Warum wurde Gottes Sohn ausgerechnet Mensch, um die Welt zu retten? Und warum standen an der Krippe nur ein Ochse und ein Esel?«

Aber, wie gesagt, zur Beantwortung kam dieser Regenwurm-Philosoph nicht mehr, weshalb wir die aufgeworfenen Fragen an seiner Statt neu stellen wollen.

Nehmen wir einmal an, es gäbe eine Versammlung der Tiere zusammen mit dem Menschen und es würde dort die eigentlich ja müßige Frage diskutiert, ob es nicht besser gewesen wäre, Gottes Sohn wäre nicht als Mensch Fleisch geworden. Schließlich erinnert diese Frage an jene Konferenz, als der Mensch bei der Klärung der Rangfrage unter den Tieren herbeigezogen wurde. Befragt, nach welchem Maßstab er als Schiedsrichter die Rangfrage klären würde, hatte der Mensch geantwortet: »Nach dem Nutzen für mich.« Damals hatte der Löwe den Menschen aus der Versammlung vertrieben, weil er sofort erkannte, dass er bei solchen Maßstäben wohl erheblich unter dem Esel würde rangieren müssen.

Bei dieser neuen Konferenz würde zum Beispiel nach dem Nutzen einer Menschwerdung Gottes für die übrige Welt gefragt. »Es reicht ja wohl schon, dass die Menschen kein Mittel finden, ihre eigene Vermehrung zu bremsen«, würde wohl eines der aussterbenden Tiere sagen; »wozu soll es dann gut sein, dass auch Gott selbst noch Mensch wird?« – »Und außerdem«, fügt vielleicht die Kuh hinzu, »hat der Mensch uns alle immer nur nach seinem Nutzen eingeschätzt und also geschlachtet, gemolken, uns das Fell abgezogen und selbst unser Skelett noch verwertet.«

»Das muss nicht unbedingt gegen ihn sprechen«, könnte der Tiger einwenden, »aber dass er dies ohne Bedürftigkeit tat, grenzt geradezu an untierisches Verhalten«. – Bei allen Überlegungen kämen die Tiere wohl dazu, Einigkeit darüber zu erhalten, dass es völlig unnötig sei, wenn jener Gott, der sie alle doch geschaffen hat, ausgerechnet Mensch würde. An der Notwendigkeit einer Rettung der Welt sei ja wohl kaum zu zweifeln, aber doch wohl nicht an eine Rettung durch den Menschensohn, sondern vor den Menschen.

Vielleicht würde der Mensch an dieser Stelle in der Versammlung das Wort ergreifen: »Wenn die Menschen schon schuldig geworden sind an der Welt, warum sollten sie nicht wenigstens die Chance erhalten, den Schaden wiedergutzumachen?« Schuld verlange doch geradezu nach Sühne und Reparation.

Dem könne man ja wohl kaum widersprechen, würde vielleicht der Elefant einräumen, aber weitere Diskussionen müssten sich erübrigen, da ja die Menschen diese Chance bereits gehabt und vertan hätten. »Wir sollten wohl mehr darüber diskutieren, ob und wie eine zweite Inkarnation Gottes erfolgen könnte! Nach meinem Wissen würde sich zum Beispiel der Walfisch anbieten; er besitzt mehr Intelligenz als die Menschen, hat sein Reich bislang weitgehend in Ordnung gehalten, lässt keine Ansätze dazu erkennen, dass jemals ein Walfisch auf den Gedanken käme, einen anderen Walfisch zu kreuzigen, und er würde auch kaum jemals aus einer Inkarnation Gottes bei den Walfischen einen Kult machen.«

In diesem Augenblick könnte sich die gemeine Stubenfliege melden. Schließlich sei völlig sicher, dass eine ihrer Vorfahren bereits bei der ersten Inkarnation anwesend gewesen sei, ohne dass dies groß in den Berichten aufgezeichnet worden wäre. Aber in der Familie der Stubenfliege seien die Erzählungen der Vorfahren diesbezüglich immer hoch- und heiliggehalten worden. Ihr sei nun etwas ganz Wesentliches aufgefallen.

»Immer wieder treten die ohnehin dominanten Tiere in den Vordergrund, wenn es um wirklich wichtige Dinge geht, wie zum Beispiel die Rettung der Welt vor den Menschen.« Eigentlich sei damals vor genau 2.000 Jahren bereits völlig klar gewesen, wie das weitergehen sollte. Und damit beantworte sich auch die zweite Frage des Regenwurms. »Damals waren ein Maulesel und ein Ochse (neben meinen eigenen Vorfahren) Augen- und Ohrenzeugen, als Gottes Sohn Mensch wurde. Sie sind die vom Menschen am tiefsten gedemütigten unter uns Tieren. Sie sind die von Anbeginn auserwählten für die zweite Inkarnation.«

Die Lösung verwirrte viele der Anwesenden. Konnte Gott sich in zwei Tieren gleichzeitig verkörpern? Aber er hatte ja auch zwei Menschen, Mann und Frau, als seine Ebenbilder geschaffen, damals, als er die Welt erschuf. Und könnte Gott sich beim zweiten Mal tatsächlich solcher Trottel bedienen, wie es der Maulesel und der Ochse doch zweifellos sind?

Ganz schüchtern und demütig äußerte sich der Ochse selbst: »Wie wäre es, wenn wir die Klärung dieser Frage Gott selbst überließen?« Und der Maulesel fügte hinzu: »Gebt mir eine Botschaft für ihn; ich bringe euch die Antwort, sobald ich sie habe!«

Die Tiere und sogar der Mensch waren mit der Idee einverstanden. Seit dieser Zeit wartet die Welt auf die Wiederkehr eines Maulesels. Die meisten Menschen haben diese Hoffnung sehr schnell wieder vergessen und sind immer noch damit beschäftigt, sich selbst für wichtiger als alles andere zu halten, nur weil einmal Gott ausgerechnet Mensch geworden ist. Aber darum kümmern sich weder die anderen Tiere noch auch Gott selbst.

ER LACHT

Wenn du das Jesuskind zum Lachen bringen willst,

erzähl ihm deine Pläne.

Doch wenn du dann sein Lachen hörst,

vergieße keine Träne.

Denn wenn es so ausführlich lacht

ob deiner Phantasien,

verzeiht dir Gott vielleicht sogar

noch weitre Häresien.

DER VERLORENE SOHN

Frau Kramer erwachte aus der Narkose und öffnete ihre Augen. Es beugte sich sofort jemand über sie und fragte, wie es ihr ginge, doch sie antwortete nicht. Erstaunt und etwas feindselig betrachtete sie den jungen Mann mit dem grünen Kittel, einer grünen Haube und einem beiseitegeschobenen Mundschutz. Er lächelte sie an und berührte sanft ihre rechte Hand. Nun bemerkte sie, dass von ihrer linken Hand ein Schlauch zu einer Flasche mit einer klaren Flüssigkeit ging, die an einem Ständer neben ihrem Bett hing. Sie musste in einem Krankenhaus sein, konnte sich aber nicht erinnern, wie sie hierhergekommen war. Was war geschehen? Ihren Körper konnte sie nur teilweise spüren, über ihre Beine schien sie keine Macht zu haben. Frau Kramer schloss die Augen und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.

»Sie können bald wieder laufen«, hörte sie den Pfleger sagen, »der Bruch an ihrem Bein war nicht sehr schlimm, Sie haben Glück im Unglück gehabt.«

Ein Bein war also gebrochen! Wie war das nur passiert? Frau Kramer hörte plötzlich wieder die Stimme ihres Sohnes. Seit Tagen hatte sie auf ihn gewartet, hatte gehofft, er möge zu ihr zurückkommen, gleichzeitig hatte sie Angst vor seinen Tobsuchtsanfällen, wenn er betrunken war. Ihr Mann war im Krieg gefallen, und sie hatte die beiden Kinder alleine großziehen müssen. Die Tochter hatte geheiratet und eine eigene Familie gegründet, aber der Sohn war bei ihr geblieben. Er hatte zwar hin und wieder eine Freundin, aber das war nie sehr lange gut gegangen. Frau Kramer hatte alles für ihren Sohn getan, nun konnte sie seine Lieblosigkeit, seine Unstetigkeit auch im Beruf nicht verstehen. Doch je mehr sie sich an ihn klammerte, umso öfter blieb er Tage und Nächte einfach fort.

Doch ja, er war ja zurückgekehrt, allerdings völlig verdreckt und betrunken. Er war in die Wohnung mehr gestolpert als hineingekommen, hatte sie kaum angesehen und war auf sein Bett gesunken, so wie er war, ohne sich zu waschen oder auszuziehen.

Frau Kramer wurde unruhig und wollte aufstehen. Der Pfleger neben ihrem Bett legte beruhigend seine Hand auf ihren Arm: »Schlafen Sie ruhig, es ist alles in Ordnung. Ich werde mich um Sie kümmern.«

War das ihr Sohn, der da sprach? So ruhig hatte Frau Kramer ihn schon lange nicht mehr reden hören. So hatte sie seine Betrunkenheit nur geträumt, und er war gekommen, weil er sich um sie kümmern wollte? Er hatte nicht nach Geld verlangt! – Ein entspanntes Aufatmen ging durch ihren ganzen Körper, und sie überließ sich einem tiefen Schlaf.

Der Pfleger schob ihr Bett so sanft wie er konnte aus dem Operationsbereich hinaus, stieß wirklich an keine der tückischen Wandecken, nicht einmal, als er mit dem Bett in den Aufzug hinein musste. Frau Kramer erwachte auch nicht, als ihr Bett auf der Station 3 B in das Zimmer 24 geschoben wurde, wo eine Pflegerin die Obhut übernahm.

Stunden später – Frau Kramer hatte jedoch das Zeitgefühl verloren – saß die Tochter an ihrem Bett und wartete auf den Augenaufschlag der Mutter. Diese war wieder unruhig geworden und begann zu reden. Die Tochter verstand nur Bruchstücke: »Günter … allein … Essen ist … wo …«

»Ich bin’s, Mutter, schau mich an, du bist im Krankenhaus.« Frau Kramer öffnete ihre Augen. Sahen sie, was sie nicht sehen wollten? Ihr Gesicht verhärtete sich und die Stimme wurde herrisch, als sie ihre Tochter anfuhr: »Was ist mit Günter? Warum hast du ihn fortgeschickt? Er konnte doch nicht mehr laufen, und ich muss ihn pflegen.«

Die Tochter spürte Zorn und Trauer in sich hochsteigen.

»Günter hat dich auf der Treppe liegenlassen, als du für ihn zum Kaufmann laufen wolltest und ausgerutscht bist. Die Nachbarn haben den Unfallwagen bestellt. Günter hat ja noch nicht einmal seinen Rausch ausgeschlafen.«

Frau Kramer ließ die Worte an sich vorbeirauschen, als gelten sie jemand anderem.

»Günter ist nebenan. Er schläft, und du machst zu viel Lärm. Gehe jetzt lieber, ich werde mich schon um ihn kümmern.«

Frau Kramer sah ihre Tochter bei diesen Worten nicht an, und diese ging hinaus und weinte.

Günter besuchte seine Mutter auch in den nächsten Wochen nicht. Frau Kramer machte zwar Fortschritte in der Gesundung ihres Körpers, doch hatte sie offensichtlich beschlossen, in eine weit zurückliegende Zeit zu flüchten.

Als die Entlassung aus dem Krankenhaus kam, hatte die Tochter einen Pflegeheimplatz in der Nähe ihrer Wohnung gesucht, mit schwerem Herzen und voller Vorwürfe gegen ihren Bruder und sich selbst. Verstandesmäßig wusste sie, dass sie ihre Mutter neben ihrem Beruf nicht pflegen konnte, und sie hatte sich viel Mühe gegeben, ein freundliches Heim auszusuchen, aber sie hatte das Gefühl, ihre Mutter zu verraten, wobei sie sich gleichzeitig selbst verraten und verlassen fühlte.

Der Einzugtag ins Pflegeheim war ein trüber Dezembertag. Frau Kramer war sehr unruhig und fragte mehrfach danach, ob ihr Sohn die Wohnung hergerichtet habe und auf sie warte. Die Tochter wagte keine Aussagen über ihren Bruder, sie berichtete nur von einer neuen Bleibe in einem schönen großen Haus. Frau Kramer reagierte recht mürrisch und machte es niemandem leicht, weder den neuen Betreuerinnen und Betreuern noch ihrer Tochter oder sich selbst. Ihre neue Zimmergefährtin, die sie erwartungsvoll begrüßte, wurde nicht eines einzigen Blickes gewürdigt. Ihre Habseligkeiten wollte sie für den kurzen Aufenthalt, wie sie sagte, gar nicht erst auspacken lassen.

Es wurde ein trüber Advent. Die Tochter schaute täglich zu ihrer Mutter und wurde täglich entweder wie eine Fremde oder gar nicht beachtet, und die alte Frau reagierte von Tag zu Tag aggressiver auf ihre Mitmenschen. Wenn die Pflegerin nicht vor Weihnachten eingegriffen und der Tochter bis zum Fest jeden Besuch ausgeredet hätte, hätte diese vielleicht Weihnachten mit einem Nervenzusammenbruch erlebt.

Einen Tag später wurde die Zimmergefährtin von Frau Kramer krank und wollte nicht mehr aufstehen. Frau Kramer betrachtete interessiert, wie man sich um die Kranke kümmerte, und übernahm bereits nach einem halben Tag einen Teil der Pflege, wie Getränke einschütten, den Kopf beim Trinken unterstützen und ähnliche Handlungen.

Am Heiligen Abend wurde eine kleine Weihnachtsfeier veranstaltet, zu der die Tochter von Frau Kramer mit bangem Herzen erneut das Haus betrat. Alle Heimbewohnerinnen waren in einem Gemeinschaftsraum versammelt, nur ihre Mutter sah sie nicht. Sie ging, von Weihnachtsklängen begleitet, den Gang hinunter, wo die Zimmertüre weit offen stand. Drinnen fand sie ihre Mutter mit seltsam weichen Gesichtszügen am Bett der kranken Gefährtin sitzen, wobei sie deren Hand hielt und ihr hin und wieder mit einem feuchten Waschlappen das Gesicht kühlte.

Beim Eintreten der Tochter strahlte Frau Kramer, legte jedoch gleich einen Finger auf den Mund und sagte: »Ich wusste, dass Günter Weihnachten zu mir kommen würde. Er ist aber krank, und ich muss ihn pflegen.« Dabei schaute sie zum ersten Mal nach langer Zeit ihrer Tochter klar ins Gesicht, und diese hörte voller Erstaunen ihren richtigen Namen ausgesprochen: »Es ist schön, dass du gekommen bist, Erika, so sind wir nach langer Zeit wieder an einem Weihnachtsfest versammelt. Dies ist das schönste Weihnachten seit vielen Jahren, aber jetzt kannst du ruhig zu deinem Mann und deinen Kindern gehen. Grüße sie von mir, hier braucht mich jetzt dein Bruder.«

Mit diesen Worten wandte sich Frau Kramer der kranken Zimmergefährtin zu, nahm deren Hand in ihre und streichelte sie.

GOTT UND MENSCH

Gott schuf die Augen

Der Mensch das Bild

Gott schuf die Ohren

Der Mensch die Musik

Gott schuf den Mund

Der Mensch die Sprache

Gott schuf die Nase

Der Mensch das Parfum

Gott schuf die Kopulation

Der Mensch die Liebe

Gott schuf die Verdauung

Der Mensch die Speise

Gott schuf die Schweißfüße

Der Mensch das Wandern

Gott schuf die Schmerzen

Der Mensch das Gedicht

GOTT DER DUNKELHEITEN

Ihr Kopf erschien ihr groß und schwer wie ein aufgeblasener Stein. Ja, genau so unwirklich, unvorstellbar und unbeschreiblich war dieses Gefühl. Sie traute sich nicht, ihn zu bewegen, und lag ganz still auf der harten Pritsche.

Wo war sie überhaupt, und warum war sie hier?

Sie versuchte, sich über ihre Lage klar zu werden, wobei ein bitteres Lächeln bei dem Wort »klar« sich um ihren Mund legte. Seit Stunden, Tagen – sie hatte jedes Gefühl für Zeit verloren – war sie in dieser Zelle ohne Tageslicht, aber mit der »blauen Klarheit« starker Scheinwerfer, eingesperrt. Die Veranlasser hofften wohl, dadurch ihren Widerstand zu brechen und Aussagen über Freunde, irgendwelche Zugeständnisse oder Geständnisse von ihr zu erlangen. Jeder ihrer Schritte, jede Bewegung wurde überwacht, jede Handlung, auch die, die Notdurft zu verrichten, genauestens kontrolliert.

Wann war sie hier hineingebracht worden? Welche Jahreszeit war draußen? War bereits der erste Schnee gefallen?

Sie versuchte, in Gedanken dieser zeitlosen, grellen Helligkeit zu entfliehen. Als Kind hatte sie sich vor der Dunkelheit gefürchtet, da Verdunkeln-Müssen im Krieg mit Luftangriffen gleichbedeutend war. Vor allem die dunkle Enge der Keller war schrecklich gewesen. Später hatte ihr Bruder sie immer begleiten müssen, wenn etwas im Keller zu besorgen war. Jetzt hatte sie Licht und Helligkeit ohne Ende. Sie hatte von dieser Art der Folter gehört, hatte sich nie wirklich vorstellen können, wie grausam totales Licht sein kann. War ein langer Tag in der Wüste so? Die Wüstenbewohner bedeckten sogar oft ihre Augen vor der Helligkeit der Sonne.

Sie hatte nichts, um zu bedecken, sie hatte nur das Notwendigste am Leib. Die Handflächen versuchte sie als Schutz zu nehmen und die Augen damit abzudecken, aber das war nicht lange durchzuhalten. Sie hielt die Augen fest zugekniffen, aber trotzdem drang die Helligkeit, diese kalte Helligkeit um sie herum, durch die Augenlieder ins Gehirn und schmerzte.

Manchmal wechselte das Licht von der Dauerbestrahlung zu einem grellen Flackerlicht in Sekundenabständen. Jedes Mal schnitt es wie ein Messer durch ihren Kopf. Sie konnte an nichts mehr denken. Von draußen drang selten etwas durch die Zellenwände. Jede Zeitbezogenheit und alles Menschliche waren ausgeschaltet. Vor dieser Grelle gab es kein Entrinnen, es verbrannte einem jeden noch so versteckten Winkel im Gehirn. Sie war überzeugt, wenn sie hier lebend herauskäme, nicht mehr sehen zu können. Sie konnte sich schon jetzt keine Farben mehr vorstellen, alles war nur weiße, grelle Helligkeit.

»Herr Gott, lass nur ein Eckchen deines Schattens auf mich fallen, nur ein winziges Eckchen würde für mich reichen!«

Wie lange sie so gelegen hatte, wusste sie nicht mehr, die Sinne waren ihr geschwunden. Sie kam wieder zu sich, weil jemand an ihren Schultern rüttelte. Schlafen war barmherzig, und Barmherzigkeit war nicht vorgesehen. Die Grelle war immer noch vorhanden und schnitt mit noch mehr Messern als vorher ins Gehirn.

Sie versuchte, sich aus ihrem Körper zurückzuziehen. Das, was da in der kalten, grellen Zelle geschah, hatte nichts mehr mit ihr zu tun.

Aber irgendwann, für sie ganz unvermutet, trat eine Änderung ein: Das Licht wurde ausgeschaltet!