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Quintologie AMERIXICO IV.Buch ENRICA Ein langer Weg zu sich selbst Luca und Rave haben sich im paradiesischen Costa-Rica eine neue Existenz aufbauen können. Als Ehepaar Osares leben sie friedlich und unerkannt mit ihrer Tochter. Doch dann holt die Vergangenheit sie jäh wieder ein: Jemand will all die Menschen töten lassen, die vor 15 Jahren Algrado Bernal zu Fall brachten, den einst mächtigsten Kopf des südlichen Kartells. Während Luca mit ihrer Tochter nach England flieht, will Rave sich der Gefahr stellen. Doch dieser Weg wird für ihn ebenso, wie auch für ihre gemeinsame Liebe zu einer schweren Prüfung ...
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Seitenzahl: 1330
Veröffentlichungsjahr: 2021
Ein weiter Weg zu sich selbst ...
Nach 15 Jahren in Costa Rica fühlen sich Luca und Rave sicher.
Hierher konnten sie vor den Verfolgungen durch Polizei und die Kartelle Mexikos fliehen, um sich mit einer neuen Identität ein neues Leben aufzubauen.
Doch Algrado, Mexikos Staatsfeind Nr.1, den zu überführen beide geholfen haben, veröffentlicht in den Tageszeitungen Lateinamerikas eine Todesliste von all denen, die an seiner Ergreifung beteiligt waren, und denen er nun Rache schwört. Sämtliche Kopfgeldjäger sind nun unterwegs, um sich das in Aussicht gestellte Geld zu verdienen.
Luca flieht mit ihrer Tochter nach England, Rave hingegen will sich der neuen Gefahr stellen und sie beenden.
Doch er kämpft gegen viele unbekannte Verfolger. Und auf die Falle, die ihm gestellt wird, ist er nicht gefasst. Er begreift: Nichts wird sich verändern, man wird nie damit aufhören, ihn und seine Familie zu jagen, wenn er sich selbst nicht grundlegend verändert ...
Mit ENRICA stellt Memouna Sarahea ihren vierten, spannenden Folgeroman aus der AMERIXICO-Quintologie über das ungleiche Paar Luca und Rave vor.
Kap I : In sicheren Händen
Kap II : Die letzten Tage
Kap III : Ein anderer Blickwinkel
Kap IV : Ein anderes Zuhause
Kap V : Die liebe Familie
Kap VI : Verbündete
Kap VII : Verführungen
Kap VIII : Insider und Outsider
Kap IX : Eine neue Ausgangsposition
Kap X : Unter anderen Umständen
Kap XI : Über die Grenze
Kap XII : Im Dunkeln
Kap XIII : Bei einem Freund
Kap XIV : In Algrados Revier
Kap XV : Der Tag der Tage
Kap. XVI : An einem vertrauten Ort
Kap XVII : Nichts ist mehr, wie zuvor
Kap XVIII : Außerhalb
Kap XIX : Die Begegnung
Kap XX : Die Verwandlung
Kap XXI : Costexico
Die Einfahrt der Villa wurde durch ein schmiedeeisernes, verschnörkeltes Eisentor mit einem altertümlichen, verrosteten Schloss versperrt. Hier war lange niemand mehr hindurchgegangen.
Rave ließ den Wagen ausrollen, brachte ihn zum Halt und nickte dem Mann zu, der ihn am Tor stehend erwartete und offenbar gerade mit verzweifelter Miene versuchte, es zu öffnen.
Rave musterte ihn und das, was sich ihm hier als ersten Eindruck darbot. Weder der Zaun, der das Grundstück zu beiden Seiten eingrenzte, noch das Tor, waren mit Militärdraht oder Glassplittern geschützt, so wie das in dieser Gegend für solche Anwesen längst üblich geworden war.
Er gab in der Zentrale per Funk seinen aktuellen Standort durch, und ließ seine Leute wissen, dass er für die nächsten zwei Stunden nicht zur Verfügung stand. Erst dann stieg er aus dem dunkelbraunen Landrover aus. Sein Blick war gut geschult: Es waren keine Kameras in den Bäumen und Palmen zu sehen, die hier sehr dicht und geradezu üppig um das Anwesen herum wuchsen, auch nicht am Tor.
Der Mann bemerkte seinen Blick.
'Ich weiß, Signor', schien er sich fast dafür zu entschuldigen. 'Ich hoffe, das wird alles besser, wenn Sie erst dieses Objekt übernehmen.'
Rave schenkte ihm einen prüfenden Blick. Sie kannten sich bereits.
Er war ein einfacher Angestellter, der per Internet Order bekam, verschiedene Immobilien für einen wohlhabenden Ticaner wieder in Schuss zu bekommen.
Sie befanden sich hier auf der Halbinsel Nicoya, an der pazifischen Küste von Costa Rica. Von der Zuwegung aus konnte man das Meer durch die Palmen blitzen sehen. Guanacaste war nicht allzu weit entfernt, und dort befanden sich all die Besitztümer der Reichen und Schönen. Sogar Brad Pitt und Angelina Jolie, die man mittlerweile schon zärtlich 'Brangelina' nannte, hatten selbstverständlich dort Besitztum. Die Halbinsel Nicoya dagegen war glücklicherweise noch nicht so überlaufen. Ihre Strände galten nach wie vor als Geheimtipp, und dadurch, dass sie etwas abgelegen vom üblichen Küstenrummel lag, hatten sich diejenigen hierher zurückgezogen, die die Abgeschiedenheit und die Ruhe der Natur zu schätzen wussten.
Rave hatte sich auf den Immobilienschutz gut betuchter Kunden spezialisiert. Tatsächlich war das ein relativ ruhiger Job.
Allein die Präsenz einer solchen Sicherheitsfirma, wie er sie inzwischen führte, hielt die kleineren Gelegenheitsdiebe ab, die gern mal in leer stehende Villen eindrangen, nur um zu sehen, ob darin etwas Brauchbares zu finden war.
Mitunter musste man weite Wege abfahren, um zu den einzelnen Objekten zu gelangen. Aber das Geschäft lief gut. Es gab nicht wenige wertvolle Besitztümer, deren Inhaber sich nur für wenige Monate im Jahr hierher zurückzogen. Den Rest der Zeit standen all diese traumhaften Villen leer.
Rave zog sein Notizbuch und fand den Stift gleich neben den Papieren in der Brusttasche seiner Uniform. Eigentlich mochte er keine Uniform.
Doch diese war schlicht, dunkelblau, und wirkte mit ihrem silbernen Schriftzug 'Acierto' auf dem Rücken beinahe edel und auch ein wenig geheimnisvoll. Sie vermittelte den Eindruck von Qualität, einem strukturierten Firmenplan, und vor allem: von Sicherheit. Wenn man in solch einer Uniform auftrat, brauchte es selten viele Worte. Das hatte Rave zu schätzen gelernt.
Er war nach wie vor kein übermäßig kommunikativer Mensch.
Die meisten Menschen redeten seiner Meinung nach viel zu viel. Dabei war Körpersprache viel wichtiger als das gesprochene Wort, und die hatte er in all den Jahren zu lesen gelernt: Die leichte Bewegung der Augen, ein Zucken eines Gesichtsmuskels. Mitunter wies ihn das auf etwas hin, was er so in Sekunden eingeordnet bekam, und wodurch es ihm sehr viel schneller gelang, die eigentliche Situation einzuschätzen.
Erst neulich hatte er in einem Haus zwei Einbrecher stellen können, junge Leute, Amateure. Seine eigenen Leute hatten sie an Ort und Stelle verhört und sich von ihnen bestätigen lassen, dass sie angeblich nur zu zweit wären. Aber das Gesicht des einen, in dem Rave derweil aufmerksam las, sagte etwas anderes. Und so hatte Rave sich auf die Suche nach dem dritten Mann gemacht, und hatte ihn letztendlich auch aufgespürt – beim Versuch durchs Toilettenfenster zu verschwinden ...
Ob er das jemals in seine Leute hinein bekommen würde, so zu denken und die Dinge so wahrzunehmen wie er, daran zweifelte er allerdings.
Er war, wer er war. Und all die Jahre, die nun weit hinter ihm lagen, hatten ihn geformt und trainiert. Auch in diesem Moment meldeten ihm seine Sinne all die Geräusche um sie herum: die Vögel oben in den Baumkronen, die sich mit leisem Rascheln davon stahlen, eine Bewegung nahe ihrer Füße, wo vermutlich Salamander das Weite suchten, ein, zwei Wagen, die ziemlich weit entfernt von hier auf der Straße vorbeifuhren, und natürlich das allgegenwärtige Rauschen der Meeresbrandung. Alles um sie her wirkte friedlich. Es gab nichts Besorgniserregendes. Rave wischte sich mit seinem sehnigen Arm den Schweiß von der Stirn. Er war jetzt 43 Jahre alt. Aber er konnte es allemal mit den Jüngeren seiner Firma aufnehmen. Sie fürchteten seine schnellen, zielgerichteten Griffe, wenn er sich mit ihnen im Trainingsraum maß.
Äußerlich fiel Rave neben seinen Angestellten nicht besonders auf. Mit den kurz geschnittenen Haaren und der Schirmmütze sah er aus wie einer von ihnen und war nicht als ihr Chef zu erkennen. Vermutlich würden ihn sogar seine eigenen Kunden kaum auf der Straße wieder erkennen, wenn er gerade nicht im Dienst und nicht in Uniform war.
Sie gingen nun den zugewachsenen Weg auf die Villa zu. 'Ich ändere das noch innerhalb der nächsten Woche, dann kann man hier mit dem Wagen bis vors Haus fahren', entschuldigte sich der Mann wieder.
Rave blieb stehen und ließ die Umgebung des Geländes auf sich wirken. ‘Es müssen in jedem Falle Lichtschranken eingebaut werden’, bestimmte Rave und notierte es. Der Mann drehte sich um.
'Zum Glück müssen weder Sie noch ich in solch einem goldenen Käfig wohnen', so bemerkte er ironisch. 'Wie viel Handarbeit bleibt Ihnen denn eigentlich noch bei all der Elektronik?' 'Genug', erwiderte Rave knapp, machte sich weitere Notizen und versicherte sich noch einmal, ohne aufzusehen: 'Ich habe also freie Hand?' 'Sicher', bestätigte der Mann. 'Mein Chef ist ja bereits von Ihrer Arbeit überzeugt. Sie betreuen schließlich schon drei Objekte von ihm.'
Rave kannte den Besitzer nur von einigen E-Mails und ein, zwei Telefonaten. So wie dieser waren viele seiner Kunden. Doch die Zahlungen erfolgten in der Regel pünktlich.
Die paradiesische Natur in Costa Rica war eine wahre Goldgrube. Und es waren nicht wenige, die hier investierten und dadurch ihr Vermögen weiter vermehrten.
Sie gingen nun in zielsicheren Schritten auf das Haus zu. Hinter einer weiteren Biegung endlich gab das üppige Grün der tropischen Vegetation den Blick auf die Villa frei - weiß, verwunschen und traumhaft lag sie da.
Natürlich gab es die obligatorische Einfahrt mit protzigem Vorbau, gleich einem griechischen Tempel, mit den angesagten weißen Säulen.
Rave verzog verächtlich die Mundwinkel. Der Wirkung zählte eben.
Protzen um jeden Preis war den Erbauern anscheinend wichtig. Das war etwas, was er wohl nie verstehen würde.
Beim Näherkommen zeigte sich, dass auch hier Farbe nötig wäre, um das Anwesen wieder erstrahlen zu lassen.
Ein großzügiger Flur führte in ein riesiges Wohnzimmer mit Kamin und einer Möbelgruppe, inmitten des Raumes. Rave hatte mit geübtem Blick schnell erkannt, dass es vier Eingänge gab, die in diesen zentralen Raum mündeten. Sicherheitstechnisch gesehen war dieser Raum eine wirkliche Katastrophe. Man hatte immer einen der Eingänge im Rücken, wenn man in der Mitte am Kamin saß. Ihm war schleierhaft, wie man ein Haus so bauen konnte. 'Gibt es einen Grundriss?' 'Oh, sicher.'
Der Mann ging in eiligen Schritten zum Kamin und holte eine angestaubte Mappe vom Sims. 'Die können Sie behalten', erklärte er beim Überreichen. 'Es sind Kopien. Ich habe auch eine, und die Originale sind beim Chef. Wenn etwas darauf nicht zu erkennen ist, müssten Sie sich melden. Ich bringe es dann für Sie in Erfahrung.'
Rave lehnte sich mit dem Rücken gegen den Kamin. 'Wir benötigen in jedem Falle eine verstärkte Absicherung der Terrasse', stellt er kritisch fest.
'Sicher. Wollen wir einen Rundgang machen?'
Rave folgte ihm. Er spürte seine Wadenmuskeln.
In seiner Firma gab es einen Fitnessraum. Und heute hatte er es mit seinem Pensum vielleicht ein wenig übertrieben. Aber er neigte dazu, mehr zu tun, als er eigentlich musste. Täglich eine Stunde Training war Minimum für ihn und seine Leute, plus eine Runde Joggen. Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit und ein Bedürfnis, für seine Leute Pflicht. Er hatte es sogar im Arbeitsvertrag festschreiben lassen. Er konnte in seiner Firma keine Weicheier gebrauchen. Wenn es darauf ankam, mussten sie laufen können und auch die Kraft haben, jemanden niederzuringen.
'Ihre Firma ist die beste hier in der Gegend', stellte der Mann jetzt fest.
Er stand gegen den Türrahmen des Raumes gelehnt, den sie gerade besichtigten und betrachtete Rave mit einer gewissen Scheu.
Rave lächelte nachsichtig. 'Es gibt ja auch nur zwei, die diese Art von Sicherheitsbetreuung machen', stellte er trocken fest.
'Haben Sie eigentlich jemals einen Räuber selber gestellt?'
Der Mann war neugierig, so vermerkte Rave mit leichtem Unwillen und entgegnete knapp: ‘Nicht nur ein Mal'.
'Ich würde vor Angst sterben!', erklärte der Mann staunend. 'Ist das nicht furchtbar, wenn Sie nicht wissen, ob Sie solch ein Kerl nicht etwa dabei verletzt oder gar tötet?’ Rave lächelte. 'Ich würde es eher als eine willkommene Abwechslung bezeichnen ...'
Der Weg zurück war matschig, und die Reifen des Wagens zogen tiefe Furchen durch die unbefestigte Zufahrt. Rave fuhr in Schlangenlinien und lenkte den Wagen so behutsam wie nur möglich um die tiefen Schlaglöcher, die hier mitunter eine Tiefe erreichten, die leicht eine Achse brechen lassen konnten.
Sie hatten jetzt Mitte November. Die letzten Regenfälle waren heftig gewesen und lagen noch nicht lange zurück. Bald würden auch die ersten Touristen wieder kommen und die Strände in Beschlag nehmen.
Die ruhige Phase des Jahres ging ihrem Ende zu. Vielleicht noch ein, zwei Regenfälle und ein paar Stürme... Dann wäre es vorbei mit der Ruhe ...
Er rief die Zentrale an und gab durch, dass er in Kürze wieder zurück sei. Ständig zu melden, wo man sich befand, alles schriftlich festzuhalten, wer wann wo Kontrolle fuhr, welche Vorfälle es gab, wo etwas noch einmal überprüft werden musste, das lag ihm eigentlich überhaupt nicht. Aber da er genau diese Verbindlichkeit von seinen Leuten verlangte, musste er selbst wohl oder übel ebenfalls diese Vorschriften einhalten. Er hatte selbst als Angestellter begonnen. Doch mittlerweile hatte er an die zwanzig Angestellte.
Sein Handy summte.
Ein Blick auf das Display ließ ihn rechts ran fahren und den Motor ausschalten. Es war seine Tochter.
'Zu Diensten, Signorita', meldete er sich. 'Was kann ich für Sie tun?'
'Papito, nicht so förmlich', gab Aouina unwillig zurück. 'Du weißt genau, dass ich das bin.' 'Sicher doch’ Er grinste. ’Was gibt’s denn?'
'Hör mal. Ich wollte heute Abend noch frische Ananas haben, für einen bestimmten Fruchtcocktail. Bringst du mir welche mit? Bei Elena sind die Früchte einfach am besten, und das liegt doch auf deinen Weg.'
'Wie viele brauchst du?' 'Na so zehn oder fünfzehn vielleicht.'
Rave schnappte nach Luft. 'Wie viele?'
'Jetzt tu nicht so überrascht! Ihr habt mir versprochen, ich darf meine Party so feiern, wie ich will!' 'Himmel, wie viel Leute hast Du denn eingeladen, Aouina?' 'Naja....'
Rave winkte ab. 'Ok, ok. Erzähl es mir nicht. Ich bringe also zwanzig mit. Das sollte doch reichen. Ich werde auch bald nach Hause kommen. ' 'Du bist der Beste, Papito!' Rave schmunzelte.
'Wo ist deine Mutter?' 'Mamita ist noch Schwimmen. Ich muss einiges vorbereiten. Bis nachher.' 'Ja, bis gleich.'
Er legte auf und lächelte ungläubig. Achtzehn Jahre! Es war schwer zu begreifen, dass seine einzige Tochter nun erwachsen wurde.
Er blickte auf die Uhr. Es ging auf die Mittagszeit zu.
Luca schwamm gerne in dieser Zeit eine Runde. Und danach würde sie wieder in ihrem Café arbeiten gehen. Er fühlte sich immer unwohl, wenn er sie nicht erreichen konnte. Auch wenn es nur für eine kurze Zeit war, so wie jetzt, während sie mit langen Schwimmstößen durch das Wasser zog. Mitunter gab es ungute Strömungen vor der Küste.
Doch sie kannte sich recht gut damit aus. Er wusste eigentlich, er musste sich keine Sorgen um sie machen.
Endlich erfassten die Reifen seines Wagens festen Untergrund, und er konnte Gas geben - zurück nach Paquera.
Paquera war ein nur kleines Städtchen auf der Halbinsel Nicoya, mit einer Fährverbindung zum Festland, nach Puntaneras: Ein abgelegenes, unauffälliges Örtchen, welches gleichzeitig optimal angebunden war. Wie gemacht für wohlhabende Ticaner, um sich hier einen Wochenendsitz oder Feriendomizil zu leisten ... und damit auch optimal, um auf die Weise Geld zu verdienen, wie er es tat.
Zurück in der Firma parkte er in der überschaubaren, kleinen Tiefgarage neben den anderen Dienstwagen ein und schritt zielstrebig auf die Treppe Richtung Obergeschoss zu.
Über die Treppe gelangte man in den wichtigsten Raum von Acierto: in die Zentrale. Diese war mit einem Empfangstresen und drei Schreibtischen dahinter immer mit wenigstens zwei Leuten besetzt.
Von hier konnte man in den daneben liegenden Personalraum gelangen, sowie in sein Büro. Ein Umkleidebereich und einige Lagerräume gab es noch im Keller. Es war eine kleine Firma, reduziert aufs Notwendigste, und vielleicht gerade darum auch so effektiv.
Die drei Männer blickten jetzt von ihren Schreibtischen auf und grüßten respektvoll. Sein Auftreten wirkte mitunter so alarmierend schwungvoll, dass er damit einen Sog der Bewegung unter den Angestellten auslöste, sodass sich augenblicklich jeder der Anwesenden irgendwelchen Dingen zuwandte, die er noch bis kurz vorher nicht mit demselben Elan angegangen war.
Heute schenkte er ihnen jedoch keine große Beachtung. Im Vorbeigehen warf er einem seiner jungen Angestellten die Notizen und die Mappe auf den Schreibtisch. 'Hier. Die dritte Vegas-Villa. Die nehmen wir auf', wies er nur knapp an.
'Wird gemacht, Signor Osares', kam es eilig zurück.
Rave öffnete die Tür zu seinem Büro und drehte sich dann noch kurz zu um, um die obligatorische Frage zu stellen. 'Gibt’s irgendwas Neues?' 'Ja, einige Anrufe. Lens kommt sofort mit allem zu Ihnen, Signor Osares', erwiderte Alejo.
Rave nickte und zog sich in sein Büro zurück. Er ließ sich auf den Holzstuhl fallen und warf seine Mütze auf den Schreibtisch.
Es war stickig hier drin. Mit einem Knopfdruck sprang der Tischventilator an.
In seinem Büro befand sich nur das Notwendigste: Schreibtisch, Stuhl, Ventilator, ein Plan von Paquera und den darauf markierten Objekten an der Wand, welche er betreute, ein Bild von seiner Frau und Tochter auf dem Schreibtisch. Für einen Moment ruhte sein Blick auf diesem knallbunten Foto in dem einfachen Metallrahmen.
Er war lange dagegen gewesen, ein Bild aufzustellen.
Sein Privatleben ging seiner Meinung nach schließlich niemandem etwas an. Aber Luca hatte ihn schließlich überzeugt: 'Jeder weiss, dass du eine Familie hast, Rave. Wenn du uns so deutlich ausschließt, dann fällt das viel mehr auf, als wenn du ein Bild von uns aufstellst.
Und das hier, das ist doch perfekt.'
Niemand konnte die beiden auf diesem Bild wirklich erkennen. Es war an einem der Tage gemacht worden, an dem die Ankunft von Christoph Columbus gefeiert wurde – ein riesiges Volksfest hierzulande. Beide waren auf dem Bild bunt gekleidet und trugen Perücken, waren grell geschminkt und lachten in die Kamera.
Er fischte sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und ging hinüber zum Fenster, während er in langen Zügen trank.
Von hier aus hatte er die Hauptstraße im Blick. Das war im Grunde auch schon die einzige nennenswerte Straße in Paquera.
Unten fuhr gerade einer ihrer Dienstwagen vor, daneben parkte ein kleinerer Lieferwagen. Er konnte Farro aussteigen sehen, einen seiner ältesten Mitarbeiter, einer der wenigen von denen, die er nach Übernahme der Firma mit übernommen hatte.
Rave beobachtete, wie Farro mit dem Lieferanten sprach, wie er Briefumschläge entgegen nahm, aber abwehrte, als er etwas unterschreiben sollte. Schließlich zog der Lieferant ab und fuhr davon.
Rave runzelte die Stirn.
Er kontrollierte peinlich genau, wie diese spezielle Post zu ihnen kam oder ging. In diesem Punkt erlaubte er weder sich noch anderen einen Fehler. Und auch wenn der Aufwand sehr groß war, so hielt er ihn doch für angemessen.
Die Post wurde an ein Postfach in San José geliefert. Ein Botenservice hatte die Vollmacht, diese dort abzuholen und zur Stadt Liberia in ein Postfach zu bringen. Von dort holte ein anderer Botenservice sie ab, wechselte die Briefumschläge und versendete sie neu an den Lieferservice in Puntaneras. Rave ließ ihre Freundin Beth regelmäßig dort von einem Prepaid-Handy aus anrufen, um einen neuen Übergabeort durchzugeben. Der Lieferservice brachte die Post dann höchstpersönlich dorthin. Und Rave achtete darauf, dass jedes Mal jemand anderes die Briefe abholte. Manchmal holte er sich dafür einen Jungen von der Straße, manchmal bat er eine Frau vom Reinigungspersonal. Wichtig war, dass es jedes Mal eine andere Person war. Diese deponierte das Ganze dann in dem Postfach der Poststelle in Puntaneras. Und den letzten Weg hierher übernahm dann eine weiterer Lieferservice. Es war aufwendig. Aber zumindest stellte er so sicher, dass niemand den direkten Weg vom Absender bis hierher zu ihnen nach Costa Rica nachvollziehen konnte.
Rave wischte sich das Wasser von den Lippen und musterte beinahe beiläufig die Bewegungen auf der Straße. Es war zu seinem zweiten Selbst geworden: alles im Blick zu behalten.
Dass überhaupt Post hin und her ging, störte ihn im Grunde gewaltig.
Es klopfte. Rave brummte.
Seine Leute kannten das schon von ihm. Der eintretende Angestellte Lens wusste also, dass das 'Ja' bedeuten sollte.
'Signor Osares, passt es Ihnen jetzt?', fragte er dennoch höflich, noch an der Tür stehend. 'Sicher'. Rave winkte ihn herein.
Lens war einer seiner Neuzugänge, und sehr bemüht.
'Wir haben hier zwei neue Kunden, deren Objekte noch nicht besichtigt wurden', so eröffnete der junge Mann den ersten Punkt seiner Liste.
'Wer soll das übernehmen, Signor?' 'Wurde schon der Hintergrund des Kunden beleuchtet?', wollte Rave wissen.
'Nein, Signor.' 'Das machen wir immer zuerst, ehe die Objekte selbst begutachtet werden, Lens', so erklärte Rave ihm ihre übliche Vorgehensweise.. 'Wir arbeiten nicht für jeden.'
'Es wird schon jetzt eng', bestätigte der junge Mann. 'Wir schaffen die Touren kaum noch, Signor. Sie müssen neue Leute einstellen, wenn das so weitergeht.' 'Ich weiß’, bestätigte Rave. ‘Ist bereits in Arbeit.
Morgen müsste die Stellenanzeige erscheinen'.
Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und überflog nur flüchtig den Inhalt der Mappe, die ihm vorgelegt worden war. 'Ich habe Farro angewiesen, dass er die Erstgespräche führen wird. Ich selbst bin morgen nicht da,’ so informierte er Lens, ohne aufzuschauen. ‘Nächste Woche will ich dann seine engere Auswahl sehen. Die Termine können bereits gemacht werden. Ihr kümmert euch darum.' 'Ja, Signor. Und ...
da rief noch die Polizeiwache an. Ein Signor Diaz wollte Sie sprechen.'
Rave blickte auf. Seine Haltung war augenblicklich angespannt.
'Und worum geht es?'
Der junge Mann fühlte sich von dem Blick seines Chefs augenblicklich eingeschüchtert. Alle in der Firma fürchteten Rave, wenn er diese mitunter unerwartet auftauchende, präsente Körperspannung zeigte.
Sie wussten nur zu genau, dass man dann besser aufmerksam blieb und genau darauf achtete, was ihr Chef als Nächstes forderte. Alles andere erschien ungesund zu sein. 'Es geht um diese Fälle von Vandalismus', erklärte der junge Mann und betrachtete Rave's Mimik scheu. 'Er sagte, sie hätten da ein paar Fragen, und es gab wohl auch Festnahmen. Er will die Kooperation mit uns engmaschiger gestalten ... ehm, Entschuldigung, aber so geschwollen drückte er sich tatsächlich aus.'
Rave schien sich augenblicklich zu entspannen und ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. 'Gut.' Er war zufrieden.
Lens blickte verlegen auf den Boden und schwieg. Rave machte solch ein Verhalten augenblicklich aufmerksam. 'Was ist noch?'
'Ich ... ich hoffe nicht, dass ich dabei sein muss. Sie ... Sie wissen doch, was in meiner Akte steht, Signor Osares.'
Rave musterte ihn nachsichtig. 'Lens, du stehst jetzt unter meinem Schutz', beruhigte er den jungen Mann. 'Also gibt es da auch kein Problem. Du kannst überall hingehen.'
Der junge Mann sah erleichtert auf. 'Signor, ich werde Ihnen ewig dankbar sein, dass Sie mir diese Chance geben und mich eingestellt haben, nur ... der Polizist damals, der mich verhaftet hatte ... das war Signor Diaz.'
Rave betrachtete den einfachen Jungen. Die Dankbarkeit und die gleichzeitig tiefen Schuldgefühle waren schwer zu ertragen. Dabei war es so leicht, jemandem eine Chance zu geben, der einmal in seinem Leben einen Fehler begangen hatte, der kaum der Rede wert schien..
Bei Lens war es ein kleinerer Raubüberfall auf eine abgelegene Villa.
Er befand sich also bereits im Metier, allerdings auf der falschen Seite.
Rave verließ sich nach wie vor noch immer einzig und allein auf seine Menschenkenntnis und auf seinen Instinkt.
Der Junge hatte diesen Überfall mit siebzehn gemacht, mit einer Wasserpistole. Und alles nur, um seiner Freundin zu imponieren. Nun stand es in seiner Akte, und er hatte keine Chance mehr, etwas Besseres zu werden als vielleicht Straßenfeger oder Müllmann.
Raubüberfall stand drin, aber wie schwer oder wie leicht dieser tatsächlich war, wurde natürlich nicht in der Akte ausgeführt. Doch jeder Geschäftsmann schreckte bei solch einem Lebenslauf natürlich vor der Einstellung eines wie ihm zurück.
'Wie alt bist du jetzt, Lens?', wollte Rave wissen und musterte ihn nachdenklich.
'Siebenundzwanzig, Signor', erwiderte der junge Mann verlegen.
'Es ist also zehn Jahre her', stellte Rave sachlich fest. 'Und seitdem ist nie wieder etwas Ähnliches vorgefallen. Es gibt keinen Grund, sich vor diesem Mann zu fürchten. Du kannst dich auf mich berufen. Ich kenne dich, also bürge ich für dich.' 'Ja, Signor.' In seinen Augen war wieder diese große Dankbarkeit zu sehen.
'Gut', schloss Rave das Thema ab. 'War noch etwas in meiner Abwesenheit?' Lens legte ihm einen Stapel Papiere vor.
'Nur noch die Tourenpläne, die abgezeichnet werden müssen. Einige Verträge, die der Rechtsanwalt durchgegangen ist und verändert hat, die müssten Sie ebenfalls noch unterschreiben.'
Rave überflog die Pläne. 'Wer hat die geschrieben? Bei welcher Tour bin ich dabei?' 'Ehm, Hernando sagte, Sie hätten eine Familienangelegenheit in dieser Woche, und ...' 'Das gilt für morgen', unterbrach Rave ihn. 'Nicht für die gesamte Woche. 'Ihr könnt das alles gleich noch einmal neu schreiben. Da Farro diese Woche mit den Einstellungen zu tun hat, übernehme ich seine Touren mit dem Neuen.
Ändert das.' 'Ja Signor.'
Rave betrachtete unwillig den Poststapel, den der junge Mann ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte. Es war eine Mischung aus der regulären Post an ihn als Inhaber der Firma Acierto, und diese andere Post ...
offiziell adressiert an den vorletzten Lieferservice.
Lens war in der Tür stehen geblieben. 'Signor, Ihre Frau hat außerdem eben angerufen und fragte, ob die Post schon gekommen sei, und wann Sie mit Ihrer Rückkehr rechnen kann.'
Rave katapultierte sich aus seinem Stuhl hoch, fischte nur zwei Briefumschläge aus dem Stapel heraus, klemmte sie sich unter den Arm und kam auf ihn zu.
'Genau jetzt', ließ er Lens wissen, während er bereits in den Vorraum kam, in dem einige der Angestellten herumstanden. Er begrüßte sie mit einem Nicken. 'Ab sofort hört alles auf Farro. Wenn er Fragen hat, soll er mich anrufen. Aber nur er. Ich bin morgen sonst für niemanden zu sprechen.' 'Jawohl, Signor. Und der Polizeichef?'
Rave war schon fast aus dem Vorzimmer hinaus, drehte sich nun noch einmal zu Lens zurück. 'Machen Sie einen Termin für übermorgen aus.'
'Bei ihm oder ...?' 'Das ist mir egal. Ich werde dann dort sein.
Benehmt euch.' Die Männer lachten. 'Sicher doch, Chef.'
Rave schritt weit aus, Richtung Umkleidekabinen. Er war froh, endlich aus der Uniform heraus zu kommen.
Das war ihm wichtig: Niemals in seinen Berufsklamotten nach Hause zu kommen. Beruf und Privates trennte er sauber.
Er hängte die Uniform in den Spint und fischte sich das heraus, was er am liebsten trug: ein einfaches T-Shirt und eine schlichte Jeans. Sogar die Uhr, die Luca ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte, trug er nur privat. Sie war schlicht gehalten, in Silbergrau und mit leuchtenden, einfachen Zifferblättern. Auf der Rückseite hatte sie eingravieren lassen 'La vida luca'. Die Bedeutung dieser drei Worte kannten nur sie beide. Es war ihre ganz persönliches Verbindung...
Er überprüfte sein Aussehen im schmalen Spiegel, der sich auf der Innenseite der Schranktür befand. Man musste schon genau hinsehen, um die Narben in seinem Gesicht als solche zu erkennen. Sein braun gebranntes Gesicht war in den letzten Jahren noch herber und kantiger geworden. Wenn er die obligatorische Sonnenbrille abnahm, stachen seine ungewöhnlich grünen Augen daraus hervor. Er hatte anfangs darüber nachgedacht, Kontaktlinsen zu tragen, um seine auffällige Augenfarbe dauerhaft zu verbergen. Aber ... dieses Mal wollten sie bleiben. Kontaktlinsen konnte man verlieren, sie konnten im Schlaf verrutschten, und nicht nur darum hätte man sie dann immer herausnehmen müssen. Man denke sich den Schreck eines Kindes, wenn es nachts seine Eltern weckte, um dann zu entdecken, dass die Augen seines Vaters komplett anders aussahen, als es bislang geglaubt hatte!
Seit sie hier waren, hatte er dunkelbraune Haare. Seine Tochter glaubte, dass seine Haare durch sein vorheriges, anstrengendes Geschäftsleben in Peru mittlerweile so grau geworden seien, dass er diese für sein Geschäft und aus Eitelkeit regelmäßig in ihrer ursprünglichen Farbe färben ließ. Sie glaubte, was sie musste. Und das war gut so.
Sie würde vermutlich nie erfahren, dass er eigentlich goldblonde Haare hatte, die offenbarten, wie wenig seine Vorfahren aus Lateinamerika kommen konnten.
Rave fuhr sich jetzt mit seinen sehnigen Fingern durch die Kurzhaarfrisur und setzte die Sonnenbrille auf. Er versuchte die Person bestmöglich auszufüllen, die er nun in Costa Rica darstellte.
Zehn Firmenwagen parkten in der Tiefgarage. Mit dem Generalschlüssel ließ sich der Schlüsselkasten öffnen und Rave griff hinein, ohne wirklich hinzusehen. Mit ausgestrecktem Arm drückte er auf den elektrischen Wagenöffner und wartete einfach ab, welches der Autos sich mit Blinkzeichen als das dazu passende meldete.
Er nahm sich jedes Mal einen anderen Wagen. Das war eine seiner Angewohnheiten geworden, die er nicht mehr abzulegen gedachte.
Er warf die Post auf den Beifahrersitz, bedachte sie mit einem verärgerten Blick, und lenkte hinaus in den Tag.
Der Weg zu ihrem Haus führte durch eine üppige Vegetation, bis man den grünen Gürtel bis zum Strand durchbrochen hatte. Krächzend flog ein Paar knallroter Aras auf, als sein Wagen die Äste der angrenzenden Büsche streifte und in wogende Bewegung brachte.
Sicherheitstechnisch gesehen war ihr eigenes Grundstück leider eine absolute Katastrophe. Für sie selbst galt die Sichtweise nicht, die er sonst in seinem Beruf pflegte. Hier gab es keine Lichtschranken und keine Kameras. Wozu auch. Wer sollte hier irgendetwas entwenden wollen?
Ihr Haus stand ohnehin eigentlich immer offen.
Es war ja eine Strandbar. Und was sich darin befand, konnte jeder leicht herausfinden, indem er hineinging. Die Einrichtung darin war so zweckmäßig, dass jedem bereits beim Eintreten klar werden musste, dass hier keine Schätze verborgen waren, die man hätte davontragen können - das Radio vielleicht, ihre alte Musikanlage und, na ja, den Laptop ihrer Tochter ...
Der eigentliche Schatz war im Grunde dieses Haus selbst.
Zudem war die Unsicherheit der anderen ihre eigene Sicherheit.
Wer sollte Interesse an einem Holzhaus am Strand haben, wenn doch um sie herum überall diese tollen Villen lagen, deren Wohlstand so viel mehr Interesse zu wecken wusste als ein einfaches, hölzernes Haus mit einer Bar darin?
Er parkte auf dem Platz, den sie extra für die ankommenden Gäste hatten roden lassen. Der Wald holte es sich bereits wieder zurück.
Noch ehe die ersten, größeren Gruppen hierher kämen, sollte er sich wohl besser darum kümmern.
Ihre Strandbar an der Playa Pochote lag abgelegen in einer großen Bucht, durch einen Fluss getrennt von der sehr viel größeren Playa Tambor. Sie wurde nach wie vor als ein Geheimtipp gehandelt. Im Grunde kamen hauptsächlich Badegäste und wenige Surfer an ihren Strand, nicht die großen Massen an Gästen. Und darüber war er auch ganz froh.
Der Süd-Pazifik blitzte durch die wenigen Bäume, die ihn nun noch von dem Haus trennten. Ein schmaler Fußweg führte ihn von hinten herum an die Veranda. Er verhielt nur einen Moment, als er das Grün hinter sich gelassen hatte und nun die volle Sicht sich auf die vor ihm liegende Bucht und das unendliche Wasser des Meeres vor ihm öffnete.
Es war wunderschön. Rave atmete tief durch.
Noch immer genoss er es, zurückzukommen. Jeden Tag.
Es verlor seinen Reiz nicht dadurch, dass sie hier lebten. Der Anblick war noch immer paradiesisch. Und er konnte es in diesem Augenblick eigentlich kaum fassen, dass er wirklich hier mit ihr lebte - nun schon so lange und nach wie vor unbehelligt und unbeschwert.
Es gab eine Zeit, da hatte er nicht mehr daran geglaubt, dass jemand wie er so etwas erreichen könnte, dass er es halten könnte, dass er es je leben dürfte. Aber sie waren wirklich hier. Und das hier war wirklich ihr Zuhause.
Rave fühlte, wie alles von ihm abfiel.
Die Firma interessierte ihn nicht mehr und nicht ein Gedanke an irgendetwas, was damit zusammenhing. Er nahm es nicht mit nach Hause. Er war hier nur Rave, niemand anders. Und hier war er willkommen.
Die Tür zur Strandbar stand offen, so wie alle anderen Türen auf der Terrasse. Seine Augen suchten nach ihr.
Sie hatte die Lampions aufgehängt, die eigentlich immer erst später im Jahr angebracht wurden, wenn die Saison begann. Alle Tische waren auf den Strand getragen worden und bildeten eine lange Tafel, mit einer leuchtend-orangefarbenen Tischdecke darauf.
Dann - endlich - erkannte er ihre Silhouette, die sich vor dem Gegenlicht der Sonne und dem glitzernden Meereswasser abhob.
Sie ordnete irgendetwas auf dem Tisch.
Er musste innehalten.
Es war ein traumhafter Anblick, fast so, wie sich ein Schiffbrüchiger sein Nachhausekommen erträumte.
Diese Szene strahlte Geborgenheit aus, eine vollkommen andere Sicherheit, als die, die eine Firma wie die Seine je garantieren könnte – und all das wurde umfasst von dieser paradiesischen Atmosphäre der nachmittäglichen Bucht. Sein Blick streifte über das liebevoll geschnitzte Türschild am Eingang ihres Hauses, wie um sich rückzuversichern, dass es wirklich noch da war und er nicht träumte - und in einem liebevollen Impuls fuhr er mit seiner rechten Hand über die Schrift: 'Ricco und Nayele Osares'.
Es waren gute Namen.
Er und Luca, sie hatten schon so viele verschiedene Namen getragen, ohne dass es für sie selbst und ihre Beziehung je eine Bedeutung gehabt hatte.
Bei ihr gab es allerdings diesen einen Unterschied: Sie hatte auch noch einen richtigen Namen, mit dem sie geboren worden war, und der sie mit einer lebendigen, noch immer existierenden Familie verband.
Das war etwas, was er nicht besaß.
Dadurch existierte noch immer irgendwo diese andere Parallelwelt.
Er wusste, dass sie sich darum bemühte, ihn das nicht spüren zu lassen. Dennoch war es ihm vollkommen bewusst: Zu dieser anderen Welt gehörte er nicht dazu.
Sein Blick fiel wieder auf diese Briefumschläge in seiner Hand, und er fühlte wie schon so oft den drängenden Wunsch, diese verflixte Post einfach verschwinden zu lassen. Vielleicht sollte er sie einfach unter das Haus werfen?
Fast musste er über sich selbst und diesen hilflosen Versuch lächeln.
Dadurch hörte es natürlich nicht auf, zu existieren. Die nächste Sturmflut würde es zutage bringen. Und wenn er eines nicht aufs Spiel setzen wollte, dann war es zu erleben, wenn sie wirklich von ihm enttäuscht war. Das war etwas, was er auch nach all diesen Jahren noch immer nicht ertrug.
Er umfasste die Briefumschläge nun fester und ging in langsamen Schritten zu ihr hinaus auf den Strand.
Sie hatte sich schön gemacht für diesen besonderen Tag.
Ein spitzendurchwirktes, hellgrünes Oberteil betonte den geschwungenen, bis zu der Wölbung ihrer Schultern reichenden Ausschnitt, und dazu trug sie einen langen, luftig-weißen Sommerrock.
Die hellblonden Haare lockten in einer wuscheligen Stufenfrisur über ihren halb nackten Schultern und verstärkten nur noch den Eindruck von etwas beinahe Hellem, Überirdischen, was sie in diesem Moment im Licht der Sonne vor der Weite des glitzernden Meeres zu sein schien. Jetzt drehte sie sich um und lächelte ihn an.
'Da bist du ja.'
Es gab nichts, was Rave gegen diese Augenblicke hätte eintauschen wollen.
Ihr kräftiger Oberkörper hatte etwas Apartes, wie er nun statt des üblichen, praktisch geschnittenen T-Shirts von dem zart durchscheinenden Spitzenoberteil umschmeichelt wurde. Sie trug dünnen, feinen Silberschmuck, Es waren zwei einfache Kettchen, die sich gleich dünnen, in der Sonne liegenden, jungen Schlangen um ihren Hals und das Handgelenk wanden. Er hatte sie ihr geschenkt, als sie hier neu begonnen hatten. Es war wie ein Symbol ihres gemeinsamen Lebens in diesem Land, und sie trug diesen schlichten Schmuck ununterbrochen, Tag und Nacht, immer. Und das machte ihn stolz. Luca lächelte ihn an. 'Was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen?'
Für Lateinamerika stellte sie eigentlich eine fast exotische Erscheinung dar, mit ihrem hellen Teint, den ungewöhnlichen, vielen Sommersprossen, die sich über ihr Gesicht und den Oberkörper verteilten, und den bernsteinfarbenen, hellbraunen Augen. Die hellblond gefärbten Haare verstärkten diesen Eindruck nun noch.
Eigentlich hatte sie braune Haare. Doch für hier hatte auch sie ihr Äußeres dauerhaft verändert.
In Mexiko war sie stets aufgefallen, doch hier nicht mehr.
In Costa Rica gab es so viele Mischlinge, so viele Einwanderer mit hellem Teint, dass niemand mehr die Frage nach ihrer eigentlich Herkunft stellte. Hier kamen alle von irgendwo anders. In diesem Land gab es im Grunde nur wenige, die für sich das Prädikat 'Einheimische' gelten lassen konnten.
Ihre luftig-lockere Frisur umschmeichelte ihr schmales Gesicht. Rave musste für einen kurzen Moment die Luft anhalten. 'Du siehst wunderschön aus', stellte er ungläubig fest.
Luca musste lachen. Sie strahlte eine unglaubliche Lebensenergie aus, wenn sie so unbeschwert lachte.
'Meinst du damit, dass dieses Teil hier mir ganz gut steht?'
Er fühlte sich irgendwie ertappt. 'Welches Teil?', fragte er. 'Am schönsten bist du, wenn du gar nichts an hast', fügte er dann noch charmant hinzu. Sie lächelte.
'Du hattest offensichtlich einen guten Tag', stellte sie heiter fest.
'Ich bin froh, einmal einen Tag nicht vor Ort sein zu müssen', gab er offen zu. 'Die Aufträge nehmen im Moment so rasant zu, dass mir fast schwindelig wird.' 'Das kommt davon, wenn man seine Arbeit gut macht, so schätze ich.'
Er legte den Kopf schräg, stellte sich hinter sie und umfasste sie liebevoll. Er wollte ihr für einen Moment so nah wie möglich sein .
'Entweder man macht das, was man tut richtig, oder man macht es eben gar nicht’, erwiderte er nah an ihrem Ohr. ‘Du selbst bist dafür auch ein ziemlich gutes Beispiel, wie ich finde.'
Sie legte ihre Arme um seine und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
Die gesamte Tafel war nun gedeckt, beinahe wie für eine Hochzeit - für ungefähr dreißig Gäste.
'Es ist mein Geschenk für sie', sagte sie leise. 'Wieso nur schreitet die Zeit so schnell voran, Rave? Der Küchentisch ist voller Prospekte und Schreiben irgendwelcher Hochschulen, bei denen sie sich bewerben will. Und sie redet nur noch von Ausbildung und Studium. ...' Luca seufzte. 'Ich habe das Gefühl, ich komme gar nicht mehr mit, weil auf einmal alles so schnell geht.'
Er fasste sie noch enger. 'Es wird sicher seltsam, wenn sie nicht mehr hier wohnt', bestätigte er nachdenklich. 'Aber wir haben uns. Und wir werden dieses Haus auch mit Leben füllen können. Es wird nur eben ... anders. Und es wird ein wenig ruhiger werden.' 'Ja.'
Er lächelte. 'Hier hätten noch so viel mehr Kinder Platz ...'
Ihr Gesicht verschloss sich augenblicklich.
Er drehte sie zu sich um, strich ihr beruhigend die blonden Strähnen aus dem Gesicht. 'Es heißt, Brangelina wären mit ihren vielen Kindern in Costa Rica auf ihrem Anwesen gelandet. Die Zeitungen sind voll davon. Wir könnten das auch tun, wenn du willst. Wir könnten auch ein Kind adoptieren, auch mehr. Ich hätte nichts dagegen.'
Sie senkte ihren Blick.
Dies war ein sensibles Thema zwischen ihnen nach den beiden Fehlgeburten, die Luca gehabt hatte. Jedes Mal die Hoffnung auf ein weiteres Kind und dann die Enttäuschung ...
Er fasste sanft unter ihr Kinn und hob es an, sodass sie ihn ansehen musste. 'Ich bin ebenso glücklich mit dir alleine, das weißt du. Ich brauche nur dich. Aber wenn du gerne Kinder hättest, so bin ich an deiner Seite. Und dann machen wir es möglich.'
Sie schüttelte den Kopf. 'Nein, Rave. Wir haben diese eine Tochter, und sie ist wundervoll. Ich will jetzt nicht über mehr nachdenken.'
'Ok, wie du willst.'
Sie blieben in dieser innigen Umarmung stehen und betrachteten die lange Festtafel und das Meer dahinter.
'Ohne sie wird es ganz schön anders sein', stellte er noch einmal fest.
'Ja', seufzte Luca. 'Das wird es sicher.'
Ihr Blick fiel jetzt auf die Briefumschläge, die er in seiner Hand hatte.
Sie schien erfreut. 'Ist das Post für Aouina?' 'Vermutlich', bestätigte er und händigte ihr widerwillig die Briefe aus.
Sie zerriss ungeduldig die tarnenden Umschläge, um den eigentlichen darunter zu finden. 'Von meiner Mutter', stellte sie erfreut fest. 'Und von Lenny!' Er musterte sie.
Es entging ihm nicht, wenn sie so aufglomm wie jetzt: Wie eine Kerze, die Sauerstoff bekam. Es gab ihm einen unmittelbaren Stich.
Hätte er nur dafür sorgen können, dass dieses England nicht mehr existierte, dass es ausradiert würde, dass es am besten einfach und für immer im Meer verschwand, sodass sie es einfach nicht mehr vermissen konnte! Dieses lächerlich kleine Land war und blieb sein schlimmster Rivale, und genau darum hasste er es.
Er zog grimmig die Augenbrauen zusammen. Hätte er Geld gehabt, viel Geld, so wie am Anfang, als sie hergekommen waren, und würde ihm jemand anbieten, allen Sprengstoff der Welt zu kaufen und so zu platzieren, dass dieses verflixte Land ein für alle Mal vom Globus verschwand, so hätte er dieses Angebot garantiert angekommen.
Jedes Mal, wenn es in Form eines Briefes seine langen, ekligen Arme nach Luca ausstreckte, fühlte er diese unvernünftige Wut in sich hochkochen. Doch er wusste allzu gut, dass er seine Eifersucht nicht zeigen durfte, um keinen Preis. Sie durfte nicht zwischen ihnen stehen.
Und es durfte nichts sein, was er ihr neidete. Sonst ließ er nur zu, dass es einen Keil zwischen sie trieb. Und das war etwas, was er nicht zulassen würde. Nicht, solange er atmete und fähig war, etwas dagegen zu unternehmen.
Dennoch fühlte er sich jedes Mal so, als ob ihm jemand die Luft nehmen wollte. Sie blickte jetzt auf und lächelte ihn an.
'Sie haben an Aouina gedacht. Darüber wird sie sich ganz bestimmt freuen', sagte Luca glücklich.
Er biss sich auf die Unterlippe und hatte sich nun wieder im Griff.
'Deine beiden anderen Brüder, was ist eigentlich mit denen? Wieso schreibt nur der eine?' Sie zuckte mit den Schultern.
'Ich glaube, nur Lenny nimmt wirklich an meinem weit entfernten Leben teil. Ich vermute, in dem Brief meiner Mutter wird nur eine unpersönliche Geburtstagskarte sein. Sam und Hugh sind keine großen Schreiber. Das waren sie nie. Und ... vermutlich nehmen sie mir auch mein Fernbleiben nach wie vor übel.'
Er sah den Schatten, der dabei ihr Gesicht zu verdunkeln schien.
Es tat ihm aufrichtig leid, dass sie unter dieser erzwungenen Trennung litt. Aber es war eine Abmachung. Und sie hielt sich nach wie vor daran: keine Besuche, keine Telefonate – nur diese Briefe. Und das war immerhin bereits ein großes Zugeständnis von seiner Seite aus.
'Also gut', versuchte Rave sie wieder in die Gegenwart zurück zu bekommen und straffte nun entschlossen die Schultern. 'Was gibt es noch zu tun? Soll ich vielleicht Stühle heraustragen?'
'Nein, nein. Das sollen die jungen Leute selber tun. Wenn sich jeder einen nimmt, dann geht das schneller, als wenn wir beide nun tausendmal hin und her laufen. Wir könnten so nett sein und die vielen Früchte aufschneiden, wenn du magst. Den Rest bekommt sie sicher alleine hin.'
'Wo ist meine Tochter überhaupt?', fragte Rave nun und sah sich um.
'Sie zwängt sich in dieses Kleid, welches sie online bestellt hat’, informierte ihn Luca mit einem gewissen Lächeln.
Rave grinste breit. 'Ich hoffe, sie hat keins von diesen extrakurzen Cocktailkleidern bestellt.' 'Lass dich überraschen. Du wirst sie nicht wiedererkennen.'
'Puh.' Rave atmete heftig aus, als sie nun zurück zu ihrem Haus gingen. 'Ich fühle mich wie jemand, dessen Tochter heiraten wird, ohne den Bräutigam zu kennen.'
Sie lachte ihn aus. 'Gewöhn dich an dieses Gefühl. Irgendwann wird auch das passieren. Dass sie heiratet, meine ich.'
Rave wandte sich ihr mit ernster Miene zu und stellte mit drohendem Unterton klar: 'Sie wird niemanden nehmen, der nicht zunächst durch meine Sicherheitskontrolle läuft und von mir auf Herz und Nieren überprüft worden ist!' Luca schmunzelte.
'Es ist noch schlimmer, Rave. Sie kann so bald niemanden finden, der den Vergleich mit dir standhält. Sie liebt und verehrt dich viel zu sehr.'
'Zu Unrecht', gab er knapp zurück, und sein Gesicht schien unmittelbar zu verhärten.
'Das kann ich nicht finden', widersprach Luca und drückte seine Hand innig. Wie sie nebeneinander gingen, und nur die Berührung ihrer Hände die einzige Verbindung zwischen ihnen bestand, war für jeden zu sehen, wie einvernehmlich und tief ihr Verständnis füreinander war.
Sie kannten einander in und auswendig. Sie waren schon so lange zusammen. Es brauchte keine Worte, nicht einmal den Austausch eines Blickes, um sich einander zu versichern.
Sie gingen gemeinsam auf dieses Haus zu, welches da so sicher auf seinen Pfählen stand. Die Sturmfluten hatte es ausgehalten, und auch die Stürme, die nun noch kommen mochten, würde es aushalten.
'Das kann uns keiner mehr nehmen', brachte Rave es auf den Punkt, als er dieses Haus in sich aufnahm und begriff, dass es eigentlich für all das stand, was sie beide miteinander hatten.
Aus dem oberen Stockwerk erscholl laute Hiphop-Musik und dann der markerschütternde Wutschrei ihrer Tochter.
Sie verhielten unmittelbar und sahen einander schmunzelnd an.
'Willst du, oder soll ich?', fragte Luca ihn. In ihren Augen blitzte es, so als mache es ihr ein größeres Vergnügen, wenn er sich den Launen seiner Tochter stellte. Rave straffte die Schultern.
'Ich gehe', erklärte er entschlossen. 'Wer weiß, wie lange sie es noch zulässt, dass ich ihr in ein zu enges Kleid helfe!' Luca musste lachen.
'Ja, geh nur. Ich beginne schon einmal mit den Ananas und du kommst erst wieder, wenn du Erfolg hattest.'
Rave grinste und löste sich aus ihrer Hand, um allein ins Haus zu gehen. Sein Gang war entschlossen und gleichzeitig entspannt.
Luca erwachte davon, dass der Wind an den Fensterläden riss.
Das Haus erzitterte unter einer heftigen Böe und rüttelte an ihrem Bett.
Draußen tobte ein ordentlicher Sturm.
Was für ein Glück, dass Aouina ihre Party noch unbehelligt hatte feiern können, so musste sie unwillkürlich denken. Sie spürte, wie der Wind das Holzhauses wütend aus den Ankern zu heben suchte.
Nein, so beruhigte sie sich selbst. Sie hatten vor Beginn dieser Wetterphase, die an der Pazifikküste immer in diesen Monaten schwere Hurrikane mit sich brachte, noch einmal alle Pfeiler checken lassen. Drei davon waren komplett neu gemacht worden, auch die Verankerung.
Selbst wenn das Meer bis zu ihrem Haus kommen würde, um es anzuheben, es würde nicht gelingen. Sie hatten vorgesorgt.
Mit offenen Augen starrte sie in die Nacht und lauschte den beunruhigenden Geräuschen, die die wütende Natur dort draußen veranstaltete. An Schlafen war nicht mehr zu denken ...
Sie konnte Rave tief und friedlich im Dunkeln atmen hören.
Sie war immer beruhigt, wenn er so tief schlief, und hütete sich, ihn zu wecken. Es endete noch immer nicht gut, ihn im Schlaf zu berühren.
Bei dem Versuch ihn anzufassen, fände sie sich nur schnell im Schwitzkasten wieder. Das waren Reflexe. Die er einfach nicht steuern konnte, nach wie vor ... Es war in ihm.
Luca tapste mit nackten Füßen durch den Flur in den Küchenbereich, der direkt nach vorne zur Bar und auf die Terrasse führte.
Die Bar und ihr Wohnbereich gingen ineinander über. Ihr Leben und ihre Arbeit waren wie eins, und Luca hatte nicht einmal das Bedürfnis, beides voneinander zu trennen. So war es die letzten Jahre auch für sie möglich gewesen, diese Strandbar zu führen und gleichzeitig ihr Kind aufzuziehen, welches direkt in den Räumlichkeiten hinter dem Tresenbereich schlief oder auf einem der Barhocker sitzend Hausaufgaben machte.
Durch die Scheiben konnte sie sehen, wie die Palmen sich da draußen im Sturm bogen. Das Meer brüllte in der Dunkelheit und rollte mit ohrenbetäubendem Lärm gegen den Strand. Es war nah, sehr viel näher als sonst. Sie atmete tief durch.
Es war etwas Besonderes, den Sturm an dieser Küste zu erleben.
Luca fürchtete sich nicht davor. Im Gegenteil, die Wildheit der Natur war schon immer etwas, was sie unwillkürlich faszinierte und anzog.
Es hatte geradezu eine magische Wirkung auf sie.
Sie öffnete die Tür zur Terrasse und musste aufpassen, dass die Kraft des Windes sie ihr nicht aus ihrer Hand schlug.
Es war ein atemberaubendes Gefühl, hier zu stehen und diese Urkraft der Elemente zu erleben, ihre Gewalt zu fühlen und sich dennoch sicher fühlen zu können. Ein unbeschreibliches Gefühl.
Luca war jetzt 42 Jahre alt, und dennoch fühlte sie sich so lebendig und so jung wie nie zuvor. Die Kraft der Elemente zu spüren, hier zu stehen und zu wissen, dass es vorüberziehen würde, dass es nur der Besuch von etwas Gewaltigen war, welches ihr eigentliches Leben niemals infrage stellen und nicht erschüttern konnte, das hatte etwas Großartiges.
Sie fühlte sich ergriffen von dieser Empfindung und lehnte sich mit einem Lächeln über die Balustrade der Terrasse, während sie hinaus in die wilde Dunkelheit lauschte.
Die Tür hinter ihr öffnete sich. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass er es war. Wenn sie fortging, dann wachte er auf. Das war etwas, wonach man fast eine Uhr hätte stellen können.
Sie fühlte, wie eine Decke über ihre Schultern glitt.
'Es wird halten', erklang seine raue, vertraute Stimme direkt an ihrem Ohr, und dann umschlang er sie von hinten. 'Wir haben es gut gemacht.' 'Ja', bestätigte Luca und genoss die Wärme, mit der er sie umfing. Eine Weile lauschten sie schweigend dem Sturm, der noch immer ungeduldig an ihrem Haus riss.
'Denkst du, sie schläft?', fragte er leise.
'Wie ein Baby', erwiderte Luca. 'Bei den vielen Cocktails würde mich alles andere wundern.' Er schwieg. Sie konnte förmlich fühlen, dass er über etwas nachdachte. 'Worüber grübelst du?'
Er seufzte nur kurz und erwiderte schließlich: 'Du hattest recht. Sie will wirklich ins Ausland. Sie hat all diese Prospekte und auch gestern mit ihren Freunden eigentlich über nichts anderes mehr geredet. Ich weiß nicht, wie das enden soll ...'
Sie wandte sich zu ihm um. Seine Augen waren ungewöhnlich dunkel in dieser Nacht. Sie wusste genau, wovon er sprach. Aber sie wusste auch, dass sie ihre Tochter nicht aufhalten durften, ihr eigenes Leben zu leben. 'Ich kann dir sagen, wie es enden wird', erwiderte sie nachsichtig. 'Wir müssen sie ziehen lassen, Rave. Egal, wohin sie will.
Du kannst sie nicht anbinden. Sie wird alles so machen, wie sie will.
Und wir haben ab sofort nichts mehr dazu zu sagen.'
Er blickte sie besorgt an. 'Und was wollen wir tun, wenn sie nach Mexiko will?' 'Auch dann müssen wir sie gehen lassen.'
Er blickte wild und abweisend in die Dunkelheit.'Ich glaube nicht, dass ich das kann.'
'Hab Geduld und ein wenig Vertrauen in sie', bat Luca, wandte sich zu ihm um und strich ihm zärtlich über die Nase. 'Sie ist sehr wach und weiß im Moment mehr darüber, was gerade so in der Welt passiert, als wir beide zusammen. Sie liest ständig diese internationalen Zeitungen und diskutiert alles mit ihren Freunden. Sie wägt alles genau ab. Es würde mich sehr wundern, wenn sie da ausgerechnet Mexiko wählen würde.' Er zog sie enger an sich. 'Ich hoffe nur, du hast recht', erwiderte er. 'Komm zurück ins Bett und lass uns schlafen.' 'Ja.'
Er fühlte sich viel zu gut an. Luca schlüpfte ins Bett und dann mit den Händen unter sein T-Shirt, um die Haut an seinem Rücken zu spüren.
Er drehte sich um und umfasste sie, zog sie an sich, und sie hatten diese Nacht für sich.
Sie begehrten einander noch immer. Sie liebte es, wie er nach ihr griff, sie hielt, ihr mit wenigen Handgriffen die Kleidung vom Körper streifte.
Und er liebte es, wie sie immer wieder ihre Arme nach ihm ausstreckte, ihn dazu brachte, sich ihr zuzuwenden, ihn umfing. Nach all den Jahren hatten sie noch lange nicht genug voneinander ...
Es mochte zehn Uhr sein, als Luca endlich erwachte.
Sie konnte das Klappern von Geschirr hören, und die Stimmen von ihm und ihrer Tochter. Für einen Moment genoss sie diese Geräusche und erlaubte sich, sanft in das Heute und Jetzt zu gleiten. Es war ein schönes, vertrautes Gefühl, die beiden zu hören.
Sie schlüpfte in ihre bequemen Klamotten, eine leichte Jogginghose, ein T-Shirt und eine dünne Jacke, die ihr eigentlich viel zu groß war.
Beim Heraustreten konnte Luca in dem fahlen Licht des verhangenen Tages sehen, was der nächtliche Sturm aus ihrer Bucht gemacht hatte.
Der Strand war gesäumt mit Unrat. Tüten waren angeschwemmt worden, Holzreste und sogar ein verblichener, rosafarbener Kanister tanzte am Meeressaum. Da wartete einiges an Arbeit auf sie, um die Hinterlassenschaften des Sturmes aufzuräumen.
Der Himmel war grau. Im Moment gönnte das Wetter ihnen offensichtlich eine Atempause. Doch es würde noch weitere Stürme und Regenfälle geben, bis die gleichbleibend sonnige Phase beginnen würde, in der die Besucher wieder hierher kamen, um sich an ihrem Strand zu erholen.
Sie schlang die Jacke enger um ihren Körper.
Auf der Terrasse saßen Vater und Tochter am Frühstückstisch.
Rave saß mit dem Rücken zu ihr, und Aouina beugte sich eben zu ihm nach vorne und erzählte etwas. Er lachte leise.
Aouina hatte ihre langen, nussbraunen Haare zu einem weichen Zopf gedreht und über die eine Schulter hängen lassen. Ihr Gesicht war hell und ebenmäßig. Vieles darin erinnerte sie an Rave, vor allem diese grünen Augen. Sie war eine außergewöhnliche Erscheinung.
'Guten morgen.' Rave sah sich um und rückte einen Stuhl für sie zurecht. Aouina blickte mit leuchtenden Augen auf.
'Mamita, frischen Kaffee?'
Luca nahm lächelnd Platz und gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange. 'Hat denn mein Geburtstagskind schlafen können, trotz Sturm?' 'Aber Mamita, der Sturm ist doch harmlos. In Venezuela gab es einen wirklich schlimmen: Die hatten da einen Hurrikan, und zahlreiche Häuser sind durch die Luft geflogen. Hier bei uns passiert doch nie wirklich was!'
Rave und Luca tauschten einen Blick. Rave schenkte ihr ein und lächelte sie mit einem verschwörerischen Lächeln an, dass sie verlegen wurde und schnell den Blick auf ihre Tochter heftete, die gerade zufrieden ihre Bohnen in sich hineinschaufelte. Morgens gab es bei ihnen immer das traditionelle Gericht der Ticaner, Bolljo Bahao, Bohnen mit Ei und dazu Fladenbrot. Es machte satt und stärkte für den Tag.
'Und was wird meine Tochter tun, jetzt wo sie 18 Jahre geworden ist?'
Aouina sprach ungeniert mit vollem Mund. 'Ich treff mich gleich mit Manuel und der Clique. Wir wollen ein bisschen zusammen rumhängen', erklärte sie leichthin. 'Vielleicht gehen wir zu ihm nach Hause. Sein Vater sagte, er lädt uns vielleicht zu einem Rundflug ein mit seiner Propellermaschine.' Sie fing den Blick ihres Vaters auf und fügte schnell hinzu: 'Natürlich nur, wenn das Wetter es zulässt.'
Rave zog die Augenbrauen zusammen. 'Dein Manuel soll zusehen, dass er seine Finger bei sich behält', warnte er.
'Oh Papito, jetzt hör aber auf, wir sind wirklich alt genug! Du kannst bei anderen den Sicherheitsmann machen. Ich brauche keinen Aufpasser mehr.'
Rave seufzte und blickte mit gespielter Verzweiflung Luca an.
'Du hast deine Tochter gehört', kommentierte er. 'Ich darf einfach nichts unternehmen, wenn die Kerle zudringlich werden.'
'Ich sage dir Bescheid, wenn ich deine Hilfe brauche', erwiderte Aouina. 'Aber erschreck sie mir nicht von Anfang an. Sogar sein Papito hat Angst vor dir, glaube ich. Seit der Messerstecherei vor dem 'La Bomba' gucken dich eh alle anders an.'
'So?' schmunzelte Rave und lehnte sich amüsiert zurück.
'Ich bitte dich, Papito. Du bist zwischen drei betrunkene Leute gegangen, die wild mit Messern rumgefuchtelt haben', so ereiferte sich seine Tochter. 'So verrückt ist sonst wohl keiner hier.'
'Das ist mein Job, Töchterchen.' 'Ja. Manuels Papito sagte, das wäre wohl echt beeindruckend gewesen, wie du die Drei entwaffnet hast, ohne dabei auch nur einen einzigen Kratzer abzukriegen.'
'Sie waren betrunken', tat Rave ab. 'Da sind die Reaktionen langsam und unkoordiniert. Es war nicht so gefährlich, wie die anderen dachten.'
Aouina interessierte sich schon wieder für etwas anderes.
'Du hast gestern gesagt, ich hätte Post aus England bekommen, Mamita. Wo ist die?' Luca nickte. 'Ja, hast du. Ich habe sie hinter den Tresen gelegt. Gestern war irgendwie nicht die richtige Ruhe, um sie zu lesen, so schien mir.'
Aouina sprang auf, um die Briefe zu holen.
Rave schenkte ihr Kaffee nach. 'Und, hast du dich erholt?', fragte er vieldeutig. In seinen Augen glitzerte es. Sie musste lächeln.
'Nicht vor unserer Tochter, du Halunke.' 'Sie ist doch gerade nicht da, oder?' Er schmunzelte.
Beide dachten an dasselbe und an die Berührungen der Nacht. Luca hatte das Gefühl, seine Hände noch immer über ihre Haut gleiten zu fühlen. Doch der Moment war schnell vorbei, denn Aouina sprang nun wie ein junges Füllen auf ihren Stuhl und zerriss den ersten der beiden Umschläge. Sie zog eine Geburtstagskarte hervor.
Sie war von Lenny, Luca's jüngstem Bruder. Aouina lachte beim Lesen.
'Ist der in natura auch so witzig?', fragte sie und reichte die Karte an ihre Mutter weiter. Dann zerriss sie den zweiten Umschlag. Hervor kam eine weitere Geburtstagskarte mit Gold, Silber und Pastellfarben, in die sie sich augenblicklich vertiefte.
'Oma lädt mich nach England ein!', verkündete sie aufgeregt. 'Sie schreibt, ich soll sie besuchen. Und dann machen wir eine Rundreise durch England. Sie will mir London zeigen, die alten Castles und so...'
Aouina legte die Karte auf den Tisch und sah ihre Eltern nacheinander an. Sie wurde auf einmal ganz ruhig. 'Ich würde die beiden echt gerne mal kennenlernen, wisst ihr. Immer nur Karten, mal ein Foto ... ' Sie betrachtete ihre Mutter nachdenklich. 'Ich weiß gar nicht, wie es da aussieht, wo du eigentlich herkommst, Mamita. Ich war noch nie woanders als immer nur hier, in Costa Rica. England muss doch vollkommen anders sein ...'
'Ja', bestätigte Luca. 'Das stimmt. Es ist wirklich ganz anders. Aber ob du nun deswegen gleich dorthin musst ...' Luca versenkte sich wieder wie beiläufig hinter ihrer Tasse und vermied es, Rave anzusehen.
'Ich finde es eine tolle Idee', entgegnete Aouina. Triumphierend verschränkte sie ihre Arme. 'Ha, und ich kann jetzt frei entscheiden! Ich kann überall hin. Warum also nicht England? Ja, ich glaube, das mache ich!' Dann warf sie eilig einen Blick auf die Uhr, ohne irgendeine Erwiderung abzuwarten. 'Oh, ich muss los...'
Aouina sprang auf und verschwand im Haus, um kurz darauf mit Handtasche und Jacke wieder zu kommen. Sie nahm sich noch ein Fladenbrot aus dem Korb. 'Wartet nicht auf mich!', rief sie noch, und war schon um die Ecke des Hauses und außer Sichtweite.
'Pass auf dich auf und lass das verdammte Handy an!', brüllte Rave hinter ihr her. Die beiden sahen sich an und atmeten fast gleichzeitig aus.
'England also', stellte er grimmig fest.
Luca zuckte mit den Schultern. 'Bleib ruhig. Das war jetzt so dahin gesagt. Morgen ist es vielleicht dann doch lieber Panama oder Australien. Wer weiß, ob sie der Einladung wirklich folgen will. Sie kennt ihre Oma ja überhaupt nicht.'
'Aber sie hält den Kontakt', gab Rave unerwartet nachdenklich zurück.
'Ich finde es eigentlich gut, dass unsere Tochter eine Familie hat, die sich kümmert. Ich hatte so etwas nie, wie du weißt.'
In einer gewohnt, routinierten Bewegung nahm er die beiden Umschläge an sich und wollte sie falten, um sie in den Müll zu tun. Da fühlte er, dass sich in dem zweiten Briefumschlag noch etwas befand.
Er fischte mit den Fingern danach und zog einen unscheinbaren, kleineren Briefumschlag hervor, auf dem ihr Name stand. 'Schau mal, hier ist noch etwas für dich.'
Er reichte ihr den kleinen Briefumschlag. 'Deine Mutter schreibt auch an dich, siehst du.' Rave stand auf und trank im Stehen seinen Kaffee aus. 'Ich fürchte, ich muss auch noch einmal los', erklärte er.
Sie blickte erstaunt zu ihm auf. 'Ich dachte, du hattest dir für heute freigenommen?' 'Ja schon. Aber ab morgen stehen die ersten Vorstellungsgespräche an. Da dachte ich mir, dass ich mich besser für ein paar Stunden ins Büro zurückziehe, um die Unterlagen der Bewerber zu sichten, die Farro für die Vorstellungsgespräche einladen will. Morgen früh werde ich die nötige Ruhe dafür kaum finden, so kurz vor den Gesprächen. Dann wollen meistens auch immer alle irgendwas von mir.' 'Ok', seufzte sie. 'Aber mach nicht zu lange, Rave. Du bräuchtest auch mal einen Tag, an dem du gar nichts tust.'
Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange. 'Bin in ein paar Stunden wieder hier', versprach er. 'Aber so ist mir wohler. Sonst würde ich doch nur den ganzen Tag drüber nachdenken.’ 'Dann tu das, du Workaholic.'
Er grinste. 'Nebenbei schaue ich hin und wieder, was Aouina so treibt.
Solange ihr Handy an ist, kann ich sie wenigstens orten.'
Luca lächelte leicht. 'Du glaubst doch nicht, dass sie das nicht weiß.'
Er setzte eine grimmige Miene auf. 'Ich habe ihr die Todesstrafe angedroht, falls sie es ausstellt, so wie neulich nachts, als die gesamte Jugendbande am Strand war.'
Sie schüttelte den Kopf über ihn. 'Aber Rave. Was würdest du an ihrer Stelle tun, wenn du so einen überfürsorglichen Papa hättest und Privatsphäre brauchst?' 'Kann ich nicht sagen, so einen Vater hatte ich nie', stellte er knapp fest und überlegte dann: 'Ich kann natürlich auch jemanden von meinen Leuten hinterher schicken, der sie beschattet.'
'Ich würde es mir an deiner Stelle nicht mit ihr verscherzen', warnte Luca ernst. 'Du weißt, sie will lieber wissen, dass du ihr vertraust. Da sind solche Maßnahmen nicht eben förderlich.'
'Oh Mann', seufzte Rave. 'Aber sie ist zu frech und zu hübsch, als dass ich sie einfach unbeobachtet lassen könnte.'
'Sie kommt nach dir', meinte Luca und lächelte vieldeutig.
'Unsinn', erwiderte Rave und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. 'Sie hat ihr Aussehen nur von dir. Allein die Augen, die hat sie vielleicht von mir. Ich hätte es dir sonst auch nie abgenommen, dass dieses Kind wirklich von mir ist ...' 'Was??'
'Das war ein Scherz', erwiderte Rave amüsiert über ihren empörten Blick. 'Ich rufe dich an, falls ich doch länger brauche. Ruh dich aus.
Vielleicht holst du noch ein wenig Schlaf nach. Wenn Saison ist, arbeitest du wieder rund um die Uhr. Da darfst du jetzt auch ruhig mal ein wenig faul sein, finde ich.'
'Verschwinde endlich, Ricco Osares', knurrte sie ihn an. Er lachte.
'So gefällst du mir', meinte er und wies noch auf die Post. 'Lass das bitte nicht hier vorne herumliegen. Du weißt schon.'