Engelsleid - Inka-Gabriela Schmidt - E-Book

Engelsleid E-Book

Inka-Gabriela Schmidt

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Beschreibung

Laura fühlt sich von ihren Freundinnen verraten. Hatten sie einander nicht geschworen, das Leben in allen Facetten zu genießen, statt zu heiraten? Doch ausgerechnet auf einer dieser Hochzeiten lernt Laura Giuseppe kennenlernt, den attraktiven Nachfahren des Grafen Orsini, der vor rund vierhundert Jahren in Bomarzo einen Park geheimnisvoller Steinskulpturen anlegte. Giuseppe überzeugt Laura davon, dass dieser Park einen Artikel in dem Reisemagazin verdient, für das sie als Journalistin arbeitet und nur zu gerne folgt sie seiner Einladung. Da erscheint eines Nachts in ihrem Zimmer ein Mann, der sie vor Giuseppe warnt, der mit ihrem Blut Dämonen aus den Skulpturen befreien wolle. Damit nicht genug, behauptet der Fremde auch noch, ein Engel zu sein. Wem soll Lauera Glauben schenken und ist wirklich ihr Leben in Gefahr? Oder sind alle um sie herum völlig übergeschnappt?

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Seitenzahl: 311

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Ein Auftrag für die Nephilim
Flucht vor der Bestimmung
Verkannte Gefahr
Finales Chaos
Engelskinder
Der Monsterpark

Engelsleid

Inka-Gabriela Schmidt

Engelsleid

Inka-Gabriela Schmidt

ELYSION-BOOKS

Print; 3. Auflage: Januar 2023

eBook; 3. Auflage: Januar 2023

VOLLSTÄNDIGE AUSGABE

ORIGINALAUSGABE

© 2023 BY ELYSION BOOKS GMBH, LEIPZIG

ALL RIGHTS RESERVED

UMSCHLAGGESTALTUNG: Inka-Gabriela Schmidt

ISBN (gedrucktes Buch) 978-3-96000-224-6

www.Elysion-Books.com

Prolog

Die Sache erlaubte keinen längeren Aufschub. Noch nie in den vergangenen Jahrhunderten war die Gelegenheit so greifbar gewesen. Dabei suchten sie schon lange. Viel zu lange. Andererseits, was waren schon ein paar Jahrhunderte im Angesicht der Ewigkeit. Sie existierten länger als diese Menschen, diese Fehlentscheidung Gottes, und länger als manches Getier auf der Erde. Und würden ihnen nicht dauernd diese Gottesgetreuen in die Quere kommen, wären sie schon längst die Herren über das gesamte Universum.

Umso mehr galt es zu handeln. Der Chef wurde immer ungeduldiger, und es war nicht zu leugnen, dass dies berechtigt war. Denn die Dringlichkeit, die Kinder der Engel zu finden, hatte an Brisanz zugenommen. Noch nie in den vergangenen Jahrhunderten war die Konstellation der Planeten so günstig gewesen, den gottverdammten Fluch zu brechen.

Alles passte zusammen. Die geballte Magie des Universums würde ihnen zur Verfügung stehen und sie würden ihresgleichen befreien – wenn bald, sehr bald, das dazu noch fehlende Blut zur Verfügung stand. Denn ohne diesen kostbaren Lebenssaft der wenigen besonderen Wesen, die der Schlüssel zur Befreiung der anderen, und damit zu unbegrenzter, unendlicher Macht waren, würde der Fluch nicht gebrochen werden. Niemals.

Die ganze Welt hatten sie durchkämmt. Jahrhundert um Jahrhundert. Wann immer sie sich ihrem Erfolg nahe wähnten, erlitten sie einen neuen herben Rückschlag. Es war zum Verzweifeln. Zwei Schritte vor und eineinhalb zurück. Das Ziel vor Augen, zum Greifen nahe, aber im nächsten Augenblick eine zerplatzende Seifenblase.

Hilfreiche Anhaltspunkte gab es nicht. Die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen zu suchen, würde kaum schwieriger sein.

Fünfhundert Jahre lang waren sie nun schon unermüdlich auf der Suche. Von Alaska bis Feuerland, von Grönland bis Kamtschatka, auf allen fünf Kontinenten und jeder noch so kleinen Insel. Im Großen und Ganzen hatten sie gelernt, die Ungeduld zu kontrollieren, die sie angesichts der vielen Misserfolge wütend machte. Ihre Stunde würde kommen. Aber ab und an geschah etwas, was auf ihre eigene Unbeherrschtheit zurückzuführen war. Dann bebte die Erde, spuckten Vulkane glühende Lava, verwüsteten Tsunamis die Meeresküsten.

Wie dumm die Menschheit war. Sie lernte einfach nichts dazu und begriff überhaupt nicht, dass ihre technischen Errungenschaften ihr ebenso wenig nützten wie Gebete an die diversen Gottheiten, die im Laufe der Geschichte favorisiert wurden. Denn wenn einer von Sariels Gefährten oder Satan persönlich die Nerven verlor und zuschlug, dann war die teuflische Magie nun mal stärker als die Natur.

Die vielen Religionen, die seit Jahrtausenden ihre Angehörigen um sich scharten, schützten die Menschen nicht vor dem Untergang. Wo waren die Götter der Ägypter, der Römer, der Azteken geblieben? Inzwischen waren sie überholt, vergessen, Staub und Geschichte, abgelöst von einigen wenigen Weltreligionen, von denen jede mit Angst und Schrecken versuchte, ihren Status zu verbessern. Ging es den Menschen dabei besser?

Nein.

Ihm war unverständlich, warum sie nicht begriffen, dass sich diese Religionen kaum voneinander unterschieden. Selbst die verfluchten Engel, die der erschaffen hatte, dessen Namen keiner von ihnen auszusprechen wagte, wurden unter verschiedenen Existenzen verehrt.

Die Menschen schienen nicht zu verstehen, dass ihre Glaubensrichtungen auf derselben Basis gründeten. Zu eben dieser Basis zählte aber auch die andere, die dunkle Seite, der er angehörte, und die ebenfalls Teil jeder dieser Religionen war.

Zufrieden lächelte er vor sich hin. Er war einer der Auserwählten, die sich mit Geschick und Diplomatie, die Vorlieben der Menschen ausnutzend, in ihr Leben schleichen sollten.

Selig reckte sich Sariel und ließ mit grimmigem Lächeln seinen Blick über das weite Land schweifen, das sich unter ihm erstreckte. Bald, sehr bald würde dies alles ihnen gehören. Für immer und ewig. Dann wäre Schluss mit der Freiheit der Menschen, Schluss mit ihren Religionen, Schluss mit Politik und Paktieren, Schluss mit ihrem armseligen Alltag, der erfüllt war von Missgunst und Geldsucht. Dann würde es nur noch eine Herrschaft geben, die der Dämonen, und er selbst würde daran einen nicht unerheblichen Anteil erhalten. Das würde er sich auf keinen Fall nehmen lassen. Wenn er seine Sache gut machte – und daran zweifelte er keine Sekunde – dann würde er sich eine einflussreiche Position sichern.

Denn er würde nicht versagen wie so viele andere vor ihm, die nun in den tiefsten Schluchten der Hölle für eben dieses Versagen litten.

Ihm würde das nicht passieren.

Niemals.

Die Trauzeugin

Trauzeugin? Ein unwilliges Knurren entwich Lauras Kehle, als sie die Post öffnete. Janine hatte es sich nicht nehmen lassen, ihrer Freundin eine Einladung zu ihrer Hochzeit zu schicken, einfach nur, damit Laura sehen konnte, wie schön diese geworden war.

Wie viele Einladungen zu Hochzeiten Laura in den letzten zwei Jahren erhalten hatte, konnte sie nicht mehr zählen, und sie wollte es auch nicht wissen. Gefühlt waren es eindeutig zu viele.

Nein, selbst wenn Laura gerade einen festen Freund hätte, einen der ihren Vorstellungen genügte, so würde sie ihn auf keinen Fall heiraten. Was sollte das schon bringen, außer einer sündhaft teuren Feier und idealistischen Versprechungen, von denen keiner der Beteiligten vorhersehen konnte, ob er oder sie diese ein Leben lang einhalten würde? Negativbeispiele gab es schließlich zu Genüge.

Treu in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod Euch scheidet. So ähnlich hieß es doch? Wie hochtrabend, wie unrealistisch! Hatte man nicht längst Studien durchgeführt, die belegten, dass die genetische Entwicklung des Menschen keine monogame Partnerschaft vorsah? An je mehr Weibchen ein Männchen seinen Samen abgab, desto größer und sicherer war das Überleben der Nachkommenschaft. Wenn schon Darwin bewiesen hatte, dass Menschen und Affen auf dieselben Urahnen zurückgingen, wieso sollte sich das Verhalten menschlicher Männchen dann so viel von Affen unterscheiden?

Nun, und auch für die Weibchen vieler Spezies hatte das Paaren mit mehreren männlichen Partnern Vorteile. Schützte es doch die Nachkommen vor Mord, wenn der Mann nicht genau wusste, ob es vielleicht seine eigenen waren. Und selbst gesetzt den Fall, dass der Mensch in seinem Verhalten eine Ausnahme bilden sollte, so war von der Evolution niemals vorgesehen, dass er ein Alter erreichen würde, das weit über den biologischen Zweck hinausging, Kinder in die Welt zu setzen und großzuziehen. Es machte eben einen Unterschied, ob man zehn bis zwanzig Jahre einem Partner treu bleiben sollte, oder mehr als das Doppelte.

Missmutig starrte Laura die edel gestaltete Faltkarte an. Silberner Reliefdruck auf Perlmutt schimmerndem Karton sorgte für die gewünschte Aufmerksamkeit und die Eleganz, die dem Anlass mehr als angemessen war. Das Brautpaar (oder vielleicht auch die Brauteltern) würde keine Kosten und Mühen scheuen, ihrer Eheschließung einen unvergesslichen Rahmen zu geben.

Eigentlich hatte Laura ihren Schock über die Hochzeitspläne von Janine ja damals schon überwunden, als ihre beste Freundin sie gebeten hatte, Trauzeugin zu werden. Janine und Lorenzo waren seit über einem Jahr ein Paar. Aus dem ursprünglichen Urlaubsflirt war eine herzzerreißende Liebesgeschichte geworden, die nun ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Lorenzo war seiner Janine nachgereist, hatte ihretwegen sogar Deutsch gelernt und sich einen Job in ihrer Stadt gesucht.

Zugegeben, die beiden passten hervorragend zusammen. Janines Zukünftiger war ein sympathischer und gebildeter Mann mit guten Manieren. Aber mussten die beiden deswegen heiraten? Ohne Trauschein zusammenzuleben, war doch viel unkomplizierter und kostensparender, wenn die Beziehung eines Tages in die Brüche ging.

Aber so pessimistisch dachte ja niemand. Uns passiert das nicht, wir bleiben ewig zusammen, denn wir sind wie füreinander geschaffen, hörte Laura noch Janines Stimme, wenn sie an ihr letztes gemeinsames Kaffeetrinken zurückdachte.

Am Schlimmsten waren diejenigen unter ihren Freundinnen, die ziemlich bald nach ihrer Heirat Mutter wurden. Ab diesem Zeitpunkt sprachen sie über nichts anderes mehr als die ersten Zähnchen und das erste Glas Brei nach der Muttermilch oder die Qualen des ersten Schnupfens.

Wofür hatten sie eigentlich Abitur gemacht und einen Beruf erlernt? Schrumpfte das Mummy-Brain bei der Geburt des Kindes, damit diese nicht auf dumme Gedanken kam, sondern sich völlig auf den Sprössling konzentrierte?

Das war jedenfalls nicht Lauras Welt. Falls überhaupt ein Kind – was sie sich bisher nicht vorstellen konnte – dann würde sie dieses frühestens mit Mitte dreißig bekommen. Vorher hieß ihre Devise: Das Leben in vollen Zügen genießen, ohne Abhängigkeiten und Verpflichtungen. Na ja, wenigstens teilweise. Schließlich gab es ja noch etwas von größerer Bedeutung, dem ihre Zielstrebigkeit galt: Karriere. Sie wollte es wenigstens zur Chefredakteurin einer großen Zeitung bringen.

Dass Hochzeiten bei ihr nicht hoch im Kurs standen, lag auch am Mangel geeigneter Kandidaten, obwohl Laura sich das nicht gerne eingestand. Ihre längste Beziehung hatte ein dreiviertel Jahr gedauert, nicht gerade besonders lange, und manchmal glaubte Laura fast, sie sei nicht für ein Zusammenleben geeignet. Dabei hatten ihre Eltern ihr eine vorbildliche, harmonische Ehe vorgelebt, bis Karl Dennerwein vor vier Jahren überraschend an einem Herzinfarkt verstorben war.

Aber Laura war nicht blind. Wo sie hinschaute, gleichgültig ob in Promi-Ehen oder die der durchschnittlichen Bevölkerung, es kriselte in fast jeder Ehe, und wenn Laura die Beziehungen ihrer Freundinnen analysierte, so gab sie kaum einer davon mehr als zwei Jahre, bis diese sich wieder von ihrem Mann getrennt haben würde.

Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen, außer in sexueller Hinsicht. Das ist gelegentlich recht amüsant und erquicklich, dachte sie.

Laura fühlte sich aber auch ein wenig deprimiert. Sie war jetzt achtundzwanzig, die Schwelle zu dreißig rückte unaufhaltsam näher.

Dabei hatte sie ihre Zeit gut genutzt, hatte Literaturwissenschaften studiert, diverse Praktika in Verlagen absolviert und schließlich einen tollen Job bei einem international erscheinenden Reisemagazin ergattert. Neben Englisch und Französisch sprach sie fließend Italienisch, dazu in Grundzügen Spanisch und Portugiesisch. Fähigkeiten, die ihr auf diversen Auslandsreisen entgegen kamen. Sollte es eines Tages notwendig sein, würde sie auch andere Sprachen erlernen, vielleicht Finnisch und Schwedisch, um auch mal im Norden Europas zu recherchieren oder zu arbeiten.

Ihr Sprachtalent schien ihr angeboren. Weder Wortschatz noch Grammatik bereiteten ihr Schwierigkeiten. Wäre sie nicht zu faul, sich intensiver damit zu befassen, hätte sie Dolmetscherin werden können.

Kein Mann, keine Lügen, kein Liebeskummer. Sollten die anderen sich doch in ihr Unglück stürzen, Janine inklusive. Laura befand, sie würde es gelassen abwarten, wann die erste ihrer Freundinnen die Scheidung verkündete. Ich hab’s euch doch schon vorher gesagt ... würde sie dann antworten und ein bisschen, nur ein kleines bisschen Schadenfreude empfinden. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Trotzdem war zu überlegen, was sie diesmal anziehen würde. Zu jeder zweiten Hochzeit hatte sie sich etwas völlig Neues gekauft, auf den übrigen Hochzeiten diese Kleidungsstücke anders kombiniert. Mal eine Bluse mit jenem Rock oder einem Schal, dann wieder eine andere Jacke dazu.

Auch wenn Laura selbst nicht auf Männerfang war, sie würde alles daran setzen, der Braut und allen anderen Frauen den Rang der Attraktivität abzulaufen, einfach ihrem Ego zuliebe. Es war ihr wichtig, beim Blick in den Spiegel zu bekennen: Laura, du schaust gut aus, begehrenswert. Mädels passt auf eure Männer auf.

Nein, ehrlich. Laura hätte niemals einer ihrer Freundinnen den Mann ausgespannt. Aber als Trauzeugin wollte sie auf jeden Fall einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Oh ja, ich werde dieses Drama feierlich bezeugen, dachte Laura grimmig.

Prüfend musterte sie ihr Konterfei in der Spiegeltür ihres Schlafzimmerschrankes, betrachtete ihr Gesicht aus nächster Nähe, trat einen Schritt zurück und drehte sich ein wenig hin und her. Nein, es gab nichts zu bemängeln. Mit ihrer schlanken Figur und der Größe von einszweiundsiebzig war sie zufrieden.

Den makellosen Teint und das Profil hatte sie von Mama geerbt. Wem sie ihre blasse Haut verdankte, die eher zur Röte tendierte als eine schöne Bräune anzunehmen, blieb ein Rätsel. Papa jedenfalls war in der Sonne immer knackig braun geworden. Bei ihr traten lediglich die Sommersprossen auf ihrer Nase durch UV-Strahlung stärker hervor.

Als Kind hatte Laura sich darüber maßlos geärgert, aber seit sie entdeckt hatte, dass das andere Geschlecht ihre Sommersprossen und die Grübchen an ihrem Mund sehr fraulich und attraktiv bewertete, hatte sie sich damit versöhnt. Möglicherweise war ihr Großvater mütterlicherseits, der bei Lauras Geburt bereits verstorben war, für dieses Erbe verantwortlich.

Es sei normal, dass besondere Merkmale eine Generation überspringen, hatte Lauras Mutter erklärt. Das träfe auch auf die braune Haarfarbe mit dem rötlichen Schimmer im Sonnenlicht zu. Längst war Laura dazu übergegangen, ihre schulterlangen glatten Haare in einem kühlen Weinrot zu färben, das ihre helle Haut zwar noch mehr betonte, zugleich aber auch extravaganter machte.

Es wurde Zeit, sich endlich für ein Outfit zu entscheiden. Und dies würde dann definitiv die letzte Hochzeit sein, auf die Laura gehen würde, denn ihre eigene würde nicht stattfinden.

Niemals.

Die Stadt der Liebe

Es war eine kalte und ungemütliche Nacht. Wie stets, wenn Azaradeel ins Grübeln verfiel, mit sich und seiner Situation unzufrieden, schien der Himmel seine schlechte Laune zu teilen und schickte Regen. Aber was vom Himmel herabstürmte, war nicht etwas, was mit dem simplen Wort Regen zu betiteln war. Ein Orkan peitschte über die Dächer, wie Azaradeel in diesem Jahr noch keinen erlebt hatte. Unerbittlich, über Stunden, mit Sturmböen, die Bäume abknickten und Laub durch die Luft wirbelten, Straßen und Gehwege überflutend, weil die Gullys die Wassermassen nicht aufzunehmen vermochten.

Azaradeel schlug den Kragen seines langen Ledermantels hoch und zog den Kopf ein, obwohl dies nichts nützte. Die kalten Fluten prasselten auf sein Haupt und rannen in den Kragen hinein, tränkten sein Hemd und arbeiteten sich bis auf seine Haut vor. Wäre er ein Mensch, würde er frieren und sich eine üble Erkältung zuziehen. Aber er war kein Mensch und trotz dieses unangenehmen Wetters war er sich auch in einer Nacht wie heute nicht im Klaren darüber, ob er dies nicht doch bedauerte.

Seit über einer Stunde saß er auf dem Dach des Kaufhauses Lafayette, die imposante Glaskuppel in seinem Rücken. Der Regen trommelte ein lautes Stakkato auf die großen Glasflächen. Die Beine über die Dachkante baumelnd, starrte Azaradeel hinunter auf die trotz des schlechten Wetters belebte Straße. Die Lichter der Autokolonnen konkurrierten mit denen der Straßenlaternen und Kaufhäuser. Auf Azaradeel wirkte dies wie eine gut beleuchtete Theaterkulisse.

Seufzend stützte er seinen Kopf auf die Hände, während er halbherzig den jüngsten Eskapaden seines besten Freundes lauschte, der neben ihm stand, dem Seitenwind wie ein Stahlpfeiler trotzend.

»Ihre Haut war von einem leichten Bronzeton und weich wie Samt. Ihre Augen gelbgrün und durchdringend wie die einer Katze. Und genauso verhielt sie sich. In der einen Minute schnurrend anschmiegsam und in der nächsten kratzbürstig ihre Krallen ausfahrend. Wow, dieses Temperament! Ich muss sie dir mal vorstellen, Aza. Ein Traum von einer Frau.«

Leviathan hielt kurz inne, beugte sich herunter und schaute Azaradeel von der Seite an, das eigene Gesicht von triefnassen Haaren umrahmt.

»Hey! Du hörst mir ja gar nicht zu!«

»Doch, doch«, erwiderte Azaradeel und schaute ihn kurz an, ehe er sich wieder dem Geschehen unter ihnen widmete. In all der Zeit, seit sie sich schon kannten – und das konnte man getrost als einen Teil der Ewigkeit bezeichnen – hatte Leviathan sich nicht im Geringsten geändert. Seit eh und je war er derselbe unvernünftige Draufgänger, der schamlos jede Frau verführte, die ihm gefiel, ohne über irgendwelche Konsequenzen nachzudenken.

Die Frauen allerdings konnte Azaradeel durchaus verstehen. Sein Freund war ein Bild von einem Mann. Leuchtende Augen mit einem Blau wie von Vergissmeinnicht, umrahmt von langen dichten Wimpern, um die ihn jede Frau beneidete. Lange und dichte, zu einem Pferdeschwanz gebundene, schwarze Haare. Dazu war er eins fünfundachtzig groß und muskulös.

Alles in allem hatte Leviathan eine derart erotische Ausstrahlung, für die Azaradeel keine Konkurrenz darstellte, und Männer des Menschengeschlechts sowieso nicht. Wobei ihm persönlich dies nichts ausmachte, denn im Gegensatz zu seinem Freund befand Azaradeel sich nie auf der Jagd nach dem weiblichen Geschlecht. Für einen Augenblick überzog ein ironisches Lächeln seine Lippen.

Denn es gab auch den umgekehrten Fall, dass sich Männer mit schmachtendem Blick seinem Freund an den Hals warfen, und dieser war einem gleichgeschlechtlichen Akt durchaus nicht abgeneigt. Für ihresgleichen stellte dies eine absolute Todsünde dar, obgleich niemand wusste, was daran denn verwerflicher sein sollte, als sich mit einer Frau zu vereinigen. Das war schließlich auch verboten, allerdings moralisch nicht so extrem verwerflich.

Darauf angesprochen hatte Levi ihm einst schulterzuckend erwidert: »Na und? Können wir so viel tiefer in der Hierarchie fallen, als wir schon stehen? Warum also sollten wir unser Leben nicht mit einigen Annehmlichkeiten verbinden?«

Darauf war Azaradeel keine passende Antwort eingefallen. Bestimmt gab es noch Schlimmeres als ihr Schicksal, davon war er eigentlich überzeugt, obwohl er keine genaue Kenntnis besaß, was das sein könnte. Denn von dort, wo es schrecklicher sein sollte, war noch niemand nach oben zurückgekehrt, so dass keiner wusste, ob es nur eine abschreckende Legende war oder wirklich existierte.

Azaradeel zweifelte in letzter Zeit häufiger an seinem jetzigen Dasein. Nach Tausenden von Jahren schlich sich wieder eine gewisse Depression ein, die er in der Regel schnell überwand, nur um weitere Tausende Jahre später von Neuem davon befallen zu werden. Manchmal beneidete er die Sterblichen, deren Zeit auf der Erde begrenzt war, denen zugleich aber alle Abenteuer wie Liebe und Sex zugestanden wurden, und er hätte es als Gnade empfunden, im Kampf mit einem Dämon zu sterben und alles hinter sich zu lassen. Denn dies war die einzige Gefahr, die für einen wie ihn bestand.

Seufzend strich Azaradeel sich seine klitschnassen Haare aus dem Gesicht, stützte dann sein Kinn auf eine Faust, den Arm wiederum auf sein Knie – eine Haltung, in der er für die berühmte Statue von Rodin Modell gesessen hatte.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Ab und an war er eben doch mal unartig gewesen, hatte sich unter die Menschen begeben und – zumindest für seine Verhältnisse – ziemlich verrückte Dinge gemacht.

»Komm schon Alter, ich weiß, dass du mein Verhalten missbilligst. Aber bevor ich einen depressiven Trauerkloß abgebe wie du, warum soll ich mein Leben nicht genießen?«

Azaradeel stand auf und schaute seinen Freund vorwurfsvoll an.

»Vielleicht, weil du deiner moralischen Verpflichtung gerecht werden möchtest? Weil du kein Teenager mehr bist und mal vernünftig werden solltest? Oder möchtest du auf ewig mit dem Makel eines Gefallenen gekennzeichnet sein?« Das Dumme war, diese Kritik würde Leviathan nicht treffen, ihn belastete dies überhaupt nicht.

Anstelle einer Antwort holte dieser zu einem freundschaftlichen Hieb auf Azaradeels Oberarm aus, hob dann beide Arme weit ausgreifend in die Luft, und brüllte gegen den Sturm an.

»Sieh her, Paris, du Stadt der Liebe! Ich präsentiere dir den allerhabenen, allunfehlbaren, allhochanständigen Azaradeel, an dem du deine Schönheit verschwendest!« In einer weiteren theatralischen Geste schlug Leviathan sich die Rechte zur Faust geballt aufs Herz und fuhr mit künstlich brechender Stimme fort. »Lebe wohl, oh Paris! Verfehlter, der ich bin, ich verdiene deine Reize nicht. Paris, ich …«

Der Sturm riss die Worte fort, mit denen er die eigene Unwürdigkeit neben seinem untadeligen Freund beklagte, bis er sich todesmutig über die Dachkante in die Tiefe stürzte.

Azaradeel schüttelte den Kopf und war unschlüssig, ob er über diesen Unfug lachen oder schimpfen sollte. Sekunden später stand Leviathan wieder neben ihm, als wäre nichts geschehen.

»Nun komm schon, ein wenig Spaß macht das Dasein erträglicher. Und erzähl’ mir nicht, dass du beim Anblick einer schönen Frau keine Bedürfnisse verspürst. Da reagierst selbst du wie ein Mann!« Sie kannten sich schon zu lange, als dass Leviathan ernsthaft eine Reaktion auf diese Spitze erwartete. »Hey Alter, sag, wie viele Kinder hast du in den letzten hundert Jahren gezeugt?«

Azaradeel bedachte den Freund mit einem vernichtenden Blick. »Das weißt du doch. Eines, das ich nur einmal kurz nach der Geburt gesehen habe.«

Seit Jahren hatten sie darüber kein Wort verloren. Es war nicht nötig, heute damit anzufangen. Es war ihnen verboten, sich den Menschen zu nähern und erst recht war es verboten, mit ihnen eine Beziehung einzugehen, und das Allerschlimmste war, ein Kind zu zeugen.

Ihr ganzes Dasein hatte sich darauf zu beschränken, Dämonen zu jagen und in einer ihrer Eigenschaften als Schutzengel den Menschen zu dienen, und dies alles möglichst ohne dabei bemerkt zu werden. Wie geschlechtslose Wesen sollten sie sich verhalten. Keusch, demütig, ihrer von einem höheren Wesen zugedachten Rolle ergeben.

Zumindest, wenn sie Wert darauf legten, jemals wieder als unfehlbar eingestuft zu werden.

»Aza, du bist ein solcher Idiot. Glaubst du denn immer noch, dass nach Äonen eine Rehabilitation erfolgt, nur weil du dich als guter Engel beweist? Wie lange willst du dich noch kasteien, statt dir ein wenig Freude zu gönnen? Du hast so viel Gutes getan, ganz im Gegensatz zu mir, und – was hat es dir genützt? Bist du in den Olymp der Heiligen zurückgekehrt?«

Auch wenn es ihm gegen den Strich ging, tief in seinem Innersten war Azaradeel gezwungen, Leviathan recht zu geben. Gelang es ihm, einen Menschen vor Krankheit oder Unfall zu bewahren, so starb an dessen Stelle ein anderer. Alles schien vorherbestimmt, egal ob sie sich einmischten oder nicht. Als ob ein bestimmtes Soll zu erfüllen war. Dennoch hielt er stur an seiner Meinung fest, dass alles noch viel schlimmer sein würde, wenn er und seinesgleichen sich gar nicht mehr kümmerten. Aber auf eine Diskussion über dieses Thema wollte er sich mit seinem Freund heute nicht einlassen. Levi hatte zu oft die besseren Argumente.

»Ich für meinen Teil will sowieso nicht zurück«, verkündete dieser gerade, seine innere Haltung durch die vor der Brust verschränkten Arme unterstreichend. »Diese starre, ururalte Hierarchie kotzt mich an. All diese Seraphine, Cherubine, Erzengel, die sich als unsere Chefs aufgespielt haben, als wir noch dazugehörten. Überhaupt – wer weiß schon, ob unser Herr das Ganze noch unter Kontrolle hat und nicht längst ein anderer regiert, vielleicht Petrus?«

»Leviathan!« Empört richtete Azaradeel sich auf. Seine schweren Flügel schüttelten rauschend den Regen ab. »Das ist Blasphemie!«

»Und wenn schon. Weißt du’s denn besser?« Leviathan zuckte mit den Schultern. »Dann sollen sie mich halt in die Hölle schicken. Das wäre bestimmt eine interessante Abwechslung. Ich würde gerne die Dämonenwelt ein wenig aufmischen. Vielleicht gibt’s da sogar attraktive Damen?«

Azaradeel tippte sich an die Stirn. Das meinte Levi bestimmt nicht ernst. Dennoch wünschte er, sein Freund würde nicht so leichtfertig Dinge aussprechen, die ungesagt bleiben sollten. Was wäre denn, wenn die Allgegenwart Gottes soweit reichte, sie bei solchen Gesprächen zu belauschen? Diese gotteslästerliche Meinung würde genügen, ihre Rehabilitation ad acta zu legen. Obgleich – und auch darauf hatte ihn sein Freund eines Tages aufmerksam gemacht – die Ohren des Allmächtigen müssten von dem Stimmengewirr diverser Sprachen zugemüllt sein, wenn man bedachte, wie viele Menschen unterschiedlicher Religionen rund um die Uhr und von überall auf dem Globus ihm ihre Anliegen nahezubringen versuchten.

»Also, was ist jetzt, Aza?«, hakte Leviathan mit wachsender Ungeduld nach. »Kommst du mit in die Folies Bergère? Sei ein Mann. Du kannst deine Bedürfnisse nicht dauernd unterdrücken.«

Das stimmte und gewiss wäre ein Besuch in den Folies reizvoll. Im ältesten Varieté von Paris tanzten Abend für Abend die schönsten Frauen seit über hundert Jahren. Mit fast Nichts bekleidet und versiert in erotischen Bewegungen, verzauberten sie nachts das vorwiegend männliche Publikum. Es hatte eine Zeit gegeben, da waren sie beide Stammgäste gewesen und hatten nichts anbrennen lassen. Zu groß war der Reiz gewesen, sich einmal selbst zu amüsieren, statt nur zuzusehen. Bis Azaradeel, von seinem schlechten Gewissen geplagt, sich wieder um Enthaltsamkeit bemühte.

Ablehnend schüttelte er den Kopf. Nein, heute Nacht wollte er sich nicht in Versuchung führen lassen. Vielleicht würde es ihm sogar gelingen, auch Levi wieder auf den rechten Weg zu bringen, obgleich er diesbezüglich wenig Hoffnung hatte. »Wie viele Kinder hast du inzwischen?«, griff er dessen Frage auf.

»Zurzeit sind es neunundzwanzig. Zwischen achtundneunzig Jahren und vier Monaten.« Stolz schwang in Levis Stimme mit.

Allmächtiger, das waren weitaus mehr, als Azaradeel befürchtet hatte. »Du bist verantwortungslos, und das weißt du.«

Leviathan lachte amüsiert auf. »Und du, mein Lieber, bist unverbesserlich. Glaubst du wirklich, dass wir verbannt worden sind und unseretwegen eine Sintflut ausgelöst wurde, nur um die Menschen, die wir liebten, insbesondere unsere Kinder, die Nephilim, zu vernichten? Wie vereinbart sich das deiner Meinung nach mit einem liebenden und verzeihenden Gott, wie er in der Bibel genannt wird?«

»Ich weiß nicht mehr, was ich glaube«, knurrte Azaradeel.

Er sprach nicht gerne über die Zweifel, die ihn plagten. Die Bibel, der Koran, die Tora – das waren nur von Menschen geschaffene Werke, sogenannten Propheten von Engeln eingegeben und von Menschen, die etwas zu sagen hatten, nach ihrem Bedarf interpretiert. Für alle Religionen – außer vielleicht für den Buddhismus – galt dasselbe. In den Händen machthungriger Menschen waren sie seit jeher probate Mittel gewesen, das dumme Volk zu unterdrücken. Dort hatten er und seinesgleichen ebenfalls ihren Platz, nur waren sie unter anderen Namen bekannt und wurden zum Teil sogar als Halbgötter verehrt. Ob die biblische Sintflut oder die heute Tsunamis genannten Überschwemmungskatastrophen, Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Orkane etwas mit der Unzucht gefallener Engel zu tun hatten und der Vernichtung der Nephilim dienten, das wusste er nicht. Die meisten Gefallenen, die er näher kannte, hielten sich in ihren fleischlichen Gelüsten mehr zurück als Leviathan, sodass die Anzahl weltweit existierender Engelskinder sich auf unter Tausend beschränken dürfte. Aber reichte dies nicht bereits aus, IHN zornig zu stimmen? Allen Zweifeln zum Trotz, die Azaradeel in letzter Zeit zusetzten, saß ihm diese demütige Ehrfurcht vor DEM in den Knochen, dem er womöglich seine Existenz zu verdanken hatte und von dessen Allmacht er nach wie vor überzeugt war. Auch wenn er sich kaum erinnerte, wie ER aussah.

»Kommst du nun mit oder nicht?« Leviathans Stimme riss ihn unsanft aus seinen Gedanken.

»Egal wie«, rang Azaradeel sich zu einer Antwort durch, den Faden wieder aufnehmend. »Du könntest ruhig vorsichtiger sein und weitere Kindszeugungen vermeiden.«

Leviathan schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Ach, du meinst so wie du. Mit Kondomen?« Er lachte amüsiert auf.

Um seine aufkeimende Wut zu bändigen krallte Azaradeel seine Fingernägel in die Handinnenflächen, bis es schmerzte. Gewiss war die Benutzung von Kondomen eines Engels unwürdig. Eine Erfindung der Menschen, um unerwünschte Kindszeugungen zu verhindern und sich ungezwungen der Lust hinzugeben. Was für eine Verschwendung des kostbaren, Leben spendenden Samens.

Dennoch hatte er sie verwendet, wenn er den Reizen einer attraktiven Frau und seinen eigenen körperlichen Bedürfnissen erlegen war. Ein Mal in den letzten hundert Jahren, nur ein einziges Mal hatte er nicht aufgepasst und war Vater geworden.

»Du kommst also nicht mit?« Leviathan sah nach oben. »Der Regen lässt nach.«

Tatsächlich wirbelte nur noch ein Nieseln um sie herum.

»Du solltest es ihr sagen.«

Azaradeel machte eine unwirsche Bewegung, dass Leviathan endlich gehen und sich ins Vergnügen stürzen sollte.

»Tu nicht so, als ob du nicht weißt, was ich meine. Gib dich deiner Tochter zu erkennen. Mach nicht denselben Fehler wie bisher. Es ist wundervoll zu sehen, wie Kinder sich entwickeln, wie sie dir Liebe entgegen bringen, selbst wenn man nicht mit ihnen in einer Familie zusammenlebt. Sie wird stolz darauf sein, von dir abzustammen.«

Im Gegensatz zu Leviathan hatte er seine Kinder niemals kennengelernt. Nur beobachtet hatte er sie, durch ein spezielles Fernrohr, das von jedem Standort auf der Erde den Blick auf jedes einzelne Menschenleben zuließ. Das alles lag Jahre zurück. Es gab nur noch ein Kind, das lebte – zumindest glaubte er dies.

Seinen wenigen Geliebten hatte Azaradeel eingeschärft, nichts über seine Identität zu verraten, man würde ihnen sowieso nicht glauben. Sie waren die einzigen Menschen, denen er bereitwillig seine Flügel gezeigt hatte, denn mit nichts konnte man mehr Eindruck erwecken als damit. Wenn er selbst sich wie ein Mensch unter Menschen bewegen wollte, genügte es, sie unter einem Mantel zu verbergen.

Von einer Geliebten erfuhr er im Nachhinein, dass sie nicht auf ihn gehört hatte. Wohl in der Annahme, dass man sie für eine Heilige halten würde, wenn sie von einer Engelserscheinung erzählte. Leider stellte sich dies als verheerender Irrtum heraus. Man sperrte sie in eine Nervenheilanstalt und gab das Kind zu Verwandten, wo es eines Tages die Dämonen entdeckten und töteten.

Dieses Erlebnis war der entscheidende Grund für Azaradeel, zur Vernunft zu kommen. Obwohl er in der Lage war, Menschen im Moment ihres Todes beizustehen oder ihren Tod für eine gewisse Zeit zu verhindern, wenn es sich um Krankheiten oder spontan auftretende, lebensbedrohliche Ereignisse handelte, so war er dennoch nicht befähigt, seine eigenen Kinder zu beschützen. Selbst er konnte nicht zur selben Zeit an verschiedenen Orten sein. Und er bezweifelte neuerdings sogar, dass Gott dies schaffte. Wie viele tausendmal müsste er geklont in derselben Sekunde ein Ohr für Tausende von Menschen auf der Erde haben, die ihm ihr Leid klagten und ihn um Hilfe anflehten. Nicht einmal ein höheres Wesen war so genial. Oder war dies der Grund, warum nur wenigen Menschen solche Hilfe zuteil wurde?

Vielleicht hatte sein bester Freund recht. Vielleicht wäre es für die Sicherheit seiner Tochter sogar besser, wenn er sich ihr zu erkennen gäbe. Vielleicht würde sie die Gefahren dann selbst rechtzeitig erkennen und ihnen trotzen, obwohl sie nur ein schwacher Mensch war.

Azaradeel seufzte. Vor lauter Grübeln hatte er völlig vergessen, dass Leviathan immer noch darauf wartete, ob er ihn in das Pariser Nachtleben begleiten würde. Er machte eine ablehnende Handbewegung.

Ohne ein Wort des Abschieds, nur mit einem Winken seiner Flügel, schwang sein Freund sich nun endgültig in die Luft und schwebte über die Dächer davon.

Azaradeel seufzte erneut. Vielleicht sollte er sein Kind zunächst einmal durch sein magisches Fernrohr beobachten und dann, in einem günstigen Augenblick, könnte er – verdammt, jetzt hatte Levi ihn schon fast umgestimmt –, unvernünftig werden!

Rapport auf der Dämonenburg

Der Meister verstand es, standesgemäß zu residieren. Womit und wann er sich diese Position verdient hatte, wusste keiner mehr. Als Sariel zu dieser Gruppe dazukam, war Tumael bereits eine lebende Legende. Auf jeden Fall glich die Burg hoch oben im Nebel über den Berggipfeln, wohin außer ihresgleichen niemand vorstieß, schon von außen einer uneinnehmbaren Festung. Im Inneren jedoch war es noch schlimmer, fast wie ein Abbild der Hölle, so düster waren die hohen Räume, die Flure, die Treppenaufgänge. Dunkel gestrichene oder unverputzt belassene Wände flackerten unter dem unruhigen Licht unzähliger Fackeln, das von silbernen Rahmen und Spiegeln reflektiert wurde. Von großen Pfannen auf eisernen Gestellen waberten gelbliche Schwaden durch die weiten Flure und hingen schwer unter den dunklen Decken. Der Gestank von Moder und Fäulnis erfüllte die Luft.

Einer der beiden Wächter, die mit mächtigen Waffen Dienst neben der monströsen doppelflügeligen Tür schoben, musterte Sariel mit hochgezogener Augenbraue. Dann jedoch nickte er ihm kurz zu und betätigte wortlos zweimal den furchterregenden Dämonenkopf, der als Türklopfer diente, worauf der rechte Türflügel von selbst aufschwang.

Bevor Sariel eintrat, streckte er selbstbewusst sein Kreuz durch und setzte einen ernsten Gesichtsausdruck auf. Heute würde der Meister zufrieden mit ihm sein. Ein wenig dieses verdienten Selbstbewusstseins durfte er zeigen, jedoch nicht zu offensichtlich. Hochmut war schon so manchem Dämon zum Verhängnis geworden, egal welchen Rang er bekleidete.

»Tritt näher.«

Die Tür schloss sich hinter ihm mit lautem Beben in den mächtigen Angeln.

Tumael blickte von dem Gegenstand, dem seine Aufmerksamkeit galt, erst auf, als Sariel den riesigen Saal durchschritten und bis auf wenige Meter an ihn herangetreten war. Der Globus, der sich mit rund einem Meter Durchmesser langsam unter Tumaels Hand drehte, war das genaue Abbild der Erde, mit allen Tälern und Bergen, Wüsten und Meeren, Dörfern und Städten, die sich plastisch darauf abzeichneten. Sariel hatte ihn erst wenige Male gesehen und war immer aufs Neue von der Detailtreue und Magie der künstlichen Erde beeindruckt. Man musste nur intensiv genug einen Punkt fixieren, schon fühlte man seine spezielle Atmosphäre und befand sich an dem realen Ort.

Die Anspannung war greifbar, die in den Adern seines Chefs auf die nächste Misserfolgsmeldung lauerte, als dieser ihn mit stechendem Blick ansah, die eine Gesichtshälfte hinter einer eisernen Maske verborgen, mit einem Loch für das wimpernlose, ewig tränende Auge.

An diesen Anblick hatte Sariel sich längst gewöhnt. Es ging das Gerücht um, hinter der Maske befänden sich nur Knochen, von ewig verwesendem Fleisch überwuchert. Der Gedanke war grässlich, aber nachdem von Tumael kein stechender oder süßlicher Geruch ausging, tippte Sariel eher auf eine Verbrennung. Niemand wusste, ob Tumael diese Verunstaltung einer Bestrafung von noch höherer Ebene oder eher einem Kampf zu verdanken hatte. Zu lange war es her, dass man ihn ohne diese Maske gesehen hatte.

Sariel verbeugte sich tief, wie es üblich war, um seine Ehrerbietung zu erweisen.

»Ich hoffe für dich, dass du gute Nachrichten für mich hast«, knurrte Tumael und fletschte drohend seine spitzen Zähne. »Ich habe heute ausgesprochen schlechte Laune und habe es satt, von lauter Vollidioten umgeben zu sein, die mich mit Lügen und Schmeicheleien zu beeindrucken suchen.«

Ein flüchtiges Lächeln huschte trotz Tumaels grimmigem Ton über Sariels Gesicht. Er fühlte sich heute seiner Sache so absolut sicher, dass er aufpassen musste, nicht zu überheblich zu erscheinen und Tumaels Unmut auf sich zu ziehen. Es war wichtig, zunächst den höflichen Untergebenen zu mimen, um den Meisterdämon günstig gewogen zu stimmen.

»Seid unbesorgt, Euer Gnaden. Ich habe gute Nachrichten. Sehr gute sogar. Ich habe eine Nephilim gefunden.«

Er ließ die Information wirken. Anstelle eines Lobes wurde der Gesichtsausdruck seines Gegenübers jedoch noch finsterer, die Lippen nahmen einen fast höhnischen Zug an. Würde Tumael sich einmal selbst auf die Suche nach den Nephilim begeben, dann wüsste er, wie schwierig es war, sie aufzustöbern, dachte Sariel ein wenig enttäuscht.

»Wirklich?«

»Jeder Irrtum ist ausgeschlossen«, ergänzte er mit fester Stimme und hielt dem Blick Tumaels, ohne mit der Wimper zu zucken, stand. »Sie ist es, die wahre Tochter einer der Engel, der am Schicksal der Unseren Schuld trägt.«

Tumaels türkisfarbene Augen in dem grauen faltigen Gesicht leuchteten kurz voller Begierde auf. Sariel meinte beinahe zu fühlen, wie das schwarze Blut seines Meisters auf einmal schneller durch die Adern gepumpt wurde.

»Du weißt, was ich mit dir mache, wenn du dich irrst?«, zischte er. Seine langen dürren Finger legten sich um Sariels Hals und dieser spürte die spitzen Fingernägel, wie sie sich langsam in seine Haut bohrten. »Die Nacht der Nächte rückt immer näher, wir können uns keine Irrtümer leisten und wir müssen jede Gelegenheit nutzen, einige der Unseren zu befreien!«

Sariel streckte seinen Rücken noch mehr durch, die Hand um seinen Hals ignorierend, und sah Tumael unerschrocken direkt in die Augen. »Ich weiß, Euer Gnaden. Aber ich weiß auch, dass ich mich nicht irre. Wir müssen diese Nephilim nur noch ans Ziel locken. Der Rest ist ein Kinderspiel.« Ihm war bewusst, was ihm und jedem anderen im Falle seines Versagens blühte. Jedem, der nach den Engelskindern suchte und erfolglos zurückkehrte. Niemand wusste, wie viele es von jenen gab. Seit die Sintflut vor einigen tausend Jahren alle Nephilim hinweggerafft hatte, waren die Engel sehr vorsichtig geworden und besuchten ihre Kinder fast nie.

Endlich lockerte sich der Griff und Tumael wandte sich wieder dem Globus zu.

Der Tod wäre im Falle des Scheiterns eine Gnade, wenn – ja, wenn Tumael nicht besonders viel Gefallen daran finden würde, Versager aufs Unerträglichste zu foltern. Sariel schüttelte das Unbehagen ab, das sich seiner bemächtigen wollte. Soweit würde es nicht kommen. Er war besser als die anderen. Er war ein Sieger. Denn er war Ohrenzeuge eines Gesprächs geworden, in dem ein Priester im Angesicht seines nahen Todes einem seiner Amtsbrüder ein Geheimnis anvertraut hatte. Vor vielen Jahren hatte er die Tochter eines Engels getauft. Ihr Name war in sein Gedächtnis eingebrannt, ebenso wie der Name ihrer Mutter und die näheren Umstände ihrer Zeugung.

Tumael schnaubte in verhaltener Zufriedenheit. »Nun gut. Wenn du dir so sicher bist, dann wirst du die Aufgabe auch zu Ende bringen und dafür Sorge tragen, dass dieser Bastard uns nützlich ist.« Er grinste hämisch und seine sechs Arme verschränkten sich zu drei imposanten Paaren vor seiner Brust. »Es dürfte dir ja wohl nicht allzu schwerfallen, Schönling, dieses dumme Menschenkind zu verführen und gefügig zu machen, oder?«

Sariel hob fast unmerklich eine Augenbraue an. Sollte Tumael etwa unter seiner eigenen abgrundtiefen Hässlichkeit leiden? Ein Frösteln überflutete ihn, als er begriff, wessen Tumael ihn als Erstes berauben würde, noch bevor er die schlimmste Folter zu spüren bekam, sollte er es sich leisten zu versagen.

»Ihr werdet zufrieden mit mir sein, mein Gebieter. Bevor die Sterne ihre Position eingenommen haben, ist das Blut der Nephilim unser.«

Engelspflichten

Die erst vor wenigen Stunden geführte Unterhaltung ging Azaradeel nicht mehr aus dem Kopf. Bei nüchterner Betrachtung gab es keine Argumente, welche Leviathans entkräfteten. Nichts wies darauf hin, dass seine eigene Selbstkasteiung ihn auch nur im Geringsten von seinen Sünden reinwusch. Jegliche Auskünfte darüber hatte man ihm auf Nachfrage mehrfach verweigert. Ein streng dreinblickender Cherubim hatte ihn jedes Mal knapp zurechtgestutzt. Gedulden solle er sich. Wenn ER es für angeraten erachte, seine Bemühungen anzuerkennen, dann werde ER sich gewiss bei ihm melden.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, über den Wolken dahin treibend, zog es Azaradeel zu einem Ort in Deutschland, an dem er zuletzt vor über zwanzig Jahren gewesen war. Als er herunter schwebte und von den Menschen unbemerkt in der Seitenstraße der Fußgängerzone landete, wurde es ihm schlagartig klar und seine Muskeln verkrampften sich.