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Doktorarbeit / Dissertation aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Politik - Sonstige Themen, Note: magna cum laude, Ludwig-Maximilians-Universität München, Sprache: Deutsch, Abstract: Aus dem Fortschritt in den technisch-naturwissenschaftlichen Bereichen können sich geisteswissenschaftliche Fragen ergeben, von deren Klärung wiederum die weitere Entwicklung der technischen Errungenschaften abhängig ist. Einige dieser Fragen sind deshalb besonders schwer zu klären, weil die ethischen Grundkonzepte, die im Normalfall zur einer Entscheidung herangezogen werden können, nicht mehr ausreichen. Existenzielle Neuorientierungen, wie sie mit den in dieser Arbeit untersuchten thematischen Schwerpunkten Sterbehilfe, Schwangerschaftsabbruch und Stammzellforschung notwendig werden, sind daher meist stark umstritten. Gerade in solchen Fällen erscheint der Entscheidungsprozess in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft in seiner Struktur und Vielfalt schwer nachvollziehbar. Eine große Zahl an Akteuren beteiligt sich in unterschiedlichster Form an diesem Prozess, von dem das Tempo einer Reform ganz maßgeblich beeinflusst wird. In dieser Untersuchung werden ausgewählte Teile des Entscheidungsprozesses, zu den drei genannten Themen nachvollziehbar dargestellt. Zu diesem Zweck werden philosophische, historische und medizinisch-biologische Hintergrundinformationen rund um die drei Themenbereiche Sterbehilfe, Schwangerschaftsabbruch und Stammzellforschung gegeben. Die Beteiligung wichtiger gesellschaftliche Akteure an den Entscheidungsprozessen wird dargestellt und die Faktoren, welche die Positionierungen derselben beeinflusst haben, werden herausgearbeitet und verglichen. Durch diesen Vergleich kann schließlich erkannt werden, inwiefern sich diese Faktoren grundsätzlich vereinfachend oder erschwerend auf die Durchsetzung von Reformbestrebungen in den drei genannten Bereichen auswirkten. Die wissenschaftliche Aufschlüsselung des Entscheidungsprozesses soll so zum besseren Verständnis desselben beitragen. Die Kenntnis und Beachtung der erkannten Entscheidungsfaktoren kann zudem bei zukünftigen politischen Prozessen im medizinisch-ethischen Bereich von Bedeutung sein, da sie erlauben, die Ursachen für die Positionierung gesellschaftlicher Akteure auf diesem Gebiet zu durchschauen und einzuplanen. Eine differenzierte, individuelle ethische Bewertung der Faktoren erlaubt zudem Entscheidungen auf diesen Gebieten qualitativ zu verbessern.
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Veröffentlichungsjahr: 2008
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Vorwort und Danksagung
Aus dem Fortschritt in den technisch-naturwissenschaftlichen Bereichen können sich geisteswissenschaftliche Fragen ergeben, von deren Klärung wiederum die weitere Entwicklung der technischen Errungenschaften abhängig ist. Einige dieser Fragen sind allerdings besonders schwer zu klären, weil die ethischen Grundkonzepte, die im Normalfall zur Entscheidung herangezogen werden können, nicht mehr ausreichen. Existenzielle Neuorientierungen, wie sie mit den in dieser Arbeit untersuchten thematischen Schwerpunkten Sterbehilfe, Schwangerschaftsabbruch und Stammzellforschung notwendig werden, sind daher meist stark umstritten. Gerade in solchen Fällen erscheint der Entscheidungsprozess in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft in seiner Struktur und Vielfalt schwer nachvollziehbar. Eine große Zahl an Akteuren beteiligt sich in unterschiedlichster Form an dem Entscheidungsprozess, von dem das Tempo einer Reform ganz maßgeblich beeinflusst wird. Ziel dieser Arbeit war es daher, Teile der Entscheidungsprozesse, zu den hier genannten Themen nachvollziehbar darzustellen und die Entscheidungsfaktoren für die Positionierungen gesellschaftlicher Akteure herauszuarbeiten und zu vergleichen. Durch diesen Vergleich konnte erkannt werden, inwiefern sich diese Faktoren grundsätzlich vereinfachend oder erschwerend auf die Durchsetzung von Reformbestrebungen auswirken. Die wissenschaftliche Aufschlüsselung des Entscheidungsprozesses soll zum besseren Verständnis desselben beitragen. Die Kenntnis und Beachtung der erkannten Entscheidungsfaktoren kann zudem bei zukünftigen politischen Prozessen im medizinisch-ethischen Bereich von Bedeutung sein, da sie erlauben, die Ursachen für die Positionierung gesellschaftlicher Akteure auf diesem Gebiet zu durchschauen und einzuplanen. Eine differenzierte, individuelle ethische Bewertung der Faktoren könnte zudem Entscheidungen auf diesen Gebieten qualitativ verbessern.
Entstanden ist die hier vorliegende Arbeit im Zuge meiner Promotion an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Betreut wurde sie durch Herrn Dr. Franz Kohout, dem ich für die außerordentlich angenehme Arbeitsatmosphäre und für den großzügigen Freiraum, den er mir für meine Promotion und meine fachliche Entwicklung eingeräumt hat, danken will. Ebenfalls möchte ich mich bei all meinen Freunden und Verwandten bedanken, die mich bei meinem „Projekt Dissertation“ unterstützt haben. Besonderer Dank gilt meinen Eltern Elke und Ekkehard, für den emotionalen Beistand und die finanzielle Hilfe. Der geistige Austausch mit meinem Vater hat mir viele Male geholfen, meine Ideen und Gedanken zu ordnen. Meinem Freund Lars danke ich für die praktische Unterstützung und dafür, dass er auch in den schwierigen Phasen, die eine solche Arbeit mit sich bringt, für mich da war. Ein letzter Dank geht schließlich an meine Oma Irma, die mir durch großzügige finanzielle Unterstützung ermöglichte, mich zweieinhalb Jahre hauptsächlich auf diese Studien zu konzentrieren. Ihr widme ich diese Arbeit.
München, im April 2008, Nadja Wolf
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2. Entscheidungen über Leben und Tod - Vergleich der Entscheidungsfaktoren für die
2.1 Die Sterbehilfe 55 2.1.1 Einleitung 55
2.1.1.1 Medizinisch-rechtliche Grundlagen 56
2.1.1.2 Historische Einführung 61
2.1.2 Die Positionierung gesellschaftlicher Akteure: Darstellung und Analyse der Entscheidungsfaktoren 79
2.1.3 Zusammenfassung der Entscheidungsfaktoren für die Positionierung gesellschaftlicher Akteure zum Thema Sterbehilfe 116
2.2 Der künstliche Schwangerschaftsabbruch 123 2.2.1 Einleitung 123
2.2.1.1 Medizinisch- rechtliche Grundlagen 123
2.2.1.2 Historische Einführung in das Thema 126
2.2.2 Die Positionierung gesellschaftlicher Akteure: Darstellung und Analyse der Entscheidungsfaktoren 141 2.2.2.1 Die Juristen 141 2.2.2.2 Die Mediziner 147
2.2.2.3 Organisationen Betroffener oder Stellvertreter 153
2.2.2.4 Die Bürgerschaft - Soziale Bewegungen 159 2.2.2.5 Die Ethikräte 165
2.2.2.6 Die christlichen Kirchen 166
2.2.2.7 Die Wirtschaftsunternehmen 171
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2.2.3 Zusammenfassung der Entscheidungsfaktoren für die Positionierung gesellschaftlicher Akteure zum Thema Schwangerschaftsabbruch 173 2.3 Die Stammzellforschung 179 2.3.1 Einleitung 179
2.3.1.1 Medizinisch-rechtliche Grundlagen 179
2.3.1.2 Historische Einführung 188
2.3.2 Die Positionierung gesellschaftlicher Akteure: Darstellung und Analyse der Entscheidungsfaktoren 192 2.3.2.1 Die Juristen 193
2.3.2.2 Die Mediziner und Biologen 197
2.3.2.3 Organisationen Betroffener oder Stellvertreter 209
2.3.2.4 Die Bürgerschaft - Soziale Bewegungen 215 2.3.2.5 Die Ethikräte 225
2.3.2.6 Die christlichen Kirchen 242
2.3.2.7 Die Wirtschaftsunternehmen 250
2.3.3 Zusammenfassung der Entscheidungsfaktoren für die Positionierung gesellschaftlicher Akteure zum Thema Stammzellforschung 260
3. Vergleich der Entscheidungsfaktoren 267
C. Zusammenfassung 292
1. Die Zusammenfassung der Ergebnisse des Vergleichs der Entscheidungsfaktoren 292
2. Schlussbemerkung 300
Literatur- und Online- und Quellenverzeichnis 301
Verzeichnis des Anhangs 330
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Veränderungen sind in pluralistisch strukturierten, föderalen parlamentarischen Demokratien wie Deutschland schwer durchsetzbar. Die institutionellen politischen Strukturen allein reichen oftmals aus, um Reformprozesse erheblich zu verlangsamen. Teilweise sind die Ursachen für Stagnationen aber auch weit grundlegender und tief in der Gesellschaft verankert. Besondere Schwierigkeiten sind zu erwarten, wenn eine Reform fest gefügte Traditionen aufbrechen will und die ins Auge gefassten Veränderungen substanzielle Fragen, wie ethische Grundsatzentscheidungen, berühren. Existenzielle Neu-orientierungen, wie sie mit den hier untersuchten thematischen Schwerpunkten notwendig werden und die genau an solchen weit anerkannten Grundsätzen rütteln, wie zum Beispiel dem allgemeinen Tötungsverbot, sind daher äußerst schwer zu erreichen. Die Änderungen von Regeln, die den Umgang mit Leben und Tod betreffen, werden deshalb auch in der Öffentlichkeit als besonders einschneidend wahrgenommen. Entsprechende Reformvorhaben lösen einen weitreichenden Diskussionsbedarf aus. Möglich sind Änderungen aber auch auf diesem Gebiet. Der Philosoph Franz Josef Wetz beschreibt dieses Phänomen folgendermaßen: „Offenbar werden wir von einer Logik des langsamen Heranschleichens beherrscht, die bislang normativ ausgeschlossene technische Praktiken schrittweise normalisiert, bis der Normbruch nicht mehr als solcher wahrgenommen wird. Hierbei werden im Kampf der Moderne gegen unvermeidliches Los nachgerade ethische wie auch rechtliche Grenzen verschoben, mehr und mehr den gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen angepasst.“1Entsprechende Neuorientierungen sind in jüngster Zeit im Zuge der Auseinandersetzung mit den Themen Sterbehilfe, Schwangerschaftsabbruch und Stammzellforschung notwendig geworden. Liberalisierungen auf allen drei Themengebieten berühren zentrale Elemente des ethischen Grundwerteverständnisses dieser Gesellschaft, da sie an den, über Generationen tradierten, Vorstellungen über den Wert des Lebens rütteln. Die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragen stellen Gesellschaft und Gesetzgebung vor Konfliktsituationen, für deren Lösung keine allgemein eindeutig anerkannte theoretisch-ethische Handlungsrichtlinie mehr existiert. Alle drei Themengebiete erfüllen damit in besonderer Weise das für re-formstauverdächtige Vorhaben geltende Kriterium einer erschwerten Mehrheitsbildung. Diese drei Fälle sind auch deshalb interessant, weil sie sich deutlich hinsichtlich des Reformstadiums unterscheiden.
1Wetz, Franz Joseph, Haben Embryonen Würde? in: Körtner, Ulrich H.J., Embryonenschutz - Hemmschuh für die Biomedizin?, S. 38.
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Während in der Frage der Sterbehilfe über Jahrhunderte kaum politische Neuerungen auftraten, wurden auf dem Gebiet des Schwangerschaftsabbruchs nach jahrzehntelangen Diskussionen Liberalisierungen durchgesetzt und in bedingtem Umfang war dies im Bereich der Stammzellforschung sogar innerhalb weniger Jahre zu beobachten.
Wie bereits angedeutet, müssen zur Erklärung sämtlicher politischer Veränderungen und deren Geschwindigkeit eine Vielzahl von grundsätzlichen Faktoren herangezogen werden. Hierzu gehören zum Beispiel das Staatssystem, das Wahlrecht oder das Parteiensystem2, um nur einige zu nennen. Aber auch die gesellschaftlichen Akteure bilden einen besonders wichtigen Einflussfaktor. Dies gilt insbesondere für Themengebiete dritter Ordnung, die als schlecht strukturiert zu bezeichnen sind. In solchen Fällen kann auch gesellschaftlichen Gruppen mit vergleichsweise geringer institutioneller Macht de facto die Position von Vetospielern zufallen. Da sie in der Summe die Wählerschaft ausmachen, kann ihre Haltung mehrheitsbildend sein. Bei existentiellen Neuorientierungen, in denen ethische Grundüberzeugungen in Frage gestellt werden, wird angenommen, dass insbesondere tradierte Wertvorstellungen die Positionierung der beteiligten Akteure maßgeblich bestimmen. Gerade in den hier thematisierten, ethisch tief verankerten Bereichen hängt daher das Tempo des Reformprozesses und unter Umständen sogar die Reformfähigkeit an sich, ganz maßgeblich davon ab, wie sich diese Akteure positionieren.
Der bei der Positionierung gesellschaftlicher Akteure ablaufende Meinungsbildungsprozess wiederum ist, den Annahmen der Entscheidungstheorie folgend, abhängig von bestimmten Entscheidungsfaktoren. Es stellt sich mithin also die Frage, ob es konkrete Faktoren gibt, die Veränderungsprozesse speziell in diesem Bereich beeinflussen und sich später grundsätzlich vereinfachend oder erschwerend auf die Durchsetzung von Reformbestrebungen auswirken. Diese zu kennen und für die drei unterschiedlichen Bereiche zu vergleichen, kann zum besseren Verständnis der Reformfähigkeit zu ethischen Fragen beitragen. Die Kenntnis und Beachtung dieser Faktoren kann ferner bei zukünftigen politischen Prozessen im medizinisch-ethischen Bereich von Bedeutung sein. Denn sie erlauben, die Ursachen für die Positionierung gesellschaftlicher Akteure auf diesem Gebiet zu durchschauen und einzuplanen. Dass eine solche Untersuchung notwendig ist, lässt sich bei Betrachtung der bisherigen Forschungslage auf diesem Feld erkennen. Das Vorhandensein bestimmter gesellschaftlicher Grundvoraussetzungen als Basis für Reformen, ist in der Politikwissenschaft, der Soziologie und auch der Psychologie allgemein anerkannt. Auch wird in der einschlägigen Literatur grundsätzlich nicht bestritten, dass sich ethische Entscheidungen ändern und diese Änderungen von bestimmten Voraussetzungen abhängig sind. Fakto-
2Vgl.Nohlen, Dieter, Wahlrecht und Parteiensystem.
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ren, welche die Liberalisierung ethischer Grundsatzentscheidungen beeinflussen, sind dennoch bisher nur sehr allgemein dargestellt worden. Einzelne Werke3versuchen grundsätzliche Zugänge zum Thema Reformen zu liefern und beziehen sich dabei nur gelegentlich auf konkrete Reformvorhaben. Eine Untersuchung der Gründe für die Positionierung spezifischer Akteure zu realen ethischen Problemen ist bisher noch nicht durchgeführt worden. Das gilt zumindest bezüglich des hier untersuchten Themenkomplexes. Nur wenige Werke beschäftigen sich überhaupt mit den drei hier untersuchten Themenfeldern gemeinsam, obwohl ihr Zusammenhang durchaus bekannt ist.4Auch die Entscheidungstheorie, die hier als theoretische Grundlage der Untersuchung dient, bestätigt nur allgemein die Annahme, dass grundsätzliche Entscheidungsfaktoren die Positionierung gesellschaftlicher Akteure, auch in Bezug auf ethische Fragestellungen, beeinflussen. Sie hält aber dennoch keine konkreten Beispiele bereit, anhand derer diese Faktoren nachweislich zusammengefasst würden. Um vergangene politische Veränderungen zu einem bestimmten ethischen Problemkomplex erklären oder zukünftige Entwicklungen beeinflussen zu können, ist daher eine genauere Untersuchung der ihnen zugrunde liegenden Entscheidungs-faktoren sinnvoll. Schon seit einigen Jahren wird gefordert, auf dem Gebiet der Entscheidungstheorie mehr einmalige politische Prozesse zu untersuchen, um deskriptive Bestätigungen der normativen Ansätze zu gewinnen.5So kann diese Untersuchung vielleicht sogar dazu beitragen, auch das theoretische Forschungsfeld mit einem weiteren Impuls zu bereichern, wenngleich dies nicht das vorrangige Ziel ist.
Es soll hier die Frage beantwortet werden, ob sich bestimmte Entscheidungsfaktoren definieren lassen, die Erklärungswert für die unterschiedlich weit vorangeschrittenen Liberalisierungsprozesse bieten. Ziel muss es also sein, in einem ersten Schritt solche Entscheidungsfaktoren zu entdecken. Diese sollen sich aus der Analyse der Positionierung ausgewählter gesellschaftlicher Akteure ergeben. Hierzu werden die Positionen von sieben ausgewählten gesellschaftlichen Akteuren zu den Themen Sterbehilfe, Abtreibung und Stammzellforschung untersucht. Aus den dargestellten Positionen werden die Ent-scheidungsfaktoren abgeleitet.
Schließlich werden diese Entscheidungsfaktoren unter dem Gesichtspunkt verglichen, ob sie zu den drei Entscheidungssituationen in unterschiedlicher Weise vorlagen und somit Erklärungswert für die
3Vgl. zum Beispiel: Vorländer, Hans, Politische Reform in der Demokratie.
4Vgl. zum Beispiel: Leist, Anton, Um Leben und Tod.
5Vgl. zum Beispiel: Kirsch, Werner, Entscheidungsprozeße, S. 248-252.
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unterschiedlich weit vorangeschrittenen und unterschiedlich schnell durchgeführten Liberalisierungsprozesse haben.
Diese Untersuchung befasst sich mit einem Themenkomplex, der in der Entscheidungstheorie als „schlecht strukturiert“ bezeichnet wird und somit zu den kompliziertesten Bereichen gehört, in denen Entscheidungen getroffen werden. Um den Rahmen nicht zu sprengen, müssen daher einige Festlegungen getroffen und Einschränkungen vorgenommen werden. Zunächst wird aus dem weiten medizinisch-ethischen Entscheidungsproblemfeld eine Auswahl von drei bestimmten Themen herausgenommen: Die Sterbehilfe, die Abtreibung und die Stammzellforschung. Die Auswahl der Themen hängt mit deren tendenzieller Vergleichbarkeit zusammen. Diese wird vorausgesetzt, da in allen drei Bereichen die Frage einer zumindest partiellen Neubestimmung existentieller Grundfragen zu Tötungsdelikten angeschnitten wird. Mit dem thematischen Schwerpunkt, der sich mit der Positionierung zur Stamm-zellforschung befasst, sind zwei medizinische Eingriffsmöglichkeiten inhaltlich so stark verbunden, dass sie zusätzlich in das Untersuchungsfeld fallen. Zum einen die Präimplantationsdiagnostik, da auch hierbei totipotente Zellen zerstört werden müssen. Zum anderen das Verfahren des Klonens, da dieses zur Gewinnung von embryonalen Stammzellen angewandt werden könnte.
Auch kann nur eine kleine aber doch repräsentative Auswahl an Akteuren hinsichtlich ihrer Entscheidungen untersucht werden. Deren Auswahl erfolgt nach dem Kriterium der Intensität ihrer Beteiligung an der thematischen Auseinandersetzung. Die Auswahl konzentriert sich auf solche Akteure, die sich mindestens zu einer der drei Fragestellungen besonders konkret positioniert haben. Um später auch vergleichen zu können, inwieweit sich die Entscheidungen der einzelnen Akteure zu den drei Untersuchungsbereichen durch geänderte Entscheidungsfaktoren erklären lassen, werden jeweils die gleichen Akteursgruppen betrachtet. Die Untersuchung der Entscheidungsfaktoren beschränkt sich auf solche, die sich explizit auf die hier gestellten Fragestellungen beziehen. Deren Bestimmung erfolgt auf der Grundlage der Entscheidungskriterien, die entweder von den Akteuren selbst zur Argumentation herangezogen wurden oder die aus dem Zusammenhang ersichtlich sind.
Grundsätzliche weitere Faktoren, die jegliche Entscheidungen beeinflussen, wie zum Beispiel strukturelle Faktoren, die sich aus dem hierarchischen Aufbau der Organisation ergeben, werden nicht berücksichtigt. Auch nicht berücksichtigt werden können psychologische Ursachen für Entscheidungsfindungen. Auch wird explizit darauf hingewiesen, dass es nicht Ziel der Untersuchung ist, die Durchset-
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zungsfähigkeit einzelner Akteure zu bestimmen. Wie weiter unten ausgeführt wird, ist diese abhängig von bestimmten Machtverhältnissen, die hier nicht im Detail thematisiert werden können, da dies den Rahmen sprengen würde.
Die Untersuchung wird von einem politikwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse geleitet. Dessen Umsetzung erfordert jedoch einen interdisziplinären Ansatz. So fließen auch medizinische, juristische, philosophische und historische Problemstellungen ein. Zugleich wird auf eine Bewertung aus ethischer, rechtlicher oder medizinischer Perspektive verzichtet. Sämtliche aus diesen Fachgebieten entnommenen Hintergrundinformationen dienen nur dem besseren Verständnis und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Zeitlich konzentriert sich die Untersuchung in erster Linie auf die Entwicklung der Positionen zwischen 1945 bis Ende 2006. Die Untersuchung beschäftigt sich in allen Teilen nur auf ethische Entscheidungen, die sich auf den Umgang mit der Beendigung des Lebens von Menschen beziehen, nicht auf den Umgang mit Tieren oder Pflanzen.
Eine geographische Beschränkung auf Deutschland, beziehungsweise teilweise Westdeutschland, ist notwendig und sinnvoll, weil die ethischen Werte und Regelungen in verschiedenen Ländern und Kulturen variieren. Trotzdem wird eine komplette Ausklammerung des internationalen, besonders des europäischen Umfelds, aufgrund der weitreichenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verzahnung nicht möglich sein.
Die genannten Einschränkungen ergeben sich aufgrund der Komplexität des Themas und zeigen, dass zu einem vollen Verständnis der Entscheidungsprozesse in schlecht strukturierten Bereichen auch weiterhin noch Fragen offen bleiben müssen. Hier nicht behandelte Entscheidungsfaktoren können Ansatzpunkte für weitere Forschungsprojekte sein. Die Untersuchung sieht sich daher als Teilstück eines Forschungsprozesses, den es auf diesem Gebiet noch zu beschreiten gilt.
Zur Beantwortung der hier gestellten Frage werden zwei methodische Schritte durchgeführt. Die Methode, die zur Analyse der Faktoren gewählt wurde, ist eine deskriptive Untersuchung der Positionierungen bestimmter Akteure. Um zu erkennen, inwieweit diese Faktoren zu den drei Themenbereichen unterschiedlich vorlagen, und somit Erklärungspotential für die unterschiedlich weit entwickelten Liberalisierungsprozesse bieten, werden diese anschließend verglichen.
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Zunächst werden also die Positionen der Akteure zu den drei Themen betrachtet, so dass sich die Ent-scheidungsfaktoren ergeben, die für die Position bestimmend waren. Eine solche Methode entspricht dem Vorgehen der deskriptiven Entscheidungstheorie. Mit der deskriptiven Entscheidungstheorie wird versucht, Entscheidungsfaktoren für reale Entscheidungsprozesse zu ermitteln und die Entscheidung somit transparent zu machen. Wie später noch gezeigt wird, befindet sich die hier zugrunde gelegte Methode der deskriptiven Entscheidungstheorie noch in der Konzeption. Das heißt, es liegt kein umfassendes Entscheidungsmodell vor, das auf die vielfältigen Entscheidungsprozesse der Politik angewandt werden könnte. Unter Umständen ist die Konzeption eines komplexen Gesamtmodells aufgrund der sehr differenten Entscheidungssituationen auch gar nicht möglich. Es wurde aber versucht, auf Faktoren aufmerksam zu machen, die sich bereits aus vorhandenen theoretischen Ansätzen ableiten ließen. Günter Bamberg definiert aber explizit, dass die deskriptive Enzscheidungstheorie „nicht von gegebenen Prämissen ausgehen kann, sondern deren Zustandekommen zum Untersuchungsobjekt erheben muss und dass sie empirisch beobachtete Begrenzungen der Rationalität in ihre Aussagen einbeziehen muss.“ Die Formalstruktur einer solchen Untersuchung setzt sich, laut Bamberg6, aus zwei Elementen zusammen: Die Beschreibung empirisch gewonnener Aussagen über den Sachverhalt (Explannandum) und die Formulierung eines Gesetzes, das für die Erklärung des infrage stehenden Sachverhaltes relevant ist, beziehungsweise das Festlegen von Bedingungen, die eine Gesetzesaussage fixieren (Explanans). Der Erklärungswert ergibt sich also aus der Ermittlung eines unbekannten Explanans aus einem bekannten Explanandum. In diesem konkreten Fall gilt es die Positionierung verschiedener Akteure zu den drei Fragestellungen darzustellen (Explanandum). Als Explanans sind die verschiedenen Entschei-dungsfaktoren zu ermitteln. Der Vergleich der Entscheidungsfaktoren soll Aufschluss darüber geben, inwieweit die unterschiedlich weit vorangeschrittenen Liberalisierungsprozesse hiermit erklärt werden können.
Ein wesentlicher Anspruch besteht also darin, die Positionierungen der Akteure zu den unterschiedlichen Themenbereichen zu erfassen und darzustellen. Eine so umfassende Betrachtung einer derart großen Zahl an Akteursgruppen zu allen drei Bereichen gibt es bisher noch nicht. Aus der Analyse dieser Positionen ergeben sich jeweils die Entscheidungsfaktoren für die drei Untersuchungsschwerpunkte. Bei dieser Vorgehensweise stellte sich zunächst das Problem der Auswahl der Akteure. Um möglichst viele Entscheidungsfaktoren zu ermitteln, erscheint es weniger wichtig, welche Akteure ausgewählt werden, als dass eine hinreichend große Zahl ausgewählt wird, deren Positionierung möglichst deutlich
6Bamberg, Günter, Betriebswirtschaftliche Entscheidungstheorie, S. 5.
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zu erkennen ist. Als weiteres Problem stellte sich heraus, dass nicht jeder Akteur zu jedem der Themen eine Position bezog. Um aber eine gewisse Kontinuität zu wahren, sollten zu jedem Thema die gleichen Akteursgruppen untersucht werden. Es wurden daher möglichst breit gefächerte Akteursgruppen ausgewählt, so dass die Einbeziehung verschiedener Einzelakteure möglich war. So konnte etwa aus der Akteursgruppe der Juristen zum Thema Sterbehilfe schwerpunktmäßig auf Stellungnahmen des Juristentages zurückgegriffen werden, während zu einem anderen Thema die Einschätzungen des BVG maßgeblich waren. Bei der Auswahl der Akteursgruppen wurde darauf geachtet, dass Mitglieder der Akteursgruppe möglichst zu jedem Thema Stellung bezogen. Gelegentlich mussten aber auch Akteursgruppen gewählt werden, die sich nur zu einem Thema positionierten, dann aber umso entscheidender. Ein Beispiel wäre die Akteursgruppe der Wirtschaftsunternehmen, die sich nur zum Thema Stammzell-forschung positionierte. Die nächste Herausforderung war das Erkennen und Benennen der Entschei-dungsfaktoren. Hierbei ergab sich das Problem, aus den Argumentationen der Akteure und aus der Betrachtung des Gesamtzusammenhangs möglichst viele Faktoren abzulesen, aber auch zu erkennen, wenn sich mehrere untergeordnete Gesichtspunkte unter einem gemeinsamen Faktor zusammenfassen ließen. Ein Beispiel hiefür wäre der Entscheidungsfaktor der Praktikabilität, der verschiedene Aspekte zusammenfasst, die für eine Positionierung verantwortlich waren. Ein neuer Entscheidungsfaktor wurde immer dann definiert, wenn sich der Sachverhalt, der eine bestimmte Positionierung beeinflusste, nicht mehr logisch einem anderen Entscheidungsfaktor zuordnen ließ. Probleme ergaben sich auch aus dem Umstand, dass nahezu alle Entscheidungsfaktoren interpretierbar waren. Bei der Benennung der Faktoren musste deshalb darauf geachtet werden, dass gegensätzliche Interpretationen möglich waren und somit nicht nur eine Position zugelassen wurde. Aus der Bearbeitung des Themas in Form der Darstellung der Positionen sollte sich am Ende jeden Kapitels ermitteln lassen, welche Entscheidungsfak-toren für Positionierungen verantwortlich waren und in welcher Form sie zu den Einzelthemen vorlagen. Da es sich um eine sehr komplexe Entscheidungssituation handelt, konnten nicht alle beteiligten Akteure untersucht werden. Auch mussten in Bezug auf die zu ermittelnden Entscheidungsfaktoren Einschränkungen vorgenommen werden. So konnten psychologische Entscheidungsfaktoren, die sich auf die Interpretation von anderen Entscheidungsfaktoren auswirkten, nur dort einbezogen werden, wo sie sich objektiv und als Massenphänomen ergaben. Strukturelle Entscheidungsfaktoren, wie innere Machtstrukturen oder Informationsbeschaffungswege, die sich besonders auf den Zielbildungsprozess auswirken, wurden komplett ausgeklammert, da die Berücksichtigung dieser Faktoren eine so intensive Beschäftigung mit den Einzelakteuren vorausgesetzt hätte, wie das im Rahmen dieser Untersuchung
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nicht zu leisten war. Die hier vorgenommene Auswahl und Benennung der Faktoren ist somit nicht die einzig mögliche, sie ist aber besonders geeignet, um den Vergleich zu erlauben. Der zweite methodische Schritt, der Vergleich, soll schließlich den zweiten Teil der Forschungsfrage beantworten. Es soll erkannt werden, ob die Faktoren zu den drei Themenbereichen insoweit unterschiedlich vorlagen, dass sich aus diesen Unterschieden Erklärungspotential für die ungleich weit vorangeschrittenen Liberalisierungsprozesse ergibt.
In der thematischen Einführung werden die Grundlagen zum Verständnis der hier untersuchten Themenfelder geliefert. Die Einführung erstreckt sich auf fünf Bereiche: Zunächst wird im Abschnitt „Re-formen im politischen System“ die Bedeutung gesellschaftlicher Akteure für politische Veränderungen herausgestellt. Anschließend wird in die Entscheidungstheorie als theoretische Grundlage für die Untersuchung der Positionierung der gesellschaftlichen Akteure zu den drei genannten medizinischen Eingriffmöglichkeiten eingeführt. Im Gliederungsabschnitt „Philosophische Grundlagen“ wird hernach dargestellt, welche philosophisch-ethischen Angebote zur Klärung von Fragen vorliegen, die den Umgang mit Leben und Tod betreffen. Auch wird erläutert, weshalb diese zur endgültigen Klärung der Fragen nicht ausreichend sind. Überblickartig werden dann grundsätzliche rechtliche Orientierungen zum Umgang mit Leben und Tod gegeben. Detaillierte rechtliche Regelungen zu den Einzelfällen werden in den spezifischen Einleitungen zu den drei Untersuchungsthemen dargestellt. Unter der Überschrift „Medizinisch-biologische Grundlagen“ wird schließlich die Entwicklung des Menschen von der Geburt bis zu seinem Tod mit den medizinischen Fachbegriffen beschrieben und grundsätzliche medizinische Eingriffsmöglichkeiten in diesen Ablauf werden genannt.
Der Hauptteil der Untersuchung gliedert sich nach den drei Themenbereichen Sterbehilfe, Abtreibung und Stammzellforschung. Jedem Themenkomplex wird wiederum eine kurze spezifische Einleitung vorausgeschickt, in der die grundlegenden medizinischen und rechtlichen Voraussetzungen zu den Einzelthemen dargelegt werden und eine historische Einführung in das Thema gegeben wird. Dies ist notwendig, um die Ausgangslage für die Positionierung der einzelnen Akteure darzustellen und Argumente für bestimmte Positionen in den richtigen Zusammenhang zu setzen. Da sich, im Sinne einer Pfadabhängigkeit oder Kausalitätskette, historische Entwicklungen und historisch verankerte Ansichten auf
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aktuelle Entscheidungen auswirken7, wird angenommen, dass sie die Positionierung der Akteure in besonderem Maße beeinflussen.
Auf die themenspezifischen Einleitungen folgen die Untersuchungen zur Positionierung der einzelnen gesellschaftlichen Akteure im zeitlichen Verlauf, so dass auch Positionsveränderungen erkannt werden können.
Untersucht werden die Positionen folgender Akteursgruppen: Akteure aus dem Bereich Recht, Akteure aus dem Bereich Medizin, Betroffene oder Stellvertreter, Soziale Bewegungen innerhalb der Bürgerschaft, Ethikräte, Kirchen und Akteure aus der Wirtschaft. Auf der Grundlage dieser Erhebung werden die Entscheidungsfaktoren ermittelt, welche für die jeweilige Positionierung oder eben auch für das Fehlen der Positionierung ausschlaggebend waren.
Die erkannten Entscheidungsfaktoren werden in einem Zwischenfazit zusammengefasst und es wird dargestellt, wie sie in dem untersuchten Fall vorlagen, soweit sich dies aus der Untersuchung der Positionierungen ergibt.
In drei Teilen werden auf diese Weise die Themen Sterbehilfe, Abtreibung und Stammzellforschung analysiert. Die Entscheidungsfaktoren, die sich aus der jeweils vorangegangen Untersuchung bereits ergeben haben, werden auf ihre Eignung und Übertragbarkeit zur Untersuchung der Veränderungen überprüft, die bei den Positionierungen der Akteure festgestellt werden konnte. Neue entscheidende Faktoren werden hinzugefügt. Die Entscheidungsfaktoren werden durch diesen Aufbau immer weiter überprüft und verfeinert werden.
Ein Vergleich der Faktoren, bezogen auf die drei Untersuchungsbereiche, soll anschließend zeigen, inwieweit sich aus den Unterschieden oder Übereinstimmungen Erklärungspotential für die unterschiedlich weit vorangeschrittenen Liberalisierungsbemühungen ergibt. Zum Schluss werden die Ergebnisse zusammengefasst.
7Vgl. Ackermann, Rolf, Pfadabhängigkeit, Institutionen und Regelreform.
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B. Entscheidungen über Leben und Tod - Vergleich der Entscheidungsfaktoren für die Positionierung gesellschaftlicher Akteure zu den Themen Sterbehilfe, Schwangerschaftsabbruch und Stammzellforschung
Um die Untersuchung möglichst effektiv durchzuführen, ist in einigen Bereichen eine thematische Einführung sinnvoll, um das Vorgehen zu erläutern und Fachvokabular einzuführen.
Untersuchungen bezüglich der politischen Reformierbarkeit beziehen sich in der Politikforschung oft auf größere komplexe Themenbereiche. Inglehart und Welzel8untersuchten zum Beispiel die Faktoren, die für eine Reform hin zu einer Demokratie ausschlaggebend sind.9Auch die Hürden, die bei Reformen innerhalb einer Demokratie entstehen können, sind bezogen auf systemimmanente Faktoren relativ gut erforscht.10Zunächst einmal ist die Art der Reform selbst von Bedeutung. Am einfachsten lassen sich Reformen der ersten Ordnung, also Änderungen der Spielregeln oder Problemlösungen durch kleinere Anpassungen, vornehmen. Auch Reformen zweiter Ordnung, die Änderung von Politikinstrumenten, sind relativ unproblematisch durchsetzbar. Reformen dritter Ordnung allerdings, die Weichenstellungen darstellen, bei denen Paradigmen, Ziele und Instrumente wechseln, sind schwerer durchsetzbar und entsprechend selten. Dies kann ein Zeichen von Stabilität, aber auch von Stagnation sein. Denn zur Bewältigung komplexer, gesellschaftlich tief verankerter Probleme reichen Reformen erster und zweiter Ordnung nicht aus. Reformen dritter Ordnung lassen sich gerade deshalb so schlecht durchsetzen,
8Inglehart, Ronald/ Wezel, Christian, Modernization, Cultural Change and Democracy.
9Besonderen Wert legten beide auf die Veränderungen traditionelle und sozioökonomische als Voraussetzung („socioeconomic developement“, Ebd. S. 15) für politische Veränderungen, wie sie auch schon von Marx oder Max Weber erkannt wurden. Besonders bei den traditionellen Veränderungen sei zu beachten, dass diese Pfadabhängig seien und nicht beliebig veränderbar wären. Auch gelte es hier Wechselwirkungen zu bedenken, da unter Umständen traditionelle Strukturen und Werte, durch die Veränderungen erst entstand, zerstört und durch neue ersetzt werden könnten (ein Beispiel wären Industrialisierung und Säkularisation - hierbei wird besonders darauf hingewiesen, dass die vollkommene Ablösung von Glauben und Traditionen nicht abzusehen ist und diese erstaunlich beständig sind). Neben diese Faktoren spielen aber ein ganze Reihe weiterer unbenannter Faktoren eine Rolle, weshalb bestimmte Vorrausetzungen nie deterministisch ein bestimmte Entwicklung nach sich ziehen würden. Allerdings ließen sich mit einigen Faktoren, wie der Wirtschaftkraft des Landes, der Arbeiterschaft, die Jahre unter kommunistischer Herrschaft und einer historische Einordnung des Landes in Zonen, der Grad der Demokratisierungsfähigkeit eines Landes zu 80 Prozent voraussagen. Auch müssten überhaupt erst die Voraussetzung zur Diskussion des Problems existieren. So erklärt es sich dann für die Autoren auch, dass Menschen die Veränderungen anstreben ihre Gesamtsituation eher als glücklich („happiness and well-being“ Ebd. S. 288) bezeichnen.
10Vgl. Schmidt, Manfred G., Politische Reform und Demokratie, S. 48 - 50.
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weil für sie die Zustimmung einer großen Anzahl von Vetospielern benötigt wird und diese ein wahlpolitisches Risiko mit sich bringen. Durch den großen politischen und zeitlichen Aufwand entsteht genau bei Reformen dritter Ordnung allerdings oft ein großer Reformstau. Neuerungen, wie sie hier untersucht werden, die den Umgang mit Leben und Tod betreffen, lassen sich in diese dritte Kategorie ein-ordnen. Bei solchen komplexen Problemen, die durch unvollständige Informationsbasis gekennzeichnet sind und vielfache, auch unüberschaubare Auswirkungen haben können, werden Entscheidungsprozesse oft spät oder gar nicht aufgegriffen, getroffene Entscheidungen werden nicht akzeptiert oder die Mittel zur Durchsetzung einer Entscheidung funktionieren nicht oder führen an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbei. Das heißt sowohl Entscheidungs- als auch Implementierungsfähigkeit sind gedämpft.11
Grundsätzlich gibt es laut Robert Chin12drei Strategien, mit denen umstrittene Änderungen erreicht werden können. Die erste wäre die empirisch-rationale, bei der Veränderungen darauf zurückzuführen wären, dass die Innovation, vor dem Hintergrund eines rational handelnden, eigeninteressegeleiteten Akteurs, einen Nutzen mit sich bringt. Bei der normativ-redukativen Strategie wird davon ausgegangen, dass sich Veränderungen nur vollziehen, wenn sich auch die normative Orientierung ändert. Die dritte Strategie basiert auf der Anwendung von Macht, das heißt, dass eine Veränderung durch einen reinen Machtakt hergestellt wird, unter den sich andere fügen.
Alle drei Strategien zielen darauf ab, die Reformbarrieren zu überwinden, die das System bereithält. Denn ganz unabhängig von der jeweiligen Reformart existieren zahlreiche institutionelle, systemische und politisch-gesellschaftliche Barrieren, die den Prozess der Entwicklung und Durchsetzung von Re-formen bestimmen. Diese lassen sich in fünf13großen Bereichen zusammenfassen: Zum einen ergeben sich Blockaden aus den Gewaltenverschränkungen in Mischverfassungs- und Mehrebenensystemen. Hier werden Vetoeffekte durch die politischen Akteure, die Vetospieler, erzeugt. Je mehr Vetospieler existieren, desto größer ist das Konsenserfordernis. Zweitens entstehen Probleme durch den zeitaufwändigen Aushandlungsprozess. Informelle Aushandlungsprozesse würden zwar effektiver sein, würden aber die Gefahr des Verlustes von Transparenz mit sich bringen. Drittens ist die politische Entscheidungsfindung durch Auslagerung von Problemen eingeschränkt. Also durch den Verlust an Verfügungsmacht der nationalen Akteure an internationale Gremien, aber auch durch globale soziale und
11Buschmeier, Ulrike, Macht und Einfluss in Organisationen, S. 84/85.
12Vgl. Chin, Robert/ Benne, Kenneth D., Strategien zur Veränderung sozialer Systeme, in: Bennis, Warren G./ Benne, Kenneth D./ Chin, Robert, Änderung des Sozialverhaltens, S.43 - 46.
13Vgl. Vorländer, Hans, Politische Reform in der Demokratie - Zur Einführung, in: Vorländer, Hans, Politische Reform in der Demokratie, S. 8-10.
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ökonomische Anpassungsimperative. Viertens wird die Entscheidungsfreiheit der Politik durch die Medialisierung derselben beschränkt. Und schließlich ist die politische Entscheidungs- und Gestaltungsmacht durch gesellschaftliche Einflussmächte beschränkt, die ebenfalls eine Vetomacht des Systems darstellen. Hierbei handelt es sich um zivilgesellschaftliche Akteure und soziale oder ökonomische Interessensverbände, die innerhalb des institutionalisierten Pluralismus vor allem in konsensdemokratischen Entscheidungsstrukturen ein Vetopotential aufweisen. Neben den strukturellen Voraussetzungen, die für eine Reform notwendig sind, kommt also den gesellschaftlichen Akteuren eine entscheidende Rolle zu. Nach der Klassifizierung Wolfgang Rudzios zählen hierzu unterschiedliche Interessengruppen, die in Verbänden organisiert sind, wie Wirtschafts- und Arbeitsverbände, Gewerkschaften und andere Berufsverbände, Verbraucherverbände, soziale Verbände, Freizeitverbände, Verbände öffentlicher Gebietskörperschaften und Vereinigungen im Bereich Kultur, Politik und Religion. Aber auch in Form von Bürgerinitiativen oder sozialen Bewegungen können Interessen als gesellschaftliche Gruppe vertreten werden.14Diese gesellschaftlichen Akteure sind unter anderem deshalb so entscheidend, weil sie sich aus Wählern zusammensetzen. Und der Wähler wird sich, eingebunden in Verbände und Organisationen, umso stärker einmischen, je größer die Bedeutung eines Issues ist. Zwar kann sich die Politik nicht auf solche Reformen beschränken, die von den Wählern unterstützt werden, da sich die Politik auch policy-orientiert verhält, sie wird aber, mit Hinblick auf die drei großen Ziele15von Parteien, die Durchsetzung von Inhalten, die Stimmmaximierung und die Regierungsbeteiligung, darauf Rücksicht nehmen müssen, wie der Wähler zu dem Reformthema steht. Die Ermittlung von Entschei-dungsfaktoren, die in den konkreten Fällen Sterbehilfe, Abtreibung und Stammzellforschung in die Positionierung der ausgewählten gesellschaftlichen Akteure eingeflossen sind, trägt mithin auch zur Erhöhung der Transparenz in einem bisher nur wenig untersuchten Politikfeld bei. Die genaue Auswahl der Akteure, deren Positionen hier untersucht werden, ergibt sich aus der Intensität, mit der sie innerhalb der Debatte in Erscheinung treten. Inwieweit sich die gesellschaftlichen Akteure durchsetzen können, hängt dann wiederum mit ihrer Durchsetzungsfähigkeit, also ihrer Machtposition und ihrer Strategie, zusammen.16Peter Bernholz führt die Macht von Akteuren auf drei Bereiche
14Vgl. Rudzio, Wolfgang, Die organisierte Demokratie - Parteien und Verbände in der Bundesrepublik (hier werden auch die inneren Strukturen und die konkreten Wege der Willensbildung, sowie die Arten der Einflussnahme und die Durchsetzungsfähigkeit von Verbänden besprochen, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können).
15Zohlnhöfer, Reimut, Wirtschaftspolitik und Reformen in der Bundesrepublik Deutschland: Das Beispiel der rot-grünen Koalition, 1998 -2003, in: Vorländer, Hans, Politische Reform in der Demokratie, S. 66.
16Die individuelle Durchsetzungsfähigkeit der Akteure hängt schon mit seiner Stellung im politischen System zusammen. Zwar macht es die Spezifikation des Machtbegriffs intendiertermaßen unmöglich, konkrete Aussagen über die Machtverteilung in einem System zu machen, möglich ist aber eine „subjektive Einschätzung der Macht in Bezug auf eine genau bezeichnete Entscheidungssituation und einen klar umrissenen Entscheidungsgegenstand“. Hans, Georg, Macht und Ratio-
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zurück. Sie hängt, abgesehen von ihrer Mitgliederzahl, besonders von ihrer Marktmacht bzw. der Markmacht der Mitglieder oder dem Quasi-Monopol für billige Informationen auf ihrem Sektor ab.17Konkrete Machtverhältnisse darzustellen ist nahezu unmöglich18und die Machtverteilung unter den Akteuren ist für die Definition der Entscheidungsfaktoren nicht von Bedeutung. Für die Frage aber, inwieweit diese Entscheidungsfaktoren auch Erklärungspotential für die unterschiedlich weit entwickelten Liberalisierungsprozesse aufweisen, ist zu beachten, dass letztlich entscheidend ist, welcher Akteur welche Entscheidungsfaktoren wie stark gewichtete. Denn Entscheidungsfaktoren, die Positionen von sehr mächtigen Akteuren berühren, würden sich somit stärker auf den Liberalisierungsprozess auswirken als andere. Aussagen zu den Einflussmöglichkeiten der Akteure können allerdings hier nur sehr eingeschränkt gemacht werden, weshalb der Aussagewert über das Erklärungspotential der Ent-scheidungsfaktoren für die unterschiedlich weit entwickelten Liberalisierungsentscheidungen hier hingehend einschränkt werden muss. Auf besonders auffällige Machtpositionen, die sich zum Beispiel aus entsprechender Expertise zu diesem Thema ergeben, wird aber hingewiesen. Als Beispiel können Ärzte und Forscher genannt werden, aber auch Akteure, die sich auf ethische Belange spezialisieren, wie Kirchen oder Ethikräte. Hervorgehoben werden soll an dieser Stelle aber der unumstritten starke Einfluss wirtschaftlicher Akteure.19Eine Mannheimer Elitestudie von 1981 ergab, dass Experten der Ansicht waren, dass Politiker zu den einflussreichsten Leuten Deutschland gezählt wurden, gefolgt von Vertretern der Verwaltung, der Wirtschaft, der Verbände, der Massenmedien, der Wissenschaften, des Militärs, der Kultur und schließlich als schwächste Einflussgruppe eine gemischte Gruppe, zu der auch die Kirche zählt.20Diese Studie belegte explizit die herausragende Rolle der Wirtschaft im deutschen Machtgefüge, die auch heute immer wieder von den verschiedensten Autoren21hervorgehoben wird und zusammen mit den Medien eine wichtige Stellung in Deutschland einnimmt. Von wirtschaftlicher Macht kann gesprochen werden, „wenn entweder die Einflussmöglichkeiten des Machtträgers durch wirtschaftliche Faktoren begründet sind, gleichgültig, ob sie sich beim Betroffenen auf wirtschaftliche
nalität als Grundprobleme einer Poltischen Theorie, besonders S. 297. Bei einer solchen Untersuchung der Machtstrukturen muss außerdem eine Vielzahl von Faktoren einbezogen werden, wie Entscheidungsstrukturen, persönlicher Einfluss eines Akteurs oder Abhängigkeitsbeziehungen. So können „Reformer“ ausgemacht werden, die eine Reform besonders vehement vorantreiben. Schwarz, Hans-Peter, Der demokratische Reformer. Prolegomena zu einem vernachlässigten Forschungsfeld der Demokratietheorie, in: Vorländer, Hans , Politische Reform in der Demokratie, S. 14 - 44.
17Vgl. Bernholz, Peter, Machtkonkurrenz der Verbände, in: Widmaier, Hans Peter, Politische Ökonomie des Wohlfahrtstaates, S. 195.
18Vgl. Bourdieus, Pierre, Die verborgenen Mechanismen der Macht, in: Steinrücke Margareta, Die verborgenen Mechanismen der Macht, VSA-Verlag Hamburg, 1992, S 81 - 87.
19Vgl. Meier, Alfred/ Slembeck, Tilman, Wirtschaftspolitik.
20Hoffmann- Lange, Ursula, Eliten, Macht und Konflikt in der Bundesrepublik, S.364 - 367.
21zum Beispiel: Gammelin, Cerstin/ Hamann, Götz. Die Strippenzieher. Manager, Minister, Medien - wie Deutschland regiert wird, Econ, 2005.
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oder nichtwirtschaftliche Belange seines Verhaltens bezieht, oder der Machtbetroffene in wirtschaftlicher Hinsicht beeinträchtigt wird.“22Der Grund für die starke Machtposition der Wirtschaft ergibt sich laut Wallace C. Peterson aus dem „struggle for income“23. Während Personen wie Sportler oder Künstler durch ihre Person überzeugen müssen, haben Personen in Entscheidungspositionen laut Peterson die tatsächliche Macht, ihren Willen durchzusetzen, wie es Max Weber fordert. Unternehmen stehen größere Mittel zur Verfügung als anderen Interessengemeinschaften und die Interessen lassen sich leicht organisieren. Der Machtfaktor der Unternehmen stützt sich laut Alfred Meier und Slembeck Tilman auf Sachkenntnisse, persönliche Eigenschaften, die Stellung des Unternehmens, die zum Beispiel von der Finanzkraft und der Zahl der Beschäftigten abhängt, als auch auf eine geschickte Kommunikation, die vor allem auf Glaubwürdigkeit gegründet sein muss. Zum Zweck der Überzeugung von Adressaten seien „dramatische Präsentation oder der Appell an Ängste oder Hoffnungen“24wirksam. Der Einfluss nimmt mit der Zeit zu und ist weiterhin abhängig von dem Kontakt zu Politikern oder Medien und der Öffentlichkeit. Direkter Einfluss kann in Verbänden oder Parteien ausgeübt werden. Hier sei die kooperative Strategie wichtig für die Durchsetzung des Interesses. Laut Randall Bartlett resultiert die Macht der Wirtschaft auch aus dem Umstand, dass diese über die “quality of human lives”25entscheide und sich ihr Einflussbereich daher auf jeden Einzelnen auswirke. Besonders auf die Durchsetzung neuer Technologien hat die Wirtschaft großen Einfluss.26
Grundlegend für diese Untersuchung ist die Entscheidungstheorie, die, als ein Zweig der angewandten Wahrscheinlichkeitstheorie, vielfach als betriebswirtschaftliches Instrument benutzt wird, um die Wahrscheinlichkeit für eine Entscheidung abzuschätzen und die bestmögliche Entscheidungsmöglichkeit zu berechnen. Dieser Untersuchungsansatz entspricht der deskriptiven Entscheidungstheorie. Denn die normative Entscheidungstheorie27geht von „gut strukturierten“ Entscheidungsproblemen und dem Axiom der Rationalität aus und entwickelt für die verschiedensten idealtypischen Problemsituationen Entscheidungsverfahren. Sie verfolgt das Ziel, die Verhaltensweisen der Entscheidungsträger zu
22Homburger, Eric, Recht und private Wirtschaftsmacht, S. 27/30.
23Peterson, Wallace C., Power and Economics Performance, in: Tool, Marc R /Samuels, Warren J., The Economy as a System of Power, S. 101.
24Meier, Alfred/ Slembeck, Tilman, Wirtschaftspolitik, S. 286.
25Bartlett, Randall, Economics and Power, S.193.
26Melman Seymour, The Impact of Economics on Technology, in: Tool, Marc R /Samuels, Warren J., The Economy as a System of Power.
27Grundsätzliche Informationen wurden entnommen aus: Aldinger, F., Entscheidungstheorie, online.
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verbessern. Bei gut strukturierten Problemen müssen alle zur Lösung erforderlichen Informationen bereits bei der Problemstellung bekannt sein, so dass sich das Problem in einem quantitativen Modell abbilden lässt und ein geeigneter Lösungsalgorithmus vorliegt. Die hier untersuchten Entscheidungsfelder Sterbehilfe, Abtreibung und Stammzellforschung sind, wie viele reale Problemfelder, schlecht strukturiert, das heißt, dass bestimmte Informationen fehlen. Die deskriptive Entscheidungstheorie analysiert durch Beobachtung, Befragungen und Experimente solche realen, schlecht strukturierten Entscheidungsprobleme. Da es nicht Aufgabe einer angewandten Wissenschaft sein kann, nur das praktizierte Entscheidungsverhalten zu beschreiben, versucht die deskriptive Entscheidungstheorie, Faktoren und Verhaltensweisen solcher Entscheidungsprozesse zu identifizieren. Bei der deskriptiven Entschei-dungstheorie wird daher der gesamte Entscheidungsprozess einbezogen, von der Problemformulierung und der Informationsgewinnung bis zur Entscheidung unter Berücksichtigung begrenzter kognitiver Kapazitäten des Entscheidungsträgers.
Da die deskriptive Entscheidungstheorie als Theorie noch nicht vollständig ausgearbeitet ist und politisch-gesellschaftliche Entscheidungsprozesse meist sehr einmalig sind, kann dieser Untersuchung allerdings kein vollständiges theoretisches Konzept zu Grunde liegen. Die Entscheidungstheorie schafft aber eine Basis, auf der diese Untersuchung aufbaut. Es werden grundlegende Begriffe und Annahmen sowohl der normativen, als auch der deskriptiven Entscheidungstheorie einbezogen. Daher wird an dieser Stelle eine allgemeine Einführung in die Entscheidungstheorie gegeben.
Die Entscheidungstheorie wird bisher hauptsächlich in wirtschaftlichen Bereichen angewandt.28Sie stellt den Versuch dar, unabhängig von der Besonderheit des einzelnen Entscheidungsproblems alle Entscheidungstatbestände prinzipiell auf eine gemeinsame Grundstruktur zurückzuführen. Eine Entscheidung ist dabei definiert als eine bewusste oder unbewusste Wahl zwischen mehreren unterschiedlichen Alternativen anhand bestimmter Präferenzen von einem oder mehreren Entscheidungsträgern. Sie kann spontan bzw. emotional, zufällig oder rational erfolgen. Ein rational begründeter Entscheid richtet sich nach bereits abgesteckten Zielen oder vorhandenen Wertmaßstäben. Der Entscheid wird durch den oder die Entscheidungsträger nach objektiven und subjektiven Entscheidungskriterien gefällt. Die Entscheidung ist abhängig von den zu erwartenden Konsequenzen. Welche Konsequenzen gewollt werden, ist vom Zielsystem des Entscheidungsträgers abhängig. Das Entscheidungsfeld besteht also aus dem Zustandsraum, in dem sämtliche vom Entscheidungsträger nicht beeinflussbaren Entwicklungen in Form von Umweltzuständen beschrieben sind, dem Aktionsraum, der sämtliche dem Ent-
28Vgl.Bitz, Michael, Entscheidungstheorie.
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scheidungsträger offen stehenden Handlungsalternativen beschreibt, und dem Zielsystem des Entscheidungsträgers. Der mehrstufige Entscheidungsprozess mitsamt den verschiedenen Konsequenzen lässt sich in der Theorie grafisch als Entscheidungsbaum darstellen.
Entscheidungsprobleme tauchen besonders dann auf, wenn der wahre Umweltzustand nicht bekannt ist und die Auswirkungen einer Entscheidung nicht abgeschätzt werden können. Hier spricht man von Unsicherheit, im Gegensatz zur Situation der Sicherheit, in welcher der Umweltzustand bekannt ist. Bei solchen fehlenden Informationen in Entscheidungssituationen unterscheidet man wiederum Entscheidungen unter Risiko, bei der die Wahrscheinlichkeit für die möglicherweise eintretenden Umweltsituationen bekannt ist, und Entscheidungen unter Ungewissheit, bei denen zwar die möglicherweise eintretenden Umweltsituationen, allerdings nicht deren Eintrittswahrscheinlichkeiten bekannt sind. Das normative Grundmodell der Entscheidungstheorie, das vor allem in den Wirtschaftswissenschaften angewandt wird, basiert auf dem Modell des Homo Oeconomicus, bei dem das Ziel klar die Wirtschaftlichkeit der Entscheidung ist (auch wenn sich in jüngster Zeit ein Abrücken vom Zielmonismus anzutreffen ist und es inzwischen selbst in der Wirtschaft als denkbar betrachtet wird, dass es einen ganzen Zielkomplex geben kann, der unter Umständen hierarchisch geordnet wird29). Gearbeitet wird mit einem Rechenmodell mit verschiedenen Größen. Ausgehend von einer Entscheidungssituation existiert immer eine endliche Menge vorgegebener und bekannter Handlungsalternativen. Zu jeder Alternative existiert jeweils eine endliche Auswahl vorgegebener und bekannter Konsequenzen. Für jede Konsequenz ist die zugehörige Eintrittswahrscheinlichkeit gegeben und bekannt. Für jedes mögliche Ereignis ist eine Auszahlung (Pay-Off), Nutzen oder Gewinn angegeben, die sich für den Entscheidungsträger ergibt, falls dieser Fall eintritt. Alternativ hierzu ist auch die Angabe von Kosten oder negativen Pay-Offs denkbar, wie Transaktionskosten, die sich bei Entscheidungen für eine bestimmte Alternative ergeben. In diesem Grundmodell handelt der Entscheidungsträger rational und weist folgende Eigenschaften auf: Er handelt eigennützig, rational, ökonomisch, vollständig informiert und es gibt nur einheitliche Entscheidertypen.
Dieses Modell weist natürlich eine Reihe von Unzulänglichkeiten auf, weshalb sich in den letzten Jahren stetige Weiterentwicklungen vollzogen haben.30Beispielhaft hierfür wären Kognitionsmodelle und Modelle, die das soziale Umfeld berücksichtigen. Kognitive Einflussfaktoren auf eine Entscheidung wären die Entscheidungsfreudigkeit des Akteurs und andere individuelle Faktoren wie Erziehung, Ausbildung oder Erfahrung. Auch das soziale Umfeld, das von speziellen Zielen und Interessen, Macht-
29Wossidlo,Peter Rütger, Das Projekt Columbus, in: Witte Eberhard u.a., Innovative Entscheidungsprozesse, v.a. S.14.
30Vgl. z.B. Schanz, Günther, Grundlagen der verhaltenstheoretischen Betriebswirtschaftslehre.
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konstellationen und Rollenverhalten gekennzeichnet ist, wird einberechnet. H.A. Simon entwickelte das Modell der beschränkten Rationalität, das kognitive Grenzen und Unsicherheiten berücksichtigt. Es wird auf Grund größerer Realitätsnähe nicht mehr davon ausgegangen, dass der Entscheidungsträger vollständig informiert und voraussehend ist. Als kognitive Grenzen des Entscheidungsträgers können auch nichtzugängliche Informationen ursächlich sein. Berücksichtigt wird dabei auch der Aufwand für die Informationsbeschaffung. Außerdem wird statt des Erreichens eines maximalen Nutzens oder Gewinns angenommen, dass nur so lange eine bessere Lösung gesucht wird, bis ein bestimmtes subjektives Anspruchsniveau erreicht ist (Satisficing). Beachtet wird jetzt auch Routineverhalten bei LowCost-Entscheidungen. Lutz Werner baute vor allem den Aspekt des Informationsbegriffs weiter aus und differenzierte eine ganze Reihe an Problemen, die bei der Informationsbeschaffung auftauchen, wie Interpretation, Verständnisprobleme, Beschaffungskosten, oder die individuelle Verwertung der Information in Bezug auf das Entscheidungsproblem.
Für Heinz Rehkugler31nehmen auf Entscheidungen vor allem die Persönlichkeit, also Werte, Überzeugungen und kognitive Programme, die das Lösungsverhallten beeinflussen, sowie Lernprozesse auf Entscheidungen Einfluss. Auch die soziale Umwelt ist mitentscheidend, genau wie die soziale Rechts-ordnung eine der ausschlaggebenden Voraussetzungen für eine bestimmte Entscheidung ist. In verschiedenen Phasen32der Willensbildung und der Willensdurchsetzung läuft dann der Entscheidungsprozess ab.
Julian Nida-Rümelin wies zudem darauf hin, dass der „rational-Choise“- Ansatz durch eine ethische Variable erweitert werden müsse, die zudem in sich veränderbar ist.33
Bei allen Verbesserungen der normativen Entscheidungsmodelle besteht doch immer noch der Anspruch, reale Entscheidungsprozesse zu untersuchen und beim Entscheidungsverhalten von Individuen, Gruppen oder Organisationen Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Ziel sei es laut Heinz Rehkugler34durch die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten schließlich sogar Prognosen für menschliches Verhalten abzugeben. Die deskriptive Entscheidungstheorie versucht nun genau solche reale Entscheidungssituationen zu analysieren und ihre Ursachen zu verstehen. Dabei muss immer beachtet werden, dass, wie
31Vgl. Rehkugler, Heinz/ Schindel, Volker, Entscheidungstheorie.
32Vgl. ebd., S. 221 ff.
33Vgl. Nida-Rümelin, Julian, Entscheidungstheorie und Ethik.
34Rehkugler, Heinz/ Schindel, Volker, Entscheidungstheorie, besonders S. 199.
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Theo Offermann35erkennt, keine 100-prozentigen Aussagen über menschliches Verhalten möglich sind. Bei komplexen politischen Themen ist es zudem oft der Fall, dass nicht eine Einzelperson, sondern ganze Gruppen, Verbände oder Organisationen Entscheidungen treffen, so dass die Berücksichtigung individueller Faktoren nicht mehr möglich ist und daher auch individuelle und psychologische Faktoren nicht beachtet werden können. Auch strukturelle Entscheidungsfaktoren, wie innere Machtstrukturen oder Informationsbeschaffungswege wurden ausgeklammert, da sie eine zu intensive Beschäftigung mit dem Einzelakteur voraussetzen würde.
Ein erstes deskriptives Modell, das nicht eine schlichte Verbesserung der normativen Entscheidungs-theorie darstellen sollte, wurde 1963 von R.M. Cyert und J.G. March36für betriebswirtschaftliche reale Entscheidungsprozesse konzipiert. Jetzt wurde gar nicht erst versucht, die präskriptiven Rationalmodelle zu erweitern, sondern es wurde einem neuen Ansatz gefolgt, welcher „Verhaltenstheorie der Unternehmung“ getauft wurde. Hier kam man nun schließlich völlig von der Vorstellung ab, es könnten bestimmte konfliktfreie Wirtschaftseinheiten vorliegen. Die Zielansprüche sind hier keine festen Größen mehr, sondern adaptiv. Sie ändern sich aufgrund von Informationsprozessen, die vor allem vergangene Erfahrungen einbeziehen und letztlich nicht nur optimale, sondern auch befriedigende Lösungen akzeptieren.
Etwas allgemeiner, nicht nur auf betriebswirtschaftliche Akteure bezogen, versuchte zum Beispiel Prof. Dr. Werner Kirsch die deskriptive Entscheidungstheorie aufzubauen.37In drei Bänden versucht er, tatsächliches Verhalten entscheidungstheoretisch darzustellen. In den ersten zwei Bänden geht es um Individualentscheidungen. Im ersten Band werden Tendenzen zu verhaltenswissenschaftlichen Ansätzen der Entscheidungstheorie besprochen. Es wird herausgestellt, dass bei rationalen Modellen die Prämissen für Entscheidungen als gegeben betrachtet werden müssen. Im zweiten Band stellt er den Informationsverarbeitungsansatz vor, der nun psychologische und soziale Einflüsse bei Entscheidungen mit einbezieht. Im dritten Band geht es um Entscheidungen in Organisationen. Denn auch in dieser Untersuchung solle Entscheidungen von Akteursgruppen betrachtet werden. Die vorherigen individuellen Entscheidungsprozesse werden hier als Bausteine benutzt, um Entscheidungen in Gruppen zu erklären. Laut Kirsch ergeben sich so verschiedene allgemeine Erklärungsfaktoren für Entscheidungs- und Ziel-
35Offermann,Theo, Beliefs and Decision Rules in Public Good Games, Theory and Experiments, besonders S. 173 - 184: Offermann halt eine komplette Analyse menschlichen Verhaltens für unmöglich, sieht aber generell für Entscheidungen drei Hauptursachen: Psychologische Ursachen, ökonomische, nutzenorientierte Ursachen und altruistische Motive.
36Vgl. Bamberg, Günter, Betriebswirtschaftliche Entscheidungstheorie, S. 7-9.
37Vgl. Kirsch, Werner, Entscheidungsprozeße.
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bildungsprozesse. Zum einen werden strukturelle Gründe für Entscheidungen in Organisationen genannt, wie zum Beispiel der hierarchische Aufbau, Koordination und Verteilung von Informationen. Auch seien soziale Prozesse innerhalb der Organisation von Bedeutung. Hierzu gehören Kommunikation, Sozialisation und Manipulation. Letzteres verursacht oft eine Verhandlungssituation, auf die Entscheidungsziele angepasst werden. Zur Kommunikation gehören sowohl die interne als auch die externe Kommunikation von Organisationen, also besonders die Informationsverteilung, die zu einem Lernprozess führen soll. Dieses führt zu einer Sozialisation der einzelnen Persönlichkeiten, also der Adaption von Werten und Anschauungen der Gruppe. Versucht ein Machthaber, andere Entscheidungsträger aktiv zu beeinflussen, Entscheidungen an bestimmten Entscheidungsprämissen zu orientieren, so muss man von einer Manipulation ausgehen. Inwiefern so eine Form von Macht ausgeübt werden kann, kann hier nicht ausführlich erläutert werden. Sie ist aber abhängig von der Machtgrundlage (z. B. Verfassung, militärische Gewalt, Popularität), den Machtmitteln (Drohungen), dem Machtbereich, der Machtfülle, der Menge der Menschen, über die Macht ausgeübt werden kann, und der Höhe der Opportunitätskosten, die entstehen, um die Macht auszuüben, beziehungsweise, um sich einer Macht zu verweigern. Letztlich wird, als kleinste Einheit der Analyse, auf die Entscheidungsprämissen hingewiesen. Der Begriff der Entscheidungsprämisse erlaubt es laut Kirsch, eine Verbindung zwischen Theorien der Individualentscheidung und der theoretischen Analyse von Organisationsentscheidungen herzustellen. Es wird untersucht, welche Einflüsse sich aus dem sozialen Kontext der Organisationen auf die Individualentscheidungen der Mitglieder ergeben. Also inwiefern die Entscheidungen von Organisationsmitgliedern von dem sozialen Umfeld der Organisation abhängen. Die Konzentration auf diesen Faktor betrachtet Kirsch als Reduktionismus, bei dem davon ausgegangen wird „dass „Menschen innerhalb einer Unternehmung handeln und nicht die Unternehmung selbst, dass das Verhalten gleichermaßen durch die Persönlichkeit wie durch Umweltfaktoren bedingt ist, dass die untersuchten Verhaltensprozesse die Kognition, die Wahrnehmung, die Überzeugung und das Wissen der oder des Handelnden einzubeziehen hat...“38Potentielle Entscheidungsprämissen sind laut Kirsch zum Beispiel Rollen. Die Rollenanalyse geht davon aus, dass sich bestimmte Verhaltensweisen aus der Position eines Akteurs innerhalb eines Feldes sozialer Beziehungen ergeben. Besonders vor dem Hintergrund einer kognitiven Interpretation dieses Rollenbegriffs entsteht eine durch vorgelegte Informationen verursachte Determination des Aktionsraums bei Entscheidungen. Damit Rolleninformationen zu Entscheidungsprämissen werden, müssen diese in der konkreten Entscheidungssituation hervorgerufen werden und in die Definition der Entscheidungssituation eingehen. In das System der Rollen können auch die Organisations-
38Kirsch,Werner, Entscheidungsprozeße, S.95.
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ziele eingegliedert werden. Denn Organisationen sind meistens von vorneherein durch einen Zielbildungsprozess39an Leitentscheidungen geknüpft. Dieser Zielbildungsprozess führt zu einer öffentlichen Formulierung von Zielen, die im besten Fall von einer möglichst großen Zahl unterstützt wird und von der Organisation zu autorisierten Zielen erklärt und damit festgeschrieben wird. Neue Entscheidungen müssen also mit diesem grundlegenden Ziel konform gehen. Ganz besonders stark gilt dies, wenn das Überleben der Organisation sogar von der Umsetzung ihres Ziels abhängig ist. Politische Instanzen können auf diese Ziele, vor allem wenn sie revolutionär sind, meist nur in kleinen Schritten, also inkremental, zugehen, was damit zusammenhängt, dass Informationen über die Konsequenzen solcher Entscheidungen fehlen. Ziele von Organisationen könnten also auch strategisch so gewählt werden, dass sie sich in den Inkrementalismus des politischen Systems einfügen.
Da die Annahme einer Entscheidungsprämisse selbst ein Entscheidungsprozess ist, muss auch hier zwischen routinierten und echten Entscheidungen unterschieden werden. Gerade wenn der Abwägungsprozess sehr schwierig für eine Persönlichkeit ist, wird er für Manipulationen eher empfänglich. Bei Verhandlungen erfolgen solche Manipulationsversuche nahezu simultan. Die Wichtigkeit von Entscheidungsprämissen betont auch Ingo Bamberger40, der bei Entscheidungsprozessen besonderes Augenmerk auf die Informationsbeschaffung und -verarbeitung legt.
Bei den hier zu untersuchenden Problemfeldern muss davon ausgegangen werden, dass eine Entscheidung für ein absolutes Tötungsverbot über viele Jahre hinweg nicht oder kaum angezweifelt wurde. In verschiedenen Arbeiten wird aber immer wieder betont, dass sich einmal getroffene Entscheidungen und die zu Grunde liegenden Faktoren ändern können. In praktischen Untersuchungen41zu komplexen, konfliktreichen, innovativen Entscheidungsprozessen, wie der Erstbeschaffung einer elektronischen Datenverarbeitungsanlage, wurde bereits festgestellt, dass Ziele, die Entscheidungen beeinflussen, nicht, wie in der Theorie vorgesehen, geordnet, widerspruchsfrei und streng definiert sind und vor allem nicht dauerhaft beständig. Die Zielsetzungen seien vielmehr „eingebettet in eine historische Situation“ und abhängig von „erlebten Erfolgen und Misserfolgen“42. Ein dialektischer Prozess führe zu immer neuen Abwägungen desselben Problems. Dies sei einer der großen Widersprüche zwischen Entscheidungsmodell und Entscheidungsrealität: „Die klassischen Entscheidungsmodelle gehen von einer fixierten Zielsetzung aus und fordern für die rationale Entscheidung eine möglichst tief greifende Al-
39Vgl.für Näheres zum Zielbildungsprozess: Kirsch, Werner, Entscheidungsprozeße.
40Bamberger, Ingolf, Budgetierungsprozesse in Organisationen, besonders S. 17-29.
41Vgl. Witte Eberhard, Innovative Entscheidungsprozesse.
42Hauschildt, Jürgen, Entscheidungsziele, in: Witte Eberhard, Innovative Entscheidungsprozesse, S.56/57.
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ternativensuche und Lagebestimmung. Sie postulieren bei gegebener Zielsetzung also vor allem kognitive Aktivitäten. Unser Befund lautet nun: Im Gefolge dieser kognitiven Aktivität wird gerade der Inhalt der Zielsetzung variiert.“43Auch bei der Auswertung der Fragen dieses „Columbus-Projektes“ wird die Frage gestellt, welche Einflussfaktoren Zielvariationen bewirken. Hier werden für Zielvariationen folgende Ursachen erkannt:44Zum einen Organisationsspezifische, da die Anforderung einer or-ganisatorisch „sinnvollen“ Aufgabenteilung und Aufgabenstrukturierung Zielvariationen hervorrufen können. Auch die Anpassung an eine veränderte Umweltbedingung führt zu Variationen. Auch können Ziele von Organisationen sich ändern, wenn sich die Ziele der einzelnen Personen ändern, zum Beispiel durch Änderung der gegebenen Wertestruktur und durch Anpassung der Ziele innerhalb des Interpretationsspielraumes, den eine Zielsetzung oft zulässt. Veränderte Informationsgrundlage und eine Veränderung der Gruppenzusammensetzung und Gruppengröße führen zu Zieländerungen. Auch vorgelagerte Ziele, die erreicht oder nicht erreicht wurden, führten zu einer Anspruchsanpassung, also zu Formulierung weiterer oder anderer Ziele. Unter Umständen kann es dann zu Alternativzielen kommen, wenn bestimmte Zustände des Ziels nicht erreichbar oder nicht mehr vertretbar erscheinen und dies auch wahrgenommen wird. Ehemalige Zielunklarheiten können gelöst werden, das heißt, dass der Akteur erst später im Prozess tatsächlich weiß, was er will, oder das Ziel verengt sich, weil Teile schon erfüllt wurden.
Speziell für Entscheidungsprozesse zu medizinischen Fragen stellte M. Oehmichen Entscheidungsfak-toren zusammen.45Er untersuchte den Ursprung ethischer Normen und erkannte, dass auch diese auf Entscheidungsprozesse zurückzuführen sind, die von bestimmten Faktoren beeinflusst werden: „Grundlage des ethischen Handelns in Medizin und Forschung stellt der Entscheidungsprozess selbst dar.“46Als entscheidenden Faktor bei medizinischen Entscheidungen nennt Oehmichen den Patienten, der sich für oder gegen eine Behandlung entscheidet. Aber auch der medizinische Wissensstand, die Rechts-normen und das Gewissen des Entscheidungsträgers würden die Entscheidung beeinflussen. Hierbei wird der medizinische Wissenstand durch experimentelle und empirische Erfahrung beeinflusst und die Rechtsnormen gründen sich auf allgemeines- und Standesrecht (wie zum Beispiel den Hippokratischen Eid) und sind abhängig von der Gesellschaftsform. Das individuelle Gewissen ist beeinflusst von genetischen Imperativen, also egoistischen Verstandesgesetzen, wie dem Tötungsverbot, aber auch dem
43Ebd. S.77.
44Ebd. S. 59 - 97.
45Vgl. Oehmichen, Manfred, Ursprung ethischer Normen und ihre Folgen für Arzt, Forschung und das Fach Rechtsmedizin, in: Oehmichen, Manfred, Praktische Ethik in der Medizin, besonders S. 15-31.
46Oehmischen, Manfred, Ursprung ethischer Normen und ihre Folgen für Arzt, Forschung und das Fach Rechtsmedizin, in: Oehmichen, Manfred, Praktische Ethik in der Medizin, S. 17.
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Forschungsdrang oder dem Wunsch nach Reichtum, aber auch dem Mitleid, und von der Kultur, in der sich der Entscheidende befindet, also der Geschichte, der Erziehung oder der Ökonomie. Normalerweise würden heute anstelle von individuellen Entscheidungsfindungen Rechtsnormen treten. In Einzelfällen reichen diese aber nicht aus oder widersprechen dem Gewissen des Entscheidungsträgers und es muss eine tatsächlicher Abwägungsprozess stattfinden. Für diesen können laut Oehmichen die Kriterien der Ethik-Kommissionen über Humanexperimente zur Entscheidung herangezogen werden. Zu diesen zählen: Der Sinn und die Nachvollziehbarkeit des Experiments, die Abwägung zwischen Nutzen und Risiko, die Einwilligung des Patienten, der Versicherungsschutz, die Probandenvergütung und die rechtlichen und gesetzlichen Konventionen zu dem Einzelfall.
Ob die Entscheidungstheorien überhaupt auf politische Prozesse anwendbar seien, darüber bestand zeitweilig Uneinigkeit, weshalb hier der Versuch Henning Behrens dargestellt werden soll, der in seiner Dissertation47begann, die verschiedenen Entscheidungstheorien auf die Politikwissenschaft zu übertragen. Vorrangig hatte er sich dabei im internationalen Rahmen auf die Regierung als Entscheidungsträger festgelegt. Unter Beachtung der Tatsache der enormen Datenlage und der Vielfalt kollektiver Entscheidungsprozesse bezeichnet Behrens das Wissen über Entscheidungen in der Politik als „weiße Landkarte“48mit ersten Konturen. Hauptanliegen entscheidungstheoretischer Untersuchungen müsse es sein, den Entscheidungsprozess zu verbessern oder Entscheidungshilfen zu liefern. Besonders der psychologische Ansatz innerhalb von Entscheidungstheorien sei auch in der Politik unausweichlich gefragt, wäre aber ebenso schwammig, da sich erstens schon Defizite in der Mutterdisziplin ergeben hätten und zweitens Experimentaluntersuchungen in der politischen Ebene in diesem Bereich nahezu undurchführbar sind. Die betriebswirtschaftliche Entscheidungsforschung beziehe heute eine Menge an Begrifflichkeiten, wie den Lern-, Zeitdrucks- oder Zielbildungsprozess mit ein, die zu einem sehr diffizilen Bild des Entscheidungsprozesses führten. In einem Punkt, nämlich in der Forderung nach empirischen Wahrheiten, wäre dieses aber nicht hundertprozentig auf die Politik anwendbar, da im politischen Rahmen Entscheidungsprozesse nie komplett homogen verliefen und sich häufig wiederholten. In der Volkswirtschaftslehre sei vor allem der Ansatz der modernen Politischen Ökonomie zu beachten, der es sich zum Ziel macht, die vielfältigen Beziehungen zwischen Politik und Wirtschaft zu erkennen und Steuerungsinstrumente zu entwickeln. Bruno S. Frey versucht in seinem Buch „Moderne Politische Ökonomie“ die Erkenntnisse ökonomischer Theorien auf die Politik auszuweiten und die Untrennbarkeit von Wirtschaft und Politik herauszustellen. So müsse in der Wirtschaftswissenschaft immer auch
47Vgl. Behrens, Henning, Politische Entscheidungsprozeße.
48Ebd. S.226.
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die Politik einbezogen werden, um reale Ergebnisse zu erhalten. Frey gelingt es in diesem Werk, entscheidende Faktoren politischer Entscheidungsfindungen zu entlarven, um daraus Rückschlüsse zum Beispiel auf die Möglichkeit der Durchsetzung wirtschaftlicher Projekte zu erhalten. Er bezieht dabei eine Reihe von Faktoren ein, die eine politische Entscheidungsfindung beeinflussen und in bisherigen ökonomischen Theorien eher am Rande, als so genannte Rahmenbedingungen, genannt wurden. Dabei betrachtet er das gesamte politische System und versucht herauszufinden, wovon dynamische Entwicklungen innerhalb dieses Systems abhängen. Der Wähler wird dabei an erster Stelle der Entscheidungsträger geführt, noch vor der Regierung und der Bürokratie.49Diese Einbeziehung des Wählerwillens und der potenziellen Wählerstimme als Entscheidungskriterium in der Politik sei, so Guy Kirsch, die herausragende Leistung dieser Theorie. Guy Kirsch50hält generell eine Übertragung der ökonomischen Entscheidungstheorie auf politische Prozesse zumindest bedingt für möglich und steht damit für die Vereinheitlichung der beiden Wissenschaftsbereiche, wie sie auch von Anthony Downs gefordert wurde, der auch den Wähler als entscheidenden Faktor erkannte und besonders auf Probleme hinwies, die sich aus der Ungewissheit im Wahlprozess ergeben.51Hierzu sei es vor allem wichtig, nicht die individuelle Entscheidung, sondern die Entscheidung im Kollektiv zu betrachten, in dem der Staat ein wichtiges, aber nicht das einzige Element sei. In Bezug auf die Erkenntnisse der Politischen Ökonomie betont er, dass in einem solchen politischen System der Wähler immer ein zentraler Entscheidungsfaktor sei. In repräsentativen Demokratien bilden sich kleinere Kollektive, die Einfluss ausüben und als „politisches Unternehmen“52agieren, wie zum Beispiel Parteien oder andere Akteure. Sie entstehen unter bestimmten Umständen und geben sich selbst oft eine Art Verfassung, welche die Richtung des Unternehmens anweist. In diesem Fall kann es zu einer Verzerrung des ursprünglichen Willens der Kollektivmitglieder kommen, auch wenn allein zur Festigung der Position des Akteurs eine breite Unterstützung notwendig wird. Dies wiederum setzt natürlich voraus, dass der Einzelne informiert und motiviert genug sei, das Interesse überhaupt zu artikulieren. Kirsch unterscheidet zwei Unternehmertypen, indem er voraussetzt, dass es in jedem Kollektiv bestimmte Themen gibt, die aus unterschiedlichen Gründen tabuisiert werden. Der politische Unternehmer würde aus den thematisierbaren Themen einige herauspicken und diese zu einem akzeptablen Entscheid führen. Der moralische Unternehmer würde versuchen, Themen zu tabuisieren, von denen er glaubt, es gäbe keinen Kompromiss. Als Beispiel hierfür führt er die Rolle der Kirche in der Frage der Abtreibung an.
49Frey, Bruno S., Moderne Politische Ökonomie, S.154.
50Vgl. Kirsch, Guy, Ökonomische Theorie der Politik.
51Vgl. Downs, Anthony, Ökonomische Theorie der Demokratie.
52Kirsch, Guy, Ökonomische Theorie der Politik, z.B. S.70 ff.
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Bei Entscheidungen von mehreren Akteuren in der Politik ist auch immer zu beachten, dass diese im Zweifelsfall auch von Entscheidungen anderer Akteure beeinflusst werden. Solche Prozesse werden nicht mehr mit der Entscheidungstheorie allein abgebildet, weshalb eine umfangreichere Theorie benötigt wird. Die Spieltheorie53verwendet Begriffe der Entscheidungstheorie und versucht so, rationale Entscheidungen mehrerer Akteure in eine mathematische Rechnung einzuordnen. Dabei ergibt sich die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Reaktion, zum Beispiel einer Kooperation, auf Grund der Menge der Handlungsoptionen der entscheidenden Person, der Menge der Handlungsoptionen des Partners und der sich aus beiden Optionen ergebenden Menge der Konsequenzen. Grundlegend für eine Wahrscheinlichkeitsberechnung einer bestimmten Option ist die Annahme, dass jede Person mit ihrer Entscheidung den größtmöglichen Nutzen erreichen möchte. Auch dieser Nutzenerwartungswert lässt sich mit Hilfe der möglichen Konsequenzen und der Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens berechnen. Für die Übertragung dieser Entscheidungstheorie auf die Spieltheorie ist es wichtig zu berücksichtigen, dass die jeweiligen Spieler strategisch handeln, da sie eine gewisse Reaktion ihres Verhandlungspartners erwarten. Grundlegend für die Spieltheorie ist die Annahme, dass jeder Spieler eine dominante Strategie verfolgt. Ohne hier weiter auf die mathematische Ausgestaltung einzugehen, sollen im Folgenden die klassischen Situationen dargestellt werden, die sich aus den einzelnen Berechnungen der Spieltheorie ergeben. Zunächst unterscheidet die Spieltheorie zwischen Nullsummen-Spielen und Mehrsummenspielen. Bei Nullsummen-Spielen würde der Gewinn einer Person dem Verlust einer anderen entsprechen. Diese Situation wird als unkooperativ bezeichnet. Beim Mehrsummenspiel gewinnt jeder der Partner durch eine Entscheidung. Diese Situation wird als kooperativ bezeichnet. Im besten Fall gewinnen beide Partner, egal wie sich der Opponent entscheidet. Beim Nash-Gleichgewicht hat keiner der Partner ein Interesse daran, als einziger von einer Gleichgewichtskombination abzuweichen. Das heißt, kein Spieler zieht einen Gewinn daraus, dass er sich gegen das Interesse des anderen stellt. Bei der Möglichkeit der Wahl zwischen mehreren Gleichgewichten kann das Nash-Gleichgewicht nur zu-stande kommen, wenn es aus bestimmten Gründen zu der richtigen Abschätzung darüber kommt, welches Gleichgewicht vom Opponenten gewählt wird. Doch auch im Fall einer kooperativen Situation kann es dann zu Problemen kommen. Zum Beispiel dann, wenn jeweils die Strategie des einen Ver-handlungspartners einen größeren Nutzen für ihn bringen würde als die Strategie des anderen. Trotzdem ist die Situation kooperativ, weil beide Partner auch die für sie schlechtere Lösung akzeptieren würden, da diese immer noch besser als keine Lösung ist. Diese Situation wird als gewichtetes Koordinationsproblem bezeichnet. In so einer Situation gibt es verschiedene Möglichkeiten der Konfliktbear-
53Vgl.Rieck, Christian, Spieltheorie.
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beitung. Meist legt sich eine Partei auf die für sie bessere Entscheidung fest und zwingt so den Partner, zuzustimmen. Dies würde einer klassischen Drohung entsprechen. Bei der Variante „chicken game“ kommt es daraufhin zum Desaster, weil auch der Partner jetzt auf der für ihn besseren Variante beharrt. Lösungen für das „chicken game“ gibt es nur, wenn sich eine Partei durchsetzt oder eine Partei für die Zustimmung zu der für sie negativeren Lösung eine Ausgleichszahlung bekommt, beziehungsweise wenn die Ablehnung des gegnerischen Vorschlages Sanktionen mit sich bringen würde. Ein anderer Problemfall, der sich in der Spieltheorie ergibt, ist das Gefangenendilemma. Hierbei ist eine Kooperation nur dann rational und für beide Parteien gewinnbringend, wenn sich auch der Gegner für Kooperation entscheidet. Sowohl einseitiges Kooperations- als auch einseitiges unkooperatives Verhalten führt zu einem größeren Schaden als gar nicht zu kooperieren. Hier liegt die Schwierigkeit darin, dass das Verhalten des Partners nicht abschätzbar ist und darin, dass die Ankündigung der Entscheidung kooperativ zu sein, den Partner dazu verleiten könnte, nicht kooperativ zu sein und damit seinen Gewinn zu maximieren. Ein Experiment, das sich Tit for Tat nennt, bewies, dass es zu vermehrter Kooperation kommt, wenn nicht immer kooperiert wird. Dieses Spiel ist die langfristig erfolgreichste Variante und beruht auf der Erkenntnis, dass ein Spiel umso kooperativer endet, je öfter es wiederholt wird. Bei Tit for Tat beginnt ein Partner kooperativ und wiederholt jeweils den letzten Schritt des Verhandlungspartners. Lässt sich ein Partner ausbeuten und verhält sich ausschließlich kooperativ, ist das Gesamtergebnis nach einigen Wiederholungen des Spiels schlechter als bei bedingter Kooperation. Neben diesen grundlegenden Spieltypen, die nur einige von vielen Varianten darstellen, wirken sich auch andere Fak-toren auf das Spielergebnis aus. Wie schon erwähnt, kann der Zeitraum der Verhandlungen sich auf das Spiel auswirken. Werden bestimmte Spielsituationen unbegrenzt oft wiederholt, so zeigt sich, dass auf Grund der Erfahrung, die sich im Laufe der Zeit ergibt, bessere Ergebnisse erzielt werden. Außerdem kann eine bestimmte Moral das Verhalten einer Person dahingehend beeinflussen, dass sie nicht mehr auf ihren größtmöglichen Nutzen beharrt. Doch nur wenn dieses moralische Verhalten „nicht nötig und nicht zweckmäßig“54ist, würde dies die Ergebnisse der rationalen Entscheidungstheorie beeinflussen. Beim Gefangenendilemma müsste dieses Verhalten allerdings bei beiden Partnern eintreten. Bei Mehrpersonen-Spielen, die keine Einstimmigkeit für eine Kooperation benötigen, muss sich eine Mehrheit der Verhandlungspartner kooperativ verhalten, um ein positives Ergebnis zu gewährleisten. Hierbei kann auch der Fall auftreten, dass ein Partner, ohne selbst zu kooperieren, durch die Kooperation eines anderen Partners gewinnt. Die Anzahl solcher Ausbeuter darf jedoch eine gewisse Höchstgrenze nicht überschreiten. Generell gilt, dass die Wahrscheinlichkeit eines kooperativen Gleichgewichts mit der
54Nida-Rümelin, Julian, Entscheidungstheorie und Ethik, S.148.
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