Flucht vor der großen Liebe - Helga Winter - E-Book

Flucht vor der großen Liebe E-Book

Helga Winter

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Beschreibung

82 Seiten dramatische Handlungsverläufe, große Emotionen und der Wunsch nach Liebe und familiärer Geborgenheit bestimmen die Geschichten der ERIKA-Reihe - authentisch präsentiert, unverfälscht und ungekürzt! Als sie sich kennenlernten, ahnte Prilia Kerksen nicht, daß er verheiratet war. Vieles wäre dann anders gekommen… Es begann im Theater. Das Mädchen saß auf dem Platz, den ihr die Freundin geschenkt hatte, und nahm anfangs keine Notiz von dem Mann im eleganten Smoking, der neben ihr saß. Und vielleicht hätten sie sich niemals kennengelernt, wenn ihr nicht das Programmheft vom Schoß geglitten wäre. Dr. Matty Corden bückte sich, bevor sie es greifen konnte und reichte es ihr mit einem Lächeln. Das Lächeln, das bezaubernde, etwas arrogante Lächeln, erstarrte auf seinem Gesicht, als er zum erstenmal Prilia in die Augen schaute. Er konnte seinen Blick nicht abwenden, so schön, so unendlich rührend und ergreifend war das junge Antlitz unter der Fülle des blonden Haares. Auch Prilias Lächeln verschwand. Es kostete sie eine gewaltige Anstrengung, den Kopf zu senken. Ihre Hände, die das Programmheft entgegennahmen, zitterten leicht. »Ich danke Ihnen.« War das überhaupt noch ihre Stimme? Sie klang heiser und belegt. Ein unsichtbarer Strom ging von Mensch zu Mensch, der sie auf seltsame Weise verband und ihnen verriet, daß sie ihrem Schicksal begegnet waren. So fing es an. Ganz harmlos und ohne eine Täuschungsabsicht, ganz zufällig. Matty Corden trug keinen Ring. Als Arzt störte es ihn bei der Arbeit, und Prilias Herz schlug schneller, als sie es bemerkte. Vergeblich versuchte sie sich nach dem Dunkelwerden auf das Geschehen auf der Bühne zu konzentrieren, es gelang ihr nicht. Sie spürte ein Herz an ihrer Seite fragen und verwünschte ihr eigenes, das antwortete, das bebte und zuckte, wenn sich ihre Arme

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Erika Roman – 8–

Flucht vor der großen Liebe

Helga Winter

Als sie sich kennenlernten, ahnte Prilia Kerksen nicht, daß er verheiratet war. Vieles wäre dann anders gekommen…

Es begann im Theater. Das Mädchen saß auf dem Platz, den ihr die Freundin geschenkt hatte, und nahm anfangs keine Notiz von dem Mann im eleganten Smoking, der neben ihr saß.

Und vielleicht hätten sie sich niemals kennengelernt, wenn ihr nicht das Programmheft vom Schoß geglitten wäre. Dr. Matty Corden bückte sich, bevor sie es greifen konnte und reichte es ihr mit einem Lächeln.

Das Lächeln, das bezaubernde, etwas arrogante Lächeln, erstarrte auf seinem Gesicht, als er zum erstenmal Prilia in die Augen schaute. Er konnte seinen Blick nicht abwenden, so schön, so unendlich rührend und ergreifend war das junge Antlitz unter der Fülle des blonden Haares.

Auch Prilias Lächeln verschwand. Es kostete sie eine gewaltige Anstrengung, den Kopf zu senken. Ihre Hände, die das Programmheft entgegennahmen, zitterten leicht.

»Ich danke Ihnen.« War das überhaupt noch ihre Stimme? Sie klang heiser und belegt.

Ein unsichtbarer Strom ging von Mensch zu Mensch, der sie auf seltsame Weise verband und ihnen verriet, daß sie ihrem Schicksal begegnet waren.

So fing es an. Ganz harmlos und ohne eine Täuschungsabsicht, ganz zufällig.

Matty Corden trug keinen Ring. Als Arzt störte es ihn bei der Arbeit, und Prilias Herz schlug schneller, als sie es bemerkte. Vergeblich versuchte sie sich nach dem Dunkelwerden auf das Geschehen auf der Bühne zu konzentrieren, es gelang ihr nicht. Sie spürte ein Herz an ihrer Seite fragen und verwünschte ihr eigenes, das antwortete, das bebte und zuckte, wenn sich ihre Arme zufällig einmal berührten.

Matty Cordens Mund war trocken geworden, während sich die Innenflächen seiner Hände mit kaltem Schweiß bedeckten. Er war verheiratet mit einer reizenden Frau, aber er wußte nicht, was Liebe war. Er mochte Saryn gern, er hatte sie geheiratet, weil er damals mehr für sie empfand als für irgendeine andere Frau, und weil er spürte, daß er für sie alles war.

Er war überzeugt, daß sein eigenes Gefühl Liebe war. Er hätte nur gelacht, wenn ihm jemand prophezeit hätte, daß er sich einmal in ein Mädchen verlieben würde, das er nur einmal anschaute, von dem er gar nichts wußte, als daß es braune Augen und blondes Haar hatte.

Matty schloß die Augen und versuchte seine Gedanken auf Saryn zu konzentrieren. Er versuchte sich vorzustellen, was sie im Moment machte, aber es wollte ihm nicht gelingen.

An Stelle ihres Gesichtes schob sich ein Röntgenbild vor sein geschlossenes Auge, das er heute morgen hatte anfertigen lassen. Er war Lungenfacharzt, er wußte, was die Schatten auf dem Bilde bedeuteten. Sie waren ein Todesurteil. Niemand konnte ihr helfen, den Verfall ihres Körpers zu stoppen. Sie war unrettbar verloren, und nur er wußte es.

Bald würde er frei sein…

Gewaltsam versuchte er diesen Gedanken zurückzudrängen. Er wünschte ihr das Leben, an dem sie hing, er wünschte, daß sie der kleinen Helga erhalten blieb. Und doch wußte er, daß dieser Wunsch niemals in Erfüllung gehen konnte. Nur noch einige Monate…

An seiner Seite saß ein Mädchen, dessen Gesicht das Saryns verdrängte, das er Zug um Zug kannte, obwohl er es nur ein einziges Mal für Sekunden angeschaut hatte. Es war das Bild einer Sehnsucht, die er verborgen in seinem Herzen getragen und von der er bewußt nichts geahnt hatte.

Er begann zu träumen, während die Klänge der Musik an seinem Ohr vorüberrauschten. Er sah die Fremde vor dem Kamin seines Zimmers stehen, sah, wie sie in einem Sessel saß und in einem Buch blätterte… er sah sie in allen Situationen, in denen sich jetzt seine Frau befand…

Noch befand…

Seine Gedanken waren ein Verrat an der Frau, die ihn liebte, die ihm jeden Wunsch von den Augen ablas. Sie hatte ein Recht auf ihn, das größer war als nur der Anspruch durch den Trauschein.

Saryn liebte ihn, sie hatten ein Kind, ein reizendes Mädelchen, aber er saß hier und träumte von einer anderen, die er nicht kannte, die vielleicht ganz anders war, als er dachte.

Prilia schaute nicht zur Seite, als das Licht im Theater wieder aufleuchtete. Sie spürte den Blick des neben ihr sitzenden Mannes auf sich. Eine feine Röte färbte ihre Wangen und verlieh ihrem Gesicht eine Süße, die Matty alle Bedenken vergessen ließ.

War es denn wirklich so schlimm, wenn er an dieses Mädchen dachte? Saryn würde sterben, und niemand konnte von ihm verlangen, daß er ihr ein ganzes Leben lang nachtrauerte. Und Helga brauchte eine Mutter, die sich ihrer annahm, die für sie sorgte, wie es Saryn doch niemals richtig gekonnt hatte.

Seit drei Jahren war sie krank…

Es war trotz allem ein Verrat. Matty Corden verkrampfte seine Hände und erhob sich dann. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, als er sich durch die Reihen in der Pause sitzengebliebener Menschen drängte, und dann holte er sich, ohne die neugierigen Blicke der anderen zu beachten, seine Garderobe.

Er mußte hinaus, er mußte jetzt frische Luft atmen, er mußte versuchen, dieses Mädchen, dessen Anblick eine ganz eigene Saite in seinem Innern berührte, zu vergessen.

Er war doch verheiratet! Und er war kein Schuft! Wenn er auch Saryn nicht so liebte wie sie ihn, so hatte sie doch Anspruch auf sein ganzes Herz. Sie war zu schade, um mit einer gleichgültigen Fremden betrogen zu werden.

Gleichgültig? Matty wußte, daß dieses Mädchen sein Schicksal hätte werden können, wenn er nicht vor ihr die Flucht ergriffen. Ja, es war eine Flucht, wenn er es sich selbst auch nicht eingestehen wollte.

Eine Flucht vor einem Bilde, das er im Herzen trug.

War sie wirklich möglich?

*

Saryns Gesicht strahlte auf, als er, früher als sie geglaubt hatte, ihr Zimmer betrat. Sie erriet seine Verstimmung, ahnte aber nicht im geringsten den wahren Grund.

»Das Theater war heute ja sehr früh aus. Bleibst du noch etwas bei mir? Natürlich nur, wenn du nicht zu müde bist.«

Matty ließ sich auf der Kante ihres Bettes nieder und nahm ihre schlanken Finger in seine kräftige Hand. Unbewußt streichelte er die weiche Haut. Es war, als wolle er durch diese Geste die Gedanken abbitten, die ihn gegen seinen Willen die letzten Stunden beschäftigt hatten.

Frau Saryn schaute entspannt, mit glücklichem Lächeln zu ihm hoch. Matty hatte nur wenig Zeit für ein Familienleben, als Chefarzt des großen Sanatoriums war er mit Arbeit überlastet, aber bisher hatte sie noch kein einziges Mal Ursache gehabt, sich über eine Vernachlässigung zu beklagen.

Wie häufig hatte er ihr Blumen oder eine Schachtel Konfekt mitgebracht, und sie wußte, daß diese kleinen Geschenke nicht nur eine Aufmerksamkeit bedeuten sollten, sondern ein Dank an sie waren.

Heute hatte er allerdings nichts, er war mit leeren Händen eingetreten, aber sie umschlossen dafür ihre Finger, und das war das schönste Geschenk für die stillgewordene junge Frau.

Drei Jahre lag sie jetzt zur Untätigkeit verdammt im Zimmer oder auf dem breiten Balkon im Liegestuhl. Nach zweijähriger Ehe war die Krankheit gekommen und trotz aller Versuche Mattys, sie in der Entstehung zu bekämpfen, war doch alles vergeblich geblieben.

Der Mann schaute auf einen Punkt auf der Bettdecke, während er automatisch die fieberheißen Hände seiner jungen Frau streichelte.

Es war gut, daß sie nicht ahnte, wie schwer krank sie in Wirklichkeit war. Hoffentlich erfuhr sie es auch nicht in den nächsten Monaten. Er wünschte ihr, daß der Tod sie plötzlich und auch schmerzlos überfallen möge.

»Es wäre schön, wenn Helga hier sein könnte«, klang die weiche Stimme Saryns an sein Ohr. »Manchmal kann ich es vor Sehnsucht nach ihr kaum aushalten. Ich weiß natürlich, daß es nicht geht, aber das dumme Herz ist unvernünftig, es sehnt sich trotz allem nach etwas, das nicht erfüllt werden darf.«

Matty schaute auf sie hinab. »Ja, Saryn«, erwiderte er schwer, »das dumme Herz ist ein eigen Ding. Aber wir haben ja Gott sei Dank Verstand genug, um es zu bezwingen.«

Die Frau horchte auf. Ein schmerzlicher Zug lag ganz plötzlich um ihre Mundwinkel, und sie wandte den Kopf ein wenig zur Seite. Auf dem langen Krankenlager war ihr Ohr geschärft worden für die feinen Zwischentöne in der Stimme eines Menschen.

Matty war unzufrieden, er wünschte sich etwas, das er nicht bekommen konnte. Er war verheiratet und hatte doch eigentlich keine Frau.

Zwei Tränen rannen über ihre Wangen und tropften auf das blütenweiße Kissen. Sie hätte alles für Matty tun können, sie liebte ihn mit einer Kraft der Empfindung, von der er nichts ahnte, und war doch vollkommen hilflos.

Sie konnte gar nichts tun, als nur still liegen und nicht klagen. Ja, das war das einzige, was sie ihrem Mann Liebes tun konnte: nicht klagen.

Und Matty dankte es ihr. Kam er müde und abgespannt über den Flur gegangen, so empfing sie ihn mit einem frohen Lächeln, dem niemand ansehen konnte, wie schwer es ihr fiel. Hier, in seinen vier Wänden, in seinem Heim, sollte er vergessen, daß er eine kranke Frau hatte.

Hier sollte er wirklich ausruhen.

»Du bist eine tapfere Frau, Saryn. Ich bewundere dich, weißt du das?«

Die junge Frau riß sich zusammen. Geräuschvoll putzte sie sich die Nase und wischte dann das verdächtige Naß aus den Augenwinkeln. Matty sagte, daß er sie bewunderte. Ja, das mochte vielleicht wahr sein, er achtete sie, er schätzte sie – nur lieben tat er sie nicht.

Sie zog seine Hand an ihre Wange und ließ sie dort still verharren. Es wäre auch zu viel des Glücks gewesen, wenn dieser Mann sie so liebte wie sie ihn.

*

Am nächsten Morgen galt Matty Cordens erster Blick in seinem Arbeitszimmer wieder den Röntgenaufnahmen, die ihm alles über den Gesundheitszustand seiner Frau verrieten. Lange hielt er sie gegen das helle Tageslicht, und als er sie wieder in den großen gelben Umschlag schob, kam ihm unwillkürlich ein tiefer Seufzer aus der Brust.

Sein Assistent Dr. Winter, ein Mann von dreißig Jahren, mit klugen, energischen Zügen, horchte bei diesem Geräusch auf. Doch als er die Aufschrift auf dem Kuvert sah, ahnte er den Zusammenhang. Er war nicht neugierig, doch trotzdem zog er nach dem Fortgang Mattys den Film ans Licht. Sein Chef war verschlossen, er sprach mit seinen Mitarbeitern nicht über persönliche Dinge.

Seine schlimmsten Befürchtungen wurden noch überboten, als er die Röntgenaufnahmen prüfte. Jetzt verstand er, weshalb der sonst ausgeglichene Corden in den letzten Monaten manchmal so gereizt war, weshalb es ihm sichtlich schwer fiel, stets seine Ruhe und Gelassenheit zu bewahren!

Er lebte an der Seite einer Frau, die dem Tode verfallen war und mußte ihr doch stets ein fröhliches Gesicht zeigen, mußte lächeln und heucheln, während er doch wußte, wie bald der Platz leer sein würde, den sie einnahm. Das Geschehen erschütterte ihn. Wie viele Menschen, die Saryn kannten, hatte er eine tiefe Achtung, die fast an Ehrfurcht grenzte, vor der Frau seines Chefs.

Ob sie ganz ahnungslos war oder vielleicht doch irgendwie spürte… Wenn es nur ein wirksames Heilmittel geben würde!

Bei der Vormittagsvisite forderte Matty ihn ganz nebenbei auf, die Mittagsmahlzeit in seiner Gesellschaft einzunehmen. Das war eine große Auszeichnung, denn Matty liebte die Stunde der Besinnung, die dem Essen zu folgen pflegte.

Dr. Winter kannte jetzt den Grund der Einladung und staunte auch nicht, als sein Chef ihm vorschlug, doch jeden Mittag mit ihnen zu essen. »Meine Haushälterin kocht besser als die große Küche«, gab er als Begründung an, aber Ernst Winter spürte, daß er sich fürchtete, mit seiner Frau allein zu sein.

Es mußte unsagbar schwer sein, an der Seite einer Todkranken zu leben und Fröhlichkeit zu heucheln, ohne daß sie die Täuschung durchschaute. Und bisher war sie noch ahnungslos, das glaubte Winter zu erkennen, als er in ihre gelassenen Augen schaute. So ruhig wie sie war kein Mensch, der wußte, daß der Sensenmann auf ihn wartete.

»Von dem Wohltätigkeitsball wird ja schon viel geschrieben«, meinte Frau Saryn. »Dabei dauert es doch noch Monate, bis es soweit ist.«

»Freuen Sie sich auch schon darauf, gnädige Frau?« fragte Winter mit etwas verzerrtem Lächeln. Er mied den Blick der Frau und beschäftigte sich eifrig mit seinem Pudding.

Frau Saryn lächelte. »Ich werde den Ball nicht besuchen, Dr. Winter. Vielleicht…«

Die beiden Männer hoben gleichzeitig den Kopf und blickten sich den Bruchteil einer Sekunde stumm an. »Was weiß sie?« stand in ihren Augen.

Ein schmerzlicher Zug legte sich über das Gesicht der jungen Frau, der das Augenspiel durchaus nicht entgangen war.

»Bis dahin sind Sie ganz bestimmt gesund«, versicherte Winter mit etwas hastigem Eifer und schüttelte noch bekräftigend seinen Kopf. »Noch zwei oder drei Monate, was kann bis dahin alles geschehen!«

Frau Saryn nickte ihm lächelnd zu. »Sie müssen es besser wissen als ich«, meinte sie vielsagend.

»Ich kenne Ihren Befund und weiß deshalb, daß…«, ein unmerkliches Stocken, das aber der geschärften Aufmerksamkeit der jungen Frau nicht entging, bevor er fortfuhr – »daß Sie bestimmt daran teilnehmen werden.«

»Es wäre schön.« Ein träumerischer Glanz trat in die Augen der kranken Frau: Sie dachte an die Feste, die sie an der Seite des Gatten erlebt hatte, an die Tänze, an den Frohsinn und das Lachen, das auf seinem Gesicht war.

Doch das lag zurück, lag Jahre zurück. Seit langem hätte sie keinen Ball mehr besucht, im Bett gelegen. Wenn Matty in Erfüllung seiner gesellschaftlichen Pflichten allein gegangen war.

Quälende Bilder standen dann vor ihren Augen, sie sah ihn andere Frauen im Arm halten. Sie sah sein Lächeln, mit dem er sie einst betörte, und das jetzt anderen galt.

»Es wäre wirklich schön«, wiederholte sie leise, und eine solche Sehnsucht klang in ihrer Stimme mit, daß die Männer erschüttert waren.

»Du wirst die schönste Frau sein«, verhieß Matty lächelnd und strich über ihren Handrücken. »Ich freue mich schon darauf!«

Der Blick Frau Saryns schien in seinem Herzen lesen zu wollen, und der Mann fühlte sich sehr unbehaglich in seiner Haut.

Ahnte sie etwas? Die Frau hatte sich gut in der Gewalt, aber trotzdem war ihr Lächeln jetzt anders geworden. Es lag ein Zug der Wehmut darin, der Matty verriet, daß sie ihm nicht glaubte.

Ich werde, ihr ein Kleid schenken, nahm er sich in diesem Moment vor, das wird sie besser als Worte von der Aufrichtigkeit meiner Behauptung überzeugen!

Matty wußte nicht, daß Prilia Kerksen Schneiderin im ersten Modehaus des Städtchens war, in dem Frau Saryn ihre Kleider zu kaufen pflegte. Er versuchte, das Mädchen zu vergessen, aber mehr als einmal ertappte er sich dabei, daß er neben dem blassen Gesicht Saryns ein anderes erblickte, das voller Leben war.

Weil Saryn Corden so schwer krank war, machte Matty Corden sich am Nachmittag auf, um im Modesalon Köhler persönlich ein Kleid auszusuchen.

War es Zufall oder war es tatsächlich mehr, daß er als Trost für seine todkranke Frau ausgerechnet in dieses Haus kam?

*

Prilia Kerksen dachte noch manches Mal an den interessanten Mann, mit dem sie nur wenige Worte gewechselt hatte.

»Reiß dich zusammen, Prilia!« rief sie sich zur Ordnung, als sie sich einige Tage nach dem Theaterabend wieder einmal beim Träumen ertappte. Schließlich war sie kein Backfisch mehr und wußte, daß Märchenprinzen für sie nicht in Frage kamen.

Wenn sie sich einmal verheiraten sollte, dann würde es sicherlich ein Beamter oder Angestellter sein, aber kein Mensch aus den Kreisen, in denen sie früher verkehrt hatte.

Das Früher lag lange zurück – zwar nur einige Jahre, aber die Welt hatte sich in dieser kurzen Zeit so grundlegend geändert, wie es sonst nur in Jahrzehnten möglich war.

Doch noch immer lag das weiche, ihr Gesicht unerhört verschönende Lächeln auf ihren Zügen, als die Leiterin des Geschäfts eintrat und sie bat, in den Verkaufsraum zu kommen. »Fräulein Holzinger wird mit dem Kunden einfach nicht fertig, und ich, ehrlich gestanden, auch nicht. Versuchen Sie doch einmal, ihn zu beraten.«

Prilia nickte und legte die Schere aus der Hand.

Im Eingang erstarrte sie. Ihre Augen wurden groß, das Zentimetermaß, das sie in der Hand hielt, fiel zu Boden, ohne daß sie es überhaupt bemerkte.

Dem Mann erging es ähnlich. Ein aufmerksamer Beobachter hätte sogar bemerken können, daß ihm eine leise Röte ins Gesicht gestiegen und ein neuer Glanz in seine Augen getreten war.

»Sie?« fragten beide wie aus einem Munde. Und dann begrüßten sie sich unwillkürlich mit eitlem warmen Lächeln, das ganz spontan aus ihrem Herzen kam.

»Sie kennen sich?« fragte die Chefin und kam lächelnd näher. »Das ist ja sehr schön, Sie werden dem Herrn Doktor sicherlich das Richtige empfehlen können.«

Matty sagte gar nichts. Die unverhoffte Begegnung freute ihn wie selten ein Ereignis. Ihr Gesicht war noch viel reizvoller, als er es in Erinnerung hatte. Was für schöne, sprechende Augen besaß sie!

»Sie wünschen?«

Der Arzt zuckte zusammen. Unwillkürlich begann er an seiner Unterlippe zu nagen. Er wollte ein Kleid für seine Frau kaufen.

Er mußte also jetzt diesem Mädchen sagen, daß er verheiratet war. Warum eigentlich auch nicht? Er trug zwar keinen Ring, es störte ihn bei seiner Tätigkeit, aber immerhin…

»Ein Kleid. Für… für meine Schwester. Sie hat ungefähr Ihre Größe, nur dunkleres Haar.«

Die Inhaberin des Modehauses schüttelte nur den Kopf. Vor wenigen Minuten noch hatte er von einem Kleid für seine Frau gesprochen, und jetzt sollte es für eine Schwester sein, obwohl er gar keine hatte…

Dann schaute sie in das Gesicht des Mädchens und begann zu ahnen, weshalb der Mann gelogen hatte. Es lag ihr schon auf der Zunge, ihn zu berichtigen, aber dann unterließ sie es doch. Er war ein guter Kunde, und sie durfte ihn nicht brüskieren.

Mit reizendem Lächeln legte Prilia ihm einige Modelle vor, und Matty zeigte auf das dritte in der Reihe. »Das nehme ich. Schicken Sie es mir in die Klinik.«

Das Mädchen faltete behutsam das kostbare Stück zusammen. Sie war über sich selbst wütend, daß ihr Herz so schnell und unvernünftig schlug, aber es war nun einmal eine Tatsache, daß sie sehr verlegen war. Warum nur schaute er sie so an?

Mit niedergeschlagenen Augen ging sie an ihm vorbei, stolperte dann aber über eine Falte des Läufers, und das kostbare Kleid fiel zu Boden.

Sie bückten sich gleichzeitig. Den Bruchteil einer Sekunde berührten sich ihre Hände, als Matty ihr das Kleid wieder über den Arm legte, es durchfuhr sie, als ob sie heißes Eisen angefaßt hätte.

Prilia begann geradezu ein wenig zu zittern und lief davon wie ein gehetztes Wild.

Der Arzt stand im Verkaufsraum und schaute ihr mit leuchtenden Augen nach. Er hatte ganz vergessen, daß er nicht allein war, und erst die Frage der Chefin nach weiteren Wünschen brachte ihn wieder zur Besinnung.

»Danke schön, nichts weiter.«

Er sah Prilia nicht mehr. Als er an der Kasse den erheblichen Betrag bezahlte, war sie schon in den hinteren Räumen verschwunden. Es nützte ihm nichts, daß er unschlüssig seine Handschuhe an- und auszog, einmal mußte er doch den Modesalon verlassen.

Ziellos wanderte er durch die Straßen. Obwohl das Wetter recht unfreundlich war, hatte er den Hut abgenommen und genoß fast den Regen, der ihm ins Gesicht peitschte.

Ihm war heiß geworden. Ohne etwas von der Umgebung wahrzunehmen, eilte er durch die schönen Parkanlagen des Städtchens. Wenn er nicht verheiratet wäre… Sein Fuß stockte. Wenn er nicht verheiratet wäre, was dann? Die Antwort war leicht, er hatte sie sich schon manches Mal gegeben, ohne sich der Frage überhaupt bewußt geworden zu sein.

Er würde versuchen, dieses Mädchen näher kennenzulernen, ihr etwas zu bedeuten, wenn vielleicht auch nicht das gleiche, was sie ihm war. »Wenn ich nicht verheiratet wäre…«

Mit einem Aufstöhnen sank Matty Corden auf eine Bank am Wege. Es war gemein, was er jetzt dachte. Ich bin nicht mehr lange verheiratet, vielleicht nur noch wenige Monate.

Man wartet nicht auf den Tod eines Menschen, man wünscht ihn nicht herbei! Und war seine Ehe mit Saryn denn etwa unglücklich? Keineswegs, mußte er als ehrlicher Mensch zugeben, wenn sie ihm auch nicht die letzte Erfüllung, nach der er sich gesehnt hatte, schenken konnte.

Nein, unglücklich war er nicht – aber auch nicht glücklich.

Ein Vierteljahr noch, dann war er wieder frei: Und wenn er frei war… warum sollte er dann nicht versuchen, sich diesem Mädchen zu nähern?

An ihrem Finger blitzte kein Ring. Verlobt war sie nicht. Noch ein Vierteljahr…

Matty Corden ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte er vor sich selbst ausgespuckt. Soweit war es also schon mit ihm gekommen, daß er die Monate zählte, bis er wieder frei war! Er versuchte, sich Saryns Bild vor sein Auge zu zwingen. Es gelang ihm nicht.

Sie war irgendwie schemenhaft, war viel unlebendiger als das zarte Mädchengesicht, von dem er oft geträumt und das so voll warmen, pulsierenden Lebens war.

Was aber, wenn sie in dieser Zeit einen Mann kennenlernte, in den sie sich verliebte? Ein Vierteljahr war lang, und vielleicht würde es noch länger dauern, bis…

Es war nicht der Regen, der ihn jetzt zusammenschauern ließ. Er sah einen schwarzen Sarg vor sich, der in feuchte Erde hineingesenkt wurde.

Nein, er wünschte es seiner kleinen, geduldigen Frau bestimmt nicht, daß sie sterben sollte. Aber solange sie lebte, stand sie zwischen ihm und der Möglichkeit, sich diesem Mädchen zu nähern.

Und wenn er ihr gar nicht sagte, daß er verheiratet war?

Matty sprang auf. Sie belügen… Später würde sie alles verstehen. Sie würde einsehen, daß er nur aus Liebe gelogen…

Er tat ja so, als wäre es schon seine feste Absicht, die Bekanntschaft und Freundschaft dieses fremden Mädchens zu suchen!

Der Mann stöhnte qualvoll auf. Er war kein Schuft, er war ein feinfühliger, sensibler Mensch, der Phantasie besaß, der sich in andere Menschen hineindenken konnte, der Mitgefühl hatte… und doch hatte ihn jetzt ein Gefühl übermannt, das alle Bedenken zurückwies, das ihn nur fürchten ließ, daß es in einigen Monaten vielleicht schon zu spät war, daß ein anderer das erlangt haben würde, was ihm jetzt noch verboten war.

Jetzt noch. Noch lebte seine Frau. Noch!

Monate noch, nicht länger als ein Vierteljahr…

Der Regen lief ihm in kleinen Rinnsalen in den Nacken, aber er spürte es nicht einmal. Es würde vielleicht möglich sein, die Zuneigung dieses Mädchens zu erringen. Und war es denn schlimm, wenn er ihr jetzt noch verschwieg, daß er verheiratet war?

Er stand vor der Tür des Modehauses, ohne zu wissen, wie er überhaupt dorthin gekommen war. Erst der bekannte Name auf der Scheibe erinnerte ihn daran, wo er sich eigentlich befand.

Prilia kam als erste. Einen Moment stand sie im Eingang und spannte den Regenschirm auf, bevor sie dann mit ihrem schwingenden, elastischen Gang die Straße hinunterging.

Mit Herzklopfen folgte ihr ­Matty. Er war plötzlich schüchtern wie ein Schüler und konnte sich einfach nicht aufraffen, das vor ihm gehende Mädchen anzusprechen.

Dann prallte er auf sie, er war nur zwei Meter hinter ihr gewesen und nicht darauf gefaßt, daß sie so plötzlich stehenblieb.

»Entschuldigen Sie!«

Prilia erbleichte bis in die Lippen. Die Hand, die den Schirm hielt, begann zu beben. Es war einfach ein Akt der Höflichkeit, so sagte das Mädchen sich später, daß er ihr den Griff aus der Hand nahm.

Es war eigentlich eine Selbstverständlichkeit, denn wieder waren ihre Finger kraftlos geworden.

Stumm schauten sich die beiden Menschen, die spürten, daß das Schicksal Fäden zwischen ihnen wob, in die Augen.

»Ich begleite Sie«, sagte Matty nach einer langen Pause und schob seinen Arm unter ihren.

Prilia schluckte. Doch der Einwand, der ihr schon auf der Zunge lag, kam nicht über ihre Lippen.

Im wunderbaren Gleichmaß schritten sie dahin.