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Viele widersprüchliche Gerüchte ranken sich um Ina Bergers verstorbenen Großvater. War er ein Kriegsheld? Ein Feigling? Ein Egoist? Inas Suche nach Antworten führt sie in die Normandie, um dort den alten Mann Monsieur Bernard zu treffen. Der einst junge Untergrundkämpfer der französischen Résistance scheint ihre letzte Chance zu sein, um die Wahrheit über ihren Großvater zu erfahren. Ein emotionaler Roman - inspiriert von wahren Begebenheiten eines österreichischen Wehrmachtssoldaten.
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Seitenzahl: 148
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Er nannte ihn D-Day
Gespräche mit dem Feind
Inspiriert von wahren Begebenheiten eines
österreichischen Wehrmachtssoldaten.
Dieses Buch widme ich meiner Mutter für ihre jahrzehntelange psychologisch-philosophische Arbeit mit Menschen.
Impressum
Texte: © Copyright by Benjamin Wehinger
Umschlaggestaltung: © Copyright by Benjamin Wehinger
Bild Umschlaggestaltung: Pixabay.com
Verlag:
Benjamin Wehinger
Seb. Kneippstr. 28
A - 6800 Feldkirch
Druck und Vertrieb:
epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Korrektorat: Dietmar Hofer ([email protected])
Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Sämtliche Namen in diesem Roman sind frei erfunden.
Die Geschichte lehnt an die wahren Kriegserlebnisse des österreichischen Soldaten A. Wehinger an, welche als Inspiration für diesen Roman dienten.
Dessen unverfälschte Kriegschronik wird in meinem folgenden Buch ausführlich dokumentiert: „Benjamin Wehinger: Drei Brüder, ein Cousin, vier Kriegsschauplätze“ - ISBN: 9783741839276
Kapitel
Prolog
Der Besuch
Annique
Die geheimnisvolle Begegnung
Die Entscheidung im Wald
Die Bahngleise
Der lange Tag
Die Steinhütte
Ein verhängnisvoller Verdacht
Die Ruine
Eine dritte Chance
Anhang des Autors - Wahr oder Fiktion?
Prolog
Es schien, als würden ihn seine Hausschuhe schleppend über den vergilbten Linoleumboden den langen Flur entlang ziehen. Dabei warf er einen flüchtigen Blick durch die Glasfront des Speisesaals. Der moderne, lichtdurchflutete Raum wirkte leblos - wie alles um ihn herum. Noch konnte er niemanden entdecken, der Vorbereitungen für das Abendessen traf. Bald aber würden an diesen leeren Tischen mindestens so öde Gespräche abgehalten werden, wusste er nur zu gut. Er war sie müde, diese stets wiederholenden Geschichten, denen kaum mehr einer richtig zuhörte - ihn miteingeschlossen.
Für einen Augenblick blieb der alte Mann stehen, und blickte zum Klavier, das trostlos wirkend die weiße Wand zierte. Noch nie hatte er die Tasten unter dem geschlossenen Deckel gesehen, fiel ihm dabei auf. Geschweige denn, dessen bestimmt wunderbaren Klänge vernommen.
»Guten Tag, Monsieur Bernard. Haben wir ein feines Mittagsschläfchen gemacht?«, vernahm er eine laute Stimme. »Dann ab an die frische Luft mit Ihnen und vergessen Sie nicht genügend zu trinken.«
Er ignorierte den jungen Pfleger, der ihm wohlwollend ins Ohr brüllte, und, wie all die anderen, einfach nicht begreifen wollte, dass sein Gehör noch ausgezeichnet funktionierte. Mürrisch nickte er kurz und ging den langen Gang weiter. Auch wenn die große Sommerhitze noch ausstand, so machten ihm die Temperaturen bereits jetzt zu schaffen. Dennoch schien es ihm eine sinnvolle Beschäftigung zu sein, nach draußen in den Park zu gehen. Außerdem - was hätte er auch sonst machen sollen. Die Tage hier waren für ihn alle gleich.
Die meisten der Heimbewohner befanden sich bereits draußen, als er durch die offenstehende Glastür ging. Das Erste, das ihm missfiel, war eine Handvoll alter Männer und Frauen, die an einem Gartentisch saßen und ihren Nachtisch, den sie beim Mittagessen mal wieder stehen ließen, schlürften. Andere wandelten ziellos zwischen den blühenden Sträuchern und Bäumen umher. Welch nutzloses Leben, dachte er, und steuerte auf seinen Lieblingsplatz, eine einsame Holzbank etwas abseits unter einem kräftigen Ahornbaum, zu.
Der Besuch
Während der Motor verstummte und ich meine Füße von den Pedalen löste, blieben meine Finger wie angeklebt am Autoschlüssel, der noch im Zündschloss steckte. Ich blickte zu meiner schwarzen Handtasche auf dem Beifahrersitz neben mir. Nervös dachte ich an deren Inhalt, der mich den weiten Weg hierherführte. Die typische Landschaft der Normandie im Norden Frankreichs begrüßte mich unter wolkenlosem Himmel. Doch, auch wenn mich das Navi über die rund tausend Kilometer zur richtigen Adresse geführt hatte, so hatte die Computerstimme mit ihrem letzten Satz bestimmt nicht recht: Mein Ziel hatte ich noch nicht erreicht!
Ich nahm die Tasche auf meinen Schoß, riss die Sonnenblende nach unten, um meine Frisur und mein Make-up im kleinen Spiegel ein letztes Mal zu kontrollieren, atmete einmal tief ein und aus, und stieg mit zusammengepressten Lippen aus meinem Wagen.
Über rot-bräunliche Pflastersteine führte mich der Weg, der von herrlich duftendem Lavendel eingegrenzt war, zum Haupteingang des Seniorenheims. Die warme Luft wurde erfrischt durch die blühenden Sträucher, die den gepflegten Park einer einst herrschaftlichen Villa zu einem friedlichen Ort verwandelten. Es dauerte nicht lange, da wurde ich schon von einer freundlichen Pflegerin angesprochen: »Kann ich Ihnen behilflich sein, Mademoiselle?«
»Ja, bitte«, antwortete ich. »Können Sie mir verraten, wo ich hier einen gewissen Jacques Bernard finde?«
Sie blickte sich kurz um und zeigte dann den Kiesweg entlang: »Dort drüben. Der nette Herr, der gerade auf der Bank unter dem großen Ahorn Platz nimmt.«
Ich bedankte mich und ging dem alten Mann entgegen, während die Pflegerin mir noch nachrief: »Da wird sich Monsieur Bernard aber freuen. Er bekommt selten Besuch.«
Ich wollte keine Eile zeigen und ging langsam in seine Richtung, während er seinen Gehstock neben sich an den dicken Baumstamm anlehnte. Ich hatte den Eindruck, dass er mich bereits bemerkte und aus den Augenwinkeln verfolgte, während er sich setzte. Dann drehte er seinen Kopf und musterte mich auf meinen letzten Schritten sehr genau.
»Guten Tag, Monsieur Bernard? Mein Name ist Fräulein Berger«, stellte ich mich mit respektvollem Ton vor. »Darf ich mich vielleicht zu Ihnen setzen?«
Doch der alte Mann starrte mich an, ohne dabei irgendeine Regung zu zeigen.
»Können Sie mich verstehen?«, fragte ich nach. »Ich spreche nämlich leider kein Französisch.« Etwas verunsichert zog ich meine rechte Augenbraue hoch. Vielleicht war es mein konzentrierter, scharfer Blick, der ihn abschreckte, dachte ich. Hinter meinem freundlichen Lächeln, so sagte man mir nämlich nach, würden meine dunklen Augen einen äußerst zielstrebigen Charakter verraten, und man könnte mich leicht für eine gewitzte Staatsanwältin oder so etwas halten. Vielleicht erging es Monsieur Bernard nicht anders, und fand gerade deshalb Gefallen daran, mich etwas zappeln zu lassen.
Ich wandte mich nochmals an die Pflegerin. »Verzeihen Sie, versteht er mich?«
Die Pflegerin machte ein paar Schritte auf uns zu und meinte mit breitem Grinsen im Gesicht: »Unser lieber Bernard kann soviel ich weiß sehr gut Deutsch sprechen. Nicht war mein Bernard?« Ihre hohe und schrille Stimme, die sie bei den Heimbewohnern anwendete, verärgerte den alten Mann augenscheinlich. Es war mir, als könnte ich sogar sein Zähneknirschen hören, als ich seine Reaktion auf die Pflegerin beobachtete.
»Ich denke, ich lasse euch zwei dann mal alleine«, lächelte sie und winkte dabei mit ihren Fingern. »Genießen Sie noch ihren Besuch, Monsieur Bernard.«
Er erwiderte ihr Grinsen etwas zynisch, und schwenkte dann seinen Blick fragend zu mir.
»Eine nette Frau«, sagte ich etwas tapsig. Ich fühlte mich wie ein ungeladener Gast, die ich ja auch war und überlegte gerade wie ich mein Gespräch beginnen sollte.
»Sind Sie von der Kirche?«, war er allerdings schneller als ich und blickte mich beinahe mit drohendem Blick dabei an. »Ich habe nämlich keine Lust mit Ihnen über den Tod zu sprechen. Ich bin hier von genügend halbtoten Menschen umgeben. Abgesehen von den Kindergartentanten hier, die nicht kapieren, dass ich weder ein kleines Kind noch schwerhörig bin.« Sein Deutsch war sehr gut, wenn auch sein französischer Akzent stark durchkam.
»Nein, ich bin nicht von der Kirche, Monsieur. Und ich will auch nicht mit Ihnen über den Tod sprechen. Vielmehr über das Leben. Über IHR Leben, Monsieur Bernard.«
»Ach, dann gehören Sie irgendeiner Seelsorge-Stiftung an, und wollen Ihre kostbare Zeit einem alten Menschen wie mir schenken? Verschwendung …«
»Nein, Monsieur, wieder ist das Gegenteil der Fall. Ich bin es, der etwas von Ihnen möchte«, gab ich zur Antwort. »Um direkt zu werden, mich würde interessieren… Also, ich meine, … ich hätte da Fragen zu ihren Erlebnissen während der Tage der großen Invasion in der Normandie 1944. Dem D-Day.«
»Ich verstehe, dann sind sie von der Presse! Sagen Sie das doch gleich. Und Sie haben extra den Weg von Deutschland hier her gemacht?«
»Ich komme aus Österreich, nahe der Grenze zur Schweiz«, präzisierte ich, und drückte dabei meine Handtasche eng an mich heran. Ich musste bei ihm den Eindruck einer schlechten Kartenspielerin erwecken, befürchtete ich, die nicht verheimlichen kann, dass sie noch ein Ass in den Händen hält. »Ich habe den weiten Weg gerne auf mich genommen, um sie zu treffen.«
»Na schön, was genau wollen Sie denn wissen? Um ehrlich zu sein, spreche ich nicht gerne über diese Zeit. Über den Krieg lässt sich nichts beschönigen, und über die Gräueltaten möchte ich nicht reden.«
Ich setzte mich neben ihn, legte meine Tasche neben mich auf die Bank und schlug meine Beine lässig übereinander. Ich strengte mich an entspannt zu wirken, während ich mich etwas umblickte.»Nett hier«, versuchte ich eine gelöste Stimmung zu schaffen. »Bestimmt fühlen Sie sich sehr wohl hier?«
»Naja«, gab er zur Antwort.
»Sie machen auf mich einen fitten Eindruck, Monsieur Bernard. Darf ich fragen, wie …«
»Sie dürfen«, fiel er mir ins Wort. »Nur noch ein paar Jährchen, dann gewinne ich eine Kaffeemaschine. Dann sind meine Hundert nämlich voll. Und danke für ihre schmeichelhaften Worte, auch wenn Ihr Kompliment vermutlich nur eine charmante, indirekte Frage ist, ob ich noch alle Schrauben fest angezogen habe, um Ihnen zuverlässige Antworten zu liefern.« Seine Worte brachten mich zum Schmunzeln. »Mein Gedächtnis ist in der Tat nicht mehr das allerbeste«, fügte er hinzu. »Erst heute Morgen suchte ich meine Zahnbürste, bis ich bemerkte, dass ich sie bereits im Mund hatte. Doch, und das dürfen Sie mir glauben, an sämtliche Einzelheiten an jene Zeit vor bald 80 Jahren kann ich mich erinnern, als wäre es gestern gewesen.«
»Wären Sie bereit mir einen Einblick zu gewähren?«
»Viel Spannendes habe ich vermutlich nicht zu erzählen«, spielte er mit zuckender Schulter vor. »Ich war damals zwanzig Jahre alt. Ich war Mitglied der Résistance - der Widerstandsbewegung. Wir wurden in die Vorbereitungen der Alliierten mit einbezogen, müssen Sie wissen. Zur Unterstützung der Befreier, sobald sie in Frankreich landeten. So hatte ich eine gewisse Aufgabe zu erledigen und war einige Tage hinter der Front in den Wäldern versteckt.«
»Waren Sie dort alleine?«, wollte ich wissen.
Meine einfache Frage löste beim alten Mann ein Unbehagen aus, wenn nicht gar ein Angstgefühl. Augenblicklich schoss ihm der Schweiß auf die Stirn und er begann nach Luft zu ringen.
»Monsieur, ist alles in Ordnung? Geht es Ihnen nicht gut?«
Er versuchte sich etwas gerader aufzurichten. »Wird das hier etwa ein verspätetes Kriegsverhör?«, hielt er verärgert dagegen. Wäre er einige Jahre jünger gewesen, so hätte er sich wohl aus dem Staub gemacht. Er war auch schon dabei sich nach seinem Stock zu strecken. Doch nicht nur sein Körper war zu schwach, auch sein Geist schien es leid zu sein, dieser einen Frage immer und immer wieder davonzulaufen. Sein Körper sackte schlaff zurück in die Bank.
»Aber nicht doch, Monsieur Bernard«, winkte ich mit beiden Händen ab und versuchte ihn zu beruhigen, »ich möchte Sie nicht verhören. Ich interessiere mich lediglich für Ihre Geschichte.«
»Was ich in den Juni-Tagen 1944 erlebt habe«, begann er mit zittriger Stimme, »ist so merkwürdig, dass ich selbst daran zweifle, ob ich es wirklich erlebt habe. Seit nunmehr 75 Jahren stelle ich mir diese eine Frage.
»Welche Frage?«, wollte ich wissen.
»Die Frage, ob es ihn wirklich gab. Oder, ob er lediglich in meiner Vorstellung lebte.«
»Wen meinen Sie?«, fragte ich. »Von wem sprechen Sie?«
Er zögerte einen Moment. »Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Noch nie.« Er kramte in der Brusttasche seines hellblauen Hemdes und fluchte dabei, weil er seine Zigaretten im Zimmer liegen gelassen hatte.
»Sie sagen, Sie wüssten nicht, ob er tatsächlich existierte? Das verstehe ich nicht.«
»Vielleicht stand ich unter Schock«, meinte er, »oder ich litt an einem Stresszustand. Vielleicht war der Mann eine reine Einbildung, weil ich mir nur zu gerne einen Freund an meiner Seite gewünscht hatte. Das wäre doch immerhin möglich, oder etwa nicht?«
»Vielleicht«, klang ich dabei nicht gerade überzeugt. »Waren Sie denn verletzt? Erlitten Sie eine Kopfverletzung?«
»Nein«, antwortete er.
»Von Erzählungen weiß ich«, überlegte ich weiter, »dass Soldaten der deutschen Wehrmacht bei der Eroberung Frankreichs in ihren Tornistern Pervitin mit dabeihatten. Das war eine Droge. Ein ‚Wachhaltemittel, um die Schlaflosigkeit zu erhalten‘, wie es auf der Packung hieß. Dieses Rauschmittel, das dem körpereigenen Adrenalin ähnelt, gaukelte einem vor munter zu sein. Statt hungrig, fühlte man sich satt. Die Soldaten wirkten euphorisch und selbstsicher. Es konnte jedoch auch zu Nebenwirkungen kommen. Nicht nur Angstzustände und Depressionen waren die Folge, sondern auch Halluzinationen und Wahnvorstellungen.«
»Und die Frage lautet?«, forderte er mich auf zum Punkt zu kommen.
»Nahmen Sie auch Drogen?«
»Nein.«
»Sie müssten sich nicht schämen. Viele glaubten …«
»Ich nahm keine Drogen, verflucht!«, wurde er laut. Zu laut, denn manche der Mitbewohner, die an einem Gartentisch saßen, drehten sich entsetzt zu uns rüber. »Sehen Sie diese alten Kaffeeschlürfer da drüben, die ihren Desserts schlabbern?«, fragte er mich. »In drei Stunden klingelt die Glocke zum Abendessen. Wie das Weihnachtsglöckchen vor der Bescherung, und dann werden die mir am Abendtisch von ihrem nutzlosen Leben erzählen, wenn sie nicht wieder ihr Gebiss im Zimmer vergessen haben. Unsere Unterredung ist hiermit beendet.«
»Warum laufen Sie vor ihrer eigenen Geschichte davon, Monsieur Bernard?«, blieb ich hartnäckig. »Haben Sie etwa Angst, Ihre Erinnerung könnte tatsächlich nur eine Illusion gewesen sein?«
»Nein«, schüttelte er langsam seinen Kopf. »Im Gegenteil. Meine Angst ist vielmehr, sie könnte wahrhaftig geschehen sein. Wenn dieser Mann real war«, seufzte er und holte dabei tief Luft, »dann würde es bedeuten, dass ich versagt habe.«
Er versuchte aufzustehen, sich irgendwie abzustützen, doch die Bank war für seine müden Knochen zu nieder. Normalerweise half ihm eine der Pflegerinnen auf. Doch in diesem Augenblick ließ sein Stolz nicht zu nach ihr zu rufen.
Ich befürchtete schon, mein Besuch könnte umsonst gewesen sein, und ich würde einer Antwort auf meine Frage kein Stück näherkommen. Ich schielte zu meiner Handtasche, worin sich meine letzte Chance verbarg. Dieses eine Ass, das ich sozusagen noch im Ärmel hatte.
»Wissen Sie was ich glaube?«, fragte ich ihn plötzlich mit einem etwas enttäuschtem Ton. »Sie sind so sehr auf die Missstände um Sie herum konzentriert, dass Sie Ihre eigenen Missstände gar nicht bemerken.«
»Was für eigene Missstände?«, fragte er zornig.
»Blicken Sie sich doch um«, sagte ich, »und zeigen Sie mir etwas, irgendetwas, das Sie nicht stört. Oder jemanden hier, der Sie nicht anwidert. Sie ekeln sich an den alten Leuten hier, sehen das Schlechte überall. Und bei all Ihrem Zorn übersehen Sie Ihre eigenen Schwächen.«
»Welche Schwächen?«, fragte er aufgebracht.
»Sie sind vermutlich der älteste Heimbewohner hier, und gleichzeitig vielleicht mit dem frischesten Verstand von allen ausgestattet. Deshalb rebellieren Sie - zu Recht! Sie wollen nicht dahinvegetieren und auf den Tod warten. Sie weigern sich beharrlich sich gehen zu lassen. Doch was machen Sie stattdessen? Zugegeben, Ihr Körper ist nicht mehr der Jüngste. Aber immerhin können Sie gehen, sich bewegen und bei klarem Verstand hier draußen sitzen! Sie könnten sich doch an dem schönen Park erfreuen, oder etwas schreiben, oder malen oder von mir aus Briefmarken sammeln. Das einzige das Sie mit diesem Geschenk, ihrem wachen Geist, anzufangen wissen, ist, sich über die anderen Heimbewohner lustig zu machen und sich selbst zu bemitleiden. Auf diese Art verschließen Sie sich dem Schönen das Sie umgibt. Und den Möglichkeiten, die Sie hier im Alltag noch hätten. So aber sind Sie nicht besser dran, als die meisten hier. So sind auch Sie eine bemitleidenswerte Person, Monsieur Bernard.«
»Sind Sie fertig?«, fragte er schmollend.
Ich wischte mir über die Stirn. »Verzeihen Sie, ich weiß selbst nicht, was eben in mich gefahren ist, … Ich wollte Sie nur…«
Mit erhobenem Zeigefinger starrte er mir tief in die Augen. »Fünf Minuten! Sie sitzen ganze fünf Minuten neben mir, und erlauben sich, mir …mir …« Ihm fehlten die Worte. Er hätte mich wohl am liebsten zum Teufel gejagt, dachte ich, und ich versuchte zu retten, was zu retten war. Wenn ich auch nicht die Absicht hatte, meine Ehrlichkeit und Offenheit dafür aufzugeben: »Sie wirken auf mich wie ein Mann, der noch viele Ideen in sich trägt, aber sich dennoch gegen das Leben entscheidet. ‚Richte deinen Fokus auf deine Träume und Freude im Leben, und hab’ Vertrauen in die Spielregel‘, wie meine Großmutter zu sagen pflegte. Ich bitte Sie doch nur, mir den Gefallen zu tun noch einen Moment zu bleiben. Ich würde Ihnen gerne etwas zeigen.«
»Was haben Sie da eben gesagt?«, fragte er und starrte mich mit offenem Mund an. Er konnte nicht fassen, was er soeben gehört hatte.
»Ich bat Sie noch etwas zu bleiben«, wiederholte ich mich.
»Nein, ich meinte das davor. ‚Richte deinen Fokus auf deine Träume und Freude im Leben, und habe Vertrauen in die Spielregel.‘ Das haben Sie doch eben gesagt, nicht wahr?« Meine Worte schienen ihn mit einem Schlag in seine Vergangenheit zu versetzen, und trotz der sommerlichen Temperaturen lief es ihm eiskalt den Rücken runter. »Sagen Sie mir, wer um alles in der Welt sind Sie?«, fragte er. »Sie sagten, sie sind eine Journalistin? Von der Presse?«
»Nein«, antwortete ich lächelnd. »SIE sagten das.« Ich drehte mich zu meiner Tasche um und griff in deren Innenfach. »Ich wollte erst sicher gehen, ob ich auch wirklich mit dem richtigen Jacques Bernard spreche. Nun habe ich keine Zweifel mehr. Es war wirklich nicht einfach Sie zu finden.«
Es war eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die ich in meiner Hand hielt und ihm entgegenstreckte. Seine Hand zitterte, als er das kleine Stück Fotopapier in die Hand nahm, und es nicht glauben konnte. Näher und näher betrachtete er die Szene, die darauf abgebildet war. Es zeigte zwei Männer, die entlang einer Waldstraße liefen. Einer der beiden trug eine Uniform und salutierte grinsend in die Kamera. Im unteren, rechten Eck las er in weißer Schrift ‚Juni 1944 - Normandie‘.
»Das sind doch Sie, habe ich recht?«, fragte ich ebenfalls aufgeregt und beobachtete seine Reaktion ganz genau.