Engelsspiel - Klaus Schuker - E-Book

Engelsspiel E-Book

Klaus Schuker

4,8

Beschreibung

"Ein nächtliches Tête-à-Tête mit der erst 17-jährigen, bildhübschen Janina Heitmann endet für Daniel Schönwind im Vorwurf der sexuellen Nötigung, den er energisch bestreitet. Doch es kommt für ihn noch schlimmer: Seine Partnerin verlässt ihn mit dem gemeinsamen Töchterchen Ramona, sein Arbeitgeber drängt ihn zur Kündigung, die Nachbarn beschimpfen ihn als Vergewaltiger. Verzweifelt sinnt Daniel Schönwind auf Rache. Vor allem nachdem er herausgefunden hat, welch dreckiges Spiel in jener verhängnisvollen Nacht mit ihm gespielt wurde. Er stellt Janina eine Falle. Nichtsahnend liefert sie ihm einen handfesten Beweis, den er gnadenlos gegen sie einsetzt. Ein tödliches Spiel beginnt."

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Klaus Schuker

ENGELSSPIEL

Kriminalroman

Fabulus-Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.© 2016 by Fabulus-Verlag, Tanja Höfliger, FellbachUmschlaggestaltung: Büro für Gestaltung Röger & Röttenbacher, Leonberg Lektorat: Martina Buder, DresdenSatz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde Fotoarbeit Cover: Christian KathreinISBN 978-3-944788-27-4Besuchen Sie uns im Internet: www.fabulus-verlag.de

Inhalt

CoverTitelImpressumWidmungZitat17 Stunden vorher16 Stunden vorher15 Stunden vorher14 Stunden vorher12 Stunden vorher7 Stunden vorher5 Stunden vorher1 Stunde vorher50 Minuten vorher30 Minuten vorher5 Minuten vorher7 Stunden danach8 Stunden danach10 Stunden danach2 Tage danach3 Tage danach5 Tage danach6 Tage danach7 Tage danach14 Tage danach20 Tage danach22 Tage danach27 Tage danach28 Tage danach29 Tage danach30 Tage danach33 Tage danach34 Tage danach35 Tage danach36 Tage danach37 Tage danach40 Tage danach42 Tage danach43 Tage danach47 Tage danach48 Tage danach53 Tage danach54 Tage danach55 Tage danach56 Tage danach57 Tage danach58 Tage danachEpilog

Für Ute,seit nun schon 35 Jahren die Liebe meines Lebens

»Denn wer unrecht tut, wird zurückerhalten, was er unrecht tat, und da gilt kein Ansehen der Person.«

Brief an die Kolosser 3,21

17 Stunden vorher

Er sah zweifellos gut aus. Zufrieden betrachtete Daniel Schönwind sich im Spiegel des Badezimmers. Da war kein überflüssiges Gramm Fett an ihm, seine kragenlangen braunen Haare hatten noch nirgends einen grauen Schimmer oder wurden gar von Geheimratsecken in ihrer Wirkung beeinträchtigt. Zufrieden lächelte er. Danach zog er sich rasch an. Bevor er das Badezimmer verließ, warf er nochmals einen prüfenden Blick in den Spiegel. Er schaltete das Licht aus und ging in die Wohnküche. Ein Blick auf die Wanduhr zeigte ihm, dass er sich beeilen musste. Es war bereits kurz nach sechs. Während er aus den Schränken und Schubladen Teller, Tassen und Besteck holte und alles auf dem Esstisch platzierte, der in der Mitte des Raumes schon von der kräftigen Morgensonne beschienen wurde, pfiff er vergnügt vor sich hin. Nachdem er die Milch für sein achtjähriges Töchterchen Ramona in die Mikrowelle gestellt hatte, ging er ins Schlafzimmer im ersten Stock und weckte seine Freundin und Lebenspartnerin Karin.

»Zeit zum Aufstehen, Karin«, sagte er und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Von wegen, hiergeblieben!«, lachte Karin und zog Daniel, der sich gerade aufrichten wollte, zu sich herunter. Einen Moment sträubte sich Daniel dagegen, ließ es dann aber geschehen und erwiderte Karins Kuss.

»Hast du Ramona schon geweckt?«

»Nein, das wollte ich jetzt gerade tun. Aber nachdem du wie alle Frauen am frühen Morgen nur an das Eine denkst, könnte das schwierig werden.«

Karin schlug Daniel scherzhaft gegen die Schulter und beide lachten.

»Du weißt genau, Daniel, was das betrifft, sind immer die Männer die Schweine. Das ist genetisch bedingt und deshalb schon seit Urzeiten so in der Natur geregelt.«

»Spricht da jetzt die Lehrerin oder meine über alle Maßen von mir geliebte Frau?«

»Da spricht eine Frau, mein Lieber, aber nicht deine Frau. Ich darf dich daran erinnern, dass wir zwar schon seit zwölf Jahren zusammenleben, du dich aber bisher standhaft geweigert hast, mich zu ehelichen. Also hast du auch kein Recht dazu, mich als deine Frau zu bezeichnen.«

Auch wenn Karin ihrer Bemerkung ein Lachen folgen ließ, meinte Daniel einen vorwurfsvollen Unterton herausgehört zu haben. Er entschied sich, nicht darauf zu reagieren. Sie hatten schon oft genug über dieses Thema diskutiert, ohne dass er sich jedoch bisher von ihren Argumenten hatte überzeugen lassen. Immerhin waren die vergangenen zwölf Jahre so schlecht nicht gewesen, auch wenn sich in der letzten Zeit doch eine gewisse Gewöhnung und eine daraus resultierende Langeweile in ihre Beziehung geschlichen hatten. Zumindest fühlte er das so. Mit Karin darüber gesprochen hatte er aber noch nie. Warum auch sollte er fahrlässigerweise schlafende Hunde wecken?

»Ich gehe jetzt Ramona aus dem Bett holen«, sagte Daniel und befreite sich aus Karins Umarmung. Dann verließ er das Schlafzimmer und ging rüber ins Kinderzimmer, wo Ramona schlief. Doch als er eintrat, war Ramona bereits wach. Sie saß am Fenster und ließ die Sonne in ihr Gesicht scheinen. Ihre schulterlangen blonden Haare glänzten golden. Daniel verharrte sekundenlang und genoss den Anblick seines kleinen Engelchens.

»Guten Morgen, Papa«, begrüßte Ramona ihn, ohne sich umzudrehen.

»Was, du schaust mich nicht an, wenn ich in dein Zimmer komme!«, beklagte er sich mit betont empörter Stimme und eilte durch das aufgeräumte Zimmer zu seiner Tochter. Ramona wusste, was gleich passieren würde, und hielt die Luft an. Daniel trat von hinten an sie heran und begann sie in den Seiten zu kitzeln. Sofort erfüllte fröhliches Kinderlachen das Zimmer. Ramona drehte sich um und umarmte ihren Vater. Dieses Kitzelspiel spielten sie regelmäßig jeden Morgen und erfreuten sich beide daran.

»Warum hast du dich heute nicht verkleidet, Papa?«

»Keine Zeit dafür, mein Schatz. Wir sind spät dran. Also ab mit dir ins Bad. Und dann runter zum Frühstück.«

Ramona löste sich von ihm und eilte aus ihrem Zimmer. Daniel öffnete das Fenster. Seit er sich vor zwei Jahren bei Ramonas Kindergeburtstag als Räuber verkleidet hatte und die Kinder ganz begeistert davon gewesen waren, hatte er sich ein paar witzige Masken gekauft. Immer wieder setzte er eine davon auf und machte entsprechende Geräusche dazu, während Ramona am Fenster saß und hinausschaute. Meistens erriet sie die gespielte Figur und genoss die anschließende Kitzelalberei noch intensiver. Auch wenn ihn selbst dieses Verkleidungsspiel inzwischen schon ein wenig langweilte, würde er es so lange beibehalten, wie es seiner Tochter Spaß machte. Er liebte ihr Kinderlachen.

Schließlich drehte er sich um und ging in die Küche hinunter. Dort kümmerte er sich um den Rest für das gemeinsame Frühstück, bevor er hinausging und die Zeitung aus dem Briefkasten am Gartentor holte. Kurz nach sieben würde er mit Ramona losfahren, sie in die Schule bringen und danach in die Firma fahren, wo er als Baubiologe arbeitete. Karin würde mit ihnen das Haus verlassen, jedoch in die andere Richtung zu ihrer Schule fahren, wo sie in Deutsch und Religion unterrichtete und selbstverständlich wie alle anderen Kollegen auch noch andere Fächer übernehmen musste.

Daniel warf einen weiteren prüfenden Blick auf den Esstisch, dann setzte er sich hin und schlug die Zeitung auf. Kaffeeduft durchströmte die von der Morgensonne in warmes Licht getauchte Wohnküche.

*

Die Tür ging auf und Ramona stürzte herein. Karin folgte mit einem Lächeln im Gesicht. Daniel konnte die Zeitung gerade noch beiseitelegen, dann lag Ramona auch schon in seinen Armen und begann mit ihm zu schmusen.

»Ach, Daniel, das hätte jetzt aber nicht sein müssen«, sagte Karin mit leicht verärgerter Stimme und zog die Ecke einer Zeitungsseite aus ihrer Kaffeetasse.

»Entschuldige«, antwortete Daniel und zog die Zeitung etwas näher zu sich heran. Sein Blick fiel auf Ramona, die die beiden Erwachsenen aufmerksam beobachtete. Er riss seine Augen auf, ohne dass Karin es sehen konnte. Sie ahnte jedoch, was er getan hatte, da Ramona sich rasch ihre rechte Hand vor den Mund hielt, um so ein Lachen zu unterdrücken. Dann setzte sich Ramona auf ihren Platz an der Stirnseite des Tisches und begann zu frühstücken. Daniel trank einen Schluck Kaffee und nahm die Zeitung wieder auf. Er hielt sie so, dass Ramona ihn sehen konnte, nicht jedoch Karin.

»Das muss ja wohl nicht sein, dass du jetzt beim Frühstück die Zeitung liest«, dauerte es nicht lange, bis Karin sich darüber beschwerte. Wieder fand zwischen Daniel und Ramona das Augenspiel statt. Nur dass Ramona dieses Mal eher ein wenig verunsichert lächelte. Daniel faltete die Zeitung zusammen und legte sie neben sich auf den Stuhl.

»Was steht heute an?«, fragte er, als sei nichts geschehen.

»Wir müssen überlegen, was wir mit Ramona machen«, erwiderte Karin.

»Wieso? Was ist mit Ramona?«

Karin verdrehte unwillig ihre Augen.

»Sag jetzt bitte nicht, du hättest es schon wieder vergessen!«

»Was habe ich schon wieder vergessen?«, wollte Daniel wissen und furchte seine Stirn.

»Ich habe dir schon letzte Woche gesagt, dass das Lehrerkollegium in Ramonas Schule heute nach dem Unterricht einen Ausflug macht und die Kinder deshalb keinen Ganztagesunterricht haben. Ich selbst habe aber nur eine halbe Stunde Mittagspause, da um zwei mein Unterricht schon wieder weitergeht und ich eine Klassenarbeit schreibe.«

»Na und? Das ist doch echt kein Problem!«

»Ach, und warum ist das – echt – kein Problem?«

»Weil ich dann einfach etwas früher in die Mittagspause gehe, Ramona von der Schule abhole und sie nach Hause fahre.«

»Und da willst du sie dann bis heute Abend alleine lassen?«

»Warum nicht? Immerhin ist unsere Ramona schon eine junge Dame, der das bestimmt nichts ausmacht. Oder, Ramona, was sagst du dazu?«

Ramona nickte heftig und kaute weiter an ihrem Marmeladenbrot.

»Also, siehst du, geht doch«, kommentierte Daniel Ramonas Reaktion und lehnte sich zufrieden in seinen Stuhl zurück.

»Aha, dann ist ja alles wunderbar geregelt«, erwiderte Karin mit einem giftigen Unterton in ihrer Stimme. »Und Ramona kann sich ja wie immer etwas Feines kochen.«

Ramona hatte mit dem Kauen aufgehört. Stattdessen folgte sie dem Wortwechsel ihrer Eltern mit den Augen, als sähe sie einem Tischtennisspiel zu. Sie hatte keine Ahnung, warum die beiden das Ganze so dramatisch sahen. Der Morgen hatte doch so schön begonnen.

»Oh, das habe ich nun tatsächlich vergessen«, gestand Daniel ein. Karin schwieg. »Trotzdem brauchst du ja nicht gleich so aggressiv zu reagieren. Außerdem habe ich für dieses Problemchen auch schon eine Lösung.«

»Da bin ich aber gespannt!« Karin bemühte sich, nicht zu aggressiv zu klingen.

»Ich werde Ramona einfach zu Schneiders rüberbringen. Die freuen sich immer, wenn unser kleines Engelchen sie besucht. Wäre das für dich in Ordnung, Ramona?«

»Au ja!«

Bevor Karin protestieren konnte, sollte sie dies überhaupt beabsichtigt haben, stand Daniel auf und ging ans Telefon. Er wählte die Nummer ihrer Nachbarn, eines kinderlosen Ehepaars. Helen und Karl Schneider waren beide knapp über fünfzig. Zehn Jahre zuvor hatten sie ihr einziges Kind Sarah im Alter von Ramona bei einem Verkehrsunfall verloren. Jahrelang hatten sie mit diesem Schicksalsschlag zu kämpfen. Das änderte sich erst, als sie von Karins Schwangerschaft erfuhren. Zu dieser Zeit pflegten sie bereits ein sehr angenehmes nachbarschaftliches Verhältnis miteinander. Drei Jahre zuvor waren Karin und er in dieses Haus eingezogen, für das sie noch knapp zwanzig Jahre lang Darlehensraten bezahlen mussten.

»Ja, guten Morgen, Frau Schneider, hier Schönwind. Ich hätte da ein kleines Problem.«

Karin und Ramona hörten gespannt zu, wie Daniel der Nachbarin ihre Notlage in kurzen Worten schilderte.

»Das ist aber ausgesprochen nett von Ihnen, deswegen Ihren Friseurtermin zu verschieben. Wobei Sie ja so gut aussehen, dass Sie den meiner Meinung nach überhaupt nicht bräuchten.«

Offenbar war Helen über das Kompliment so erfreut, dass nun beide lachten. Während Ramona sich wieder zufrieden ihrem letzten Stück Brot zuwandte, verdrehte Karin unwillig ihre braunen Augen.

»So, dann wäre das auch erledigt«, verkündete Daniel mit einem stolzen Unterton in seiner Stimme. »Das wäre ja auch gelacht gewesen, wenn unser kleines Engelchen hätte verhungern und verdursten müssen, nur weil ich wieder mal was vergessen habe.«

Karin schwieg und Ramona strahlte ihren Vater an.

»Apropos vergessen: Du weißt schon, Karin, dass ich heute etwas später nach Hause kommen werde?«

»Ja, das hast du ja schon oft genug gesagt.«

»Echt? Ich dachte schon, das hätte ich auch vergessen.«

Karin ging nicht auf seinen Vorwurf ein.

»Welches Hemd kann ich denn anziehen?«

»Das gelbe. Es hängt im Schrank, gewaschen und gebügelt. Wie das Frauen eben so tun für ihre Männer.«

»Was täten wir nur ohne euch? Echt!«

»Das stelle ich mir lieber nicht vor.«

»Das ist vielleicht auch gut so.«

»Weißt du schon, wie lange eure Betriebsfeier gehen wird?«

»Nein, leider nicht. Ist eigentlich eher ein kleines Grillfest. Mit Musik und so. – Warum fragst du?«

»Dann ist es wahrscheinlich besser, wenn ich mein Treffen heute Abend mit Gabi absage.«

»Ist das schlimm? Ich meine, ihr trefft euch doch sowieso jede Woche einmal. Ich weiß gar nicht, was ihr da alles zu bereden habt. So viel passiert doch in ein paar Tagen nicht.«

»Woher willst du das wissen? Außerdem: Wenn du öfter mit mir reden würdest, bräuchte ich mich nicht mit anderen auszutauschen.«

»Oh, jetzt geht das wieder los.«

»Nichts geht wieder los. Und schließlich wollten wir heute ins Kino gehen.«

»Ins Kino? Was läuft denn?«

»George Clooney.«

»Nein, nicht schon wieder so eine Liebesschmonzette«, sagte Daniel und schlug theatralisch seine Hände über dem Kopf zusammen.

»Ach, weißt du was, Daniel? Vergiss es einfach. Ich sage Gabi ab, dann ist die Sache erledigt. Und du kannst in aller Ruhe bis in die Puppen euer Grillfest genießen und die weibliche Belegschaft mit deinem Wissen und deiner Bildung beeindrucken.«

Daniels Blick verfinsterte sich.

»Was soll das denn nun schon wieder heißen?«

»Ach, nichts. Es nervt mich nur, dass du immer alles bestimmen willst, und ich soll nach deiner Pfeife tanzen.«

»Könnte es sein, dass das vielleicht auch daher kommt, dass du immer wieder Schwierigkeiten damit hast, Dinge zu organisieren, und es deshalb ganz gern mir überlässt?«

Karin ballte für einen Moment lang ihre Fäuste und presste ihre Lippen zusammen. Dann stand sie auf. Ihr war anzusehen, dass sie eine heftige Erwiderung parat hatte, doch Daniel kam ihr zuvor.

»Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns jetzt auf den Weg machen. Es ist schon kurz nach halb sieben und außerdem scheint mir das nicht unbedingt das geeignete Gesprächsthema beim Frühstück zu sein. – Komm, Ramona, ab ins Bad, Zähne putzen.«

»Aber ihr auch!«

»Ja, selbstverständlich, mein Engelchen«, sagte Daniel, warf Karin einen schnellen Blick zu und ging dann aus der Küche. Karin blätterte rasch durch die Zeitung, doch ihre Blicke konnten keinen Buchstaben festhalten. Also legte sie sie in den Zeitungskorb. Sie würde sie heute Abend lesen, nachdem nun klar war, dass der Kinoabend mit Gabi gestrichen war. Mit hektischen Bewegungen begann sie den Frühstückstisch abzuräumen.

*

»Du fährst zu schnell!«, beschwerte sich Ramona Minuten später bei ihrem Vater. Daniel nahm unwillkürlich den Fuß vom Gas.

»Entschuldige bitte!«

Es war immer dieselbe Leier: Wegen einer Kleinigkeit konnte inzwischen die Stimmung zu Hause von jetzt auf gleich kippen. Er wurde nicht schlau aus Karin. Launisch war sie geworden. Wie man sich nur über allen möglichen Käse aufregen konnte, würde ihm immer ein Geheimnis bleiben. Und dann dieses unendliche Theater mit dem »Miteinander reden«. Als gäbe es nichts Wichtigeres, als den ganzen Tag über zu reden. Hätte die Menschheit nichts anderes getan als geredet, würde sie sich noch heute in der Steinzeit befinden. Manchmal war er schon kurz davor gestanden, handgreiflich zu werden.

»So langsam brauchst du jetzt auch wieder nicht zu fahren. Sonst komme ich noch zu spät zur Schule.«

Daniel lachte. Sein kleines Engelchen lernte schnell. Wie man sich als Mann auch verhielt, es war immer falsch. Allerdings schien Ramona recht zu haben mit ihrem Einwand, denn hinter ihm hupte ein Auto. Er sah in den Rückspiegel: ein Mann. Daniel zeigte ihm den rechten Mittelfinger, beschleunigte seinen metallic copperroten Ford Ranger und passte sich mit seiner Geschwindigkeit dem frühmorgendlichen Berufsverkehr an.

»Warum lachst du, Papa?«

»Oh, nichts Wichtiges, mein Engelchen. Nur so.«

»›Nur so‹ ist eine faule Ausrede von Erwachsenen, die zu faul sind oder keine Lust haben, ihren Kindern Fragen zu beantworten.«

Unwillkürlich drehte Daniel sich nach hinten um und starrte seine Tochter mit offenem Mund an. Diese bedeutete ihm mit ihrem rechten Zeigefinger, dass er wieder nach vorne schauen sollte. Kopfschüttelnd kam er ihrer Aufforderung nach.

»Wie kommst du darauf, mein Engelchen?«

»Das hat Lavinias Vater gesagt.«

»Ist das der Typ mit den langen Haaren?«

»Deine Haare sind viel schöner, Papa.«

Wieder musste Daniel schmunzeln. Auch die Kunst des Ablenkens beherrschte sein kleines Engelchen schon. So wie Frauen sich stundenlang in ein Thema festbeißen konnten, dass einem Mann Hören und Sehen verging, so konnten sie auch blitzschnell das Thema wechseln. Auch dann konnte einem Mann Hören und Sehen vergehen. Ob Karin öfter Sex mit ihm wollte? Wenn er sich nicht täuschte, hatten sie das letzte Mal vor zwei oder drei Monaten miteinander geschlafen. Andererseits war sie es gewesen, die sich ihm immer häufiger entzogen hatte. Wollte er aber darüber reden, was nicht oft vorkam, wechselte sie meistens das Thema. Insofern waren ihre Vorhaltungen, was sein Interesse für andere Frauen betraf, ja wohl etwas scheinheilig.

»Da vorne musst du abbiegen, Papa.«

»Ich weiß, mein Engelchen. Schließlich fahre ich dich ja nicht zum ersten Mal in die Schule.«

Ramona schwieg. Und Daniel verschwieg ihr, dass er tatsächlich nahe daran gewesen war, das Abbiegen zu verpassen.

Minuten später waren sie am Ziel. Daniel fand einen Platz zum Anhalten.

»So, mein Engelchen, wir sind da. Also bitte alle Fahrgäste aussteigen. Der Zug endet hier.«

Ramona ging nicht auf seinen Scherz ein. Nachdenklich sah sie zum Fenster hinaus.

»Was ist los, mein Engelchen? Die Schule beginnt gleich. Du musst los.«

»Ich finde es nicht gut, dass ihr, du und Mama, so oft miteinander streitet.«

»Aha …«

»Das meine ich ernst, Papa!«

»Nun, mein Engelchen, zwischen Erwachsenen kommt so was eben hin und wieder vor.«

»Ja, aber bei euch kommt es immer öfter vor.«

»Nun, das sehe ich jetzt zwar nicht so, aber wenn du meinst. Weißt du, wenn Erwachsene so viele Jahre zusammen sind wie Mama und ich, sind solche Diskussionen völlig normal.«

»Aber es gefällt mir trotzdem nicht.«

»Ja, meinst du, mir gefällt das immer? Aber manchmal muss man Dinge eben auch ausdiskutieren. Man kann nicht immer vor allem davonlaufen, wenn es mal schwierig wird.«

»Ja, schon, aber ihr diskutiert nicht, sondern ihr streitet.«

»Und woran merkst du, dass es ein Streit ist und keine Diskussion?«

»Weil Mama dann immer wieder weint.«

»Hm, das hört sich logisch an«, gestand Daniel und sah über den Rückspiegel nachdenklich auf seine Tochter. »Aber Kinder streiten doch auch. Und das ist dann normal, oder?«

»Ja, denn Kinder dürfen das.«

»Na ja, das mag ja sein. Aber wenn ich an deinen Streit mit deiner besten Freundin Julia letzte Woche denke, da hat sie auch geweint und ist sofort nach Hause gerannt.«

»Da war sie auch blöd.«

»Nun, das erklärt natürlich alles. – Aber jetzt ist es gut mit der Diskussion. Die Schule ruft. Oder redest du etwa nur deshalb mit mir, weil du keine Lust auf Schule hast?«

Daniel wusste natürlich, dass das nicht der Beweggrund für Ramonas Fragen und Kommentare war. Sie ging ausgesprochen gern in die Schule und gehörte zu den drei Klassenbesten.

»Haha! Das ist auch so ein Trick von den Erwachsenen, wenn sie –«

»Ich weiß: Lavinias Vater! – Raus jetzt mit dir, mein Engelchen, sonst verwandle ich mich in ein Monster und fresse dich auf.«

Sie stiegen beide aus. Daniel ging um den Ranger herum auf den Gehweg, wo Ramona auf ihn wartete. Sie drückten sich und gaben sich einen Kuss.

»Hallo, Ramona!«, erklang in diesem Moment eine helle Mädchenstimme ein paar Meter von ihnen entfernt. Ramona löste sich von ihrem Vater und drehte sich um.

»Hallo, Julia, ich komme!«

»Hallo, Herr Schönwind.«

»Guten Morgen, Julia«, erwiderte Daniel ihren Gruß und sah dann rasch seine Tochter an. »Soll ich ihr sagen, dass du gesagt hast, sie sei blöd?«

Ein leichtes Rot huschte über Ramonas Wangen.

»Sie ist nicht blöd, Papa. Sie war letzte Woche blöd, und das ist vorbei. Und außerdem: Wenn du ihr das sagst, erzähle ich Mama, dass du wie ein Schwein gefahren bist.«

Daniel tat, als wolle er sie greifen, indem er seine Arme hochriss. Doch Ramona lachte nur und stürmte zu ihrer besten Freundin und Klassenkameradin.

16 Stunden vorher

Sie hörte seine Stimme, und sie fühlte sich heiß begehrt, reif, wunderschön, älter als ihre siebzehn Jahre und doch nicht alt, über alle und alles erhaben, fern jeglicher Verpflichtung und Verantwortung, dafür nahe der Freiheit, dem Glück und, ja, nicht zuletzt der Begierde.

»Wie kommst du zu mir?«

»Weiß ich noch nicht. Muss mir was einfallen lassen.«

»Und bis wann kommst du?«

»Das kommt auf dich an!«

»Jetzt denke doch nicht nur immer daran«, sagte er nach einer winzigen Pause und lachte. »Also, los, sag schon: Wann kommst du?«

»Kann ich noch nicht genau sagen. Vor acht heute Abend geht es jedenfalls nicht. Sonst machen meine Alten wieder ihr übliches Theater.«

»Macht nichts. Hauptsache, wir sehen uns überhaupt. Bekanntlich liegt ja die Würze in der Kürze.«

»Zum Glück trifft das nicht auf dein bestes Stück zu.«

»Huch, Janina! Was bist du für ein verdorbenes Mädchen! Und das gerade mal mit siebzehn Jahren und als baldige Abiturientin.«

»Als wenn dich das stören würde«, erwiderte Janina und lachte in ihr Smartphone.

»Natürlich nicht, du Biest. Ich liebe intelligenten Sex. Aber wenn das deine Eltern wüssten.«

»Willst du es ihnen vielleicht sagen, du altes Schwein?«

»Gott behüte mich davor.«

»Warum? Sie wären bestimmt angenehm überrascht, meinen Lover kennenzulernen.«

»Darauf würde ich nicht wetten.«

Sie lachten beide.

»Ich muss Schluss machen! Die Schule beginnt in einer Stunde.«

»Ist okay. Ich muss auch los. Also, dann sehen wir uns heute Abend. Und mach dich auf einen heißen Tanz gefasst, Baby!«

»Gib nicht so an, Alter.«

Mit einem Lachen beendeten sie das Gespräch. Janina spürte eine angenehme Wärme zwischen ihren Beinen. Sie betrachtete sich im Spiegel: ihr schulterlanges, fast schon weißblondes, welliges Haar; ihr fein gezeichnetes Gesicht mit den dunkelgrünen Augen; die kleinen, festen Brüste; ihr schlankes Becken; die bis auf einen länglichen Streifen abrasierten Schamhaare, die ihn jedes Mal aufs Neue erregten; ihre langen Beine. Sie war schön. Das Leben war schön. Nun musste sie sich aber beeilen. Trotzdem schickte sie ihrer besten Freundin Kim noch rasch eine SMS: »Können uns heute Abend leider nicht treffen. Habe Date.«

Zehn Minuten später war sie startklar. Wie üblich verzichtete sie auf das Frühstück. Und wie üblich gelang es ihr gerade noch rechtzeitig, in die Schule zu kommen. Sie genoss die interessierten und gierigen Blicke der Jungs mindestens genauso wie die wütenden der Mädchen. Die meisten von ihnen hatten Freunde oder zumindest Liebschaften. Trotzdem bereitete es ihr keine Schwierigkeiten, je nach Lust und Laune für kleine Eifersuchtsdramen zu sorgen. Ihre Art, den Männern das Gefühl zu vermitteln, sie könnten sie jederzeit besitzen, und ihre Fähigkeit, ihnen diesen Irrtum sehr resolut klarzumachen, sorgten dafür, dass zahllose Männer ihr in einer Art Hassliebe verbunden waren. Andere Jungen und Männer gaben sich hingegen schon damit zufrieden, sich als ihre Freunde fühlen und ihr entsprechend gefällig sein zu dürfen. Kaum einer hatte sich bisher ernsthaft darum bemüht, herauszufinden, ob diese Freundschaft tatsächlich nicht doch nur eine emotionale Einbahnstraße war. Dadurch war ihr ständige Aufmerksamkeit garantiert. Eine Aufmerksamkeit, nach der Janina gierte. Andererseits sorgte diese Aufmerksamkeit bei den Frauen regelmäßig für giftige Blicke und Kommentare. Für Janina waren sie wie die berühmten Sahnehäubchen. Entspannt saß sie in der ersten Stuhlreihe im Klassenzimmer und ließ den Unterricht an sich vorüberziehen.

15 Stunden vorher

Kurz vor acht betrat Daniel sein Büro. Heute war Schreibtischarbeit angesagt. Er hatte noch zwei Gutachten anzufertigen. Neben der Besichtigung und Bewertung der Objekte machte diese Schreibtischarbeit einen Großteil seiner Tätigkeit als Baubiologe aus, wobei er sich auf die Innenbereiche der Objekte spezialisiert hatte. Vor vier Jahren war er in die Firma eingetreten. Die Arbeit gefiel ihm. Zum einen konnte er selbstständig arbeiten, was seinem Bedürfnis nach Ruhe und Abgeschiedenheit entgegenkam. Zum anderen erleichterte sie ihm die Möglichkeit, im Rahmen seiner Objektbegutachtungen auch andere Termine wahrzunehmen, die nicht unbedingt mit seinem Job zusammenhingen. Gerade wenn er für private Bauherren oder Kaufinteressenten Objekte besichtigte, kam es immer wieder vor, dass er dabei nur von Frauen begleitet wurde. Sicher auch teils deshalb, weil deren berufstätige Männer keine Zeit hatten oder aber die Frauen allein lebten und wirtschaftlich unabhängig waren. In seiner früheren Firma war er entsprechenden Avancen gegenüber zunächst immer immun gewesen. Nachdem Karin sich jedoch im Laufe der Jahre körperlich immer mehr von ihm zurückgezogen hatte, waren ihm die Zuneigungsbekundungen der weiblichen Kundschaft immer weniger entgangen. Irgendwann war es dann zum ersten Mal passiert. Die knapp vierzigjährige Frau war äußerst attraktiv und Eigentümerin einer Werbeagentur mit fünfzehn Angestellten gewesen. Aufgrund ihrer erfolgsgekrönten Arbeit hatte sie es sich leisten können, sich für einen Altbau in der Innenstadt zu interessieren. Für diesen Altbau hatte sie eine Begutachtung gewollt, um die Sanierungskosten einschätzen zu können. Schon als sie ihm bei der Begrüßung ihre Hand reichte, hatte er insgeheim gedacht, dass er diese Frau ebenfalls gern begutachten würde. Ihren Blicken bei der ersten gemeinsamen Begehung hatte er entnehmen können, dass ihre Gedanken offenkundig in die gleiche Richtung gingen. Tatsächlich hatten sie den Rundgang noch nicht abgeschlossen, als sie sich aufeinander stürzten und sich die Kleider vom Leib rissen. Schon lange nicht mehr hatte er sich zuvor so sehr als Mann gefühlt wie in dieser halben Stunde. Das Gutachten für den Altbau hingegen fiel schlecht aus. Eher zufällig hatte er später mitbekommen, dass irgendein Bauunternehmer das Anwesen gekauft hatte. Der Frau war er danach nie mehr begegnet, woran er freilich auch kein Interesse gehabt hatte. Von da an war es immer wieder zu solchen Begegnungen mit Frauen gekommen. Mit der Zeit war er ein wenig unvorsichtig geworden. Das hatte schließlich auch zu seinem Abschied von seiner alten Firma geführt. Nachdem sich eine Kundin bei seinem Chef, mit dem sie über fünf Ecken verbunden war, über ihn beschwert hatte, wurde Daniel aufgefordert zu kündigen. Diese Aufforderung hatte sein damaliger Chef mit dem dezenten Hinweis darauf garniert, Karin von den »Unstimmigkeiten in seiner Arbeitsweise« zu informieren. Im Gegenzug hatte er ein erstklassiges Zeugnis bekommen und damit schnell seine derzeitige Arbeitsstelle gefunden. Die neue Firma war bedeutend größer und deckte nahezu alle Bereiche des Bauens für private und öffentliche Bauherren ab.

Die Arbeit ging ihm gut von der Hand. Es klopfte an der Tür, die gleich darauf aufging, noch bevor er etwas sagen konnte.

»Guten Morgen, Daniel.«

Es war Horst, ein fünfundfünfzigjähriger Kollege mit Mondgesicht, kaum noch Haaren auf dem Kopf, dafür aber mit einem wie festgeklebten Lächeln, das einen Hinweis auf sein sonniges Gemüt gab. Daniel konnte ihn gut leiden.

»Guten Morgen, Horst.«

»Wie wär’s, wenn wir in der Mittagspause in die Stadt gingen und die Frauenwelt ein wenig aus den Angeln heben würden?«, fragte Horst und lachte dabei. Daniel wusste, dass sein Kollege ledig war und auch keine Freundin hatte. Das hinderte ihn freilich nicht daran, regelmäßig solche Sprüche von sich zu geben. Sie waren nicht ernst gemeint, weshalb Horst bei den Mitarbeitern sehr beliebt war.

»Tut mir leid, Horst, aber ich muss heute in der Mittagspause Ramona von der Schule abholen und nach Hause bringen.«

»Wieso das denn?«

»Ramonas Lehrer machen heute Mittag einen Ausflug und deshalb kann sie nicht in der Schule bleiben. Und Karins Mittagspause ist zu kurz, als dass sie ihr reichen würde.«

»Haben diese Lehrer eigentlich nichts anderes zu tun, als Ausflüge und Ferien zu machen?«

»Sieht so aus.«

»Na, in diesem Fall werde ich mich wohl allein vergnügen müssen.«

»Tja, da hast du leider recht. Aber vielleicht tröstet es dich ja, wenn ich dir sage, dass ich dich um dieses Vergnügen beneide.«

»Aber beim Grillfest heute Abend bis du doch da? Oder musst du dann auch noch Kindsmagd machen?«

»Ja, klar. Karin verzichtet extra auf ihren wöchentlichen Ausgehtag mit ihrer Freundin, damit ich zum Grillfest bleiben kann.«

»Prima. Dann also bis heute Abend um fünf.«

Horst hob seine rechte Hand zu einem wortlosen Gruß und ging wieder hinaus. Daniel sah auf seine Uhr. Er hatte noch zwei Stunden, bevor er sich auf den Weg zur Schule machen musste.

14 Stunden vorher

»Was versteht ihr denn unter ›Gewalt in der Familie‹?«

Karin sah die Mädchen und Jungen ihrer achten Klasse der Friedrich-Schiller-Schule an. Einige der einundzwanzig Schüler machten sich offenkundig Gedanken über diese Frage. Andere wiederum schien das Thema wenig zu interessieren. Darunter waren auch zwei Jungen, von denen Karin wusste, dass es in ihren Familien häufig zu Streitigkeiten kam, die auch körperlich ausgetragen wurden.

»Na, wenn mein Alter mir widerspricht, empfinde ich das als Gewalt in der Familie«, meldete sich Tobias als Erster zu Wort. Die Klasse lachte und auch Karin musste schmunzeln. Tobias war immer für einen lockeren Spruch zu haben.

»Du willst damit also sagen, Tobias, dass es nicht nur körperliche Gewalt gibt, sondern auch andere Formen?«, fragte Karin nach.

»Ähem – ja, nein, weiß nicht.«

»Natürlich gibt es auch andere Formen von Gewalt in der Familie«, mischte sich nun die hübsche Serena ein.

»Woran denkst du dabei?«, wollte Karin wissen.

»Sprachliche Gewalt, Missachtung, Liebesentzug und noch ein paar andere Sachen.«

»Aber Serenchen, ich liebe dich doch noch immer!«, erwiderte daraufhin Tobias’ Nebensitzer Pitt. Die beiden saßen direkt hinter Serena und deren Freundin Connie. Während erneut lautes Lachen das Klassenzimmer erfüllte, reagierte Serena nicht auf Pitts Einwand. Karin sah ihrem konzentrierten Gesichtsausdruck an, dass sie sich nicht von ihren Gedanken zu diesem Thema abbringen lassen wollte.

»Könnte diese Art von Unterbrechung durch Pitt eigentlich auch eine Form von Gewalt sein?«, ließ Karin sich den Gesprächsfaden nicht aus der Hand nehmen.

»Nee«, meldete sich aus der fünften und letzten Reihe Ismail zu Wort. »Bei Pitt ist das nur Dummheit!«

Ohne sich umzudrehen, hob Pitt lediglich seinen rechten Arm und reckte den Mittelfinger in die Höhe. Karin warf ihm einen kurzen, missbilligenden Blick zu, woraufhin Pitt leicht errötete. Karin wusste, dass Pitt auf solche Signale reagierte. Er hatte ein sonniges Gemüt und war allgemein ziemlich beliebt. Ebenso wenig war ihr seine heimliche Zuneigung für Serena entgangen. Pitt gehörte zu den Jungen in der Klasse, die noch keine Freundin hatten, dafür viele Pickel und Übergewicht. Also bemühte er sich regelmäßig, so lässig wie Tobias zu erscheinen.

Lisa aus der zweiten Reihe meldete sich.

»Ja, Lisa«, erteilte Karin ihr das Wort.

»Ich denke schon, dass auch solche Unterbrechungen eine Form von Gewalt sein können. Denn wenn ich auf diese Art beispielsweise immer die gleiche Person nicht zu Wort kommen lasse oder sie in ihren Gedanken störe, ist das eine Form von Unterdrückung. Und ich finde, Unterdrückung hat immer auch etwas mit Gewalt zu tun.«

»Aber kommt es nicht auch darauf an, wie der andere so etwas empfindet?«, platzte Thomas heraus, ohne sich vorher zu melden. Karin reagierte nicht darauf. Ihr war es recht und auch wichtig, dass eine Diskussion in Gang kam. Sie liebte diese Diskussionen gerade mit Jugendlichen, denen die Fähigkeit, sie zu führen, oft genug abgesprochen wurde. Dabei hatte sie selbst bisher überwiegend nur positive Erfahrungen gemacht. Vielleicht lag es daran, dass die meisten ihrer Schüler aus einem Umfeld stammten, in dem es oft genug aufreibende Situationen und auch Herausforderungen zwischenmenschlicher Art gab, denen Jugendliche nicht ausgesetzt werden sollten.

»Ich finde, da hat Thomas recht«, stimmte die leicht übergewichtige Mira ihrem Klassenkameraden zu.

»Du willst damit also sagen, Mira, dass es Verhaltensweisen gibt, die von den einen als Gewalt empfunden werden können, während sich andere nicht daran stören?«

»Ja, bestimmt.«

»Das glaube ich auch«, übernahm erstaunlicherweise Tobias Miras Standpunkt.

»Und warum?«, wollte Dominik wissen, bevor er sich nervös über seinen Haarwirbel an der linken Kopfseite strich.

»Na, du brauchst dir doch nur anzuschauen, wie die Weiber reagieren, wenn …«

»Wir sind keine Weiber, du Blödmann!«, unterbrachen einige Mädchen Tobias wie aus einem Mund.

»Ja, ja, ist ja schon gut«, beschwichtigte Tobias sie. »Aber vergesst erstens nicht, dass Unterbrechen eine Form von Gewalt sein kann. Und zweitens ist eure Reaktion typisch für das, was ich sagen wollte.«

»Dann sag’s doch, du Blödmann!«, hatte sich Tanja mit ihren rot gefärbten Haaren in der dritten Reihe noch nicht beruhigt.

»Selber blöd, dumme Zicke!«

»Hallo! Bleibt bitte beim Thema!«, riss Karin die Kontrolle wieder an sich. Sie hatte genug Erfahrung, um zu wissen, dass ihr Eingreifen an diesem Punkt wichtig war, um die Diskussion nicht in gegenseitige Beschimpfungen ausarten zu lassen.

»Na, das war jetzt wirklich typisch! Die einen reagieren so und die anderen so. Ein paar von euch Mädchen sind schon stinksauer, wenn man sie nur als Weiber bezeichnet. Und den anderen macht es nichts aus.«

»Außerdem zicken wir doch auch nicht rum, wenn ihr uns als Kerle bezeichnet«, gab Niclas zu bedenken, ein sonst eher ruhiger Mitschüler.

»Ja und? Wär’s euch lieber, wir würden Milchbubis zu euch sagen?«, hatte Tanja sich ganz offenkundig in Rage geredet.

»So, Leute, das reicht jetzt. Werdet bitte wieder sachlich, sonst kommen wir nicht weiter. Ich habe eine weitere Frage an euch.«

Die Schüler beruhigten sich wieder und warteten gespannt auf die nächste Frage ihrer Lehrerin.

12 Stunden vorher

Als er bei der Schule ankam, stürmten die Schüler gerade aus dem Gebäude. Es dauerte nicht lange und er entdeckte Ramona inmitten einer Gruppe Gleichaltriger. Er drückte auf die Hupe und stieg aus. Rasch überquerte er die Straße, um zu verhindern, dass Ramona einfach zu ihm herüberrannte. Sie hatte das Hupen gehört, ihn entdeckt, sich von ihren Mitschülern verabschiedet und war in seine Richtung losgerannt.

»Hallo, Papa!«, rief sie und warf sich freudestrahlend in seine Arme, als sie ihn erreicht hatte. Daniel verspürte immer wieder aufs Neue ein Glücksgefühl, dass seine Tochter ihm ihre kindliche Liebe so direkt und uneingeschränkt zeigte. Noch zeigte. Er war sich im Klaren darüber, dass diese Zeit irgendwann vorübergehen und sich das wahrscheinlich sogar in sein Gegenteil verkehren würde. Zwar wäre das dann die natürlichste Sache der Welt, dennoch trübte diese Aussicht seine Freude beim Zusammensein mit seiner Tochter ein wenig. Noch aber war es nicht so weit, und deshalb würde er diese Zeit genießen, solange es ging.

»Hallo, mein Engelchen«, begrüßte er sie, hob sie hoch und drehte sich einmal mit ihr im Kreis, bevor er sie wieder auf den Boden stellte. Ihre langen blonden Haare flogen durch die Luft. Sie sah bezaubernd aus.

»Ich habe eine Eins im Rechnen bekommen.«

Der Stolz über diese gute Note stand Ramona ins Gesicht geschrieben.

»Das ist ja prima, mein Engelchen!«

»Julia hat auch eine Eins bekommen.«

»Na, ihr zwei seid halt einfach kluge Mädchen.«

»Ich weiß!«, erwiderte Ramona und grinste übers ganze Gesicht.

Auf der Fahrt nach Hause ließ Daniel sich von Ramona alle Einzelheiten der Klassenarbeit erzählen. Dabei bedauerte er insgeheim, dass diese kindliche Unbefangenheit bei Karin im Laufe der Jahre nahezu gänzlich verschwunden war. Dabei hatte ihn gerade diese Unbefangenheit vor mehr als zwölf Jahren dermaßen in ihren Bann gezogen, dass er nur noch und für immer mit Karin zusammen sein wollte.

Er parkte seinen Ranger direkt in der Hofeinfahrt von Schneiders. Helen schien sie bereits erwartet zu haben. Sie waren noch nicht an der Haustür, als diese aufging und die Nachbarin herauskam. Freudestrahlend streckte sie ihre Arme nach Ramona aus, wobei sie leicht in die Knie ging.

»Hallo, Ramona, mein Schatz«, begrüßte sie das Mädchen und drückte es fest an sich. Ramona genoss diese Begrüßung offenkundig. Daniel blieb wenige Schritte vor ihnen stehen und beobachtete die beiden. Ihm war in den vergangenen Jahren keineswegs entgangen, dass sich in Helens Augen bei diesen Begrüßungen immer wieder mal Tränen bildeten. Bestimmt erinnerte sie sich in diesen Momenten an ihre eigene Tochter, die sie durch dieses tragische Unglück verloren hatte. Daniel hatte keine Vorstellung, was es hieß, sein Kind zu verlieren. Was er aber wusste, war: Wenn er Ramona verlöre, würde seine Welt zusammenbrechen. Manchmal hatte er sich schon versucht vorzustellen, wie eine Trennung von Karin und ihm wohl ablaufen würde. Dabei spürte er jedes Mal, wie sich innerhalb von Sekunden Zorn in ihm aufzubauen begann bei der Vorstellung, dann möglicherweise auf sein Engelchen verzichten zu müssen oder aber es nur noch selten sehen zu dürfen. Das würde er niemals zulassen. Dass er die Trennung von Karin früher oder später, wahrscheinlich eher früher, verkraften würde, daran zweifelte er nicht. Sich von seiner Tochter zu trennen, dagegen würde er sich jedoch mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und mit aller Kraft wehren. Hin und wieder hatte er sich gerade in den vergangenen Monaten durchaus gefragt, ob und wie er selbst zu dieser zunehmenden Entfremdung zwischen Karin und ihm beigetragen hatte. Doch ihm wollte einfach keine vernünftige Antwort darauf einfallen. Das Einzige, was er sich wirklich vorhalten könnte, wären seine kleinen Affären. Doch zum einen waren es ja nun auch wieder nicht besonders viele. Und zum anderen hatte er es bisher zu verhindern gewusst, dass Karin davon erfuhr. Möglicherweise hatte aber auch sie einen anderen Mann kennengelernt, von dem er nichts wusste. Das würde ihre Zurückhaltung erklären, vor allem was ihr gemeinsames Sexleben betraf. Nur: Sollte sie tatsächlich einen anderen Mann kennengelernt haben, würde er keineswegs Einzelheiten darüber wissen wollen. Es wäre ihm gleichgültig, auch wenn es ihn durchaus ein wenig traurig stimmen würde. Er hatte sie doch so sehr geliebt. Nun feststellen zu müssen, dass auch die stärkste Liebe keine Garantie für ein erfülltes Zusammenleben bis zum Tod war, deprimierte ihn.

Erst als Ramona an seinem Hemdsärmel zupfte, begriff Daniel, dass er in seine Beziehungsgedanken abgetaucht war. Helen musterte ihn mit einem prüfenden Blick, zeigte dann aber sofort wieder ihr übliches Lächeln.

»Sie bleiben doch auch zum Mittagessen, Herr Schönwind, oder?«

Daniel schüttelte den Kopf.

»Leider nein, Frau Schneider. In zwanzig Minuten muss ich bereits wieder im Büro sein, ich habe dort einen Termin. Dann wird es zu hektisch. Aber vielen Dank für die Einladung. Was gibt es denn zu essen?«

»Pfannkuchen mit Apfelmus«, antwortete Helen.

»Mhm…«, machte Ramona und fuhr sich genüsslich mit ihrer Zunge über die Lippen.

»Das hört sich ja richtig lecker an«, antwortete Daniel, obschon er Süßspeisen nicht besonders mochte. »Dann isst Ramona einfach ein paar Pfannkuchen für mich mit, nicht wahr, mein Engelchen?«

»Au ja«, sagte Ramona und lachte gemeinsam mit Helen Schneider.

Daniel drückte seiner Tochter rasch einen Kuss auf die Stirn, setzte sich ins Auto und machte sich wieder auf den Weg zur Arbeit. Im Rückspiegel sah er Ramona winken.

7 Stunden vorher

Janina lag bäuchlings auf ihrem Bett, starrte zum Fenster hinaus und langweilte sich unendlich. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass das Leben viel zu schnell an ihr vorbeizog. Dabei war es keineswegs tröstlich, zu wissen, dass sie spätestens in drei Stunden in seinen kräftigen Armen liegen konnte und sie sich lieben würden. Was nützte ihr die Zukunft, wenn sie sich in der Gegenwart langweilte? Wenn sie immer darauf warten müsste, dass die Zukunft ihr gegen die langweilige Gegenwart beistand, müsste sie sich die Kugel geben.

Ihr Smartphone klingelte: Kim.

»Hi, Süße«, begrüßte Janina ihre beste Freundin. Sie ahnte den Grund für ihren Anruf. Sofort war die Langeweile wie weggefegt.

»Hi, Janina. Na, was machst du?«

»Dreimal darfst du raten. Ich langweile mich hier zu Tode.« Wie um ihre Behauptung zu beweisen, gab Janina ein langes Stöhnen von sich. Kim lachte.

»Ach, komm, du tust bestimmt nur so. Immerhin hast du heute Abend ja noch dein geheimnisvolles Rendezvous.«

»Geheimnisvoll? Ich verstehe nicht, was du damit meinst«, antwortete Janina und lachte. Seit sie Kim vor einem halben Jahr erzählt hatte, dass sie einen Mann kennengelernt habe, versuchte ihre beste Freundin mit allen Tricks, von ihr zu erfahren, um wen es sich bei diesem Mann handelte. Anfangs hatte Janina sich noch darüber aufgeregt. Mit der Zeit war ihr jedoch klar geworden, dass Kims Fragen nach ihrem heimlichen Verehrer das Geheimnisvolle ihrer Beziehung zu diesem noch verstärkte und sie sogar ein wenig erregte.

»Immerhin versetzt du für diesen Typ deine angeblich beste Freundin.«

»Aber, Süße, du bist meine beste Freundin. Meinst du im Ernst, ich würde dir sonst von ihm erzählen?«

»Ich weiß nicht. Was hast du mir denn bisher schon groß von ihm erzählt? Ich weiß weder, wie er aussieht, noch, wie alt er ist, und auch sonst erzählst du mir nichts von ihm. Im Gegensatz dazu habe ich dir immer alles von Michi anvertraut.«

Kims Stimme klang nicht böse, eher ein wenig genervt. Als Janina den Namen von Kims Ex hörte, schüttelte sie unwillkürlich den Kopf. Sie war heilfroh gewesen, als Kim diesem den Laufpass gegeben hatte. Zum einen hatte er echt ätzend ausgesehen, sodass sie sich schon manchmal für ihre Freundin geschämt hatte. Zum anderen hatte er ihr bei ihren gemeinsamen Begegnungen oft genug heimlich schnelle Blicke zugeworfen, in denen seine Gier deutlich erkennbar war. Wäre Kim nicht ihre beste Freundin gewesen, hätte sie ihm, ohne zu zögern, seine Grenzen aufgezeigt und ihn vor allen bloßgestellt. So aber hatte sie immer auf die gleiche Art und Weise reagiert und ihn so lange angestarrt, bis er ihrem Blick nicht mehr standhalten konnte und verlegen wegschaute. Meistens hatte es nur wenige Sekunden gedauert. Kim schien davon nie etwas mitbekommen zu haben. Zumindest hatte sie Janina nie darauf angesprochen. Über Michis Verhalten hatte sich Janina nicht zuletzt auch deshalb aufgeregt, weil Kim mit ihren schulterlangen braunen Haaren und ihren immer von einer topmodischen Brille umrahmten braunen Augen ausgesprochen hübsch aussah. Außerdem war sie absolut vertrauenswürdig und hatte schon allein aus diesem Grund einen besseren Kerl verdient als ausgerechnet den geilen Michi.

»Sei froh, dass du den Typ in die Wüste geschickt hast. Der war doch nichts für dich. Wie würden meine Alten sagen? Du hast was Besseres verdient!«

Sie lachten beide.

»Und, was werdet ihr heute Abend unternehmen? Geht ihr in die Disco?«

»Nee, Discos sind nicht so sein Ding.«

»Also bleibt ihr zu Hause und verbringt einen romantischen Abend bei Kerzenlicht?«

»Wahrscheinlich. Ich lasse mich da einfach mal überraschen. Ach, übrigens, Süße, habe ich dir schon erzählt, was er mir beim letzten Mal geschenkt hat?«

»Nein, was denn?«

»Badebomben für die Badewanne.«

»Badebomben? Echt? Wie kommt er darauf? Das schenken doch eher Frauen.«

»Ich sag’s ja: Er überrascht mich immer wieder.«

»Und wie alt ist er, hast du gesagt?«

Janina zögerte kurz, dann lachte sie.

»Fast hättest du mich erwischt, Süße. Ich habe dir bisher noch nicht gesagt, wie alt er ist.«

Auch Kim lachte nun verschmitzt. »Irgendwann wird es mir gelingen, du wirst sehen. Aber vielleicht erzählst du es mir ja freiwillig schon vorher.«

Von draußen rief eine Stimme nach Janina.

»Ich muss Schluss machen, Süße. Mein Alter ruft nach mir.«

»Und deine Eltern wissen tatsächlich immer noch nichts von deinem Lover?«

»Wenn du ihnen nichts erzählt hast – dann nein. Aber jetzt muss ich wirklich Schluss machen. Du weißt ja, dass das einzige Argument von meinem Alten ist, wenn ihm etwas nicht passt, mit Hausarrest zu drohen. Bis Morgen, Süße. Und vergiss ja nicht, was wir wegen des Kinos heute Abend abgesprochen haben. Sonst bringe ich dich um!«

»Ja, ja, ist schon klar. Tschüss dann bis morgen. Und treibt es nicht zu bunt heute Abend!«

Sie lachten beide und beendeten das Gespräch. Janina ging in die Küche hinunter, wo ihre Mutter gerade das Abendessen vorbereitete.

»In zehn Minuten gibt es was zu essen.«

»Ich habe keinen Hunger. Außerdem werde ich nachher noch mit Kim eine Kleinigkeit essen.«

Janinas Mutter drehte sich um und sah ihre Tochter enttäuscht an. Auch wenn sie und ihr Mann Robert sich längst daran gewöhnt hatten, dass ihr einziges Kind sich mehr und mehr von ihnen löste, versetzte es ihr trotzdem immer wieder aufs Neue einen Stich. Hinzu kam, dass Janina ihnen immer erst im letzten Moment sagte, was sie vorhatte. Und wäre sie nicht noch ein paar Wochen minderjährig, würde sie wahrscheinlich auch das nicht mehr tun.

»Du hast uns gar nicht gesagt, dass du heute Abend noch weggehst.«

»Wir wollen ins Kino.«

»Ja, aber dann kannst du doch hier mit uns noch etwas essen und dein Geld sparen.«

»Vielleicht esse ich ja auch gar nichts. Wie gesagt, ich habe eigentlich gar keinen Hunger.«

»Oh, Janina! Es ist schon schade, dass wir keinen Abend mehr zu dritt miteinander verbringen.«

Mit gesenktem Kopf drehte sich Dorle Heitmann wieder zum Herd um. Etwas verunsichert stand Janina da und betrachtete hilflos ihre Fingernägel. Wo war ihr Vater? Möglicherweise könnte es doch noch Schwierigkeiten geben, zu ihrem Date zu kommen.

5 Stunden vorher

Daniel ließ es zu, dass sich Inka Dembruck eng an ihn drückte. Inka arbeitete in der Verwaltung und verstand es, nicht zuletzt durch ihre regelmäßig bunte, wenn nicht gar schrille Kleidung auf sich aufmerksam zu machen. Dazu passten ihre kurz geschnittenen, grün gefärbten Haare und ihre schönen grünen Augen. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass Inka bereits den ganzen Abend über geplant hatte, in eine solche Situation mit ihm zu kommen.

»Schön, dass Sie auch hier sind.« Mehr hatte sie nicht gesagt und war einfach zu einem Tisch weitergegangen, an dem unter anderem ein paar Kollegen von ihr saßen. Daniel hatte ihr erstaunt nachgeschaut und dafür sogleich einen Kommentar von Horst geerntet.

»Wie es scheint, hat die heiße Inka ein Auge auf dich geworfen.«

Daniel fühlte sich ertappt, setzte aber sofort ein Lächeln auf. Im Rahmen seiner Arbeit hatte er selbstverständlich immer wieder mal mit der Verwaltung zu tun. Und selbstverständlich war Inka ihm mit ihrer Erscheinung auch durchaus angenehm aufgefallen. Doch in den vergangenen Jahren war es ihm bisher gelungen, sich an seinen Vorsatz zu halten, nicht mit Kolleginnen anzubandeln. Früher oder später konnte das nur zu Missverständnissen und daraus resultierendem Ärger führen. Von dieser Regel hatte er bisher nur ein einziges Mal eine Ausnahme gemacht. Das war vor knapp einem Jahr gewesen, als er dem fröhlichen Wesen einer vierundzwanzigjährigen Praktikantin nicht hatte widerstehen können. Sie hatten sich nach der Arbeit verabredet und einen schönen Abend mit noch schönerem Sex verbracht. Karin gegenüber hatte er sein spätes Nach-Hause-Kommen in klassischer Manier mit Überstunden gerechtfertigt. Und nun also Inka Dembruck. Noch wusste er nicht recht, was er davon halten sollte.

Der Kollege, der den DJ mimte, hatte einen langsamen Foxtrott aufgelegt. Daniel fielen erste Blicke auf, die von einzelnen der etwa vierzig Grillfestteilnehmer zu ihnen herübergeworfen wurden. Zugleich spürte er eine aufkommende Spannung in seinem Schritt. Wie sollte er sich verhalten?

*

Es klingelte.

»Das hat mir jetzt gerade noch gefehlt«, brummte Robert Heitmann vor sich hin.

»Ich gehe und mach auf«, erklärte Dorle und stand auf. Sie wollte vermeiden, dass sich Roberts Laune noch mehr eintrübte. Als er gehört hatte, dass Janina nicht mit ihnen zu Abend essen und stattdessen lieber mit ihrer Freundin ins Kino gehen würde, hatte er seine Verärgerung darüber lautstark kundgetan. Janina hatte zwei, drei Minuten zugehört, ohne zu widersprechen, und war dann einfach in ihr Zimmer gegangen. Natürlich hatte das Robert noch wütender gemacht. Dorle wusste nur zu genau, dass Robert sich weniger über den geplanten Kinobesuch aufregte als vielmehr darüber, nicht mehr die Rolle im Leben seiner Tochter zu spielen, die er über Jahre hinweg innegehabt hatte. Hätten Sie noch weitere Kinder bekommen, wäre es sicherlich leichter gewesen. Doch dem war leider nicht so gewesen und so musste Janina die ideale Tochter sein. Und eine ideale Tochter würde ihre Eltern bis an deren Lebensende lieben, sich für sie interessieren und sich um sie kümmern. Janinas Entwicklung zeigte aber deutlich, dass sie von den unausgesprochenen Wünschen vor allem ihres Vaters nicht besonders viel hielt. Insgeheim verstand sie Janina nur zu gut. Wahrscheinlich gebärdete sie sich oft einfach nur deshalb so wild und angriffslustig, weil sie um diese Wünsche und Erwartungen ihres Vaters wusste, ohne ihnen gerecht werden zu können und zu wollen. Im Grunde genommen war ihre Tochter ein sanftmütiges Mädchen, das noch nicht genau wusste, wohin es sein Weg im Leben führen sollte. Janina konnte so lieb und nett sein, dass Robert und sie selbst sich auch nicht an gewissen Äußerlichkeiten ihrer Erscheinung störten. Dazu gehörte besonders, dass sie sich nicht scheute, ihre körperlichen Reize durch entsprechende Kleidung zu betonen. Dorle war stolz auf die Schönheit ihrer Tochter. Vor knapp zwei Jahren hatte sie sogar schon einmal ein seriöses Angebot von einem Modefotografen erhalten. Dieser hatte sie unter den Zuschauern einer Modenschau im Freien entdeckt und angesprochen. Der attraktive Mann mittleren Alters hatte drei Tage später vor ihrer Tür gestanden und sie um ein Gespräch gebeten. So wie sie es einschätzen konnte, war das Angebot wirklich seriös gewesen. Doch Robert ließ nicht mit sich reden und so war das Gespräch nach knapp einer halben Stunde beendet. Nun, wahrscheinlich hatte Robert damals richtig entschieden, als er darauf bestand, dass Janina zuerst mal ihr Abitur machen und volljährig werden sollte. Danach könne sie sich immer noch für eine Karriere als Model entscheiden. Trotzdem war ihr damals zum ersten Mal bewusst geworden, dass Janina um die Ängste ihres Vaters wusste, was sie betraf.

Sie kam an die Haustür und öffnete. Vor ihr stand Arend Küstner, ein Freund der Familie, besonders aber von Robert. Für Dorle kam er wie gerufen.

»Ja, hallo, Arend! Das ist ja eine nette Überraschung.«

»Guten Abend, Dorle. Ich war gerade in der Nähe und dachte mir, schau ich mal nach, was der alte Griesgram so macht.«

Arend hatte das Wort »Griesgram« extra laut gesagt. Prompt folgte aus der Küche Roberts Reaktion.

»Dir gebe ich gleich den alten Griesgram, du Jungspund!« Dann folgte ein Lachen. Arend war mit seinen dreiundvierzig Jahren nur zwei Jahre jünger als Robert. Er hatte jedoch ein jungenhaftes Aussehen, das, gepaart mit einer äußerst attraktiven Erscheinung, dazu führte, von den meisten deutlich jünger geschätzt zu werden.

»Komm schon rein, du frauenloser Nichtsnutz«, befahl Robert von der Küche aus. Seiner Stimme nach zu urteilen, hatte sich sein Ärger über Janina schlagartig verflüchtigt. Immer wieder wies er Arend nur zu gern darauf hin, dass er selbst im Gegensatz zu ihm eine Frau und ein Kind, also eine Familie hatte. Arend störte sich nicht daran und lachte meistens darüber.

Dorle schloss die Tür hinter ihm und ging zusammen mit Arend in die Küche.

»Aus dir spricht ja nur der pure Neid, Robert, dass du nicht die Freiheit genießen kannst wie ich. Wobei du ja noch das unverdiente Glück hast, mit Dorle zusammen sein zu dürfen.« Arend wandte sich Dorle zu. »Dorle, ich kann es einfach nicht verstehen, wie du es mit diesem alten Tattergreis aushältst. Ich an deiner Stelle hätte ihn schon längst in die Wüste geschickt und mir einen Mann wie mich angelacht.«

Dorle stand zwischen den beiden Männern, die sich inzwischen mit einem kräftigen Händedruck begrüßt hatten.

»Tja, lieber Arend, dafür bist du leider viel zu spät in mein Leben getreten. Sonst hätte ich dich ja vielleicht wirklich angelacht«, erwiderte sie und schmunzelte dabei. »So aber habe ich den besten Mann kennengelernt, der mir je in meinem Leben über den Weg gelaufen ist.«

»Ich Armer«, sagte Arend und alle drei lachten.

»Was möchtest du trinken?«, fragte Dorle ihren Besucher. »Ein Bier oder ein Gläschen Wein?«

Arend winkte ab. »Nein, lieber keinen Alkohol. Ich habe schon zum Mittagessen ein kleines Pils getrunken. Aber wenn du einen Kaffee für mich hättest, würde ich nicht Nein sagen.«

»Mache ich gern«, erklärte Dorle und wandte sich der Anrichte zu, auf der neben einem Kaffeevollautomat noch eine Kaffeemaschine für Brühkaffee stand. Sie und Robert tranken meistens Filterkaffee. Den Vollautomaten hatten sie vor allem auf Wunsch von Janina gekauft. Sie beide nützten ihn nur insofern, als sie besonders am Wochenende ab und an einen Espresso tranken.

*

»Ein Steak wäre nicht schlecht«, antwortete Inka auf Daniels Frage, was er ihr zum Essen mitbringen könne. Daniel ging zu dem großen Grill, dessen ungekrönter Meister, Hans Gusten, mit stolzem Gesicht und schweißbedeckter Stirn, ihn erwartungsvoll anschaute.

»Na, Herr Schönwind, was darf’s sein?«

»Zwei Steaks, wenn das möglich ist.«

»Na klar ist das möglich«, erwiderte Gusten und legte zwei prächtige Steaks auf die beiden Teller, die Daniel ihm hinhielt. »Vielleicht noch ein paar Zwiebelchen und etwas Gemüse?«

Bevor Daniel antworten konnte, beförderte Gusten die Zutaten auf die Teller.

»Ich wünsche einen guten Appetit.«

»Danke«, sagte Daniel und ging zu seinem Tisch zurück. Inka strahlte ihn an.

»Nach dem Tanzen habe ich jetzt richtig Hunger«, erklärte sie und schnitt sich den ersten Bissen von ihrem Steak ab. Sie hatte strahlend weiße Zähne. Daniel hielt ihr den Brötchenkorb hin.

»Danke«, sagte sie und nahm sich eine Brezel heraus. Daniel nahm auch eine und stellte den Korb auf den Tisch zurück. An diesem saßen noch vier weitere Kollegen, drei Männer und eine Frau. Nach einer gewissen anfänglichen Aufregung über ihren engen Tanz hatte sich diese inzwischen gelegt, und alle hatten entweder Gesprächspartner oder aber eine Beschäftigung gefunden, mit der sie sich nützlich machen konnten. Daniel war es nur recht. Er mochte es nicht, ungewollt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Viel lieber bestimmte er, wo es langging.

»Sie tanzen gut«, sagte Inka, ohne Daniel dabei anzusehen.

»Und Sie erst! Alle Achtung, kann ich da nur sagen.«

»Ach was. Das hängt auch immer vom Tanzpartner ab. Die meisten Männer können nicht tanzen.«

»Vielleicht liegt es ihnen einfach nicht so im Blut wie den Frauen?«

»Sie meinen, Männer sind nicht so heißblütig wie wir Frauen?«

»Das weiß ich nicht. Aber …«

»Sind Sie heißblütig?«

Inka sah ihn nun direkt an. Daniel schluckte. Die Kollegin ging ja ziemlich ran. Das war er nicht gewohnt. Aber es fühlte sich gut an. Was hatte sie vor?

»Manche sagen so, manche sagen so. Wenn Sie verstehen, was ich meine?«

»Seit wann können wir Frauen euch Männer verstehen?«

»Wird das normalerweise nicht umgekehrt behauptet?«

»Sie meinen, dass Männer Frauen nicht verstehen?«

»Ja.«

»Verstehen Sie Frauen, Daniel?«

»Man…«

»Manche sagen so, manche sagen so?«

Daniel sah sie verdutzt an, dann begriff er, und beide lachten.

»Ich wollte eigentlich sagen, dass es manchmal nicht ganz einfach ist, Frauen zu verstehen.«

»Liegt das an den Frauen oder an den Männern?«

»Ist das eine Fangfrage?«

»Würden Sie sich denn fangen lassen?«

»Ich muss schon sagen: Sie legen ein ziemliches Tempo vor.«

»Bei Ihnen scheint sich das zu lohnen. Meinen Sie nicht auch?«

»Da würde ich Ihnen natürlich nur sehr ungern widersprechen.«

»Ach, höflich sind Sie auch noch! Ich mag höfliche Männer. – Was halten Sie davon, wenn wir uns duzen?«

*

»Ich gehe jetzt«, sagte Janina, als sie kurz nach halb sieben die Küche betrat.

»Vielleicht könntest du erst einmal Arend begrüßen, so wie es sich gehört«, sagte ihr Vater mit einem missbilligenden Blick auf ihre Kleidung.

»Hallo, Janina.«

»Hallo«, antwortete Janina, warf Arend aber nur einen schnellen Blick zu. Es war ihr anzusehen, dass sie den Freund ihrer Eltern nicht besonders mochte.

»Du siehst gut aus, Janina. Wie ein Engel und ganz die Mutter!«

Janina zog die Augenbrauen hoch, schwieg jedoch. Ihre Mutter lachte. Es klang ein wenig verlegen.

»Na, Arend, jetzt übertreibst du aber.«