Enkeltrickbetrug - Stefan Obrecht - E-Book

Enkeltrickbetrug E-Book

Stefan Obrecht

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Beschreibung

Speedy, ein aus dem Polizeidienst entlassener Privatdetektiv, wohnt an exklusiver Lage an der Schipfe, in der Stadt Zürich. Bei einem Routineeinsatz macht er die Bekanntschaft von Markus. Dieser, leidet an der unheilbaren Muskelkrankheit Muskeldystrophie Type Duchenne und sitzt im Rollstuhl. Schon bald bilden sie ein Team, das in gefährliche Abenteuer verstrickt wird. Ihre Ermittlungen führen sie in die abgehobene Welt des Investmentbankings. Aber auch ein ehemaliger Spitzenfußballer der Zürcher Grasshopper benötigt ihre Hilfe. Und da wäre noch Andrada, die geheimnisvolle Schönheit im Betreuungsteam von Markus.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Speedy, ein aus dem Polizeidienst entlassener Privatdetektiv, wohnt an exklusiver Lage an der Schipfe, in der Stadt Zürich. Bei einem Routineeinsatz macht er die Bekanntschaft von Markus. Dieser, leidet an der unheilbaren Muskelkrankheit Muskeldystrophie Type Duchenne und sitzt im Rollstuhl. Schon bald bilden sie ein Team, das in gefährliche Abenteuer verstrickt wird. Ihre Ermittlungen führen sie in die abgehobene Welt des Investmentbankings. Aber auch ein ehemaliger Spitzenfußballer der Grasshopper benötigt ihre Hilfe. Und da wäre noch Andrada, die geheimnisvolle Schönheit im Betreuungsteam von Markus.

Enkeltrickbetrug

Inhaltsverzeichnis

Teil I

Der Rollstuhlfahrer   

Kramer      

Andrada      

Das Vorstellungsgespräch             

Die Krankheit     

Der Anruf     

Der Draht     

Das Projekt   

Zusammengeschlagen    

Das Spiel beginnt    

Flucht      

Das Essen     

Schmerzen     

Die Diagnose     

Florica      

Die Präsentation    

Erste Hilfe     

Sandy      

Dafalgan      

Das Bordell     

Doris      

Nasenwasser    

Das Essen    

Der Oligarch     

Die Auftraggeberin    

Im Letzigrund     

Der Bauer     

Schmetterlinge    

Das Amulett     

Eveline Freuler    

Letzte Vorbereitungen   

Abschied      

Auf Besuch     

Die Generalversammlung   

Im Rotlichtmilieu    

Heilig Abend     

Die Drohung     

Die Verhaftung    

Im Odeon      

Hey Joe      

Verzweiflung     

Teil II

Der Prozess    

Der Fall Eveline Freuler   

David Rudisha    

Fragen

Die Joggerin

Der Gärtner

Gehackt

Ein neuer Auftrag  

Claire     

Von der Pöschwies nach Charmey Krank    

Verdächtige     

Der Gutschein    

Die Kanonenkugel    

Spuren     

Die Rumänen     

Die Joggerin    

Aus    

Gefühlschaos     

Monika    

Klara

Der Überfall     

Zwei Ertrinkende   

Die Zeugin Marthaler   

Die Zuhälter     

Das Video

Durchbruch

Das System    

Der Künstler    

Das Fest    

Die Erlösung bleibt aus   

Neuanpfiff   

Elvira Gabin   

Breaking News   

Der Virus   

Doppeltes Glück  

Epilog

Der RollstuhlfahrerZürich, 3. Dezember 2019

Speedy seufzte erleichtert und drückte auf den Auslöser seiner Canon, der auf Serie geschaltet war. Wenn es eines weiteren Beweises bedurft hätte, dann war dieser jetzt digitalisiert. Das Paar hinter der Frontscheibe der Café Bar Odeon tauschte zärtliche Küsse aus. Die Konstellation entsprach dem üblichen Klischee; Bankbeamter im oberen Kader, verheiratet, der sich vermutlich mit seiner Sekretärin vergnügt. Speedy betrachtete die Fotos und stellte fest, dass seine Auftraggeberin die Geliebte in Sachen Attraktivität um Längen übertraf. Plötzlich fiel ihm der Rollstuhlfahrer auf, der auf fast allen Aufnahmen, halb abgeschnitten, am Bildrand zu erkennen war. Er stand auf dem Gehsteig, direkt vor dem Fenster der Bar. Im Gegensatz zu den ahnungslosen Turteltäubchen schien er realisiert zu haben, sich im Fadenkreuz einer Kamera zu befinden. Auf allen Fotos war deutlich zu erkennen, wie er mit grimmiger Miene die Zunge herausstreckte. Speedy blickte erneut durch den Sucher. Der Banker und seine Geliebte waren verschwunden, doch der Rollstuhlfahrer verharrte unverändert vor dem Fenster der Bar. Er wirkte jetzt unübersehbar wütend und Speedy ahnte, dass seine Verwünschungen ihm und der Kamera galten. Er stieg aus seinem alten Golf. Klirrende Kälte schlug ihm entgegen. Entschlossen näherte er sich dem Behinderten.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen, haben Sie ein Problem?“ Aus der Nähe wirkte der Mann jünger, Speedy schätzte ihn auf Mitte zwanzig.

„Ja, ich würde sagen beides! Das Bild hätte ich gerne gerahmt und in Postergröße. Mein Problem liegt darin, dass meine Handheizung ausgestiegen ist, und ich wegen der verdammten Kälte den Elektrorollstuhl nicht mehr bedienen kann.“

„Äh … also wegen der Fotos … eigentlich wollte ich ja nicht Sie fotografieren, das hat sich einfach …“

„Schon gut, überrascht mich nicht. Ich bin Markus. Und du Hamilton, wie heißt denn du?“

Der Junge rührte sich nicht, doch er war nicht auf den Mund gefallen, was Speedy gefiel.

„Speedy, meine Freunde nennen mich Speedy.“

„Oh, das trifft sich ja ausgezeichnet, ich möchte nämlich so rasch als möglich nach Hause. Könntest du mir dabei behilflich sein, Speedy? Ich würde dann sogar auf das Foto verzichten!“

„Ja klar. Wo wohnst du denn?“, fragte er und betrachtete den Rollstuhl. „Und vor allem, wie bewege ich das Teil?“ Speedy war normalerweise nicht um eine Antwort verlegen. Langsam kehrte seine Selbstsicherheit zurück.

„Hinter meiner Rückenlehne befindet sich eine Bedienungssteuerung mit einem Joystick. Damit lenkst du den Stuhl. Drücke zuerst auf „Mode“ und stelle die Geschwindigkeit auf 1. Je nachdem wie talentiert du dich zeigst, erhöhen wir das Tempo dann später.“

„Aje, aje, Sir. Wohin soll die Reise denn gehen?“

„Da drüben auf die Neun.“ Markus Augen deuteten Richtung Tramhaltestelle Bellevue. Speedy stellte die Geschwindigkeit wie geheißen auf „1“ und setzte den Rollstuhl vorsichtig in Bewegung. Das Steuern erwies sich einfacher als gedacht. Schweigend überquerten sie die Straße zur Tramhaltestelle. Markus schien vollauf mit der Kälte beschäftigt. Die elektronische Anzeigetafel versprach die Ankunft eines Niederflurtrams in 10 Minuten. Markus setzte dem Schweigen ein Ende.

„Wenn dein fotografisches Interesse nicht meiner Wenigkeit galt, was war es dann? Das Odeon ja wohl kaum, sonst hättest du deine Schrottlaube zum Fotografieren vermutlich verlassen!?“ Speedy gewöhnte sich langsam an den kessen Ton seines Begleiters.

„Ich habe ein Pärchen beim Fremdgehen beobachtet, ich bin Privatdetektiv.“

„Oh.“ Markus schwieg für ein paar Sekunden.

„Ich habe mir Privatdetektive immer alt und ein wenig verbraucht vorgestellt.“

„Hm, darf ich das als Kompliment auffassen?“

Markus grinste breit.

„Darfst du Sherlock, darfst du.“

Endlich fuhr das Tram in der Haltestelle ein. Speedy steuerte Markus sicher auf den für Rollstühle und Kinderwagen vorgesehenen Platz. Beide waren wieder in ihrer eigenen Gedankenwelt versunken. Das Tram fuhr die Rämistraße hoch, immer weiter bergwärts, vorbei an Universitätsgebäude und Technischer Hochschule. Es war kaum gefüllt und die anderen Fahrgäste schenkten den beiden wenig Beachtung. Kurze Zeit später wies Markus Speedy an, den Halteknopf zu drücken. An der Haltestelle Kinkelstraße verließen sie das Tram. Nach einem steilen Anstieg bogen sie in die Möhrlistraße ein. Der eisige Wind verbat jegliches Gespräch. Speedy vermutete zuerst wieder einen Scherz, als Markus ihm den Weg zu einer prächtigen, in neubarockem Stil erbauten Villa wies. Doch beim Durchqueren des eindrucksvollen Gartens, bemerkte er gleich die nachträglich eingebaute Rollstuhlrampe am Eingang.

„Gehört der Stadtverwaltung“, beantwortete Markus die unausgesprochene Frage. Speedy wollte eben seine Bewunderung ausdrücken, da öffnete sich die Haustüre und ein junger, feminin wirkender Mann trat ihnen entgegen.

„Markus, wo bleibst du denn, wir haben uns schon Sorgen gemacht!“

„War an einem Fotoshooting am Limmatquai, und dabei ist mir die Hand eingefroren. Aber Speedy hat mir aus der Patsche geholfen. Er wird bei uns zu Abend essen.“

Erst jetzt schien der junge Mann Speedy zu bemerken.

„Oh, vielen Dank. Ich bin Konrad.“ Mit einem Lächeln streckte er ihm die Hand entgegen. „Dann mal rein mit euch beiden, unser Koch wird langsam ungeduldig.“

Das Innere des Hauses beeindruckte Speedy nicht weniger, wie die Fassade und der Garten. Hohe Räume, Eichenparkett, das unter den Füssen knarrte und Stuckaturen an der Decke, vermittelten ihm den Eindruck, sich in einem Schloss zu befinden. Die Möbel waren in großzügigen Abständen zueinander platziert, sodass sie sich problemlos mit einem Rollstuhl umfahren ließen. Der Duft nach frisch gekochtem Essen durchzog den Raum. Nachdem Konrad einen zusätzlichen Teller aus der Küche geholt hatte, zählte Speedy fünf Gedecke. Markus, der seinen Rollstuhl mittlerweile wieder selber steuerte, nahm am stuhlfreien Kopfende des Tisches Platz. In diesem Augenblick betrat eine dunkelhaarige, attraktive Frau den Raum. Speedy schätzte sie auf etwa 25 Jahre. Kaum nahm sie ihn wahr, erstarrte sie, wie ein Hase im Strahl eines Autoscheinwerfers. Wortlos drehte sie sich um und war schon wieder verschwunden. Speedy blieb keine Zeit, sich weitere Gedanken über die wundersame Erscheinung zu machen, denn der Koch hatte den Raum betreten. Mit seinen 1.85 m war Speedy nicht unbedingt klein, doch der Mann, der vor ihm stand, musste Gullivers Reisen entsprungen sein.

„Speedy, das ist Christoph. Christoph, das ist Speedy, er ist Privatdetektiv.“ Markus, der diese Szene wohl nicht zum ersten Mal erlebte, gab sich keine Mühe, seine Belustigung zu verbergen.

„Freut mich“, stammelte Speedy und versuchte den Riesen nicht weiter anzustarren.

„Aha, ein Schnüffler.“ Damit schien die Begrüßung für Christoph erledigt und er stellte zwei Pfannen auf den Tisch. Konrad schöpfte herrlich riechenden Safranrisotto auf die Teller, dazu gab es Saltimbocca. Für ein paar Minuten herrschte Schweigen. Speedy wähnte sich in einem Feinschmeckerlokal. Kein Vergleich zu den Fertigmenüs, die er im Büro jeweils in den Mikrowellenherd schob. Konrad gab Markus das Essen ein. Christoph schöpfte sich derweil die zweite Portion. Speedy brach das Schweigen und zeigte auf das unbenutzte Gedeck.

„Die Frau, kommt sie nicht mitessen?“

Die Blicke, die seine Tischgenossen austauschten, währten nur einen Sekundenbruchteil, doch sie waren dem geschulten Auge des Privatdetektivs nicht entgangen. Es war Konrad, der antwortete.

„Oh, du meinst Susanne. Wir studieren zusammen, sie wollte sich nur ein paar Unterlagen bei mir anschauen. Der fünfte Platz ist für Manuel.“

Die Lüge war offensichtlich. Weshalb sollte eine Mitstudentin nicht zusammen mit ihnen essen? Zumal trotz Christophs Appetit noch reichlich Risotto vorhanden war. Speedy beschloss, das heikle Terrain zu verlassen, und wandte sich Markus zu.

„Das Haus scheint mir gut eingerichtet, für einen Rollstuhl!?“

Markus lächelte.

„Du fragst dich wohl, wer mich wäscht, anzieht und den Arsch putzt?“

Speedy nervte sich langsam über die angriffige Art seines Gastgebers.

„Du sagst es mir sicher gleich!“

„Das machen meine Kumpels hier, plus Manuel, der noch am Arbeiten ist. Ich bin im sogenannten Assistenzprogramm der Invalidenversicherung. Mit dem Budget, das mir die SVA zur Verfügung stellt, kann ich autonom wohnen, meine Betreuer bezahlen und falls nötig auch wieder feuern. Ich führe so mein eigenes, kleines Unternehmen.“

„Jetzt komm mal wieder runter Kleiner“, brummte Christoph und schöpfte sich ein drittes Mal.

„Markus stellt im Auftrag auch noch Websites her. Aber was treibt ein Privatdetektiv so?“

Konrad versuchte das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

„Na ja, meistens überwache ich untreue Ehemänner, so wie heute.“ Markus und Speedy grinsten gleichzeitig. Die Atmosphäre am Tisch lockerte sich allmählich auf.

„Lebt es sich denn manchmal auch gefährlich, als Privatdetektiv?“, Konrad musterte den Gast interessiert.

„Na ja, in den Fällen bei denen mir der gehörnte Ehemann die Fotos auf den Tisch knallt, wird es manchmal schon ungemütlich.“

Sogar Christoph rang sich ein Schmunzeln ab. Speedy gab ein paar Anekdoten seiner Arbeit zum Besten, so dass die Zeit im Nu verging. Nach dem Kaffee und einem Blick auf die Uhr ließ sich Speedy von Konrad den Weg zur Toilette erklären. Dieser führte über eine Wendeltreppe, an der ein Behindertenlift befestigt war. Das Innere des Bades wirkte modern. Neben zwei Waschbecken befand sich ein Patientenheber. Unter dem Spiegelschrank auf der linken Seite lagen Rasierschaum und ein Barttrimmer. Rechts entdeckte Speedy eine Schachtel Damenbinden und diverse Lippenstifte. Hier wohnte eindeutig eine Frau. Nachdenklich kehrte er in den Speisesaal zurück. Seit seiner Ankunft waren zwei Stunden verflossen. Weder Manuel noch die schöne Unbekannte hatten sich in dieser Zeit blicken lassen. Speedy verabschiedete sich von Christoph und Konrad, ehe ihn Markus zur Tür begleitete.

„War nett, dich kennenzulernen, Markus. Vielleicht hast du ja mal Zeit und Lust auf einen Drink?“ Speedy zückte eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche und legte sie Markus in den Schoss. 

„Werde sehen, was sich machen lässt. Bin ziemlich ausgebucht in nächster Zeit.“ Markus wirkte ein wenig unverbindlich, fast abweisend. Speedy betrat den Kiesweg, der durch den Garten führte.

„Sherlock?“

Speedy drehte sich um.

„Danke!“ Kaum ausgesprochen, war Markus schon im Haus verschwunden. Im Tram verschwendete Speedy keinen Gedanken, an die Parkbusse, die vermutlich unter dem Scheibenwischer seines Golfs kleben würde. Er dachte an die markanten Figuren, denen er in kurzer Abfolge, fast wie in einem David Lynch-Film, begegnet war. Die dunkelhaarige Schönheit, die sich im Haus von Markus versteckte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.

KramerZürich, 3. Januar 2018

Kramer verfolgte gebannt die Bilder der Tagesschau, die über den Bildschirm flimmerten. Riesenvögel taumelten im Vollrausch Richtung Landebahn, des Flughafens Kloten. Einige setzten torkelnd auf, andere starteten kurz vor der Landung durch und begaben sich auf eine Zusatzschlaufe. Burglind wütete schon den ganzen Tag, überflutete Keller, riss Bäume aus und brachte den Verkehr im Land zum Erliegen. Wenigstens war wieder etwas los, die langweiligen Festtage vorüber. Beni hatte am Silvesterabend angerufen und ihm ein gutes neues Jahr gewünscht. Nach dem anschließenden „Dinner for One“ hatte er kapituliert. Er nahm seine Cipralex, legte sich um 23 Uhr ins Bett und schlief sich in das neue Jahr. Die folgenden zwei Tage – der 2. Januar gilt in Zürich als offizieller Feiertag –, waren ausgefüllt mit Ben Hur und anderen Monumentalstreifen.Kramer programmierte den Tauchsieder auf 55 Grad und entnahm der mit japanischen Ornamenten verzierten Büchse einen Esslöffel Gyokuro Teeblätter. Die liebgewonnene Gewohnheit einer Japanreise, bei der er in Kyoto zusammen mit Margot einer Teezeremonie beigewohnt hatte. Ein kurzes Rattern und das Zuknallen des Katzentürchens, kündeten von der Ankunft seines Mitbewohners. Carlos stand im Raum, sah ihn an und forderte lauthals seine Rechte ein. Der alte Kater war, trotzt des spanischen Namens, ein waschechter Italiener. Er stammte aus Palinuro, einem Fischerdorf, rund zweieinhalb Fahrstunden südlich von Neapel gelegen. Vor Kramer zogen die Bilder der Strandferien vorüber, die mittlerweile 19 Jahre zurücklagen. Beni hatte den Vater-Sohn-Urlaub angeregt, mit dem Ziel, Kramer aus seiner Depression zu reißen. Der von Pinien umsäumte Bungalow lag nur fünfzig Meter vom Strand entfernt. In den frühen Morgenstunden der ersten Nacht wurden sie durch ein markerschütterndes Geheul geweckt. Stammten die Schreie von einem Kind aus dem Nachbarsbungalow? Kramer stand auf und trat ins Freie, um nach dem Rechten zu sehen. Die Lärmquelle entpuppte sich als ein kleines Wollknäuel, das jammernd, wenige Meter vor dem Eingang lag. In der neu erlangten Obhut, gestreichelt und umsorgt, wechselte das Kätzchen unverzüglich in einen Schnurrmodus, wohlwissend, dass seine Zukunft gesichert war. Kramer taufte ihn Carlos, in Anlehnung an den brasilianischen Verteidiger mit dem strammen Schuss. Die Nachfrage bei der Verwaltung der Bungalowsiedlung nach dem Besitzer von Carlos wurde den beiden Männern mit einem höflichen, aber mitleidigen Lächeln quittiert. Für zwei Wochen taute Kramer auf und es gelang ihm, seinem Leben so etwas wie Sinn abzuringen. Doch zuhause angekommen, fiel er unverzüglich zurück, in das schwarze Loch, das ihn unerbittlich aufsog.Während Kramer Carlos über den Kopf strich und Trockenfutter in eine Schale schüttete, wurden die Erinnerungen zunehmend von Traurigkeit überschattet. Er machte sich keine Illusionen darüber, dass der Zeitpunkt für den letzten Gefallen, den er seinem vierbeinigen Freund schuldete, immer näher rückte. Carlos benötigte inzwischen eine kleine Ewigkeit, bis er sich die Katzenleiter zum ersten Stock hinauf gequält hatte. Sein exzessiver Drang zum Trinken war, laut Auskunft von Tierarzt Hartmann, einer Niereninsuffizienz geschuldet. Kramer seufzte und schaltete um auf ARD. Seine Stimmung verschlechterte sich weiter, als er zusehen musste, wie Kommissar Wallander zunehmend in der Demenz versank. Nach den Spätnachrichten putzte er sich die Zähne, sagte Margot, die ihm von der Nachttischkommode aus zulächelte, gute Nacht und flüchtete sich in den Schlaf. Das Jahr würde schwierig werden, daran konnte Burglind nichts ändern.

Kramer stand wieder am Elfmeterpunkt. Heute lautete das Zwischenresultat 0:0. In diesem Detail unterschieden sich die Träume bisweilen. Ein letzter Blick zur Tribüne. Eine anonyme, verschwommene Masse. Er spürte, wie sie ihn mit ihren Blicken fixierten, ihn zur gleichen Zeit anspornten und verhöhnten. Er wusste, sie befand sich unter diesen Menschen und drückte ihm die Daumen. Kramer nahm drei Schritte Anlauf und lief los, kaum war der Pfiff des Schiedsrichters verhallt. Der Innenrist seines starken linken Fußes hatte den Ball noch nicht touchiert, da wusste er bereits, um sein Versagen, der Schmach, die über ihn hereinbrechen würde. Das Ende des Traums verlief immer gleich. Günter Netzer, der Star der Mannschaft, klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter, doch sein Blick drückte Verachtung aus.

Kramer erwachte. Die Erkenntnis, sich in der Wirklichkeit zu befinden, hellte seine Stimmung nicht auf. Er zog seine Beine unter Carlos hervor, der ihm in die Küche nachlief. Dem täglichen Morgenritual folgend, kraulte er dem Kater den Bauch und stellte ihm eine Schale mit Trockenfutter auf den Boden. Für sich selber brühte er eine Tasse schwarzen Kaffee. Vor der Wohnungstüre lag wie gewohnt der Tagesanzeiger, den Heidi auf die Fußmatte gelegt hatte. Zurück in der Küche war der Kaffee durchgelaufen. Kramer öffnete die Zeitung wie immer zuerst beim Bund, der den Zürcher Lokalteil enthielt und überflog die Schlagzeilen.

„Waschküchenstreit: Dritte Abfuhr für Rentner“

Ein Rentner der seine Ehefrau für zwanzig Minuten in der Waschküche eingesperrt hatte, wurde vom Obergericht zu einer bedingten Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu 40 Franken und einer Busse von 300 Franken verurteilt. Der Angeklagte war mit Rucksack und Scooter im Gericht erschienen. Sein Argument, die Frau, eine 21 Jahre jüngere Tänzerin aus der Ukraine, habe mit Gegenständen aus der Wohnung türmen wollen, fand bei den Richtern wenig Gehör.

Kramer schüttelte den Kopf und legte die Zeitung beiseite. Er konnte sich an keinen ernsthaften Streit mit Margot erinnern. Seine Margot. Kennengelernt hatten sie sich 1970. Ihm war in diesem Jahr der Sprung in die erste Mannschaft der Grasshopper Zürich gelungen, dem traditionsreichsten Fußballverein der Schweiz. In seinem zweiten Match im Fanionteam schoss er das Siegestor gegen den Stadtrivalen FC Zürich. Nach dem Spiel umringten ihn die Reporter. Sie streckten ihm, in Erwartung der immer gleichen Plattitüden, ihre Mikrofone ins Gesicht. In diesem Pulk der Journalisten fiel ihm eine junge, hübsche Frau auf, die ihren Platz in der Meute standhaft verteidigte. Ihre Blicke trafen sich für einen flüchtigen Augenblick, ehe er von johlenden Mitspielern fortgezerrt wurde. Stunden später, frisch geduscht, zufrieden mit sich und der Welt, schloss Kramer seinen fabrikneuen Porsche auf, als er ein scheues „Entschuldigung“ in seinem Rücken vernahm.

„Mein Name ist Margot Kohler, ich arbeite für die Zeitschrift „Sport“. Würden Sie mir ein Exklusivinterview gewähren?“

Kramer erkannte sie sofort, obwohl sein erster Eindruck ihn getäuscht hatte. Die Frau war nicht hübsch, sie war von einer überwältigenden Schönheit, der Sprache nach zu schließen, vermutlich Deutsche.

„Ja, sehr gerne, wo wollen wir den hingehen, für das Interview?“

Margot lächelte ein wenig erstaunt und schaute auf die Uhr. „Sie meinen jetzt?“

Kramer lächelte zurück und spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg.

„Klar, ich kenne da ein Restaurant in der Nähe, wo wir uns ungestört unterhalten können.“

Das Interview, begleitet von einer Flasche Amarone dauerte über zwei Stunden. Mitternacht war vorbei, als sie sich voneinander verabschiedeten. Für Margot bedeutete der Exklusivbericht den Durchbruch als Redaktorin beim „Sport“.  Kramer ließ zwei Tage verstreichen, bis er sie anrief. Einen Monat später zog sie beim ihm ein und sein Trainer konstatierte zufrieden, wie die Formkurve seines Schützlings weiter steil nach oben zeigte. Mittlerweile etablierte sich Kramer als unbestrittener Stammspieler, neben Größen wie Ove Grahn und Rainer Ohlhauser, mit denen er im Juni den Meisterpokal in die Höhe stemmte. Am 6. September 1971 kam Beni auf die Welt. Das Glück der Familie war perfekt. Es währte fünf Jahre, dann brach alles zusammen.

AndradaGela, Provinz Ragusa (Italien), Juni 2017

Andrada drückte sich in den Schatten des zerflederten Sonnenschirmes. Sie war der einzige Gast der Cafeteria. Wer konnte, suchte zu Hause Schutz vor der sengenden Hitze, die Sizilien umklammerte. Sie sah über den Platz, dann auf ihr Handy. Immer noch keine Nachricht. Wo blieb Florica nur? Andradas Kreuzschmerzen fühlten sich im Vergleich zu dem Stechen im Handgelenk fast schon angenehm an. Sie mussten fort aus dieser Hölle, einfach nur weg. Nervös wählte sie Floricas Nummer und gelangte einmal mehr an den Anrufbeantworter. Sie lauschte der fröhlichen Stimme ihrer Freundin;

„Dies wird ein kurzes und recht einseitiges Gespräch. Du weißt ja, wie’s geht. Piep.“

Andrada legte das Handy beiseite und ließ den Blick über die Ebene schweifen. Die Silhouetten der Gewächshäuser breiteten sich wie Schneefelder vor ihr aus, verschmolzen mit dem von Hitzeschlieren durchzogenen Horizont. Heute war ihr freier Tag, der einzige der Woche. Schwere Arbeit war sie von zu Hause gewohnt, aber hier, an der südlichsten Spitze Italiens, war sie in der Sklaverei gelandet. In ihrer Heimatstadt Botosani, im Norden von Rumänien gelegen, herrschte große Armut. Jeder, der über ein geregeltes Einkommen verfügte, durfte sich glücklich schätzen. Am schlimmsten traf es die Roma. 10 Jahre nach dem EU-Eintritt prägten verwahrloste Straßenkinder das Stadtbild. Andrada und Florica kannten sich von klein auf. Sie hatten sich ihre Puppen, ihre Kleider und später ihre ersten Freunde geteilt. Genau genommen erbte Florica jeweils, was im Windschatten ihrer Freundin übrigblieb. Je älter Andrada wurde, umso überwältigender offenbarte sich ihre Schönheit, welche das andere Geschlecht anzog, wie Motten das Licht. Sie selbst wurde sich ihrer Ausstrahlung nur zögerlich bewusst. Oft übernahm die resolute Florica die Rolle der Beschützerin, um unliebsame Verehrer in die Flucht zu schlagen. Andradas Vater starb, da war sie sechs. Die Mutter brachte sich und ihre Tochter mit Näharbeiten mehr schlecht als recht über die Runden. Floricas Familie betrieb einen kleinen Bauernhof, auf dem Andrada zuweilen aushalf. Obwohl Floricas Vater Antonius es nie offen aussprach, war allen klar, dass der Hof zu wenig abwarf, um ein zusätzliches Maul zu stopfen. Mit 22, ohne Perspektiven vor Augen, beschlossen die Freundinnen, ihr Glück im Ausland zu suchen. So wie Valea und Liana vor einem Jahr. Den Gerüchten zufolge überwiesen sie inzwischen regelmäßig stattliche Beträge an ihre Familien in Botosani. Mit der Zerschlagung des kommunistischen Regimes unter Cheauchescu, 1989, erregte das Land kurzzeitig das Interesse der Weltöffentlichkeit. Die Bilder der todgeweihten Kinder des Waisenheims Cighid sorgten weltweit für Entsetzen. Von der, mit dem EU-Beitritt verbundenen Auflösung der Grenzen, bekam Andrada nicht viel mit. Die Arbeit auf Antonius Hof erlaubte keine Zeit zum Reisen. Die enormen Wachstumsraten, die das Land in der Folge jährlich auswies, ließ die Politiker frohlocken. Allein, die Ärmsten der Armen profitierten kaum vom neuen Reichtum. Andrada und Florica entschlossen sich, diesem Elend zu entfliehen. Über die Arbeit machten sie sich keine allzu großen Gedanken. Anpacken waren sie sich von zu Hause aus gewohnt. Mit Willen und Fleiß würden sie sich nach oben schaffen. Hauptsache, sie waren der heimatlichen Tristesse entronnen und in der Lage, ihrer Zukunft eine Perspektive zu geben. Bekannte empfahlen ihnen, sich als Erntehelferinnen in Italien zu versuchen. Das wäre zwar ein harter, aber lukrativer Job, nach dem eine große Nachfrage herrsche. Weder die Tatsache, dass keiner dieser Freunde Botosani je verlassen hatte, noch die Warnungen älterer Mitbewohner ließen die jungen Frauen von ihrem Vorhaben abbringen. An einem sonnigen Montag Ende Mai fuhren die Freundinnen per Anhalter nach Bukarest. Dort kauften sie sich vom Ersparten ihrer Eltern zwei Busticktes nach Ragusa, Sizilien. Die Abfahrtszeit war erst um 3 Uhr nachts geplant, weshalb sie sich in einen nahegelegenen Park begaben, um sich ein wenig auszuruhen. Sie stellten ihre Rucksäcke an einen Baum und setzten sich, eng aneinander gelehnt, davor.

„Bist du dir sicher, dass wir das Richtige tun?“

Andrada zerdrückte ihre Marlboro light und nahm eine neue Zigarette aus dem Päckchen.

„Ja Bella, ich bin mir sicher. Aber fragen wir doch zur Sicherheit noch Mihai.“ Florica zog den sechs Zentimeter großen Bären, den sie immer auf sich trug, aus der Tasche.

„Aber ja, Andrada. Hör einfach auf deine Freundin!“

Florica gab ihrer Stimme einen tiefen Klang und bewegte das kleine Pelzknäuel ihr Bein entlang. Beide lachten und Andradas Ängste verflüchtigten sich. Um drei Uhr bestiegen zwei Frauen in ihrem Alter mit ihnen den Bus nach Italien. Man scherzte und überbot sich in Geschichten über die feurigen Südländer. Beim Passieren der Grenze zu Ungarn waren alle in einen tiefen Schlaf gesunken. Nach Stopps in Mestre und Rom verließen die Rumäninnen am Mittwochmorgen den Bus in Vittoria, Provinz Ragusa, dem südlichsten Zipfel Italiens. Beim Busbahnhof herrschte reger Betrieb. Junge und alte Menschen stoben, wild gestikulierend durcheinander, der Lärmpegel berührte die Schmerzgrenze. Aus der Kanalisation drang ein penetranter Latrinenduft in ihre Nasen. Andrada und Florica standen etwas ratlos auf dem großen Platz, nicht schlüssig darüber, wohin sie sich wenden sollten. Die Bekanntschaften aus dem Bus hatten sie aus den Augen verloren.

„Voglio lavorare?“

Andrada schrak zusammen. Ein gutaussehender Typ, etwa Mitte dreißig, hatte sich unbemerkt genähert und lächelte sie an. Florica beachtete er nicht. Verunsichert schaute Andrada zu ihrer Freundin, die kaum merklich mit den Schultern zuckte.

„Andiamo!“ Der Mann gab mit der Hand die Richtung vor und schritt, ohne eine Antwort abzuwarten, voraus.

„Komm, schauen wir mal.“ Florica nahm Andrada bei der Hand, und gemeinsam folgten sie dem Schönling. Nach der langen Busfahrt überwog die Erleichterung darüber, dass jemand für sie das Denken übernahm, die Angst vor dem Unbekannten.

„Sono Michele“, stellte sich ihr Begleiter vor, ohne dabei den Schritt zu verlangsamen. Sie liefen durch enge Gassen und überquerten mehrere kleine Plätze, ehe sie an eine befahrene Hauptstraße gelangten. Michele steuerte auf einen alten, am Straßenrand geparkten Fiat Ritmo zu, der wohl schon bessere Zeiten gesehen hatte.

„Prego“. Schwungvoll öffnete Michele die Beifahrertüre. Mit einem breiten Lachen bedeutete er Andrada, sich neben ihn zu setzen. Die beiden Frauen schauten sich wortlos an. Ohne auf die Proteste von Michele einzugehen, setzten sie sich zusammen auf die Rückbank des Wagens. Die Rucksätze platzierten sie auf ihren Knien, sodass diese beinahe die Decke des Autos streiften. Später tauchte immer wieder dieser Augenblick in Andradas Erinnerungen auf. – Welchen Verlauf hätte ihr Schicksal genommen, wenn sie nicht in das Auto gestiegen wären? 

Das VorstellungsgesprächZürich, 4. Juni 2018

Sonja Schneider zwang sich, nicht an ihren Nägeln zu kauen. Die hohen weißen Wände rund um sie herum, bestückt mit unifarbenen Bildern, strahlten Kühle aus. Sie spürte den Schweiß, unter ihrer Bluse. Der Lärm des Tramverkehrs von außen drang gedämpft zu ihr nach oben in den zweiten Stock des Hauptsitzes der UBS. Sie ging innerlich alles noch einmal durch. In diesem Moment öffnete sich die Verbindungstüre. Eine  nicht mehr ganz junge Frau im dunklen Hosenanzug trat lächelnd auf sie zu.

«Guten Tag Frau Schneider. Schön Sie endlich persönlich kennenzulernen. Mein Name ist Kunz, ich leite das HR-Department. Bitte, treten Sie ein.»

Die Personalmanagerin hielt die Türe auf und wies Sonja mit der anderen Hand den Weg in den Konferenzraum. Hinter einem langen Tisch saßen zwei Männer in dunkelblauen Anzügen. Sie erhoben sich, bei ihrem Eintreten.

«Balzli, freut mich, Sie kennenzulernen.»

Der Jüngere der beiden lächelte freundlich und schüttelte ihr die Hand. Auf dem Namensschild an seinem Revers las Sonja «Edgar Balzli, Vice-President». Etwas untersetzt, mit beginnender Glatze, ließ er den neben ihm stehenden Mann deutlich attraktiver erscheinen.

«Roland Freuler. Freut mich außerordentlich. Nehmen Sie doch Platz, Frau Schneider.»

Er wies auf einen kleinen Tisch, welcher vor ihm und seinen Mitarbeitern stand. Ohne auf das Namensschild zu schauen, erkannte sie ihn sofort. Roland Freuler, Managing Director, besaß den Ruf eines Top-Bankers und zierte immer mal wieder die Gazetten, welche über das Zürcher Nachtleben berichteten. Großgewachsen, mit blonden, gewellten Haaren, schenkte er Sonja ein warmes Lächeln. Er erinnerte sie an Robert Redford, in «Der Pferdeflüsterer». Kunz hatte sich neben Balzli gesetzt, der ein vor ihm liegendes Dossier aufklappte und das Gespräch eröffnete.

«So, Frau Schneider. Wie ich aus ihren Unterlagen sehe, haben Sie sich schon früh für Zahlen interessiert. Wirklich beeindruckend!»

«Ja, das stimmt.»

Sonja spürte zu ihrem Ärger, wie sie errötete. Balzli sprach natürlich ihre Silbermedaille an der mitteleuropäischen Mathematik-Olympiade in Poznan, Polen von 2009 an.

«Wann haben Sie beschlossen, Ihre Begabung für eine Karriere im Investmentbanking zu nutzen?»

Eine leichte Einstiegsfrage, die Sonja half, ihre Nervosität abzulegen.

«Nach meinem Master in Banking and Finance an der Hochschule St. Gallen hatte ich das Glück, ein Praktikum bei Goldman Sachs in New York absolvieren zu dürfen. Dort ist mir dann endgültig klar geworden; das will ich!»

Allen Anwesenden wussten, dass niemand mit Glück ein Praktikum bei Goldman Sachs erhielt. Die führende Investmentbank suchte auf der ganzen Welt nach Talenten, genauso wie die Scouts der besten Fußballvereine. In die engere Auswahl kam nur, wer über einen Masterabschluss mit Bestnote verfügte.

«Weshalb ist Gamma wichtig?»

Die ansatzlose Frage kam von Freuler. Die Zeit des Smalltalks war vorbei. Sonjas Antwort erfolgte, wie aus der Pistole geschossen.

«Nun, um uns genügend abzusichern, benötigen wir Delta. Aber wir wissen nicht, wie schnell sich Delta verändert. Dazu brauchen wir Gamma. Ist es beispielsweise zu hoch, muss ich meinen Hedge anpassen.»

Freuler nickte anerkennend.

«Weshalb wollen Sie bei der UBS arbeiten?»

Die Frage zwang Sonja, den Kopf nach links zu Gloor zu drehen.

«Es war schon immer mein Traum, bei der größten Bank der Schweiz zu arbeiten. Die UBS ist bekannt, für ihre gute Ausbildungsarbeit. Außerdem kenne ich Marco Märki, der als Analyst bei Ihnen arbeitet.»

Sonja war sich im Vorfeld unschlüssig darüber gewesen, ob sie diese Karte spielen sollte. Sie kannte Märki aus ihrer Studienzeit bei der HSG. Sie waren zwei oder drei Mal zusammen ausgegangen, ohne dass sich daraus eine ernsthafte Beziehung ergeben hätte. Dem kurzen Blickkontakt zwischen Balzli und Freuler nach zu schließen, hatte der Trumpf gestochen.

Das Gespräch dauerte eine knappe Stunde. Die Interviewer stellten ihre Fragen wie Heckenschützen, ohne Ankündigung, von allen Seiten. Gloor beackerte den persönlichen Teil, während die Männer zumeist ihr finanztechnisches Wissen prüften. Sonja ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Ihre Anfangsnervosität war verflogen. Sie versuchte, ihren Blick nicht allzu lange bei Robert Redford verweilen zu lassen. Dieser setzte den Schlusspunkt.

«Wirklich sehr beeindruckend. Wir haben auch nichts anderes erwartet. Frau Scheider, ich mache Ihnen den folgenden Vorschlag. Sie beginnen nächsten Monat als Analystin bei uns. Starten werden Sie in den Bereichen Research and Financial Engineering. Jahressalär 110'000.— Franken plus entsprechende Leistungsboni. Bei Ihren Fähigkeiten sollten Sie es in zwei Jahren locker zur Associate schaffen.»

Sonja schüttelte die drei Hände, die sich ihr entgegenstreckten. Sie war angekommen, im Paradies.

Die KrankheitZürich, 10. Dezember 2019

„Nein, zum x-ten Mal; ich habe den Privatdetektiv zufällig getroffen. Ich habe auch nichts mehr von ihm gehört.“

Markus seufzte. Seit dem Besuch von Speedy vor einer Woche versuchte er Andrada davon zu überzeugen, dass dieser nicht hinter ihr her war.

„Von wem fühlst du dich verfolgt?“

Andrada schwieg. Wie immer, wenn er sie auf ihre Vergangenheit ansprach. Auch Pfarrer Othmar gab sich bei diesem Thema zugeknöpft. Andrada fuhr ihm mit einem Waschlappen sanft über das Gesicht. Er schloss die Augen und genoss die wohltuende Wärme. Von niemandem ließ er sich morgens lieber aufnehmen, obwohl er die Vorzüge seiner anderen Betreuer durchaus schätzte. Konrad beispielsweise unterhielt ihn mit wilden Geschichten über seine Lover, welche rascher wechselten als die Jahreszeiten. Wenn Eile geboten war, bevorzugte er die Betreuung durch Christoph. Für den Transfer auf die Toilette oder in den Rollstuhl war der Hüne der Einzige, der keinen Patientenheber benötigte. Manuel, der Vierte im Bunde, arbeitete nur ausnahmsweise in der Betreuung.

„So, dann wollen wir mal unten waschen.“

Andrada zog Markus das T-Shirt in die Länge und schlug die Bettdecke zurück.

„Ich denke, wir machen dann erst einmal eine Pause.“

Sie deckte ihn wieder zu und platzierte die Rufglocke neben dem Kopfkissen.

„Melde dich doch einfach, wenn du soweit bist. Ich bin solange in der Küche.“

Markus errötete.

„Ja, ist gut.“

Meist hatte er alles im Griff, doch manchmal waren die Hormone stärker.

Zu Beginn war es schwierig gewesen. Er hatte sich sofort bis über beide Ohren in diese wunderschöne, dunkelhaarige Frau verliebt. Die Lust am Essen war ihm vergangen, die flapsigen Sprüche im Hals stecken geblieben, in ihrer Nähe. Als er glaubte, es würde seinen unbeweglichen Körper zerreißen, gestand er ihr eines Abends seine Gefühle. Ihre Antwort traf ihn nicht völlig unerwartet.

„Ich mag dich sehr Kusi. Aber ich liebe dich nicht. Können wir nicht einfach Freunde sein?“

„Hm, Freunde. Da bleibt mir ja wohl keine Wahl.“ Eine Weile schwiegen beide. Markus spürte einen Kloß im Hals.

„Könntest du dir überhaupt vorstellen, dich in jemanden wie mich zu verlieben? Ich meine, jemanden der Arme und Beine nicht bewegen kann, der im Rollstuhl sitzt?“

Andrada überlegte eine Weile, bevor sie antwortete. „Nein, ich glaube nicht.“

Ihre ehrliche Antwort traf ihn hart. Zugleich half sie ihm ein wenig hinweg, über die Enttäuschung und den Schmerz. Die verdammte Krankheit war schuld!

Im Kindergarten wurde ihm erstmals bewusst, dass er sich von anderen Kindern unterschied. Ständig fiel er hin, schlug sich die Knie auf. Er schaffte es körperlich nicht, mit seinen Kameraden mitzuhalten und ermüdete beim Spielen rascher wie diese. Dazu kamen die häufigen Arztbesuche. Er verstand nicht, was die Ärzte mit X-chromosomal rezessiv, progredient oder progressiv meinten. Den Mienen seiner Eltern entnahm er aber, dass es sich um schlimme Dinge handelte, welche ihn betrafen. An einem sonnigen Augustnachmittag spielte er mit Peter, einem Nachbarskind, Indianer. Peter hatte ihn fachmännisch an den Marterpfahl gebunden und sah ihn triumphierend an.

„Du wirst vor mir sterben.“

Markus empfand die Fesselung an den Baum zunehmend als anstrengend.

„Ja, aber binde mich jetzt los und dann tauschen wir.“

„Ich meine nicht jetzt. Ich meine richtig.“

Verwundert blickte Markus zu seinem Freund.

„Woher willst du das wissen?“

„Mein Vater hat es mir gesagt. Du hast eine Krankheit, bei der niemand helfen kann.“

Nachdem sie die Rollen getauscht hatten, zog Markus das Seil extra fest an, bis Peter aufschrie. Zuhause ging ihm dessen Aussage nicht aus dem Kopf. Das Abendessen war beendet und Markus schaute seiner Mutter beim Abwasch zu.

„Mama, Peter hat gesagt, ich muss früher sterben, stimmt das?“

Die Mutter legte das Handtuch beiseite. Sie nahm ihn bei der Hand, ging in die Hocke und sah ihn an.

„Komm, lass uns zu Papa in die Stube gehen.“

Sie setzten sich auf das Sofa und die Mutter nahm ihn auf den Schoss. Markus spürte die Spannung, welche in der Luft lag. Wie vor einem Jahr, als er erfahren hatte, dass Großvater gestorben war. Der Vater ergriff das Wort.

„Wir müssen dir etwas Schwieriges erklären Markus. Aber du bist schon ein großer Junge, der das verstehen wird.“

Markus nickte zustimmend, obwohl er sich immer unbehaglicher fühlte.

„Die vielen Ärzte die dich untersucht haben. Sie haben festgestellt, dass du unter einer Krankheit leidest. Die heißt Muskeldystrophie Duchenne. Unsere Muskeln werden zu ihrem Schutz von Dystrophin umhüllt, und davon hast du zu wenig. Dadurch werden deine Muskeln immer schwächer und du fällst viel mehr hin, als andere Kinder.“

„Und gibt es da kein Medikament dagegen?“

„Nein, bis heute leider nicht.“ Die Mutter strich ihm sanft über den Kopf.

„Dann stimmt es, was Peter sagt?“

Der Vater zögerte einen Moment.

„Ja, solange die Medizin kein Mittel findet, stimmt das. Aber es werden ständig Fortschritte gemacht. Vor zehn Jahren etwa, starben Knaben die an dieser Krankheit litten wesentlich früher.“

Markus versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Sterben war bisher weit weg für ihn gewesen. Alte Menschen starben, wie Großvater. Oder Indianer in den Schlachten gegen die weißen Siedler. Er bemerkte, wie seine Mutter versuchte, die Tränen zurückzuhalten.

„Du musst nicht traurig sein, Mama. Ich bin ja dann bei Großvater.“

„Ja mein Großer, das bist du, doch bis es soweit ist, werden wir noch viel Zeit miteinander verbringen. Aber da ist noch etwas. Weil deine Muskeln immer schwächer werden, wirst du bald nicht mehr gehen können und auf einen Elektrorollstuhl angewiesen sein.“

„Ja, ich weiß, Mama. Bei Frau Koller in der Physiotherapie konnte ich einen ausprobieren. Das ist nicht so schlimm.“

Markus sah im Moment vor allem die Vorzüge eines Rollstuhls. Er war die Anstrengung leid, die er benötigte, um sich auf den Beinen zu halten, verbunden mit den ständigen Stürzen.

„Ahh…“

Wenige Sekunden nachdem Markus die Rufglocke betätigt hatte, trat Andrada ins Zimmer.

„Ich wäre so weit.“

Markus grinste sie an.

„Gut, dann wollen wir mal.“ Sie zwinkerte ihm zu.

Das Blut war in Markus Zehen zurückgeflossen, und Andrada erledigte routiniert die Intimwäsche. Sie zog ihn fertig an und transferierte ihn mit dem Patientenheber in den Elektrorollstuhl.

„Was hast du heute vor?“

Beide kannten die Antwort. Markus Tagesablauf verlief meistens gleich.

„Ich gehe an den Computer. Vielleicht mach ich später noch einen Ausflug in die Stadt. Danke dir, bis später.“ Er betätigte mit der rechten Hand den Joystick des Rollstuhls und fuhr auf die Plattform des Treppenlifts, der ihn in den ersten Stock brachte. Das große Arbeitszimmer mit den barocken Stuckaturen an der Decke wurde von der Morgensonne durchflutet. Wie die Skulptur in einem Museum prangte ein Tisch mit drei 24-Zoll Full-HD Monitoren in der Mitte des ansonsten leeren Raumes. Markus verharrte einen Moment gedankenversunken vor den Bildschirmen. Zwölf Jahre waren vergangen, seit dem bedeutungsschweren Gespräch in der elterlichen Stube. Der Rollstuhl bestimmte seinen Alltag und die Erinnerung an seine Zeit als Fußgänger verblasste immer mehr. Zur Entlastung der zunehmend überforderten Eltern war er kurz nach seinem dreizehnten Geburtstag ins Lindenheim gezogen. In dem Kompetenzzentrum für Behinderte mit Muskeldystrophie Duchenne bezog er ein Einzelzimmer auf einer Wohngruppe mit 5 Mitbewohnern. Einer von ihnen hieß Sebastian.

Markus startete den Computer mit Hilfe des Easyrider-Systems, das mit dem Joystick seines Rollstuhls gekoppelt war. Ein Rattern und Rauschen erfüllte den Raum, während der Rechner und die mit ihm verbundenen Peripheriegeräte hochgefahren wurden. Alle Bildschirme zeigten dasselbe Hintergrundbild. Der blondgelockte Kopf eines grinsenden Teenagers, mit einer markanten Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen. Das Bild zeigte keinen Computer-Nerd, wie man ihn sich gemeinhin vorstellte. Sebastian hatte sich nie in eine Schublade pressen lassen. Am Anfang ihrer Freundschaft stand die gemeinsame Liebe für den FCZ, einem der beiden Zürcher Fußballclubs. Die Verantwortlichen des Vereins wären vor Neid erblasst, beim Anblick von Sebastians Datenbank über den Club. Nach dem Abschluss der Oberstufe und einer Ausbildung in medialer Bildbearbeitung durfte sich Markus durchaus als fortgeschrittenen PC-User bezeichnen, doch Sebastian spielte in einer anderen Liga. Zwei Jahre nach dem Einzug im Lindenheim wurde Markus von seinem Freund behutsam aber gründlich in die höheren Sphären der Cyber-Welt eingeweiht. Nach einem langweiligen Arbeitstag im hauseigenen Bürozentrum passte Sebastian ihn auf der Wohngruppe ab.

„Komm Kusi, ich zeig dir was.“

Das Zimmer von Sebastian unterschied sich nicht wesentlich vom Technikraum des EDV-Supports, der das Lindenheim betreute, einmal abgesehen von den zahlreichen H.R. Giger-Postern, welche die Wände zierten.

„Was meinst du dazu?“

Sebastian klickte einen Dateiordner an und öffnete eine Excel-Datei. Auf der linken Seite erblickte Markus eine Spalte mit Namen, der rechts angefügt ein halbes Dutzend weitere Kolonen folgten, die mit Zahlen gefüllt waren.

„Und, was soll das sein?“

Markus blickte gelangweilt auf die Tabelle. Plötzlich erstarrte er. Die Namen kannte er doch! Er scrollte an das obere Ende der Seite, um die Überschriften der Zahlenspalten zu lesen; „Lohnstufe“, „Jahreslohn“, „Kostenstelle“.

„Das ist die Lohntabelle des Lindenheimes!“

Aufgeregt scrollte Markus nach unten, bis zur Ziffer „W“.

„Verdammt, alle sind drauf. Sogar der Wirz!“

Mit großen Augen betrachtete er die sechsstellige Zahl, die in der Spalte „Jahreslohn“ für den Heimleiter aufgeführt war.

„Wie bist du darangekommen?“

Sebastian gab sich betont cool, doch der Stolz triefte ihm aus allen Poren.

„Es sind immer die zwei selben Dinge Kusi. Socialhacking und Sicherheitslücken.“

„Und was bedeutet das auf Deutsch?“

Sebastian suhlte sich in der Bewunderung seines Freundes, wie eine Wildsau im Schlamm.

„Das bedeutet, dass ich unserer Frau Welti von der Buchhaltung den geforderten Nachweis von der Sozialversicherung habe zukommen lassen.“

Sebastian schaute triumphierend zu Markus, doch der verstand nur Bahnhof.

„Als Anhang zum Mail natürlich! Die gute Frau Welti hat meinen Trojaner angeklickt und dann, nun dann sind wir schon bei der erwähnten Sicherheitslücke. Weißt du, der Moser, unser EDV-Supporter, ist zwar meistens der Erste, der den Hammer am Abend hinschmeißt, aber mit den Updates für das Betriebssystem nimmt er es nicht so genau. Der Rest ist Handwerk.“

Hätte Markus eine Nadel zur Hand gehabt, um Sebastian zu stechen, er wäre geplatzt wie ein aufgeblasener Ballon.

„Dieses Handwerk...“, stotterte er. „Dieses Handwerk, kannst du mich das lehren?“

„Aber sicher Kusi. Du befindest dich mitten in Lektion eins.“

Markus wurde ein gelehriger Schüler. Gierig sog er das Wissen ein, das ihm sein Freund nun täglich vermittelte. Bisher hatte er sich leidlich mit den üblichen Anwenderprogrammen herumgeschlagen. Doch jetzt erfuhr er alles über das Innenleben eines Computers. Er lernte, wie ein BIOS funktionierte oder wie man eigene Registry-Dateien erstellte. Er arbeitete sich ein in Programmiersprachen wie HTML, C/C++, Python und viele mehr. Bald war er regelmäßiger Gast in diversen einschlägigen Internetforen. Das Mantra seines Lehrmeisters Sebastian lautete:

„Kusi, unsere Zeit auf diesem Planeten ist begrenzt. Trotzdem ist sie unsere wichtigste Ressource. Nützen wir sie!“

Markus betrachtete das Konterfei seines Freundes und EDV-Mentors. Nach Sebastians Tod vor drei Jahren zog es ihn fort, vom Lindenheim. Er schätzte die Vorteile durchaus, die mit dem Aufenthalt in einer Institution verbunden waren. Die umfassende medizinische Betreuung beispielsweise oder die Infrastruktur und das Rollstuhlhockey in der hauseigenen Turnhalle. Doch er wollte sein Leben selbst bestimmen, für die restliche Zeit, die ihm blieb. Gemäß Statistik rund dreizehn Jahre. Als er vom Assistenzprogramm der Stadt erfuhr, dass Behinderten die Chance für ein autonomes Wohnen bot, hatte er sich umgehend beworben. Unterstützt wurde er dabei von Pfarrer Othmar. Nach Sebastians Tod hatte er viele Gespräche mit dem Seelsorger geführt, der immer mal wieder im Lindenheim auftauchte. Othmar akzeptierte Markus Lebensbild, in dem Gott und die Bibel nicht vorkamen, und unternahm keinerlei Bekehrungsversuche. Zwischen den beiden bestand mittlerweile eine enge Freundschaft.

Der AnrufZürich, 5. Februar 2018

Tsch. Jugendstilkünstler, gest. 1939? Kramer seufzte und schlürfte ein wenig von seinem Tee. Er kam einfach nicht weiter mit dem Kreuzworträtsel. Es blieb ihm keine Wahl, er musste Google fragen, obwohl ihm das wie ein Verrat vorkam. Margot hätte ihm nicht nur den Namen des Künstlers genannt, sondern gleich eine komplette Schilderung seines Schaffens mitgeliefert. Sie weckte damals das Interesse in ihm, für Zürichs Museen. Anfangs war er nur ihr zuliebe mitgegangen. Auf den Geschmack gekommen, machten sie später auch einmal einen Abstecher nach London und besuchten die Tate Gallery, falls der Spiel- und Trainingsbetrieb es zuließ. Oder sie flanierten durch die Pariser Boulevards. Kramer nahm sein Handy zur Hand und tippte „Jugendstilkünstler Tschechien“ ein. Er scrollte durch die angezeigten Seiten. „Alfons Mucha und seine weltberühmte Plakatkunst.“ Mucha, fünf Buchstaben, das passte! Der Strom durch Vorderindien, waagrecht, hieß demzufolge Indus. Zehn Minuten komplettierte er das Rätsel und seine Zufriedenheit darüber überwog den Makel der kurzen Recherche. Gerne hätte er seine Freude mit Carlos geteilt, doch der Kater zog eine morgendliche Pirsch durch das Quartier einem Kreuzworträtsel vor. Am Nachmittag würde er zurück sein und zusammen mit ihm Beni begrüßen. Kramer erhob sich, trat ans Fenster und blickte durch das Fernrohr. Im ersten Stock schräg gegenüber stritt sich Hefti mit seiner Frau. Die Erinnerung an den Besuch bei den Nachbarn ließ ihn schmunzeln. Margots Wut über den „alten Macho“ dauerte danach tagelang an. Während Roger Hefti seine Frau wie eine Dienstmagd herumkommandiert hatte, genoss er es, mit dem berühmten Fußballer an einem Tisch zu sitzen. Als er dem gelangweilten Beni anzeigte, etwas leiser zu spielen, indem er sanft den Finger an die Lippen presste, platzte Margot der Kragen. Sie bedankte sich bei Anna Hefti für das feine Essen, nahm Beni bei der Hand und verließ kommentarlos die Wohnung. Kramer folgte ihnen eine Minute später. Ein warmes Gefühl von Stolz auf seine Frau durchfuhr ihn, bei der Erinnerung daran. Sie war dem Leben mit einer Entschlossenheit begegnet, wie er sie nur auf dem Fußballfeld besaß.

Sachte bewegte er das Fernglas ein paar Zentimeter seitwärts und fokussierte die Schärfe auf das Fenster neben Hefti. Nach dem Umzug des alten Stucki ins Altersheim – die Info stammte von Heidi - hatte die Wohnung die letzten vier Wochen leer gestanden. Jetzt zierte ein Pflanzengeflecht die rechte Fensterhälfte. Der schrille Klang der Türglocke ließ ihn hochschrecken. Für Beni war es noch zu früh. Es blieb nur eine Erklärung für den morgendlichen Besuch. Ein Blick durch den Türspion lieferte die Bestätigung. Kramer öffnete die Türe.

„Hallo Heidi, was verschafft mir die Ehre am Morgen?“

Die Nachbarin, die ein Stockwerk tiefer wohnte, stand in Pantoffeln und mit umgebundener Schürze vor ihm. Unter ihrem Arm klemmte ein Wäschekorb.

„Guten Morgen Heinz. Ich wollte dich nur fragen, ob wir den Waschtag tauschen könnten. Am Freitag bekomm ich Besuch. Wenn ich stattdessen heute waschen könnte, wäre das super!“

„Aber klar doch, kein Problem! Du, aber ich muss wieder, ich bin gerade am Telefon.“

Kramer hob demonstrativ das Telefon in die Luft, das er vorsorglich mitgenommen hatte. Er rang sich ein Lächeln ab und schloss hastig die Türe. Ohne diese Notlüge hätte ihn Heidi für mindestens eine halbe Stunde in ein Gespräch verwickelt und dazu war er heute nicht in der Stimmung. Eigentlich mochte er sie ja ganz gern, wenngleich seine Beziehung zu ihr nie so eng gewesen war wie diejenige von Margot. Hin und wieder hegte er sogar den Verdacht, dass Heidis Gefühle für ihn das Maß eines freundschaftlichen Nachbarschaftsverhältnisses überstiegen. Kramer legte den Hörer zurück und begab sich wieder zum Fernrohr. Bei Heftis schien Ruhe eingekehrt zu sein. Die Observation der restlichen Wohnungen ergab keine nennenswerten Ereignisse. Er setzte sich mit einem Seufzer auf das Sofa und studierte die Programmzeitschrift. 11.00; „Richterin Barbara Salesch“. Das klang einigermaßen vielversprechend.

Kramer schreckte aus dem Schlaf auf, als er einen sanften Druck auf seinen Knien verspürte. Carlos hatte es sich bequem gemacht und bekundete seine Zufriedenheit durch lautes Schnurren. 13 Uhr, in einer halben Stunde kam Beni! Er stellte den Fernseher ab, erhob sich und ignorierte die beleidigten Blicke des Katers. Die Durchsuchung des Küchenschrankes förderte zu seiner Erleichterung eine Schachtel Kekse zutage, die er auf den Tisch legte. Kramer wusch das Frühstücksgeschirr und räumte Zeitungen und Programmzeitschriften zur Seite. Er hatte Beni jahrelang zu Ordnung angehalten, wenn auch mit mäßigem Erfolg. Das Fernrohr beließ er an seinem Platz. Marlene, Benis Freundin, hatte ihn schon lange damit geoutet. Seine Erklärungsversuche von wegen „Beobachtung der Vögel“ quittierte sie nur mit einem spöttischen Lächeln. Es war der Beginn einer gegenseitigen Abneigung, die, nach Kramers Empfinden, eher im Zunehmen begriffen war. Er ließ einen letzten prüfenden Blick durch die Wohnung gleiten, da klingelte das Telefon. Hatte Marlene Beni dazu gebracht, den Besuch zu verschieben?

„Kramer!“ 

„Hallo, bist du es Heinz?“

Die Stimme löste keinerlei Wiedererkennen bei ihm aus.

„Mit wem spreche ich?“

„Edwin, Margots Neffe. „Erinnerst du dich?“

„Ah, hallo Edwin, schon lange nichts mehr gehört, wie geht es dir?“

Kramer erinnerte sich nur vage an Edwin. Margot hatte den Kontakt zu ihrer Verwandtschaft in Deutschland aufgrund eines Erbstreites praktisch abgebrochen. Die Ausnahme bildete ihr Neffe Edwin, zu dem sie eine lose Verbindung aufrechterhalten hatte. Kramer erinnerte sich an einen gemeinsamen Besuch in Todtnau, im Schwarzwald. Beni musste etwa zwei gewesen sein. Das letzte Treffen lag jetzt 22 Jahre zurück; Margots Beerdigung. Später folgten ein paar Anrufe vor den Feiertagen, die irgendwann in Kartengrüße übergingen. Vor etwa zehn Jahren brach der Kontakt dann endgültig ab.

„Du Heinz, ich habe da ein Problem.“

„Aha.“ Kramer wartete geduldig.

„Also es ist mir ziemlich unangenehm, aber ich sitze ordentlich in der Scheiße, wenn du den Ausdruck entschuldigst. Ich hatte einen Autounfall!“ Edwin verstummte zwei Sekunden, in Erwartung einer Reaktion. Kramer schwieg. „Nun, außer ein paar leichten Knochenbrüchen ist mir nichts passiert. Ich habe keine Schuld, aber die Versicherung des Unfallverursachers macht Druck. Bis alles geklärt ist, muss ich eine Sicherheitsleistung hinterlegen. Ja, und da wir ja doch Familie sind, wollte ich dich fragen, ob du mir vielleicht kurzfristig aushelfen könntest?“

Es war wie beim Kreuzworträtsel lösen. Der Moment der wohltuenden Gewissheit, wenn die Synapsen korrekt geschaltet waren und das richtige Wort aus seinem Gedächtnis zauberten. Dieses Wissen, genährt durch Hunderte Folgen seiner Lieblingssendung „Aktenzeichen XY-ungelöst“ sagte ihm, das war nicht Margots Neffe am andern Ende der Leitung. Hier versuchte jemand, ihn über den Tisch ziehen, ihn um sein Erspartes zu bringen. Kramer lächelte still vor sich.

„Ja Edwin, das ist ja schlimm! Wie kann ich dir denn helfen?“ Im Hintergrund glaubte er, ein Flüstern zu vernehmen.

Nun, wenn du mir kurzfristig 30‘000.— leihen könntest? Damit wäre mir sehr geholfen, lieber Heinz!“

Ganz schön frech, der Typ. Clever genug, nicht gleich eine völlig überrissene Summe zu fordern. Aus Berichten wusste Kramer, dass solche Banden ihre Opfer schrittweise um ihr Vermögen brachten.

„Das ist ganz schön viel Geld, Edwin!“

„Ja, ich weiß, aber ich habe sonst einfach niemanden, der mir kurzfristig aushelfen könnte. In zwei Wochen kriegst du alles wieder zurück!“

Kramer seufzte schwer. Er ließ ein paar Sekunden verstreichen.

„Ich kenn dich ja kaum, Edwin. Ehrlich gesagt, fühle ich mich ein wenig überrumpelt.“

„Das kann ich gut verstehen, Heinz. Es fällt mir äußerst schwer, dich zu behelligen. Aber Margot hat immer so nett von dir gesprochen, von ihrem „Ritter.“

Kramer stutzte. Diesen Ausdruck hatte Margot tatsächlich oftmals verwendet. Sprach er doch mit Edwin? Dann schmunzelte er über den Zufallstreffer des Anrufers.

„Wie stellst du dir das vor, wohin soll ich dir das Geld überweisen?“

„Oh, das ist so lieb! Nein, keine Überweisung Heinz, das dauert viel zu lange. Eine gute Freundin von mir ist gerade in der Schweiz und würde das Geld bei dir abholen. Morgen Nachmittag um drei wäre das okay für dich?“

Edwin klang jetzt bestimmt. Er schien sich seiner Sache sicher zu sein.

„Ich weiß nicht. Aber ich schaue, was sich machen lässt. Wie heißt denn deine Freundin?“

„Sandy, du wirst sie mögen. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, Heinz. Jetzt habe ich gleich einen Arztbesuch. Ich melde mich dann wieder und nochmals vielen Dank, tschüss.“

Kramer wollte etwas sagen, doch Edwin hatte bereits aufgelegt. – Dann wollen wir mal das Empfangskomitee für Sandy bestellen – in diesem Moment riss ihn die Türglocke aus seinen Gedanken.

Der Draht

29. Mai 2017

Michele zeigte keine Lust auf weitere Konversation. Seine verstohlenen Blicke, die er ab und zu in den Rückspiegel warf, bot sich nur der Anblick von zwei Rucksäcken. Das Landschaftsbild änderte sich schlagartig, beim Verlassen der dicht besiedelten Stadt. Riesige, zu dieser Jahreszeit zumeist braune Felder wurden von endlosen Reihen weißer Gewächshäuser durchzogen. Sie fuhren jetzt näher zum Meer. Andrada entzifferte auf einem verwitterten Ortsschild den Namen Gela. Zu ihrer Erleichterung stoppte der Wagen nach einer halben Stunde auf einem großen, etwas heruntergekommenen Gehöft. Einige Fenster, des aus Tuffstein gebauten Hauptgebäudes, wiesen Sprünge auf. Auf einem Anhänger, dem ein rostiger Traktor vorgespannt war, stapelten sich teils leere, teils mit Tomaten gefüllte Körbe. Dem Auto entstiegen, kam ihnen ein bulliger, schwarzer Hund entgegen und sprang an den Rucksäcken hoch.

„Vattene!“ Michele versetzte dem Tier einen kräftigen Tritt, worauf der Hund winselnd davonschlich. Gleich darauf öffnete sich eine Türe im Hauptgebäude und ein untersetzter, älterer Mann in Bauernkluft näherte sich den Ankömmlingen.

„Ciao Michele, come stai oggi?“

„Ciao Toni, bene e te?“

Die Männer begrüßten sich und waren gleich in einen kleinen Disput verwickelt, ehe sich der Bauer Andrada und Florica zuwandte.

„Voglio lavorare?“

Die ledergegerbte Haut des Mannes, der offenbar Toni hieß, zeugte von der Arbeit im Freien. In einer der Zahnlücken zwischen den gelben Zähnen klemmte eine Zigarillo. Sein Versuch, ein Lächeln anzudeuten, wirkte bedrohlich. Der Blick, mit dem er sie musterte, erinnerte Andrada an Floricas Vater, wenn dieser auf dem Markt in Botosani eine Ziege ersteigerte. Außerdem entging ihr nicht, dass seine Begutachtung vor allem ihr galt.

„Tomatoes!“ Toni deutete mit Handbewegungen das Pflücken von Tomaten an. Andrada und Florica nickten.

„Okay, 22 Euro a day, con bed e house. That’s okay?“