Erdgeist - Frank Wedekind - E-Book

Erdgeist E-Book

Frank Wedekind

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Beschreibung

Einst rettete der Berliner Chefredakteur Dr. Schön seine Mätresse Lulu aus der Gosse, jetzt verkuppelt er sie mit dem senilen Medizinalrat Dr. Goll, um sich selbst gutbürgerlich verheiraten zu können. Doch Dr. Goll trifft der Schlag, als er Lulu in flagranti mit dem Maler Schwarz erwischt. Lulu heiratet daraufhin den Maler, doch als dieser von der Untreue seiner Frau erfährt, nimmt er sich das Leben. Als Lulu und Dr. Schön heiraten, scheint alles perfekt zu sein. Doch Lulu kann nicht aus ihrer Haut und empfängt weiterhin ihre Verehrer. In "Erdgeist" schildert Wedekind den sozialen Aufstieg der freizügigen Mädchens Lulu, deren Geschichte mit "Die Büchse der Pandora" fortgesetzt wird.-

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Frank Wedekind

Erdgeist

Tragödie in vier Aufzügen

Saga

Erdgeist

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1895, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728183892

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

»Mich schuf aus gröberm Stoffe die Natur,

Und zu der Erde zieht mich die Begierde.

Dem bösen Geist gehört die Erde, nicht

Dem guten. Was die Göttlichen uns senden

Von oben, sind nur allgemeine Güter;

Ihr Licht erfreut, doch macht es keinen reich,

In ihrem Staat erringt sich kein Besitz.

Den Edelstein, das allgeschätzte Gold

Muß man den falschen Mächten abgewinnen,

Die unterm Tage schlimmgeartet hausen.

Nicht ohne Opfer macht man sie geneigt,

Und keiner lebet, der aus ihrem Dienst

Die Seele hätte rein zurückgezogen.«

Personen:

Medizinalrat Dr. Goll Dr. Schön, ChefredakteurAlwa, sein SohnSchwarz, KunstmalerPrinz Escerny, AfrikareisenderSchigolch Rodrigo, ArtistHugenberg, GymnasiastEscherich, ReporterLulu Gräfin Geschwitz, Malerin Ferdinand, KutscherHenriette, ZimmermädchenEin Bedienter

Die Rolle Hugenberg wird von einem Mädchen gespielt.

Prolog

Ein Tierbändiger tritt, nachdem der aufgezogene Vorhang einen Zelteingang hat sichtbar werden lassen, in zinnoberrotem Frack, weißer Krawatte, langen schwarzen Locken, weißen Beinkleidern und Stulpstiefeln, in der Linken eine Hetzpeitsche, in der Rechten einen geladenen Revolver, unter Zimbelklängen und Paukenschlägen aus dem Zelt.

Hereinspaziert in die Menagerie,

Ihr stolzen Herrn, ihr lebenslust'gen Frauen,

Mit heißer Wollust und mit kaltem Grauen

Die unbeseelte Kreatur zu schauen,

Gebändigt durch das menschliche Genie.

Hereinspaziert, die Vorstellung beginnt! –

Auf zwei Personen kommt umsonst ein Kind.

Hier kämpfen Tier und Mensch im engen Gitter,

Wo jener höhnend seine Peitsche schwingt

Und dieses, mit Gebrüll wie Ungewitter,

Dem Menschen mörderisch an die Kehle springt;

Wo bald der Kluge, bald der Starke siegt,

Bald Mensch, bald Tier geduckt am Estrich liegt;

Das Tier bäumt sich, der Mensch auf allen vieren!

Ein eisig kalter Herrscherblick –

Die Bestie beugt entartet das Genick

Und läßt sich fromm die Ferse drauf postieren.

Schlecht sind die Zeiten! – All die Herrn und Damen,

Die einst vor meinem Käfig sich geschart,

Beehren Possen, Ibsen, Opern, Dramen

Mit ihrer hochgeschätzten Gegenwart.

An Futter fehlt es meinen Pensionären,

So daß sie gegenseitig sich verzehren.

Wie gut hat's am Theater ein Akteur!

Des Fleischs auf seinen Rippen ist er sicher,

Sei auch der Hunger ein ganz fürchterlicher

Und des Kollegen Magen noch so leer. –

Doch will man Großes in der Kunst erreichen,

Darf man Verdienst nicht mit dem Lohn vergleichen.

Was seht ihr in den Lust- und Trauerspielen?! –

Haustiere, die so wohlgesittet fühlen,

An blasser Pflanzenkost ihr Mütchen kühlen

Und schwelgen in behaglichem Geplärr,

Wie jene andern – unten im Parterre:

Der eine Held kann keinen Schnaps vertragen,

Der andre zweifelt, ob er richtig liebt,

Den dritten hört ihr an der Welt verzagen,

Fünf Akte lang hört ihr ihn sich beklagen,

Und niemand, der den Gnadenstoß ihm gibt.

Das wahre Tier, das wilde, schöne Tier,

Das – meine Damen! – sehn Sie nur bei mir.

Sie sehen den Tiger, der gewohnheitsmäßig,

Was in den Sprung ihm läuft, hinunterschlingt;

Den Bären, der, von Anbeginn gefräßig,

Beim späten Nachtmahl tot zu Boden sinkt;

Sie sehn den kleinen amüsanten Affen

Aus Langeweile seine Kraft verpaffen;

Er hat Talent, doch fehlt ihm jede Größe,

Drum kokettiert er frech mit seiner Blöße;

Sie sehn in meinem Zelte, meiner Seel',

Sogar gleich hinterm Vorhang ein Kamel! –

Und sanft schmiegt das Getier sich mir zu Füßen,

Wenn – er schießt ins Publikum – donnernd mein Revolver knallt.

Rings bebt die Kreatur; ich bleibe kalt –

Der Mensch bleibt kalt! – Sie ehrfurchtsvoll zu grüßen.

Hereinspaziert! – Sie traun sich nicht herein? –

Wohlan, Sie mögen selber Richter sein!

Sie sehn auch das Gewürm aus allen Zonen:

Chamäleone, Schlangen, Krokodile,

Drachen und Molche, die in Klüften wohnen.

Gewiß, ich weiß, Sie lächeln in der Stille

Und glauben mir nicht eine Silbe mehr –

er lüftet den Türvorhang und ruft in das Zelt

He, Aujust! Bring mir unsre Schlange her!

Ein schmerbäuchiger Arbeiter trägt die Darstellerin der Lulu in ihrem Pierrotkostüm aus dem Zelt und setzt sie vor dem Tierbändiger nieder.

Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften,

Zu locken, zu verführen, zu vergiften –

Zu morden, ohne daß es einer spürt.

Lulu am Kinn krauend

Mein süßes Tier, sei ja nur nicht geziert!

Nicht albern, nicht gekünstelt, nicht verschroben,

Auch wenn die Kritiker dich weniger loben.

Du hast kein Recht, uns durch Miaun und Fauchen

Die Urgestalt des Weibes zu verstauchen,

Durch Faxenmachen uns und Fratzenschneiden

Des Lasters Kindereinfalt zu verleiden!

Du sollst – drum sprech' ich heute sehr ausführlich –

Natürlich sprechen und nicht unnatürlich!

Denn erstes Grundgesetz seit frühster Zeit

In jeder Kunst war Selbstverständlichkeit!

Zum Publikum

Es ist jetzt nichts Besondres dran zu sehen,

Doch warten Sie, was später wird geschehen:

Mit starkem Druck umzingelt sie den Tiger;

Er heult und stöhnt! – Wer bleibt am Ende Sieger?! –

Hopp, Aujust! Marsch! Trag sie an ihren Platz –

Der Arbeiter nimmt Lulu quer auf die Arme; der Tierbändiger tätschelt ihr die Hüften.

Die süße Unschuld – meinen größten Schatz!

Der Arbeiter trägt Lulu ins Zelt zurück.

Und nun bleibt noch das Beste zu erwähnen:

Mein Schädel zwischen eines Raubtiers Zähnen.

Hereinspaziert! Das Schauspiel ist nicht neu,

Doch seine Freude hat man stets dabei.

Ich wag' es, ihm den Rachen aufzureißen,

Und dieses Raubtier wagt nicht zuzubeißen.

So schön es ist, so wild und buntgefleckt,

Vor meinem Schädel hat das Tier Respekt!

Getrost leg' ich mein Haupt ihm in den Rachen;

Ein Witz – und meine beiden Schläfen krachen!

Dabei verzicht' ich auf des Auges Blitz;

Mein Leben setz' ich gegen einen Witz;

Die Peitsche werf' ich fort und diese Waffen

Und geb' mich harmlos, wie mich Gott geschaffen. –

Wißt ihr den Namen, den dies Raubtier führt? – –

Verehrtes Publikum – – Hereinspaziert!!

Der Tierbändiger tritt unter Zimbelklängen und Paukenschlägen in das Zelt zurück.

Erster Aufzug

Geräumiges Atelier. – Rechts hinten Entreetür, rechts vorn Seitentür zum Schlafkabinett. In der Mitte ein Podium. Hinter dem Podium eine spanische Wand. Vor dem Podium ein Smyrnateppich. Links vorn zwei Staffeleien. Auf der hintern das Brustbild eines jungen Mädchens. Gegen die vordere lehnt eine umgekehrte Leinwand. Vor den Staffeleien, etwas gegen die Mitte vorn, eine Ottomane. Darüber Tigerfell. Rechts an der Wand zwei Sessel. Im Hintergrund eine Trittleiter.

Erster Auftritt

Schwarz und Schön.

Schönauf dem Fußende der Ottomane sitzend, mustert das Brustbild auf der hinteren Staffelei Wissen Sie, daß ich die Dame von einer ganz neuen Seite kennen lerne?

SchwarzPinsel und Palette in der Hand, steht hinter der Ottomane Ich habe noch niemanden gemalt, bei dem der Gesichtsausdruck so ununterbrochen wechselte. – Es war mir kaum möglich, einen einzigen Zug dauernd festzuhalten.

Schönauf das Bild deutend, ihn ansehend Finden Sie das darin?

Schwarz Ich habe das Erdenklichste getan, um durch meine Unterhaltung während der Sitzungen wenigstens etwas Ruhe in der Stimmung hervorzurufen.

Schön Dann verstehe ich den Unterschied.

Schwarztaucht den Pinsel ins Ölnäpfchen und überstreicht die Gesichtszüge.

Schön Glauben Sie, es wird dadurch ähnlicher?

Schwarz Man kann nicht mehr tun als es mit der Kunst so gewissenhaft wie möglich nehmen.

Schön Sagen Sie mal...

Schwarzzurücktretend Die Farbe ist auch wieder etwas eingeschlagen.

Schönihn ansehend Haben Sie jemals in Ihrem Leben ein Weib geliebt?

Schwarzgeht auf die Staffelei zu, setzt eine Farbe auf und tritt auf der anderen Seite zurück Der Stoff ist noch nicht genügend abgehoben. Man sieht noch nicht recht, daß ein lebender Körper darunter ist.

Schön Ich zweifle nicht daran, daß die Arbeit gut ist.

Schwarz Wenn Sie hierhertreten wollen.

Schönsich erhebend Sie müssen ihr wahre Schauergeschichten erzählt haben.

Schwarz So weit wie möglich zurück.

Schönzurücktretend, stößt die an die vordere Staffelei gelehnte Leinwand um Pardon...

Schwarzden Rahmen aufhebend O bitte...

Schönbetroffen Was ist das...

Schwarz Kennen Sie sie?

Schön Nein.

Schwarzsetzt das Bild auf die Staffelei. Man sieht eine Dame als Pierrot gekleidet mit einem hohen Schäferstab in der Hand Ein Kostümbild.

Schön Die ist Ihnen aber gelungen.

Schwarz Sie kennen sie?

Schön Nein. Und in dem Kostüm?

Schwarz Es fehlt noch die ganze Ausführung.

Schön Na ja.

Schwarz Was wollen Sie? Während sie mir steht, habe ich das Vergnügen, ihren Mann zu unterhalten.

Schön Sagen Sie...

Schwarz Über Kunst natürlich, um mein Glück zu vervollständigen.

Schön Wie kommen Sie denn zu der reizenden Bekanntschaft?

Schwarz Wie man dazu kommt. Ein steinalter, wackliger Knirps fällt mir hier herein, ob ich seine Frau malen könne. Nun natürlich, und wenn sie runzlig wie Mutter Erde ist. Andern Tags Punkt zehn fliegen die Türen auf, und der Schmerbauch treibt dies Engelskind vor sich her. Ich fühle jetzt noch, wie mir die Knie schwankten. Ein stocksteifer, saftgrüner Lakai mit einem Paket unter dem Arm. Wo die Garderobe sei? Denken Sie sich meine Lage. Ich öffne die Tür da nach rechts deutend. Nur ein Glück, daß schon alles in Ordnung war. Das süße Geschöpf huscht hinein, und der Alte postiert sich als Schanzkorb davor. Zwei Minuten darauf tritt sie in diesem Pierrot heraus. Den Kopf schüttelnd Ich habe nie so was gesehen. Geht nach rechts und starrt an die Schlafzimmertür hin.

Schönder ihm mit dem Blick gefolgt Und der Schmerbauch steht Schildwache?

Schwarzsich umwendend Der ganze Körper im Einklang mit dem unmöglichen Kostüm, als wäre er darin zur Welt gekommen. Ihre Art, die Ellbogen in die Taschen zu vergraben, die Füßchen vom Teppich zu heben – mir schießt oft das Blut zu Kopf...

Schön Das sieht man dem Bild an.

Schwarzkopfschüttelnd Unsereiner, wissen Sie...

Schön Hier führt das Modell die Konversation.

Schwarz Sie hat den Mund noch nicht aufgetan.

Schön Ist's möglich!

Schwarz Erlauben Sie, daß ich Ihnen das Kostüm zeige.

Nach rechts ab.

Schönallein, vor dem Pierrot Eine Teufelsschönheit. Vor dem Brustbild Hier ist mehr Fond. Nach vorn kommend Er ist noch etwas jung für sein Alter.

Schwarzkommt mit einem weißen Atlaskostüm zurück Was das für ein Stoff sein mag?

Schönden Stoff befühlend Atlas.

Schwarz Und alles in einem Stück.

Schön Wie kommt man denn da hinein?

Schwarz Das kann ich Ihnen nicht sagen.

Schöndas Kostüm bei den Beinen nehmend Diese riesigen Hosenpfeifen!

Schwarz Die linke rafft sie hinauf.

Schönauf das Bild sehend Bis übers Knie!

Schwarz Sie macht das zum Entzücken.

Schön Und transparente Strümpfe?

Schwarz Die wollen nämlich gemalt sein.

Schön Oh, das können Sie.

Schwarz Dabei von einer Koketterie!

Schön Wie kommen Sie auf den entsetzlichen Verdacht?

Schwarz Es gibt Dinge, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt. Trägt das Kostüm in sein Schlafzimmer.

Schönallein Wenn man schläft...

Schwarzkommt zurück, sieht nach der Uhr Wenn Sie übrigens ihre Bekanntschaft machen wollen...

Schön Nein.

Schwarz Sie müssen im Augenblick hier sein.

Schön Wie oft wird denn die Dame noch sitzen müssen?

Schwarz Ich werde die Tantalusqual wohl noch ein Vierteljahr zu erdulden haben.

Schön Ich meine die andere.

Schwarz Entschuldigen Sie. Dreimal höchstens. Ihn zur Türe geleitend Wenn mir die Dame dann nur ihre Taille dalassen will!

Schön Mit Vergnügen. Lassen Sie sich bald wieder bei mir sehen. Stößt in der Tür auf Dr. Goll und Lulu. In Gottes Namen!

Zweiter Auftritt

Dr. Goll. Lulu. Die Vorigen.

Schwarz Darf ich vorstellen...

Gollzu Schön Was treiben denn Sie hier?

SchönLulu die Hand küssend Frau Medizinalrat.

Lulu Sie wollen doch nicht schon gehen?

Goll Welcher Wind führt denn Sie hierher?

Schön Ich habe mir das Bild meiner Braut angesehen.

Lulunach vorn kommend Ihre Braut ist hier?

Goll Sie lassen hier also auch arbeiten?

Luluvor dem Brustbild Sieh da! Bezaubernd! Entzückend!

Gollsich umsehend Sie halten sie wohl hier irgendwo versteckt?

Lulu Das ist also das süße Wunderkind, das Sie zu einem Menschen gemacht...

Schön Sie sitzt meistens am Nachmittag.

Goll Und davon erzählen Sie einem nichts?

Lulusich umwendend Ist sie denn wirklich so ernst?

Schön Wohl noch die Nachwirkung der Pensionszeit, gnädige Frau.

Gollvor dem Brustbild Man sieht, daß Sie eine tiefgehende Wandlung durchgemacht haben.