Engelstopas - Saskia Louis - E-Book

Engelstopas E-Book

Saskia Louis

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Beschreibung

Eine Entscheidung steht bevor ... und Ella weiß, dass es ihre letzte sein wird. Das brisante Finale der Romantasy-Trilogie um Gabe und Ella Es ist unmöglich, gegen den Erzengel Killian zu gewinnen. Zumindest, wenn Ella nicht endlich das Geheimnis der Engelssteine lüftet. Das ist ihr genauso klar wie die Tatsache, dass einen Todesengel zu lieben um ein Vielfaches komplizierter ist, als einen Menschen zu daten. Doch der einzige Gegenstand, der Licht ins Dunkel bringen könnte, ist das flammende Diamantschwert, das seit Jahrhunderten verschollen ist. Ihr läuft die Zeit davon, sodass sie zu drastischen Mitteln greifen muss. Denn der Feind ist auf dem Vormarsch und im finalen Kampf zwischen Engeln und Todesengeln weiß Ella nur eines ganz genau: Sie wird Gabe nicht seinem düsteren Schicksal überlassen ...

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Saskia Louis

Engelstopas

 

Das Vermächtnis der Engelssteine 3

 

 

 

 

© 2023 by Saskia Louis

2. Auflage Mai 2023

Lektorat: Marie Weißdorn

Korrektorat: Klaudia Szabo

Zeichnungen: Antonia Sanker

 

Umschlaggestaltung:Sarah Buhr - Covermanufaktur

unter Verwendung von Motiven von

© Stock.adobe.com, © Shutterstock.com

 

 

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.

Handlungen und Personen dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

 

Saskia Louis

Wegemanns Feld 16

45527 Hattingen

[email protected]

 

www.saskialouis.com

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Epilog

Na, schon fertig?

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Leseprobe

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Henning,

weil ich bei ihm weder kämpfen noch mich verteidigen musste.

 

 

Prolog

 

 

Wir haben immer eine Wahl.

Die meisten Menschen sind nur zu selbstsüchtig, um die Richtige zu treffen. Aber was ist schon richtig und was ist schon falsch?

Das Leben besteht aus einer Aneinanderreihung von Entscheidungen.

Und ich weiß, dass diese meine Letzte sein wird.

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Gabe küsste meinen Nacken, während er mit den Fingerspitzen sanft mein Schlüsselbein nachfuhr. Ich schloss die Augen und lauschte meinem Herzen, das aufgeregt gegen meine Brust hämmerte. Und als seine Lippen meine fanden und er mich auf seinen Schoß zog, vergaß ich einfach alles.

Ich vergaß, dass wir vor knapp vierundzwanzig Stunden beinahe gestorben wären. Vergaß, dass wir beide unser Leben würden geben müssen, um die Engel zu besiegen. Ich vergaß, dass der Erzengel Killian mein Vater war, vergaß, dass meine Mutter mich jahrelang belogen hatte, und schob den Gedanken daran beiseite, dass der Krieg zwischen Engeln und Todesengeln kurz bevorstand. Ich vergaß das flammende Diamantschwert, vergaß das Medaillon um meinen Hals und vergaß, dass ich nicht vergessen konnte.

Es gab nur Gabe und mich, seine Hände auf meiner Haut, seinen Herzschlag unter meinen Fingern … und ein energisches Hämmern an der Tür. Gabe hielt in seiner Bewegung inne und widerwillig schlug ich die Augen auf. Wir lagen mittlerweile halb aufeinander, die weiche Matratze in meinem Rücken, meine Beine um seine geschlungen, während das Klopfen gegen die Tür penetrant lauter wurde. Der dumpfe Ton zerrte an meinem Geduldsfaden, der zurzeit zugegebenermaßen dünn gesponnen war.

Gabe setzte sich seufzend auf und ließ seinen Kopf mit einem lauten Klonk gegen die Steinwand fallen.

Ich legte eine Hand über die Augen. »Nein!«

»Doch!«, drang Leahs Stimme durch die Tür.

»Nein! Wir sind nicht zu Hause!«

»Dass du nicht in deinem Zimmer bist, weiß ich auch! Aber ihr werdet hier draußen gebraucht.«

Nein. Wurden wir nicht. Ich wollte nicht aus diesem Zimmer gehen. Sobald ich diesen Raum verließ, würde die Realität über mir zusammenbrechen. Ich wollte hierbleiben, in meiner Blase. Der Blase, in der Gabe mich liebte, und es nichts anderes gab außer ihn und mich. Meine kitschige, kleine Blase, in der endlich alles gut werden würde. In der Schmetterlinge herumflatterten, pinke Elfen tanzten und mein Herz mit Helium gefüllt war.

»Komm später wieder, Leah.«

»Das würde ich ja, wenn Akasha mir nicht solche Angst einjagen würde! Sie hat gesagt, dass sie sofort mit euch sprechen will – und dann hat sie ihren Zeigefinger gehoben, Ella! Du weißt, dass ich Zeigefinger nicht abkann, also kommt raus, bevor sie auch noch den anderen hebt.«

Ich schnaubte und setzte mich ebenfalls hin. »Sie hat doch gerade erst mit Gabe gesprochen.«

»Hat sie nicht«, rief Leah.

»Hat sie nicht«, murmelte Gabe.

»Hat sie nicht?« Ich sah Gabe verwirrt an. »Ich dachte, du hättest ihr direkt Bericht erstattet.«

Er schüttelte den Kopf und zeichnete gedankenverloren mein Schlüsselbein nach. »Nein. Ich wollte sichergehen, dass ich hier bin, sobald du mit Ian gesprochen hast.«

»Hallo? Seid ihr noch da? Ella, ich möchte zu Lao. Ihm geht es nicht gut. Bitte, kommt da raus.«

Richtig. Lao.

Lao, der von zwei aufeinanderprallenden Schilden fast zu Tode gequetscht worden war. Natürlich wollte Leah bei ihm sein, nur …

»Ich möchte nicht da raus«, flüsterte ich und senkte den Blick. »Ich möchte sie nicht alle anlügen. Ich …« … möchte nicht sterben müssen.

Wenn ich durch diese Tür ging, würde ich mich einen weiteren Schritt auf meinen Tod zubewegen. Jeder Meter, den ich zurücklegte, brachte mich näher an mein Ende – doch je länger ich bräuchte, desto mehr Menschen würden sterben. Wenn ich je in einem Dilemma gesteckt hatte, dann war es dieses.

»Ich weiß«, flüsterte Gabe. »Aber das Lügen wird leichter.«

Ich biss mir schmerzhaft auf die Unterlippe und starrte auf meine im Schoß verschränkten Hände. »Aber ich will nicht, dass es leichter wird. Ich will keine gute Lügnerin werden.«

»Du hast keine Wahl. Du weißt, dass wir ihnen nicht die Wahrheit sagen können, Ella.«

Ich ließ die Stirn in meine Hand sinken und presste die Augenlider fest zusammen. »Gabe, ich bin nicht sicher, ob ich das kann. Ob ich einfach …«

»Ich weiß«, wiederholte er leise, schloss die Arme um mich und hüllte mich in Wärme. Er küsste meinen Scheitel – und seine Worte hingen in der stickigen Luft, als warteten sie darauf, dass er ihnen noch etwas hinzufügte. Doch das tat er nicht. Was hätte er auch sagen sollen? Es gab nichts, was die Situation besser gemacht hätte.

Egal, welches Szenario ich durchging … es endete mit unserem Tod. Es war simpel:

 

Drei Hand in Hand, die Farben entflammen,

Drei geben sich selbst, die Macht wird zerschlagen.

Die Steine vereint, die Welt zu verdammen,

Wer opfert sich selbst?, bleibt offen zu fragen.

 

Es gab drei Engelssteine: den Blutopal, den Todessaphir und den Engelstopas. Jeder konnte nur von der dazugehörigen Rasse berührt werden: den Menschen, den Todesengeln und den Engeln. Zusammen hatten sie die Macht, Menschen in Engel zu verwandeln, und zerstört werden konnten sie nur, indem man ihnen seine Energie gab – all seine Energie.

Es war nur logisch, dass Gabe und ich dazu auserwählt worden waren, uns zu opfern. Abgesehen davon, dass ich schlichtweg der einzige Engel war, der dieser Seite zur Verfügung stand, waren wir Halbwesen. Halb Mensch, halb Engel beziehungsweise Todesengel. Rein rechnerisch gesehen, war es sinnvoll, uns zu nehmen. So müssten nur zwei geopfert werden und nicht drei.

Nur … Logik war nicht das, womit ich meinen Tod betrachten wollte. Logik war etwas für Matheaufgaben. Für Statistiken. Für kalte, emotionslose Engel. Nicht für ein Teenagermädchen wie mich, das endlich mit dem Kerl zusammengekommen war, den es liebte, nur um dann zu erfahren, dass sie beide sich bald würden umbringen müssen!

Shakespeare hätte es wirklich nicht besser schreiben können.

»Macht ihr da drinnen rum, oder was?«

Ich löste mich aus Gabes Umarmung und stand vom Bett auf. »Wir kommen, Leah«, antwortete ich und rieb mir übers Gesicht.

Mein Kopf schmerzte von all den Informationen, die er in den letzten zwölf Stunden hatte verarbeiten müssen. Meine Glieder schmerzten, seit Killian mir all diese Energie genommen hatte. Selbst meine Haarspitzen schienen zu schmerzen. Ich war so müde, dass ich das Gefühl hatte, im Stehen schlafen zu können.

»Komm«, murmelte Gabe und seine Lippen streiften meine Schläfe, bevor er meine Hand nahm. »Wir machen es kurz.«

Ich schnaubte. »Genau. Ist ja kaum etwas passiert in den letzten Wochen. Das können wir locker in einer Fünf-Minuten-PowerPoint-Präsentation zusammenfassen.«

Wir öffneten die Tür, vor der Leah mit ungeduldiger Miene ihr Bein mit den Fäusten malträtierte. Als ihr Blick mein Gesicht streifte, schnappte sie schockiert nach Luft. »Oh mein Gott, ist alles in Ordnung?«

Ich blinzelte und umklammerte Gabes Hand fester. Wie um mich selbst daran zu erinnern, dass er noch da war. »Klar. Wir sind da alle lebend raus, oder? Wir können uns glücklich schätzen.«

Leah starrte mich weiter an. Betrachtete meine tränennassen Wangen. Meine verkrampfte Haltung. Ich wandte das Gesicht ab.

»Ella. Es ist nicht deine Schuld. Das mit Lao und dem Todessaphir. Das weißt du, oder?«

Ihre Worte trieben mir erneut Tränen in die Augen, doch ich schluckte sie hinunter und lehnte mich an Gabes Seite. Er hielt mich am Boden. Schien im Moment das einzig Reale, Echte zu sein.

»Das weiß ich«, antwortete ich.

»Du machst dir keine Vorwürfe?«, hakte Leah skeptisch weiter nach.

»Nein. Lass uns gehen, ja? Lao wartet bestimmt auf dich. Und Akasha auf uns.«

Meine beste Freundin sah immer noch besorgt aus, doch ihr Drang, nach Lao zu schauen, war stärker als der, mich weiter zu löchern. Also schenkte sie Gabe, der auffällig stumm geblieben war, nur noch einen misstrauischen Blick und trieb uns dann die engen, leeren Steingänge entlang. Die elektrischen Fackeln warfen langgezogene Schatten auf den Boden und der Geruch der feuchten Erde trieb mir die Übelkeit in den Magen.

Wir werden sterben.

Wir durchquerten den vollkommen ausgestorbenen Aufenthaltsraum, liefen durch die Flure aus festgetretenem Lehm und Dreck und stiegen zwei weitere steile Treppen hinab, die in dem Gang zum Refugium und zum Krankenzimmer mündeten.

Leah verabschiedete sich und zog die hölzerne Tür auf, hinter der Lao wohl noch immer behandelt wurde. Bevor sie jedoch dahinter verschwand, warf sie mir einen weiteren verwirrten und besorgten Blick zu, der mir fast das Herz brach. Sie machte sich schon genug Sorgen. Hatte genug eigene Probleme. Ihre Haut war blass, die bläulichen Adern stachen deutlich darunter hervor und ihre Lippen hatte sie den ganzen Weg lang aufeinandergepresst. Lao hatte eine heftige Gehirnerschütterung und einige Knochenbrüche erlitten – und ich wusste, dass sie ihn liebte. Sie kannte ihn erst seit einigen Wochen, aber mehr hatte sie nicht gebraucht. Ich wollte sie nicht auch noch damit belasten, dass sie glaubte, ich hätte Schuldgefühle. Die ich natürlich hatte, die aber nicht der Grund dafür waren, dass ich so beschissen aussah!

Ich hasste es, meine beste Freundin leiden zu sehen, und noch mehr hasste ich es, sie anzulügen. Doch ich konnte ihr weder die Wahrheit sagen, noch fühlte ich mich im Moment dazu in der Lage, aufmunternde Worte zu finden. Mein eigenes Schicksal sah gerade nicht sehr fröhlich aus und das hinderte mich daran, allzu optimistische Gedanken zu formen.

Gabe hatte seine Finger noch immer mit meinen verschränkt. Es mochte eine unschuldige Geste sein, doch mir bedeutete sie mehr, als ich zugeben wollte. Ich hatte lange genug darauf gewartet, dass er eine solche Art der Nähe überhaupt zuließ – und er war die einzige Person, die wissen konnte, wie ich mich fühlte. Die einzige Person, die alles wusste. Vor der ich keine Geheimnisse hatte.

Bis auf die Tatsache, dass Killian mein Erzeuger war.

Ich sah Gabe von der Seite her an und fragte mich, ob diese Information für ihn etwas ändern würde. Für Ian hatte sie nichts geändert. Aber er war auch praktisch mein Vater.

Wir bogen nach rechts ab und schwiegen noch immer. Gabe sah genauso müde aus, wie ich mich fühlte. Seine schwarzen Haare hingen ihm in die Stirn und mussten dringend geschnitten werden, ein Bartschatten bedeckte Wangen und Kinn und seine dunklen Augen schienen mehr als nur den Gang vor uns zu sehen. Ich schloss meine Finger enger um seine, als fürchtete ich, ihn an seine Gedanken zu verlieren.

Als wir das Refugium passierten, blickte ich überrascht durch die offenstehende steinerne Tür. Der Saal war brechend voll. An den vier senkrecht auf das Podium zulaufenden Tischreihen saßen eine Unmenge an Findern und Kämpfern. Ich kniff die Augen zusammen und erkannte, dass auch auf dem Podest bereits mehrere, in schwarz gekleidete Personen Platz genommen hatten. Es musste bereits nach ein Uhr morgens sein. Warum zum Teufel waren noch alle wach?

Ich wollte stehen bleiben, um mir das Innere genauer anzusehen, doch Gabe zog mich weiter. »Es wird wohl doch ein wenig später«, stellte er trocken fest, während er sich mit der freien Hand übers Gesicht fuhr. »Akasha scheint eine Vollversammlung einberufen zu haben.«

Na klasse. Noch mehr Fremde, die mich anstarren und Fragen stellen würden, die ich allesamt nicht beantworten wollte.

»Die Prioritäten hier unten werden falsch gesetzt«, murmelte ich. »Eine Horde Todesengel, eine Menge schlechter Neuigkeiten, aber kein Buffet. Was für eine Art von Empfang ist das?«

Gabe grinste und küsste meine Fingerknöchel. »Keiner, auf den ich um ein Uhr nachts gehen möchte.«

Wir gelangten an eine schwere Holztür, die anstelle eines Türknaufs nur eine bronzene Faust zierte, die man als Türklopfer benutzen konnte. Kaum hatte Gabe sie auf das Holz fallen lassen, schwang die Tür auch schon auf. Ein ovaler Raum kam zum Vorschein, der bis auf einen antiken Holzschreibtisch und den daran lehnenden Todesengel vollkommen leer war.

Ich hatte Akasha schon in vielen verschiedenen Gemütszuständen gesehen: Ruhig. Berechnend. Besorgt. Wissend. Alle davon sehr kontrolliert. Dieser emotionale Zustand hier war mir jedoch neu. Sie strahlte eine Mischung aus Ungeduld, Anspannung und unterdrückter Wut aus. Ihre dunkelroten Haare waren in einem untypisch lockeren Dutt auf ihrem Kopf zusammengefasst und ihre hellbraunen Augen zu Schlitzen verengt. »Da seid ihr ja endlich. Ich hatte vor Stunden mit eurem Bericht gerechnet!« Obwohl sie mit uns beiden sprach, fixierte sie nur Gabe.

»Endlich?«, echote ich tonlos, während die Tür hinter uns ins Schloss fiel. »Da sind wir endlich?«

Meine Hand verkrampfte sich in Gabes und mein Schild prickelte plötzlich auf meiner Haut. Wie konnte Akasha sich anmaßen, entrüstet zu sein? Wie konnte die Frau, die mir seit drei Monaten verschwieg, dass ihr Plan auf meinen Tod hinauslief, sich dem Irrglauben hingeben, sie hätte das Recht, sich zu beschweren?

Der Erztodesengel seufzte und ihr Blick schwenkte zu mir. »Ich verstehe, dass ihr müde seid. Ihr habt eine Menge durchgemacht. Aber hier aufzutauchen, einen verletzten Lao mitzubringen, mir zu sagen, dass der Todessaphir in Killians Händen ist, und mich dann nicht weiter zu informieren – das ist inakzeptabel!«

»Inakzeptabel?« Ruckartig entriss ich Gabe meine Hand und meine Stimme war so laut geworden, dass mir die Stimmbänder wehtaten. Die Wut, die ich vergessen geglaubt hatte, kochte in mir hoch und schäumte über. »Du kannst froh sein, dass ich überhaupt noch hier bin, Akasha!«, schrie ich.

Als wüsste Gabe, dass ich kurz davor war, wortwörtlich zu explodieren, legte er mir beruhigend eine Hand auf die Schulter.

Die Geste verfehlte ihren Zweck.

»Wie kannst du das Wort ›inakzeptabel‹ auch nur in den Mund nehmen?«, brüllte ich weiter und ballte meine Hände zu Fäusten. Ich hatte Akasha sonst immer nur gesiezt, aber bei Todesengeln, die ich nicht länger respektierte, kam mir die Höflichkeitsform wie eine Verschwendung vor. Meine Fingernägel gruben sich schmerzhaft in meine Haut, doch es war mir egal. »Inakzeptabel ist, dass ihr mir seit drei Monaten verschweigt, dass ich sterben muss, um die Engelssteine zu zerstören! Dass ihr mich wie eine Schachfigur auf eurem Brett hin und her geschoben habt, ohne euch einen Scheiß für mich zu interessieren! Die ganze Zeit bin ich nur Mittel zum Zweck für dich gewesen und jede Sekunde, in der ich dich nicht gegen die Wand klatsche, ist ein Lob an meine Selbstbeherrschung!«

Akasha zuckte nicht mit der Wimper. Im Gegenteil. Ihre Züge schienen sich zu entspannen. »Du hast es ihr also erzählt«, murmelte sie leise.

»Gabe hat mir einen Dreck erzählt!«, fuhr ich dazwischen, bevor er auch nur den Mund aufmachen konnte. »Killian hat es erwähnt – während er dabei war, mich umzubringen!«

Akasha seufzte tief und ließ sich gegen die Schreibtischplatte sinken. »Ich wusste, dass der Tag kommen würde. Ich wünschte nur, dass ich es dir hätte erklären können …«

»Du wusstest es? Wirklich? Dir war klar, dass du irgendwann würdest fallen lassen müssen, dass ich Selbstmord begehen muss? Jetzt fühle ich mich doch gleich besser.«

»Ella, beruhige dich. Ich verstehe, dass du aufgebracht bist …«

»Aufgebracht? Nein! Aufgebracht war ich, als ich herausgefunden habe, dass ich ein Halbengel bin! Es sollte ein eigenes Wort dafür geben, wie ich mich jetzt gerade fühle!« Mein Kopf schien durch die Lautstärke meiner eigenen Stimme zu zerspringen. Wie konnte sie so ruhig dastehen? Wie konnte sie immer noch so kontrolliert sein?

»Ella. Ich konnte es dir nicht früher erzählen. Der richtige Zeitpunkt war nie …«

»Der Zeitpunkt?« Bevor ich wusste, was geschah, riss ich meine Arme hoch und Energie flutete aus meinen Händen. Mein Schild machte sich selbstständig und schmetterte die Lampe von Akashas Schreibtisch gegen die Wand. Sie zerbarst in tausend Stücke. »Der Zeitpunkt wäre jede verdammte Sekunde gewesen, die ich hier unten verbracht habe. Der Zeitpunkt wäre gewesen, als feststand, dass ich der letzte Halbengel bin, dass ich die Einzige bin, die …«

»Ella.« Akasha sah mich scharf an und ihre Stimme war überraschend gefasst dafür, dass Glassplitter in ihren Haaren hingen. »Beruhige dich! Hör mir wenigstens zu und …«

»Ich habe genug zugehört!«, fauchte ich und trat mit erhobenem Arm auf den Erztodesengel zu. »Immer und immer wieder habe ich akzeptiert und hingenommen, was du gesagt hast! Ohne dass du mir je genug vertraut hättest, um mich vollkommen in euren Plan einzuweihen!«

»Das hat nichts mit Vertrauen zu tun.«

»Womit dann?«

Akasha verschränkte ihre Arme. Aber es war keine defensive Geste. Eher eine nachdenkliche, als müsste sie sich ihre Worte zurechtlegen. »Wenn ich dir am ersten Tag von dem gesamten Plan erzählt hätte«, flüsterte sie schließlich, »wie hoch wäre da die Wahrscheinlichkeit gewesen, dass du auch nur eine Sekunde bei uns geblieben wärst?«

Ich presste die Lippen zusammen. »Was hat das …«

»Beantworte meine Frage, Ella.«

»Keine Ahnung! Vielleicht dreißig oder vierzig Pro…«

Akasha schnalzte mit der Zunge und meine Zähne sanken automatisch in meine Unterlippe.

»Schön. Null«, korrigierte ich mich. »Sie wäre null gewesen. Aber …«

»Genau. Null. Du wärst gegangen und innerhalb der ersten Woche von einem Zayat oder Engel getötet worden. Das konnte ich nicht riskieren. Nicht für dich und nicht für uns. Du musstest um jeden Preis hierbleiben.«

»Schön! Aber was ist mit jedem Tag danach?«

»Ella. Du musstest verstehen, worum es geht – was es bedeuten würde, wenn Killian die Steine in die Hände bekommt. Erst dann konnte ich dir mehr Informationen geben. Informationen, Ella, haben eine Macht, derer sich niemand mehr bewusst zu sein scheint. Wissen im falschen Moment weiterzugeben …«

»Es ist mir egal, was für eine Macht Informationen haben!«, schrie ich und meine Faust landete schmerzhaft auf meinem eigenen Bein. »Du hattest kein Recht, mich so hinzuhalten! Kein verdammtes, beschissenes Recht, mit mir zu spielen und mir nichts als die ewige Frage zu lassen, was zum Teufel ihr mir verschweigt! Du hättest mir die Ungewissheit, die Angst und so viel … Frust ersparen können!« Wenn ich nur an die vielen Stunden dachte, die ich damit zugebracht hatte, mich zu fragen, was Gabes Problem war. Die Stunden, in denen ich geglaubt hatte, dass ich der Grund für seine ständige Abweisung war.

»Ja, ich gebe zu, dass ich strategisch und nicht emotional gehandelt habe«, erklärte Akasha nickend und ihr Blick flackerte kurz zu Gabe, dessen Gesicht so unbeteiligt war wie eh und je. »Ich entschuldige mich dafür. Es tut mir aufrichtig leid. Aber es war nun einmal die einzige Möglichkeit, dir jetzt mit gutem Gewissen diese Entscheidung überlassen zu können. Denn erst jetzt kennst du alle Fakten, die du benötigst, um sie zu treffen.«

»Entscheidung? Was für eine Entscheidung habe ich denn zu treffen, Akasha?« Freudlos lachte ich auf, die linke Hand in meinem Haaransatz vergraben. »Die, selbst zu leben und zuzulassen, dass Killian die Menschheit vernichtet, oder zu sterben und alle zu retten? Was für eine Art von Entscheidung ist das?«

Akasha sah mich fest an und faltete ihre Hände. »Eine, die du jetzt stark genug bist zu akzeptieren.«

»Aber doch nur, weil mir keine andere Wahl bleibt!«

»Natürlich hast du eine Wahl«, fuhr sie auf und stieß sich vom Schreibtisch ab. »Du hattest sie. Gestern Abend.«

»Wovon zum Teufel sprichst du?« Meine Hand fuhr in die Höhe, vielleicht, um auch die Deckenlampe zerspringen zu lassen, doch ich würde es wohl nie herausfinden. Gabe packte meine Faust und zog sie zurück an meinen Körper.

»Sachbeschädigung hilft niemandem, Ella«, murmelte er und verschränkte seine Finger mit meinen.

Akasha achtete nicht auf ihn, sondern redete weiter. »Du hast gestern mit Killian gesprochen, Ella, und es würde mich sehr wundern, wenn er dir nicht das Angebot gemacht hätte, in seine Reihen einzutreten. Oder irre ich mich?«

Ernüchtert hörte ich auf, mich gegen Gabes Griff zu wehren. »Ich … nun … ja, nur …«

»Nur, er hat deine Mutter umgebracht?«

»Ja!«

Akasha nickte und kratzte sich am Kinn. »Und hätte er deine Mutter nicht umgebracht, wärst du dann auf sein Angebot eingegangen?«

Böse funkelte ich sie an. »Nein, natürlich nicht!«

»Also hast du dich gestern eigentlich aus freien Stücken dazu entschieden, zu sterben. Du hattest eine Wahl und hast dich gegen die Engel entschieden – du hast deinen eigenen Tod gewählt, Ella. Und du hast es getan, ohne dir vollkommen bewusst zu sein, dass du, um Killian zu stürzen, letztendlich sowieso dein Leben geben müsstest. Genau deshalb war jetzt der richtige Zeitpunkt, es dir zu sagen. Es gibt keine Entscheidung mehr zu treffen, Ella. Du hast recht. Aber nicht, weil es moralisch verwerflich wäre, die Menschheit den Engeln zu überlassen. Sondern weil du sie schon längst getroffen hast. Du hast es bereits akzeptiert.«

»Ich …« Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ihre Worte ergaben Sinn und gleichzeitig wollte ich keines davon verstehen. Ja, ich hatte innerlich verstanden und vielleicht sogar akzeptiert, dass ich würde sterben müssen, dennoch … Es kam mir falsch vor. Dass Akasha und Gabe es so lange vor mir verheimlicht hatten. Dass sie mir somit wertvolle Zeit geraubt hatten, die ich hätte nutzen können. In der ich mit Gabe hätte zusammen sein können. Die ich …

»Ella.« Akashas Stimme hatte sich verändert. Auf einmal war ihr jede Rationalität genommen worden. Stattdessen schwang pures Mitgefühl in ihr mit und als ich aufsah, erkannte ich, dass Tränen in ihren Augen glitzerten. »Ella. Du hast keine Ahnung, wie sehr ich mir wünsche, ich könnte an eure Stelle treten. Ich habe dreißig Jahre damit verbracht, nach anderen Möglichkeiten zu suchen – doch es gibt sie nicht. Drei geben sich selbst, die Macht wird zerschlagen. So steht es geschrieben und so muss es geschehen. Ich kann dir nicht sagen, dass es mir leidtut, dass ihr beide so viel opfern müsst. Denn der Ausdruck ›leidtun‹ würde dem, was ich fühle, nicht gerecht werden.« Eine Träne löste sich aus ihren Wimpern und hastig wischte Akasha sie weg, als wäre es ihr peinlich, dass auch sie Gefühle besaß. »Ich wünschte, es wäre anders – aber das ist es nun einmal nicht. Alles, was ich zu dem Plan beitragen konnte, war, dich so gut wie möglich darauf vorzubereiten. Auf diesen Moment. Und zu hoffen, dass du es verstehen würdest.«

Sie sah in meine Augen. Ihr Blick schien in meine Blutbahnen zu sinken, ein taubes Gefühl zurückzulassen – und dann nickte ich. Denn ich verstand es. Was nicht bedeutete, dass ich ihr Handeln guthieß. Aber dennoch: Akasha hatte so gehandelt, um den Plan aufrechtzuerhalten. Sie hatte recht damit, dass meine Entscheidung bereits gefällt war. Eigentlich war sie gefällt, seitdem meine Mutter tot war. Seitdem ich wusste, dass ich nicht eher ruhen würde, bis Killian gestürzt war.

Das Gefühl, zu wissen, wie alles enden würde, war ernüchternd. Es war kein Gefühl, das mir ins Gesicht schrie, es war ein Gefühl, das dumpf in meinem Herzen pochte. Ein Gefühl von Endgültigkeit. Es war egal, ob ich bei dem Versuch starb, Killian zu töten, oder bei dem Versuch, die Steine zu zerstören. Das Ergebnis war dasselbe.

Trotzdem hoffte ein kleiner Teil in meinem Kopf, dass Akasha etwas übersehen hatte. Dass alle, die sich je mit den drei Engelssteinen beschäftigt hatten, einer fundamentalen Wissenslücke zum Opfer gefallen waren. Denn … Killian hatte eine Möglichkeit gefunden. Oder nicht? Er hatte etwas gefunden, das Energie speichern konnte. Er brauchte niemanden, um die Steine verschmelzen zu lassen. Was, wenn die Glaslilie nicht das einzige Artefakt war, das Energie sammeln und freisetzen konnte? Was, wenn man so viel Kraft sammeln könnte, dass man die Steine zerstören und trotzdem noch genug zum Überleben übrighaben könnte?

Oder funktionierte die Lilie so nicht? War sie nur dafür da, Energie aufzubewahren?

Wieder dachte ich an meine Mutter und das diamantene Schwert und all das, was sie mir nicht erzählt hatte. Sie hatte so viel gewusst. Vielleicht hatte sie ja eine Lösung gefunden?

Ich spürte, wie Gabe sanft meine Fingerspitzen drückte, und fragte mich unwillkürlich, ob er das gleiche dumpfe Gefühl im Herzen hatte. Er wusste schon so viel länger, dass seine Lebenszeit begrenzt war. Wie hatte er so lange damit leben können? Wusste Elion es? Was war mit Max? Seiner Mutter?

Die Tür wurde aufgestoßen und als hätten meine Gedanken ihn heraufbeschworen, stand Gabes Vater im Türrahmen. »Akasha …«, fing er an, doch verstummte, als er bemerkte, dass der Erztodesengel nicht allein war. Überrascht nahm er die Szene vor sich auf: Akasha, deren Augen immer noch glänzten, die Lampe, die zersprungen auf dem Boden lag, und Gabe, der meine Hand hielt.

Elion hatte zumindest den Anstand, uns nur wenige Sekunden lang anzustarren, bevor er den Blick abwandte. »Entschuldigt, ich wollte nicht stören. Aber die Todesengel im Refugium werden ungeduldig. Wir warten auf dich, damit die Vollversammlung beginnen kann.«

Der Erztodesengel seufzte laut und als ich blinzelte, war auch der letzte Rest Traurigkeit aus ihren Augen verschwunden. »Wir werden den Bericht auf morgen verschieben müssen«, murmelte sie und im nächsten Moment verschwand sie an uns vorbei in Richtung Refugium. Elion warf uns beiden einen letzten Blick zu – er schien übermäßig an unseren immer noch verschränkten Händen interessiert zu sein –, bevor er Akasha nacheilte.

Ich seufzte erschöpft und wandte der zerbrochenen Lampe den Rücken zu. Gabe drückte erneut meine Hand. »Alles in Ordnung?«

Ich nickte. »Alles okay – also bis auf den Umstand, dass wir sterben müssen. Der ist immer noch echt ätzend.«

»Er wird auch nicht weniger ätzend.«

»Das habe ich befürchtet.«

 

 

 

Kapitel 2

 

Im Refugium war es brechend voll und unnatürlich laut. Ich konnte mich nicht daran erinnern, schon einmal so viele Todesengel auf einem Fleck gesehen zu haben. Außerdem schien die Menge vollkommen durcheinander zu sitzen. Bei der letzten von mir besuchten Vollversammlung hatten die Finder und Kämpfer sich ordentlich je auf zwei der vier Tischreihen aufgeteilt. Bunt zu Bunt und Schwarz zu Schwarz. Heute jedoch war der Raum eine einzige wirre Farbpalette. Finder und Kämpfer saßen wild verteilt an den Tischen und jedes Gesicht, über das mein Blick flog, war von Angst oder Anspannung gezeichnet. Wobei Angst jedoch das vorrangige Gefühl zu sein schien. Wenn um ein Uhr nachts eine Vollversammlung einberufen wurde, dann musste etwas Schlimmes passiert sein.

Die meisten der Anwesenden betrachteten das Pult, an dem nun auch Akasha Platz genommen hatte, aber überraschenderweise gab es auch eine Menge Todesengel, die …

»Warum starren uns so viele Leute an?«, flüsterte ich und drückte mich noch etwas enger an Gabe, der mich zu einem der mittleren Tische lotste, an dem ich seinen Bruder erkannte. Leah musste noch bei Lao sein, zumindest entdeckte ich sie nirgendwo.

»Keine Ahnung. Vielleicht ist das Internet zusammengebrochen und die Leute wissen nichts mehr mit ihrer Zeit anzufangen.«

Jeder Todesengel, an dem wir vorbeigingen, schien sich augenblicklich zu seinem Nachbarn umzudrehen. Das Getuschel wurde immer lauter.

Was war hier los? Wussten alle, dass Gabe und ich letzte Nacht beinahe gestorben waren? Oder hatten sie herausgefunden, dass Killian mein Vater war? Aber wie sollten sie? Ich hatte es nur Ian erzählt und dabei wollte ich es auch belassen.

»Meinst du, sie wissen, dass wir den Todessaphir verloren haben? Oder vielleicht …«

Ein unverkennbares Schnauben ertönte hinter mir und Tryn fegte an uns vorbei. »Gott, Ella. Bist du so naiv? Akashas Liebling hält Händchen mit dem Halbengelmädchen. Das ist skandalöser als die Ausrottung der Menschheit. Herzlichen Glückwunsch. Ihr seid in der Bild-Zeitung der Todesengel.«

Sie warf mir einen düsteren Blick zu – genau den Blick, den ich von Gabes Ex-Freundin erwarten würde – und ließ sich angesäuert neben Max nieder, den wir mittlerweile erreicht hatten.

»Das ist doch albern«, entfuhr es mir und kopfschüttelnd starrte ich jeden nieder, der hinter vorgehaltener Hand wahrscheinlich gerade über Gabe und mich redete. »Wir haben doch wahrhaft andere Probleme! Wie können sie noch Zeit dafür haben, über uns zu reden?«

»Für Tratsch ist immer Zeit«, belehrte mich Tryn.

»Ist doch egal, Ella«, murmelte Gabe und drückte mich auf den Stuhl neben seinem Bruder. »Du wirst so oder so immer angestarrt. Ich bin überrascht, dass es dir noch auffällt.«

Ich verschränkte die Arme und warf ihm einen bösen Blick zu. »Und ich bin überrascht, dass ich doch tatsächlich Skrupel habe, dich in aller Öffentlichkeit zu schlagen.«

Gabe grinste und zog meine Hand aus der Verknotung meiner Arme, um sie wieder in seine zu nehmen. »Absolut berechtigte Skrupel. Sonst steht bald noch jemand vor deiner Tür, um dich wegen häuslicher Gewalt zu befragen. Und wie du gerade so treffend gesagt hast: Wir haben doch wahrlich andere Probleme.«

Ich verdrehte die Augen und wandte mich aus offensichtlichen Gründen zu Max, der uns belustigt betrachtet hatte. »Mit was für einem Schläger hast du deinem Bruder nur immer eins über den Kopf gezogen?«

»Ach. Golf, Tennis – ich war da sehr kreativ.« Max, ein etwas weicheres und unbelasteteres Ebenbild seines Bruders, sah mich nachdenklich an und runzelte schließlich die Stirn. »Ella, nimm das jetzt nicht persönlich, aber … du siehst echt scheiße aus. Alles in Ordnung?«

Okay. Vielleicht war dieser Bruder doch nicht besser als der andere.

»Schön, dass du noch da bist, Max«, sagte ich süßlich lächelnd und klopfte ihm auf die Schulter, bevor ich meinen Stuhl näher an den Tisch zog. »Du weißt immer, wie du gute Laune verbreitest.«

»Danke, ich tue mein Bestes! Und ich kann euch doch nicht verlassen, wenn der Spaß gerade erst losgeht.«

Yippie. Krieg. Welch eine Freude.

»Ganz schön makaber für jemanden, der vor zwölf Stunden beinahe umgekommen ist«, murmelte ich.

»So halte ich mich über Wasser.« Max richtete sich auf und sah über meinen Kopf hinweg zu seinem Bruder. »Gabe, du siehst auch scheiße aus, aber du bringst es nur halb so charmant rüber wie Ella. Was ist los mit euch? Wir sollten uns fürs Erste entspannen. Euer Auftrag ist vorbei!«

Vorbei.

Nein. Unser Auftrag war nicht vorbei.

»Halt die Klappe, Max.« Gabe starrte zum Podium, hinter dem Akasha sich gerade erhob, doch sein Bruder war noch nicht fertig. Er deutete auf unsere Hände, die immer noch ineinander lagen.

»Und ihr seid jetzt also … etwas? Ist Gabe zur Vernunft gekommen? Hat er seine zwei Gehirnzellen wiedergefunden?«

Gabe verengte die Augen und warf seinem Bruder einen Todesblick zu. »Ich gebe dir gleich etwas, wenn du nicht die Klappe hältst.«

»Was denn? Süßigkeiten? Deine Nummer? Ein High-Five? Du drückst dich immer so ungenau aus.«

Ich schmunzelte. Es war schön zu wissen, dass manche Dinge immer gleich blieben, ganz egal wie viel sich um einen herum änderte.

»Gott, ich bin sogar zu müde, um dir eine zu verpassen«, meinte Gabe stöhnend und fuhr sich zum abertausendsten Mal mit der flachen Hand übers Gesicht. Als könnte er so seine Erschöpfung vertreiben.

»Ich würde das ja für dich übernehmen, wenn dein Bruder nicht so unterhaltsam wäre …«, erklärte ich und grinste Gabe an.

»Ich verpasse euch gleich allen eine, nur damit ihr endlich mit eurem beschissenen Disneygehabe aufhört!«, fluchte Tryn und warf einen genervten Blick über ihre Schulter.

»Ah, Tryn. Du musst wirklich …«

Doch wir würden wohl nie erfahren, was Tryn Max’ Meinung nach wirklich musste. Akasha stand am Rand des Podiums und augenblicklich verstummte die gesamte Halle.

»Danke schön«, sagte der Erztodesengel ruhig. Obwohl sie leise sprach, wurde jedes einzelne ihrer Worte über die gewölbte, bemalte Decke getragen. »Ich weiß, wir sind alle müde, und ebenso weiß ich, dass jeder von euch gern einen detaillierten Vortrag über den Stand der Dinge hätte. Dennoch werde ich es kurz halten. Ich selbst habe noch nicht alle Informationen, aber ich verspreche euch, dass ihr alles Wichtige erfahren werdet.«

Sie hielt inne, als wartete sie darauf, dass jemand widersprach. Natürlich tat das keiner. Die Einzige, die Akasha je widersprochen hatte, war ich, und ich hatte im Moment wirklich keine Lust, noch mehr Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. So wie die Leute immer wieder zu mir herüberstarrten, könnte man meinen, ich balancierte gerade einen roten Ball auf meiner Nase.

»Gut. Ich habe euch in der letzten Vollversammlung erklärt, wie Killian versucht, die Menschen in Engel zu verwandeln.« Das musste die Vollversammlung kurz nach unserer Abfahrt gewesen sein. »Euch allen ist die Wichtigkeit der Engelssteine bewusst. Ihr habt ebenso mitbekommen, dass in den letzten drei Wochen so viele Menschen attackiert wurden wie nie zuvor. Je näher Killian seinem Ziel kommt, desto schärfer wird er das Tempo anziehen – und ich muss euch jetzt leider mitteilen, dass er gestern den Todessaphir für sich gewinnen konnte.«

Im Raum wurde simultan die Luft eingesogen und vereinzelte Angstschreie erklangen. Es brach ein Gemurmel los, das sich anhörte, als hätte soeben jemand einen Wespenschwarm losgelassen.

»Aber wie?«

»Er kann ihn berühren?«

»Wo?«

»Warum waren die Todesengel nicht zuerst da?«

Köpfe drehten sich zu mir, Gabe und Tryn um und fragende wie auch vorwurfsvolle Blicke bohrten sich in unsere Gesichter. Sie wussten, dass wir den Todessaphir hatten finden sollen. Jetzt wussten sie auch, dass wir versagt hatten.

»Ruhe!«

Die Menge überhörte Akashas Ruf absichtlich und das Gemurmel schwoll an, bis meine Ohren dröhnten.

»Ich sagte: Ruhe!«

Diesmal hatte die Stimme des Erztodesengels jede Gelassenheit verloren. Eine steile Falte hatte sich zwischen ihren Augenbrauen gebildet und wütend sah sie auf die mittlerweile stummen Todesengel hinab. »Ich möchte kein Wort hören! Keine Anschuldigungen, keine Vorwürfe, kein Wort. Lao, Tryn, Gabe, Max und Ella haben gestern ihr Leben riskiert, um Killian von dem Todessaphir fernzuhalten. Wir können von Glück reden, dass sie noch leben und den Blutopal nicht auch noch an ihn verloren haben. Killian ist mächtiger als dreißig von uns zusammen und niemand darf erwarten, dass sie in einem direkten Kampf gegen ihn gewinnen.«

»Einem direkten Kampf?«

»Aber wie haben sie überlebt?«

»Wo ist Killian jetzt?«

Vorwurf wurde zu Ehrfurcht und ich sank tiefer in meinen Stuhl. Die Blicke wurden immer unangenehmer. Als versuchten sie, aus meinem Gesicht Informationen herauszupressen. Ich wäre jetzt gern überall gewesen, nur nicht hier. Eine einsame Eisscholle, mit nichts als einem Bunsenbrenner in der Hand, hörte sich doch verlockend an.

»Es wird Zeit, einzusehen, dass der Krieg kurz bevorsteht«, fuhr Akasha fort. »Dennoch dürft ihr eure Pflichten nicht vernachlässigen, die Menschen benötigen unseren Schutz mehr denn je. Trotzdem werden auch wir unsere Regeln etwas anziehen: Niemand verlässt das Hauptquartier, ohne sich bei einem Ältesten abzumelden.« Sie nickte zu der Tischreihe hinter ihr. »Und mit niemand meine ich niemand! Außerdem werden Aufträge ab heute nur noch zu zweit oder zu dritt ausgeführt. Sicherheit ist das oberste Gebot! Wir haben den Blutopal. Solange wir ihn besitzen und Killian dies nicht weiß, hat er noch nicht gewonnen. Solange er keine Ahnung hat, wo sich unser Hauptquartier befindet, sind wir sicher. Deshalb steht Ellas Schutz immer noch ganz oben auf unserer Prioritätenliste.« Ihr Blick flackerte zu mir herüber, doch ich wich ihm aus. Mein Schutz. Der Schutz, der so lange halten sollte, bis ich sterben konnte. Die Worte stießen mir bitter auf. »Ich werde morgen in aller Frühe die üblichen Abgesandten in unsere Nachbarländer schicken, um die anderen Todesengel zu warnen – ihr wisst, wen ich meine, und ich erwarte euch um acht Uhr in meinem Büro. Lorfin«, sprach sie einen rothaarigen Mann an, der in der Reihe der Ältesten hinter ihr saß. »Ich möchte, dass du dich um die Waffenentwicklung kümmerst. Um die Beschaffung von neuen Diamanten und Stahl – und ich bitte jeden hier, der etwas weiß oder eine Idee hat, wie wir effektiver arbeiten oder unsere Sicherheit erhöhen können, nach dieser Versammlung sofort zu mir zu kommen. Des Weiteren möchte ich, dass jeder Finder eine Kampftrainingseinheit zu seinem Pensum hinzufügt. Ohne Ausnahme. Ihr alle müsst so gut wie möglich vorbereitet werden, bevor der Ernstfall eintritt. Wir alle wussten, dass dieser Krieg kommen würde – aber das macht ihn nicht weniger angsteinflößend. Ich kann euch nicht versprechen, dass ihr sicher seid, aber ich kann euch versprechen, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun, um jeden Menschen und Todesengel zu beschützen.« Sie atmete tief durch und wirkte auf einmal unglaublich erschöpft. Die Falten und Furchen in ihrem Gesicht hatten sich vertieft und ihre Augen einen müden Ausdruck bekommen – vielleicht war sie doch älter, als ich immer vermutet hatte. »Und jetzt, wenn niemand weitere Einwände hat, sollten wir alle schlafen gehen. Es ist schon spät. Näheres können wir auch noch an einem anderen Tag besprechen.«

Das ließen sich die Todesengel nicht zweimal sagen. Stühle wurden zurückgeschoben und am Ausgang des Refugiums entstand eine Schlange. Ich blieb noch eine Weile sitzen. Gabe tat es mir gleich, während Tryn und Max aufsprangen und nach vorn zum Podium eilten. Ich fragte nicht, warum. Mein Kopf vertrug nicht noch mehr Informationen. Die Blicke, die auf ihm lasteten, machten ihn schon schwer genug.

»Ich glaub, ich war noch nie in meinem Leben so müde«, murmelte ich und schloss die Augen.

»Du kannst sofort ins Bett«, flüsterte Gabe und zog mich auf die Füße. »Es gibt nur noch eins, was wir machen müssen.«

Gequält öffnete ich ein Auge. »Was denn?«

Er lächelte, zog mich auf die Zehenspitzen und küsste mich. Seine Arme schlang er um meinen Körper, zog mich vom Boden und wahrscheinlich waren sie das Einzige, was mich noch aufrecht hielt. Als er sich schließlich von mir löste und ich wieder sicher auf meinen Fußballen stand, starrte ich verblüfft zu ihm hoch. Ich wollte mich nicht beschweren, aber … »Wozu war das denn jetzt?«

Grinsend umschloss Gabe mein Gesicht mit seinen Händen. »So entstehen wenigstens keine Gerüchte.«

Ich lachte leise und ließ meine Stirn gegen seine Brust sinken. »Wie aufmerksam von dir.«

»So bin ich.«

 

 

 

Kapitel 3

 

Ich wollte nicht allein schlafen und Gabe ließ mich auch gar nicht. Als wir unsere Zimmer erreichten, lotste er mich, ohne ein Wort zu verlieren, an meiner Tür vorbei und drückte mich stattdessen in sein Zimmer, in dem wir das Licht hatten brennen lassen. Er zog sein T-Shirt aus, doch bis zu seiner Hose kam er nicht mehr. Stattdessen fiel er rücklings aufs Bett und sobald sein Kopf das Kissen berührte, war er auch schon eingeschlafen. Ich war mindestens genauso müde, doch meine Gedanken wollten nicht zur Ruhe kommen.

Ich zog mich um, krabbelte neben ihm auf die Matratze, schob die Decke über uns beide und betrachtete sein Gesicht. Seine Augen waren geschlossen und er atmete leise und gleichmäßig. Die schwarzen Haare hingen ihm wirr in die Stirn und seine dunklen Wimpern lagen weich auf den hohen Wangenknochen auf. Die Nachttischlampe ließ seine Züge merkwürdig golden schimmern und nahe seines Herzens hob sich eine kleine, rot schimmernde Narbe von seiner gebräunten Haut ab. Dort, wo Killian ihn gestern mit dem Dolch getroffen hatte. Ich küsste ihn auf die Narbe und dann sanft auf die Lippen.

Es war so viel passiert. So viel Schreckliches. Doch ich konnte nicht umhin, für einen Moment glücklich zu sein. Weil ich hier war. Genau hier.

Ich ließ meinen Kopf auf seine Brust sinken und knipste die Nachttischlampe aus. Es würde einen Weg geben, Gabe zu retten. Da war ich mir sicher. Er hatte mich in den letzten Monaten immer wieder vor dem Tod bewahrt – jetzt war ich an der Reihe.

Ich schloss die Augen. Morgen war der erste Tag vom Rest meines Lebens. Und das war mein letzter Gedanke, bevor ich in einen tiefen Schlaf sank.

 

Acht Stunden später machte ich eine bahnbrechende Feststellung: Todesengel hatten eine sehr merkwürdige Auffassung von Richtig und Falsch. Das musste ich am Frühstückstisch am eigenen Leib erfahren.

Richtig: Ein Halbengel kämpft auf ihrer Seite und riskiert sein Leben, um den bösen Erzengel zu bezwingen.

Falsch: Dieser Halbengel fängt etwas mit einem angesehenen Todesengel an, der eigentlich für ein nettes, unschuldiges Todesengelmädchen vorgesehen war. Zum Beispiel Tryn.

Richtig: Man darf dieses Halbengelmädchen mit bösen Blicken, rüden Gesten und eifersüchtigem Schnauben belästigen. Außerdem dürfen Sätze wie »Kann sie überhaupt fühlen? Sie ist schließlich ein Engel!« und »Was findet er nur an ihr? Sie ist potthässlich!« fallen.

Falsch: Der Halbengel zeigt ihnen den Mittelfinger und droht, sie mit seinem Schild wie Käfer zu zerquetschen.

Insgesamt hatte ich doch stark den Eindruck, dass die Todesengel mit meiner und Gabes Beziehung nicht einverstanden waren. Auf eine mir unbekannte Art und Weise war wohl das Bild entstanden, dass ich Gabe unter einen alten Engelsbann gelegt haben musste – denn sonst würde er ja nie im Leben auf die Idee kommen, ihre eigenen Reihen derart zu verraten.

Gabe scherte der ganze Terz herzlich wenig. Er aß in aller Ruhe und zufrieden mit der Welt seine Cornflakes und unterhielt sich mit Tryn, die ihre Schadenfreude nicht verstecken konnte. Sie war nun einmal Gabes Ex-Freundin und hatte mich erst vor ein paar Wochen davor gewarnt, mich in Gabe zu verlieben. Er könne sich nie komplett selbst geben und ich müsse mich ewig hinter seiner Aufgabe als Todesengel einreihen, hatte sie gemeint. Ich konnte mir gut vorstellen, dass es ihr absolut nicht gefiel, dass sie falsch gelegen hatte. Dass er sich sehr wohl mit Körper und Seele auf eine Beziehung einlassen konnte – nur eben nicht mit ihr.

Wenn sie wüsste, weswegen er sich einem solchen Sinneswandel unterzogen hatte, würde ihr das diabolische Lächeln vielleicht vom Gesicht fallen.

»Hey, Leute.« Leah zog sich einen Stuhl von einem benachbarten Tisch heran und setzte sich neben mich. Dadurch wurde es unter dem Tisch so eng, dass ich meine Beine nicht mehr bewegen konnte. Nina und Luisa – die einzigen Todesengel, die sich unglaublich freuten, dass ich mir Gabe »geschnappt hatte« –, hatten unsere gemeinsame Frühstückstradition direkt wieder aufgenommen und tummelten sich neben mir.

»Boah, ich verhungere gleich.« Leah griff nach einer meiner Brötchenhälften. »Ich war bis gerade noch bei Lao.«

»Wie geht es ihm?«

»Ist alles in Ordnung? Ist er stark verletzt?«

Leah hob die Augenbrauen und sah Nina und Luisa an, als hätte sie gerade erst bemerkt, dass wir nicht allein am Tisch saßen. »Und ihr seid?«

»Luisa und Nina. Ich hab dir von ihnen erzählt«, erklärte ich und die beiden hoben jeweils die Hand, als ich ihre Namen nannte.

»Ach, richtig. Deine einzigen Verbündeten.« Langsam lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück, die Brötchenhälfte in der Luft, während sie die beiden von oben bis unten abschätzig betrachtete. Erst Luisa, die muskulös war und kurze, dunkelblonde Haare hatte, und dann die zierliche Nina, deren Unmenge an braunen Locken sie tagtäglich zu ersticken drohte. Schließlich seufzte sie. »Okay. Hatte eine von euch beiden was mit Lao? Wenn ja, muss ich euch jetzt leider bitten, den Tisch zu verlassen. Er gehört nämlich mir.«

Den beiden klappte die Kinnlade hinunter. Gabe lachte leise neben mir.

»Nein, hatten wir nicht! Wirklich«, beteuerte Luisa sofort. »Er ist nur ein guter Freund!«

»Genau, nur ein guter Freund«, bestätigte auch Nina, die ängstlich einige Zentimeter von Leah abgerückt war.

»Dann haben wir ja kein Problem.« Zufrieden führte Leah die Brötchenhälfte zu ihrem Mund und biss davon ab. Ihr Revier war somit abgesteckt. »Ihm geht es viel besser, morgen kann er wahrscheinlich gehen. Todesengel heilen ja wirklich lächerlich schnell. Apropos lächerlich: Warum starren alle Ella an, als wäre sie das Coronavirus?«

»Weil ich Gabe auf die Seite des Bösen verführt habe«, erklärte ich und schnitt mir ein neues Brötchen auf.

Meine beste Freundin nickte, als wäre das für sie nichts Neues, und warf einen Blick zu Gabe. »Ihr Todesengel seid nicht besonders höflich, hat euch das schon mal jemand gesagt?«

»Ja, seitdem Ella hier unten ist, höre ich das tatsächlich öfter«, bemerkte er trocken.

Ich verdrehte die Augen, musste aber lachen. »Es ist die Wahrheit! Unhöflich und heuchlerisch seid ihr.«

»Weil ihr Menschen ja auch alle mit eurer unglaublichen Nettigkeit überzeugt«, machte sich Tryn bemerkbar und lächelte mich zuckersüß an. »Wir Todesengel meucheln einander wenigstens nicht!«

Leah blinzelte gespielt verwirrt. »Aber natürlich nicht! Ihr habt genug Zayat, an denen ihr eure Aggressionen auslassen könnt. Die haben wir nicht.«

»Das hat nichts mit Aggressionen zu tun!«

»Erzähl das deinem Gesicht!«

Tryn öffnete den Mund, um bestimmt einen weiteren Beweis für die Unhöflichkeit der Todesengel zu liefern, als ein Schatten über den Tisch fiel.

Er stammte von Max. Sein Gesicht war so weiß, dass ich erschrocken mein Messer fallen ließ. Es landete klirrend auf meinem Teller und fiel dann auf den Tisch. »Oh mein Gott, welcher Engel ist dir denn über den Weg gelaufen?«

Er ignorierte mich vollkommen. Stattdessen starrte er Gabe an, der sofort aufgesprungen war.

»Es tut mir so leid, Gabe. Ich hatte keine Ahnung«, flüsterte sein Bruder. Seine Miene ließ vermuten, dass die Welt gerade von den Reitern der Apokalypse heimgesucht worden war und kurz vor dem Untergang stand.

»Was meinst du?« Gabes Körper war sofort in voller Alarmbereitschaft.

Max legte sich eine Hand an die Stirn und schüttelte immer wieder den Kopf. »Ich dachte, sie hätte das Recht, es zu wissen … Ich hab es nur erzählt, weil ich dachte, dass ich es auch wissen wollen würde! Ich habe wirklich nicht gedacht, dass … und ich konnte nichts tun!«

Nun wurde auch Gabe blass und die Idee, ihn vielleicht mit meinem Schild zu stützen, kam mir plötzlich gar nicht so dumm vor. »Was genau hast du ihr erzählt?«

Max massierte sich unangenehm berührt den Nacken. »Dass du fast gestorben wärst.«

»Was? Das kann nicht dein Ernst sein!« Gabes Stimme war ungewöhnlich laut geworden und eine Ader pochte an seiner Stirn. Der Rest der Todesengel, der den Frühstückssaal noch nicht verlassen hatte, sah überrascht auf.

»Sie hat es verdient, zu wissen …«

»Nein, hat sie nicht«, knurrte Gabe.

»Doch. Hat sie.«

»Max! Du hattest kein Recht …«

»Doch, das hatte ich!«, brüllte der zweite Laposo und erzürnt flog seine rechte Hand zu Gabes Brust. »Ich bin dein verdammter älterer Bruder und wenn ich schon nicht auf dich aufpassen kann, dann habe ich zumindest das Recht, unserer Mutter zu erzählen, dass du verdammt noch mal beinahe tot gewesen wärst!«

»Es geht sie nichts an!« Gabe stieß seinen Stuhl nach hinten, der mit einem lauten Knall auf dem Boden aufschlug. »Sie hat sehr deutlich gemacht, dass sie nichts mehr mit meinem Leben zu tun haben will.«

»Vor fünf Jahren!«

»Na und? Es war ihre Wahl und sie hat sich entschieden!«

»Ja, es war ihre Wahl – aber jetzt ist es deine! Deine Wahl, deinen Dickkopf endlich zu vergessen und vernünftig zu sein!« Max’ Augen glühten auf und seine sonst so freundliche Miene war nun wutverzerrt. »Fünf Jahre sind zu viel, Gabe! Du kannst nicht alles und jeden aus deinem Leben ausschließen. Das versuchst du mit mir und mit Papa – und mit Mama hast du es erfolgreich getan. Das muss aufhören!«

»Es ist meine Entscheidung.« Gabes Stimme war gefährlich leise geworden, seine Nase nur Zentimeter von Max’ Gesicht entfernt – und jetzt ballte er die Hände zu Fäusten.

Mein Einsatz, mich zu erheben. Das war Gabes Ruhe vor dem Sturm und weiter sollte es wirklich nicht gehen. Ich wusste, warum Gabe versuchte, alle aus seinem Leben auszusperren. Ich verstand ihn ja. Aber es sich selbst schwer zu machen, um es den anderen später zu erleichtern, war nicht der richtige Weg. Er verletzte damit alle Personen um ihn herum. Am meisten sich selbst. Das konnte so nicht weitergehen.

»Gabe. Bitte. Max hatte keine bösen Absichten«, murmelte ich und versuchte sanft, seine Faust nach unten zu drücken. Ich versagte auf ganzer Linie. Meine Güte, warum war er nur so stark?

»Halt dich da raus, Ella«, knurrte er. »Wenn ich das Arschloch hier auf der Stelle niederstrecken will, dann ist das meine Sache!«

»Gabe! Er hat mit deiner Mutter gesprochen, nicht den Vietnamkrieg angezettelt!«

»Ella. Ein letztes Mal: Halt dich da raus.«

»Nein.« Ich hob trotzig mein Kinn. »Du schlägst hier nicht vor allen Leuten deinen Bruder zusammen. Das wäre moralisch äußerst falsch von dir und das kann ich nicht zulassen. Max hat so ein hübsches Gesicht und das soll auch so bleiben.«

»Ella, verdammt!«, fuhr er mich an, und das in einem Ton, über den wir später definitiv noch reden mussten. »Das geht dich überhaupt nichts …«

»Gabriel Giacomo Laposo!«, donnerte plötzlich eine weibliche, feste Stimme durch den Raum. »So redet man nicht mit einer Dame! Und so habe ich dich nicht erzogen!«

Ausnahmslos alle zogen augenblicklich schuldbewusst ihren Kopf ein. Angesprochen oder nicht. Die Frau, die nun in den Raum kam, war so unverkennbar Gabes Mutter, dass mir die Röte in den Kopf schoss. Ich hatte sehr unzüchtige Gedanken über ihren Sohn gehabt und war mir sicher, dass sie das an meinem Gesicht ablesen konnte. Die südländische Schönheit war ungefähr so groß wie ich, nur zehn Kilo schwerer und dreißig Jahre älter. Sie hatte beide Hände in die Hüfte gestemmt und strahlte mehr Energie aus als zwanzig Todesengel zusammen.

»Was zum …?« Entgeistert sah Gabe nun Max an, der schuldbewusst an die Decke starrte.

»Ach ja. Sie ist hier. Das wollte ich dir eigentlich gerade sagen.«

Gabe hatte es die Sprache verschlagen. Er blickte seine Mutter an, als wäre sie eine Fata Morgana, und in seinem Gesicht spiegelten sich so viele Gefühle auf einmal, dass mir schon vom Zusehen schwindelig wurde.

»Wie bist du hier reingekommen?«, presste er schließlich hervor, bemüht darum, die Fassung zu bewahren. »Du darfst überhaupt nicht hier sein.«

Seine Mutter strich sich sorgfältig die glatten dunklen Haare aus dem Gesicht, bevor sie eine streng gezupfte Augenbraue hob. Der Ton, den ihr Sohn anschlug, gefiel ihr anscheinend nicht. »Ich habe zwei Söhne hier und habe mir sagen lassen, dass mein Mann einer der Ältesten ist – was immer das auch bedeuten mag. Natürlich darf ich hier sein!«

»Dein Ex-Mann.«

»Wir haben uns nie scheiden lassen, Gabe. Das weißt du genauso gut wie ich.«

Stille fiel über den Raum.

Die kleine Frau und der große Gabe standen sich mit funkelnden Augen gegenüber und die dicke Luft, die zwischen ihnen hing, könnte ich mit meinem Buttermesser schneiden. Wortlos starrten sie einander an, keiner bereit nachzugeben – bis Gabe den Kopf schüttelte und einen Schritt nach hinten machte. »Ich habe da gerade wirklich keinen Nerv für«, murmelte er und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

Seine Mutter seufzte. Ihre Stirnfalten gruben sich tiefer und ihre dunklen Augen wirkten auf einmal müde. Ich konnte die Sorgenfalten zählen, die sich um sie gebildet hatten. Fragend betrachtete sie Max, der betreten und etwas verloren dastand. »Du sagtest, er sei nicht länger wütend.«

»Ich hab gelogen. Tut mir leid. Ich dachte, wenn er dich sieht …«

Ich räusperte mich leise und schob meinen Stuhl an den Tisch. »Äh, hallo, Frau Laposo. Tut mir leid, dass Gabe so aufbrausend war. Ich bin sicher, er beruhigt sich bald.«

Gabes Mutter taxierte mich missbilligend und presste die dunkelrot bemalten Lippen aufeinander. Ihr Blick wanderte an meinem Körper hinab und schien über jeden einzelnen Zentimeter zu urteilen. Und das nicht zu meinen Gunsten. Schließlich wurde es mir zu blöd und ich reichte ihr die Hand. »Ich bin Ella. Gabes … ähm … Freundin?« Was für ein merkwürdiger Satz. Ich war Gabes Freundin. Das hörte sich an wie: Das Krümelmonster liebt Gemüseauflauf oder Harry Potter ist super langweilig.

»Ich weiß, wer du bist.« Der verkniffene Zug um ihren Mund verhärtete sich. Sie ignorierte meine Hand und wandte sich stattdessen wieder ihrem ältesten Sohn zu. »Ich bin müde, Massimo. Wo kann ich meine Sachen hinbringen?«

Max deutete zur Tür, sagte an uns gewandt »Tschüss, Leute« und verschwand mit seiner Mutter in Richtung der Schlafsäle. Vor den Kopf gestoßen sah ich ihnen nach, blinzelte mehrmals und blickte dann mit geöffnetem Mund zu den Mädels. »Was ist da gerade passiert?«

Tryn lächelte breit. »Sie mag dich nicht, Halbengel. So etwas kommt vor.«

»Ja, aber … normalerweise haben Menschen doch einen Grund dafür. Warum mag sie mich nicht? Sie kennt mich nicht.«

Leah, Nina und Luisa schüttelten ebenso verwirrt den Kopf. »Keine Ahnung.«

»Aber … ich bin doch liebenswert! Oder?« Hilfesuchend wandte ich mich an Leah.

»Liebenswerter als ein Labrador-Welpe mit Rentiergeweih«, bestätigte meine beste Freundin.

Tryn schnaubte laut, bevor sie sich erhob. »Dann komm, du unglaublich liebenswerter Engel. Wir haben eine Besprechung bei Akasha.«

Ich war immer noch zu verblüfft, um etwas anderes zu tun als ergeben zu nicken. Ich war der letzte Halbengel. Meine Mutter war gestorben. Killian, der Erzengel, der die Menschheit zerstören wollte, war mein Vater. Wenn ich die Menschheit retten wollte, müsste ich mich opfern. Und jetzt hatte die Mutter meines Freundes auch noch Vorurteile mir gegenüber.

Das war wirklich nicht mein Jahr!

 

 

 

Kapitel 4

 

Nina und Luisa blieben im Aufenthaltsraum zurück und als Leah, Tryn und ich Akashas Büro erreichten, wunderte es mich nicht, dass Gabe bereits dort war. Er stand mit dem Rücken an die Wand gelehnt neben dem Schreibtisch – so weit weg von seinem ebenfalls bereits anwesenden Bruder wie möglich. Vielleicht aus Angst, ihn doch noch aus Versehen mit einem Kraftschlag niederzustrecken.

Akasha saß hinter ihrem Schreibtisch und breitete gerade mehrere Landkarten darauf aus. Ich kannte sie bereits. Rote, blaue und gelbe Kreuze markierten die Orte, an denen der Erztodesengel die Engelssteine vermutet hatte. Tryn betrat als Letzte den Raum und zog die schwere Holztür hinter sich ins Schloss. Ich sah zu Gabe hinüber, doch er wich meinem Blick aus.

»Was ist mit der Lampe passiert?«, fragte Leah und nickte zu den Scherben, die immer noch neben dem Schreibtisch lagen.

»Ich muss sie wohl umgestoßen haben«, murmelte Akasha lächelnd und strich die Karten glatt. »Entschuldigt die Unordnung. Die Zeit ist momentan nicht mein Freund.« Wem sagte sie das. »Deshalb lasst uns doch direkt zum Punkt kommen: Gabe hat mir bereits berichtet, was geschehen ist, nachdem er im Haus Santa Marta eingetroffen ist – was ist davor passiert, Ella? Was hat Killian dir erzählt?«

Der gesamte Raum wandte sich erwartungsvoll mir zu.

»Nichts«, sagte ich eilig. »Nichts Wichtiges zumindest.« Ich spürte, wie Gabe mich mit seinem Blick durchbohrte, doch beachtete ihn nicht. Er hatte mich gerade nicht ansehen wollen und jetzt erwiderte ich den Gefallen. »Er hat mich gefragt, wo der Blutopal sei, hat mir angeboten, ein Engel zu werden, und – das war es.«

Ich vernahm mehrere enttäuschte Seufzer.

»Er hat nicht einmal das Schwert erwähnt?«, hakte Leah neugierig nach. »Das flammende Diamantschwert?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nichts dergleichen.« Diesmal entsprach das sogar der Wahrheit.

Akasha schien nicht überrascht. Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Es hätte mich gewundert, wenn Killian etwas über das Diamantschwert gewusst hätte. Michael mag es angefertigt haben, aber nach Rafaels Sabotage ist es für den Erzengel nicht länger von Interesse. Es heißt, das Schwert sei in eine Waffe umgewandelt worden, die gegen die Engel zu verwenden wäre – natürlich kümmert es ihn nicht.«

»Aber ist das nicht dumm von ihm?«, gab ich zu bedenken. »Ich meine, wenn das Schwert gegen ihn verwendet werden könnte, wäre es nicht schlauer, es auch zu besitzen?«

Akasha nickte und stellte den noch heilen Sockel der kaputten Schreibtischlampe auf ein Ende der Karte, das sich immer wieder zusammenrollte. »In der Tat. Aber er ist der mächtigste Engel, der zurzeit existiert, Ella. Er wird arrogant genug sein, davon auszugehen, dass er unzerstörbar ist.«

Das glaubte ich nicht.

Es gibt keine Macht, die man nicht besiegen könnte.

Das waren Killians Worte gewesen. Er würde nicht engstirnig genug sein, sich selbst als Ausnahme zu betrachten. Dennoch … Es hilft nicht, nur Macht zu haben. Man muss auch wissen, wie man sie benutzt.

Ja. Das musste der wirkliche Grund sein, warum Killian das Schwert nicht interessierte. Er hielt uns für keine Gefahr. Killian glaubte nicht, dass die Todesengel – oder gar ich – wussten, wie man mit so viel Macht umzugehen hatte. In seinen Augen waren wir alle dumm und unwürdig.

»Wie konnte er den Todessaphir überhaupt an sich nehmen?«, überlegte Tryn laut. Sie neigte den Kopf zur Seite, den Blick nachdenklich auf die Landkarten gerichtet. So als verbargen sie die Antwort.

»Oh, richtig.« Das Wichtigste hatte ich beinahe vergessen.

---ENDE DER LESEPROBE---