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Ausgegraben aus den Tiefen der Geschichte, ursprünglich und hart wie Eis bis auf den Grund, dazu hochpolitisch und brandaktuell: Eriksland, das Schicksal der Wikinger auf Grönland, ihr Leben und Sterben, ihr Kampf um Selbstbehauptung, mit der Natur und gegen sie, und am Ende auch immer gegen die ganz anderen: Die Skrälinger ... Eriksland, eine riesige Geschichte, roh und karg und auf den Punkt, wie es dem Thema und dieser fernen Zeit entspricht, kein Wort zu viel, wild und rau, einfach und klar!
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Seitenzahl: 343
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Ein Roman aus einer verlorenen Welt
Andreas Venzke, geboren 1961 in Berlin. Gestern Student und Jobber, Raucher, Motorradfahrer, Gleitschirmflieger. Heute Dreifach-Vater, Häuslebauer, Langläufer, Museumsleiter, Hofschreiber. Lebt in Freiburg im Breisgau.
www.andreas-venzke.de
Vorwort
Erster Teil: Erik
Zweiter Teil: Bjarni
Dritter Teil: Ralf
Vierter Teil: Harald
Fünfter Teil: Sigrun
Eine Zeit war es, die währte fünfhundert Jahre, vielleicht nicht ganz so lang, vielleicht ein wenig länger. Sie begann im Jahr 982, ließ erst staunen und dann nichts mehr von sich hören. Sie verging für Menschen in einem Land, das war so abseits gelegen, dass es am Ende in Vergessenheit geriet. Von Grönland und seinen einstigen Bewohnern, den Nachfahren der Wikinger, handelt dieser Bericht. Er beginnt in den Österbäuen, ihrem Siedlungsgebiet im Süden der riesigen Insel, und fährt dann fort in den Westerbäuen, dem abgetrennten Siedlungsgebiet nördlich davon. Nach fünfhundert Jahren lief die Zeit für die wikingischen Ahnen auf Grönland ab. Sie schrien, viele wimmerten nur noch. In der Heimat der Vorfahren hörte es niemand mehr.
arald hieß ein junger Mann. Er hatte die Art seines Vaters Erik, der auf Grönland über die Österbäue herrschte. Harald war groß gewachsen wie die wertvollen Bäume, die im Sommer von Westen an Land trieben und die es auf Grönland nicht gab. Niemand warf den Speer weiter als er. Niemand konnte lauter schreien. Und niemand ritt gewandter, mit oder ohne Steigbügel. Er genoss auch das Vertrauen der Österbäuer, weit mehr als sein Vater Erik. Harald hatte noch nicht gelogen.
Es war an einem Tag im Sommer, in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts. Harald stand am Steuer eines der wenigen Schiffe, die noch für die Fahrt über das weite offene Meer geeignet waren. Schon die Nacht über, in der es jetzt kaum dunkelte, hatte er das Ruder gehalten. Die Wellen gingen brüllend hoch und nieder. Das Boot glitt auf und ab, als schleppte es ein Riese über Berg und Tal. Kein Land war in Sicht.
Nur Thord und Bjartmar hielten noch die Ruder. Alle anderen klammerten sich erschöpft an die Bänke und gaben acht, nicht über Bord zu gehen.
Harald schrie abwechselnd Thord und Bjartmar zu, wann sie zu pullen hatten. Er versuchte das Boot immer wieder so auszurichten, dass es die hohen Brecher schneiden konnte. Einmal hatte ein solcher Brecher das Boot getroffen. Es hatte standgehalten. Trotzdem konnte es jeder weitere Brecher wie Tuch zerreißen. Das Boot war alt und hatte seine Kraft längst verloren.
Während Harald schreiend auf den Wellen ritt, suchten seine Augen nach Land. Der Sturmwind kam aus der Richtung der aufgehenden Sonne. Dorthin waren sie vor Tagen gesteuert. Doch ausgerechnet die Sonne hatte sie verlassen, und nun konnten sie nur hoffen, wieder auf Grönland zu stoßen. So tief wie die Sonne stand, mussten sie auf der richtigen Breite sein.
Auf dem nassen Boden des Schiffes krümmte sich Ingolf. Wie ein Berserker nach dem Kampf hatten ihn alle Kräfte verlassen. Wenn Ingolf nicht am Leben bliebe, musste für die anderen die Hoffnung weiter sinken. Ingolf war Haralds Bruder. Er war für diese Fahrt einmal stark gewesen. Sonst war er schwach. Schon als Kind hatte er in jedem Wettkampf gegen Harald verloren, nur nicht beim Spiel auf dem Brett. Trotzdem war er es gewesen, der zu der Fahrt angestiftet hatte. Und er hatte auch Harald dafür begeistert. Wenn er Gelegenheit dazu hatte und Erik fern war, hatte er von den wunderbaren Erzeugnissen erzählt, die man im Osten haben konnte, von so fein gewirkter Kleidung, dass man sie beim Tragen kaum spürte, von Duftölen, Büchern, edlen Pferden, von Broschen, so trefflich gearbeitet, dass man ihre Verzierungen erst erkannte, wenn man genau hinsah.
Früher hieß es, dass Ingolf einmal die Führung in den Österbäuen übernehmen sollte. Doch das war Jahre her. Erik äußerte sich nicht mehr dazu, wen er als seinen Nachfolger wünschte. Obwohl Ingolf der älteste Sohn war, machten einige Österbäuer keinen Hehl daraus, dass sie sich Harald wünschten. Er war auch verwöhnt. Aber er war stark und hatte Stolz. An ihm hatte Erik immer mehr Freude gehabt als an Ingolf. Harald hatte von Anfang an begieriger und ohne Widerspruch gelernt, über die Kunst des Hausbaus, der Viehnutzung, des Gebrauchs von Bogen und Schwert. Wenn man vom Wissen über das Hoffen, Wünschen und Schwärmen absah, wusste Harald viel. Die Österbäuer dachten, dass Harald sie vielleicht zurück in den Osten führen könnte.
„Ingolf, geht es?“, rief Harald.
Ingolf nickte nur. Er hatte die Augen aufgerissen und starrte auf das Meer, das mit dem Schiff spielte wie ein Kind still mit seiner Puppe. Doch das Meer schrie und schnaufte.
„Er träumt von Federbetten in Norwegen“, sagte Thord und riss am Ruder.
„Schweig du, Knecht Thord!“, schrie Harald, als ein zweiter Brecher das Schiff traf.
Thorbjörn, der weit hinten im Alptafjord Frau und Hof und Kinder hatte, wurde aus dem Schiff gepflückt wie eine Beere vom Strauch. Er war ein starker Mann, und er hatte einmal eine tote Robbe, die versank, aus dem Meer geholt. Nun versuchte er verzweifelt, zum Schiff zu schwimmen. Alle sahen ihm atemlos zu.
Das Schiff knarrte klagend wie ein altes Weib, das den Tod empfängt. Doch hatte es auch diesem Schlag standgehalten.
„Pull du, Thord, pull!“, schrie Harald.
Thord hätte gestraft werden müssen. Doch war er außer Bjartmar der Einzige, der die Ruder noch bedienen konnte.
Harald musste das Schiff wieder ausrichten. Es war nur über Wasser zu halten, wenn er die Wellenberge schräg anfuhr. Das Schiff drehte sich mühsam um einige Grad, und es drehte sich fort von Thorbjörn. Der blieb nahe am Schiff und konnte es doch nicht erreichen. Thorbjörn hob immer wieder die Hand, damit man ihm einen Strick zuwerfe. Doch dazu war auf dem Schiff keiner in der Lage. Sie sahen nur alle zu ihm hin.
Als das Schiff wieder weit hochgehoben wurde, sahen sie in der Ferne Land. Es war, als hätte Thorbjörn mit dem letzten Handzeichen dorthin gezeigt. Er versank lautlos, und die Wellen bedeckten ihn wie ein Totenlaken.
Am Morgen trat Harald vor seinen Vater. Erik hatte schon von dem Unglück gehört. Thord war vorgelaufen und hatte ihm davon erzählt.
Erik stand in dem tiefen Raum seines Hauses am Feuer, das er zusammengeschürt hatte, und starrte in die lodernden Flammen. Obwohl Holz rar war, entfachte Erik immer ein großes Feuer. Es war Ausdruck seiner Macht.
„Wo ist Ingolfs Leiche?“, fragte er Harald und drehte ihm nicht den Kopf zu.
„Wir haben ihn hinter dem Haus ins Kühle gelegt“, antwortete Harald. „Es tut mir leid.“
„Ich habe vor der Fahrt gewarnt“, sagte Erik laut. „Und Ingolf wäre sowieso nicht zurückgekehrt. Er wäre wohl nach Rom gepilgert und hätte sich unter der heißen Sonne vergnügt.“
„Er hat am Anfang lange selbst gerudert“, sagte Harald. „Er war voller Mut.“
„Er sah das andere Leben vor sich“, erwiderte Erik. „Also wundert es mich nicht, dass er auf dem Rückweg verreckt ist wie ein Hund.“
„Er ist nicht ...“, sagte Harald.
„Als ihr an der Küste aufgelaufen wart“, fuhr Erik ungerührt fort, „konntet ihr ihn noch an Land tragen, wurde mir berichtet. Dort hörte er dann zu atmen auf. Richtig?“
„Er hat gekämpft“, antwortete Harald nur.
„Er hat gearbeitet, wenn er sich davon keine Arbeit versprach“, murmelte Erik und drehte sich ab.
„Ingolf war dein Sohn“, erklang da Gudruns Stimme aus der Tiefe des dunklen Raums.
Gudrun war Eriks Frau. Harald hatte sie noch nicht begrüßt, auch die alte Grima noch nicht, die neben ihr saß. Gudrun trauerte still um Ingolf. Harald wollte später mit ihr sprechen.
Erik drehte sich langsam um und rief dahin, wo Gudrun saß: „Weiß ich’s?“
Die Antwort war Schweigen, und Erik drehte sich wieder zum Feuer.
„Wie viele haben überlebt?“, fragte er dann.
„Fünfzehn“, antwortete Harald. „Und die werden es vorerst nicht wieder versuchen. Aber wir bekommen leicht neue Männer. So viele würden alles wagen. Nur weiß ich nicht, was mit dem Schiff ist.“
„Das Schiff habe ich den Leuten übergeben“, sagte Erik. „Sie brauchen dringend Holz. – Wie viele wart ihr an Bord?“
„Was hast du getan?“, rief Harald. „Im Stall haben wir noch ein paar gute Planken. Damit hätten wir das Schiff wieder herrichten können. Wir hätten es wenigstens versuchen müssen. Jetzt bleiben nur noch der andere Knörr und die Kriegsschiffe.“
„Und die werden nicht geopfert“, sagte Erik und wandte sich ab.
„Geopfert?“, rief Harald. „Das kannst du nicht meinen. Die Überfahrt ist möglich. Nur in Island oder am besten in Norwegen können wir wieder starke Schiffe bekommen. Davon hängt unser Leben ab.“
„Hat dein Bruder auch dir die Gedanken verdreht! Wir sind hier zu Hause und nicht bei dem eitlen Glanz des Ostens. Die Fahrt dorthin kann immer erfolgen. Es gibt Wichtigeres“, sagte Erik und ging aus dem Haus.
Harald ballte die Fäuste und sah seinem Vater nach, dessen Umrisse sich noch leuchtend im Eingang abzeichneten. Erik schien ihm mächtiger denn je.
„Hast du Angst vor ihm?“, fragte auf einmal Grima aus der Tiefe des Raumes.
„Nein!“, rief Harald überrascht.
Er hatte keine Angst vor Erik. Diesen Gedanken hatte er noch nie gehabt. Schließlich war er sein Kind. Und als zweitältestem Sohn hatten auf ihm nie so große Erwartungen wie auf Ingolf gelastet. Harald war auch nie so bestraft worden. Ingolf hatte vor Erik Angst gehabt.
Harald ging zu den beiden Frauen.
Gudrun hatte das Gesicht in einem Schal versteckt. Harald umarmte sie kurz. Sie hatte geweint. Grima sah er nur an.
„Ingolf war tapfer“, sagte Harald.
„Das war er, auch wenn du das nicht so meinst“, sprach Gudrun klagend. „Ingolf hatte Träume, und Träume passen nicht mehr hierher. Jetzt geht es vielleicht nur noch ums Kämpfen.“
Sie atmete durch.
„Ihr Frauen!“, sagte Harald. „Ihr sitzt zu viel zusammen. Der Blick ins Feuer macht nachdenklich.“
Gudrun hob den Kopf und musterte Harald. Ihre Augen waren rot unterlaufen.
„Erik trauert nicht um seinen Sohn“, sagte sie. „Er ist wohl froh jetzt. Ich glaube, eigentlich schämte er sich immer seinetwegen. Ingolf hatte nichts von ihm. Er hatte Träume.“
Gudruns Stimme drückte keine Liebe für Harald aus. Er war anders aufgewachsen. Er konnte Ingolfs Platz in ihr nicht einnehmen. Manchmal wollte er Gudrun nahe sein. Doch sein Herz ließ es nicht zu. Gudrun hatte ihm nie ihre Liebe gezeigt wie Ingolf.
Ingolf war überhaupt nicht nach seinem Vater gekommen. Er hatte die Bibel gelesen, auch still für sich, stundenlang. Als einer der wenigen wollte er noch die Zeichen auf dem Pergament entschlüsseln. Sonst bestand unter den Österbäuern kaum noch das Bedürfnis danach. Der Kirche und ihrer Botschaft war wohl zu folgen, doch nach Eriks Willen kam es auf die Einzelheiten nicht an. Nach seinem Willen war allein der Glaube wichtig.
Harald hatte sich auch nie gegen seinen Vater aufgelehnt. Es gab keinen Grund für ihn. Für Ingolf hatte es immer einen Grund gegeben, auch für die Schwester Sigrun. Doch sie war in jeder Hinsicht anders. Erik konnte nichts von ihr erwarten.
Ingolf hatte sich immerhin voller Hingabe um die Schafe und Kühe gekümmert, und einmal hatte er geweint, als ein Lamm, das auf einem bemoosten Felsen abgerutscht war und sich den Fuß gebrochen hatte, geschlachtet werden musste. Doch da hatte Erik die Faust gegen ihn eingesetzt. Seitdem hasste ihn seine Frau Gudrun.
„Du bist nun nächster“, sagte dann Grima.
„Was meinst du?“, fragte Harald.
Grima war alt und zahnlos. Harald hielt mehr von ihr als sein Vater, für den sie auf seinem Hof nicht mehr als eine unnütze Magd war. Trotzdem verpflegte er sie weiterhin. Früher hatte sie mit ihrem Mann einen eigenen Hof betrieben. Nach seinem Tod konnte sie den Hof nicht halten. In einem Winter brachen unter der Schneelast die Dachbalken des Vorratsraums, und niemand kam ihr zu Hilfe. Es war, als wollte ihr keiner zu Hilfe kommen. Der nächste Winter war dann so streng, dass die Schafe draußen zu erfrieren drohten. Sie musste sie in den Stall zu den Kühen sperren, wo kein Platz war. Vor allem reichte kaum das Heu, um das Vieh bis zur Schneeschmelze am Leben zu erhalten. Ihre stärkste Kuh brachte sie nicht über den Winter. Sie gab dann auf. Ihren Hof übernahm schnell ein anderer. Sie selbst wurde von Erik übernommen. Damals konnte sie noch zupacken wie ein Mann.
„Nach Ingolfs Tod folgst du nach. Sonst ist da nur Sigrun, deine verrückte Schwester“, sagte Grima.
„Du hast Recht“, platzte Harald heraus.
Er hob den Kopf und lächelte. Doch sah er auch Grima fein lächeln, und seine Gesichtszüge wurden wieder ernst.
Grima sagte noch: „Nun geh besser hinaus! Draußen sammeln sich die Leute. Ich höre das. Sie wollen wissen, was geschehen ist. Es ist nun deine Aufgabe, sie aufzuklären.“
Harald sah noch einmal Gudrun an. Sie nickte ihm zu und versteckte sich wieder in ihrem Schal.
Da ging Harald hinaus.
Bis zum Nachmittag kamen Hunderte zum Erikshof. Sie lagerten sich auf der Wiese und stellten Fragen über Fragen. Harald erzählte wieder und wieder, wie die Fahrt verlaufen war. Erik zeigte sich nicht.
Ingolf hatte zu der Fahrt angestiftet, und Harald hatte dieses Mal zu ihm gestanden. Sie hatten den Monat Juni gewählt, damit sie im selben Jahr zurückkehren konnten. Vielleicht war das ein Fehler gewesen. Vielleicht hätten sie bis zum August warten sollen, wenn sich das Meer noch weiter erwärmt hatte. Sie wären dann erst im nächsten Jahr zurückgekehrt. Auch der letzte Kaufmann, der Grönland aufgesucht hatte, war den Winter über geblieben. Doch es war Erik gewesen, der darauf bestanden hatte, dass sie im selben Jahr zurückzusein hätten. In den Österbäuen seien alle Schiffe und Männer wichtig, hatte er gesagt. Bjarni könne jeden Tag über sie herfallen. Er liege immer auf der Lauer.
Fünfundzwanzig Männer waren dann in See gestochen. Der Himmel war leuchtend blau gewesen, und das Schiff machte gute Fahrt. Doch schon nach einem halben Tag Wegstrecke, noch in Sichtweite der Südspitze Grönlands, stießen sie auf Treibeis. Es war das Großeis, das im Winter die Ostküste hinabtrieb und sogar die Fjorde in den Österbäuen sperren konnte. Sie mussten den Kurs ändern, um das Eis zu umfahren. So fuhren sie früh hinaus auf die offene See, und sie blieben zu weit südlich. Ingolf hoffte auf den Walpfad, von dem er gehört hatte. Man müsse nur den Walen folgen, die im Sommer an Grönland vorbei gen Osten und hoch in den Norden zogen. Doch sie trafen auf keine Wale. Trotzdem hätten sie es schaffen können. Angetrieben von dem kräftigen Westwind, der wehte, hätten sie in vier oder fünf Tagesreisen Island erreichen können. Sie hätten dazu wieder nach Norden steuern müssen. Oder sie hätten sogar südlichen Kurs nehmen können und wären auf die Färöer, auf die Hebriden, auf Schottland oder gar Irland gestoßen. Doch als Ingolf schon frohlockte, als alle sich an der warmen Sonne erfreuten, als sie sich schon die schönen fremden Frauen versprachen, da zog Nebel auf. Stoßweise schickte er seine Vorboten, als wollte er vor der Weiterfahrt warnen. Es war Ingolf, der trotzdem Mut machte und immer wieder antrieb und sogar, wenn der Wind ganz abflaute, selbst ruderte. Der Nebel wartete jedoch wie eine feindliche Geistermacht. Einen Tag lang sahen sie dann nicht einmal die Sonne. Kein Wind ging, die kalte Feuchtigkeit durchdrang alles und es gab kein Ziel mehr, das anzusteuern war. Ingolf wollte weiter vorwärts. Aber auch alles Rudern war nutzlos geworden.
Als dann einmal kurz die Sonne zu erahnen war, richteten die Männer das Schiff so aus, dass sie wieder zu ihrer Linken stand. Vielleicht waren sie nur zwei Tage oder nur einen Tag von einem der westlichen Länder entfernt. Aber der Ruf der Heimat war stärker. Zu der Stunde gab Ingolf auf. Er konnte sich nicht mit seiner Meinung durchsetzen, dass es auch den Tod in Kauf zu nehmen gelte. Wenn sie nicht auf Grönland verkümmerten wollten, sagte er, müssten sie alles wagen. Zum Schluss schrien ihn die Männer nieder. Harald schwieg dazu. Auch er wusste, dass der Nebel sie noch lange gefangen halten und sie irgendwo auf dem endlosen Meer aussetzen konnte. So ruderten sie zurück, hinaus aus dem Nebel. Am dritten Tag setzten sie wieder das Segel.
Als sie endlich die unwirtliche Küste im Osten Grönlands vor sich sahen, kam der Sturm auf. Sie hätten sogleich anlanden sollen. Doch die Österbäue schienen so nah. Thorbjörn zeigte ihnen die Stelle, wo sie sich ans Land retten konnten. Das Schiff zerbrach an den Felsen, Ingolf starb und der Sturm legte sich dann. Vielleicht waren die Grönländer nicht mehr zur Seefahrt geeignet.
Am Abend war den Leuten jede Einzelheit bekannt. Die meisten hockten auf dem Boden wie Hühner, die sich vor Kälte nicht mehr regten. Da Erik keine Fahrt nach Osten förderte, schien es nun unter ihm unmöglich, jemals wieder den Vorfahren zu begegnen. Der Sommer hatte seinen Reiz verloren, obwohl er erst angefangen hatte. Der Winter drohte bereits mit seiner Einsamkeit, die verzweifeln ließe wie nie.
Björn, ein einflussreicher Mann, der in den Österbäuen gerade verschiedene Höfe besuchte, sprach es aus: „Wie sollen wir uns halten, wenn bald alles Eisen abgenutzt ist, alle Planken verfeuert, alle Sagen vergessen? Wie können wir uns hier noch halten? Wie können wir uns noch gegen die Skrälinger halten, wenn sie nach Süden vordringen?“
Die Leute murrten und stimmten ihm zu. Andere ergriffen das Wort. Sie wollten handeln.
Als sich einige dafür aussprachen, es mit den Kriegsschiffen zu versuchen und einen ganzen Verband auszurüsten, ritt Erik auf einmal heran. Er hatte Streifhals, sein bestes Pferd, für einen langen Ritt bepackt. Streifhals hatte seinen Namen von den scheckigen Flecken am Hals, die nur im Sonnenlicht zu sehen waren.
Mit einem wuchtigen Ruck am Zügel brachte er Streifhals zum Stehen. Erik ritt nicht mit Gefühl, sondern mit Gewalt.
„Was gibt es?“, rief er den Leuten zu. „Was murrt ihr?“
Es dauerte einige Zeit, ehe sich wieder Björn zu Wort meldete und sagte: „Wir können nicht so tun, als wäre nichts geschehen. Wir sind abgeschnitten von der Welt. Wir müssen eine neue Fahrt ausrüsten.“
„Dann bau ein Schiff!“, rief Erik ihm zu und nahm den Kopf zurück.
Da empörten sich die Leute.
„Wie soll ich allein ein Schiff bauen?“, fragte Björn zornig. „Dazu gehören viele. Und dafür ist gutes Holz von Nöten. Daran müssen wir zusammen arbeiten.“
Fast alle Leute erhoben sich. Sie wollten einen Blick in die Zukunft, der sich lohnte. Die meisten waren bereit, ihre Heimat zu verlassen.
Erik zögerte eine Weile und ritt dann Streifhals mitten unter sie.
Aus dem Sattel heraus hielt er eine Rede.
„Seht euch einmal um!“, sprach er. „Seht, was wir geschaffen haben, seht, wie wir das Wasser von den Bergen leiten, uns Tiere halten, den Boden nutzen, seht, wozu wir fähig sind! Warum seid ihr verzagt? Weil dieser Sommer kalt ist? Das ist immer so gewesen. Nur wird heute geklagt. Vielleicht sind wir auch zu verwöhnt. Vielleicht wollen wir keine Härten mehr ertragen, und ich darf mich da nicht ausschließen. Ingolf war schließlich mein Kind.“
Erik hielt inne und sah auf die Leute. Sie hatten sich erhoben und standen da mit offenem Mund.
Streifhals schnaubte und scharrte mit den Hufen. Er war ein großes Pferd, ein wenig verspielt, doch zäh und ausdauernd. Nur Erik ritt Streifhals. Hätte das ein anderer getan, Erik hätte ihn sofort erschlagen.
„Ich will aber meinem eigenen Sohn nicht übel nachreden“, fuhr er fort. „Nur machte er es sich manchmal zu leicht. Es ist immer leichter, auf einen Fehler zu verweisen, als ihn aus der Welt zu schaffen. Und seid einmal gerecht: Seht doch, welch gute Ernte ihr in diesem Jahr schon eingebracht habt! Der Sommer beginnt erst richtig, und doch haben viele das erste Heu schon trocken unter dem Dach. Wir kommen leicht allein durch.“
Streifhals schnaubte und trat. Doch Erik hatte das Pferd in der Gewalt.
„Wir kommen durch!“, rief er. „Wir sind Nordmänner. Wir sind von keinem abhängig. Und wir lassen uns nicht auf die Skrälinger ein, wie Bjarni das tut. Vielleicht haben sich die Westerbäuer als Nordmänner schon aufgegeben und ernähren sich von rohem Fisch und fahren Fellboote und leben wie die Tiere. Und am Ende greifen sie uns zusammen mit den Skrälingern an. Das hier ist unser Land. Wir haben es nach unserem Willen gestaltet. Es lässt uns leben und macht uns Freude. Wir werden es niemals aufgeben.“
Erik ließ ein wenig die Zügel nach und Streifhals machte einen Satz vorwärts.
„Und nun“, rief er noch, „muss ich nach dem Rechten sehen. Der Tag ist lang geworden. Macht euch auf den Weg nach Hause! Dort werdet ihr gebraucht. Und seid immer bereit! Die großen Tage kommen wieder.“
Endlich gab Erik Streifhalsens Drang zu laufen nach. Das Pferd schoss davon, als müsste es dem Angriff eines Wolfs entkommen. Alle sahen ergriffen zu, wie Erik gegen das Licht der tief stehenden Sonne stürmte.
Die Leute machten sich dann auf den Heimweg. Thord erzählte ihnen, dass Erik ausreite, um das Land zu erkunden. Sie müssten ständig Stellen besetzt halten, um das Land insgesamt beobachten zu können. So wären sie besser auf einen Angriff Bjarnis und der Skrälinger vorbereitet.
Thord wusste aber nicht wirklich, was Erik vorhatte. Er wusste nur, dass es immer gut war, Erik als Beschützer darzustellen. Das wollten die Leute so.
Erik ritt über fünf Stunden lang. Nur einmal rastete er und schlief und träumte ein wenig. Keiner hätte ihm folgen können, zu Fuß sowieso nicht und auch auf keinem Pferd. Es war spät geworden, und Erik traf später ein als angekündigt. Doch er dachte, es schadete nicht. Es konnte gar etwas Besonderes sein.
An diesem Abend waren wieder die wichtigsten Männer versammelt. Die Versammlungen fanden im Geheimen statt. Sie fanden an festgelegten Tagen statt, die Erik von Mal zu Mal neu verkündete, und sie standen im Gegensatz zu den Thingtreffen, wo alle Österbäuer aufgerufen waren, frei zu sprechen und zu urteilen. Die Thingtreffen waren Eriks Zugeständnis an die Österbäuer, an ihre Freiheit, seit nach dem Krieg gegen die Skrälinger seine Herrschaft über die Westerbäue verloren war.
Außerdem mussten die Männer irgendwo ihre Sorgen abladen. Sie tranken, und dabei suchten sie auch stets den Zorn zu besänftigen, den jeder in sich trug. Die herrschenden Männer der Österbäue hassten einander, und sie wären einer gegen den anderen gezogen, wenn sie dadurch nicht ihr eigenes Überleben gefährdet hätten. Früher waren einige Treffen blutig ausgegangen. Die Männer hatten im Rausch aufeinander eingeschlagen. Doch inzwischen reichte ein Wort Eriks, um sie zum Schweigen zu bringen.
Erik traf sich mit den Männern stets an anderen Orten, diesmal am Falkenklipp. Auch dort konnten die Männer ihre Boote, mit denen viele von weit her kamen, versteckt anlegen.
Als Erik endlich ankam, fuhr er auf Streifhals wie ein Wirbelwind unter sie, sprang aus dem Sattel und ließ den Hengst laufen. Der preschte davon und lief dann so umher, als suchte er in der freien Landschaft ein offenes Tor zur Flucht.
„Seid gegrüßt und sagt mir: Wie geht es weiter?“, rief Erik den verblüfften Männer zu.
Sie konnten nicht mit einer Stimme antworten und schwiegen.
Erik sah sie verachtend an. Angesichts dieser Versammlung war ihm nicht wohl. Die Stimmung unter allen Österbäuern war sehr gereizt. Viele fühlten sich gefangen, und sie sahen Erik als den, der ihnen zur Flucht nicht die Mittel stellte.
Die Männer scharten sich wie eine Herde Schafe mit gesenkten Häuptern zusammen. Sie hielten den Zorn in ihren geballten Fäusten fest.
Da fragte Erik: „Was ist mit Essen und Trinken?“
Die Männer hoben die Köpfe.
Erik rief Streifhals zu sich, der gleich kam und doch einige Schritte von ihm entfernt blieb. Erik hob die Hand und sah den Hengst drohend an. Der schlug einmal mit dem Huf auf den Boden und kam dann ganz zu ihm. Erik kniff ihm ins Ohr. Streifhals schnaubte und blieb doch stehen.
Dann nahm ihm Erik die Taschen und die Reitdecke ab und ließ ihn wieder laufen. Streifhals preschte abermals davon, blieb aber schnell stehen und sah sich um. Er wieherte. Erik beachtete ihn trotzdem nicht mehr. Streifhals war ein herrliches Pferd.
Erik öffnete eine der Taschen und zog einen Schlauch hervor, den er vor die Männer legte wie ein erlegtes Stück Wild.
„Hier ist zu trinken“, sagte er. „Was ist? Wird nicht gefressen und gesoffen? Wo ist das eure?“
Die geheimen Versammlungen waren zu Gelagen verkommen. Erik hatte das gefördert. So hatten sie nach wie vor ihren Zweck. Sie dienten dazu, seine Herrschaft zu sichern.
Es dauerte nicht lange, da boten alle Männer stolz an, was ihre Taschen hergaben. Es gab Hasen, Gänse, Brotfladen, Wurzeln, Käse, Trockenfisch, Butter, Beeren und dazu Getränke, die alle gut vergoren waren. Holz hatten die Männer schon herangeschafft. Sie hatten die ganze Gegend durchkämmt, hatten auch weit die Küste danach abgesucht.
Als Nebel aufs Land kroch und endlich das Feuer zu prasseln begann, ging auch die Stimmung hoch. Es kreisten die Krüge mit ihrem berauschenden Inhalt. Erik tat oft nur, als nähme er große Schlucke. Er wollte bei Verstand bleiben. Die Männer besprachen, welches Gut vielleicht zu viel Überschuss abwarf, welcher Bauer sich zu selbständig zeigte, wer sich wie und in welchem Sinne über die Westerbäuer äußerte.
Zum Schluss ging es immer darum, welcher Hof sich vielleicht nicht mehr halten könnte. Auf den ersten Versammlungen war diese Frage immer die spannendste gewesen. Die Antwort auf diese Frage verteilte jeweils die Macht ein wenig neu. Denn meistens war es einer der anwesenden Männer, der den verwaisten Hof dann übernahm, von einem Knecht bewirtschaften ließ und einen Gutteil des Überschusses einstrich. Manche hatten einen solchen Hof auch nur ausgenommen wie ein totes Stück Vieh. Viele hatten so den Reichtum ihrer Höfe vermehrt.
Doch inzwischen gab es in den Österbäuen nicht mehr viele Höfe, die eigenständig wirtschafteten. Mit der Aufgabe jedes weiteren schien der Untergang mehr zu dämmern. Björn hatte bereits beim letzten Treffen vorgeschlagen, dass man nicht mehr zusehen dürfe, und das gar erwartungsvoll, wie wieder ein Hof zugrunde ginge. Man sollte im Gegenteil erwägen, wie man helfen könnte.
Diesmal fragte keiner nach dem Zustand der Höfe. Dabei gab es viel zu holen. In diesem Jahr waren es gleich vier sieche Höfe, von denen wenigstens zwei den Winter nicht durchstehen konnten. Das jedoch waren zu viele. In der Stimmung nach dem Scheitern von Ingolfs Ostfahrt musste das Handeln um so viele Höfe wie das Handeln mit dem Tod erscheinen.
Auch war die Frage nach Bjarni noch nicht gestellt. Erik fragte immer selbst danach. Die Männer heulten dann auf. Zuerst verwünschten sie Bjarni, ehe sie in die Weite hinausschrien, dass man sich die Westerbäue zurückholen werde. Mit den Jahren hatte Erik seine Frage jedoch immer später am Abend gestellt. Und die Antwort darauf fiel immer schwächer aus.
Trotzdem gehörten die beiden Fragen zu den Versammlungen wie der Rauch zum Feuer. Erik dachte daran, die Männer nicht. Der Nebel hatte sich inzwischen so über das Land gelegt, dass alle dicht gedrängt am Feuer saßen, eingehüllt in ihre Mäntel. Es war Zeit zum Reden.
Erik wartete gespannt.
Helgi, die Kappe tief ins Gesicht gezogen, berichtete, dass Thorlak vom Ende des Einarfjords einmal davon gesprochen habe, mit seinen Söhnen auf eigene Faust in die Westerbäue zu steuern. Man müsse einmal erfahren, wie es den Leuten dort ergehe, habe er gesagt. „Hört!“, riefen einige wenige. Früher wären alle aufgesprungen und hätten sich bereit gezeigt, gegen Bjarni zu kämpfen.
Und dann sprach Björn. Er besaß fast alle Höfe im Vatstal, das weit im Süden lag, wohl zwei Tagesfahrten vom Erikshof und der Kirche von Gardar entfernt. Das Vatstal duckte sich geschickt zwischen die Berge, und es war sehr fruchtbar.
Mit Blick auf das Feuer sagte Björn ganz langsam, als sollte sein Atemdunst seine Worte sichtbar machen: „Bjarni ist hier gefangen wie wir. Wenn es uns nicht mehr gelingen sollte auszubrechen, könnte er es wohl auch nicht. Vielleicht sollten wir wieder mit ihm reden. Zwei, die in den Brunnen gefallen sind – helfen die sich nicht gegenseitig hinaus?“
Eriks Hand fuhr an den Griff seines Schwerts. Er wollte Björn anschreien, niederschreien, niederschlagen. Kaum ein anderer Flecken in den Österbäuen war so geschützt und von der Umwelt so bevorzugt wie das Vatstal.
Doch dann sah er sich um und er sah in die Gesichter der Männer. Sie sahen ihn schweigend an.
Da begriff Erik, was Ingolfs gescheiterte Fahrt verändert hatte. Auf einmal schien Bjarni in der Nähe.
Erik sprang auf.
„Diese Erde“, sagte er, grub seine Hand in den Boden und hob ein Stück Gras hoch, „ist unser Land. Wie wir hier stehen, hat uns dieses Land geschaffen. Es hat unsere Eltern und Großeltern und Ureltern ernährt, und wenn es uns nicht mehr reicht, dann liegt das allein an uns, dass wir es nicht mehr achten. Ja, einige Höfe sterben – doch war das nicht immer so? Gab es nicht immer Bauern, die fleißiger ...“
„Nein!“, rief Björn da und sagte: „Die Winter werden länger, die Sommer kühler. Wer denkt nicht mit Grauen an das Schicksal von Thorir? Das war im vorletzten Jahr. Seine Frau fanden wir im Kuhstall. Vielleicht wollte sie wieder die Kühe füttern, obwohl nur noch Reste von Heu übrig waren. Oder sie schlief gar bei ihren Kühen, weil sie nur noch dort Wärme bekommen konnte. Und vielleicht war bereits die eine oder andere Kuh vor Entkräftung verendet. Wir alle wissen, dass unsere Kühe nach dem Winter kaum den Weg zu den Wiesen schaffen. Und vielleicht konnte Thorir seiner Frau nicht mehr helfen, weil er vor ihr gestorben war. Im Haus war alles Brennzeug aufgebraucht, und dabei hatten sie auch Tierknochen verbrannt. Thorir und seine Frau waren fleißige Bauern. Sie lag zwischen den toten Kühen, und er lag neben seinem treuen Hund, der ihn nach seinem Tod halb aufgefressen hatte. Ihre Schuld war es nicht, dass sie so elendig starben. Und was nutzte dann der schöne Sommer, der die Wiesen tief auftaute und im Überfluss blühen ließ?“
Erik starrte Björn an. Dann ging sein Blick in den Nebel, wo er sich nicht halten konnte, schließlich hin zum Feuer, und es dauerte, ehe er sich von dem Bild der verschlingenden Flammen losriss.
Er sprach dann ruhig: „Ja, die Wetter haben ein wenig ihren Weg verlassen. Doch haben wir nicht auch unseren Weg verlassen? Sind wir nicht früher auf unser Ziel zugegangen und haben weder links noch rechts geschaut? Und heute? Heute wollen wir hier etwas entdecken und dort etwas mitnehmen und noch weiter am Rande wollen wir rasten. Wie viele Kühe hast du, Björn?“
„Zehn“, antwortete Björn.
„Und auf deinen restlichen Höfen“, fragte Erik. „Wie viele Kühe stehen dort noch? Vierzig, fünfzig?“
Björn antwortete nicht.
„Hunderte von Kühen ernährt das Land der Österbäue“, fuhr Erik fort, „Hunderte von Kühen, die uns ernähren. Und da sollen wir hier gefangen sein? Was ist gefangen? Geht einmal los und geht und geht, von einem Hof zum nächsten! Wer ist hier gefangen? Gefangen sind die Westerbäuer, die auf ihren Höfen sitzen und hoffen, dass sie von den Skrälingern, die sie ins Land lassen, nicht totschlagen werden. Sag Björn: Müssen wir befürchten, von den Skrälinger totgeschlagen zu werden? Können wir uns nicht frei bewegen?“
Björn antwortete nicht.
Doch die anderen Männer sagten: „Recht, Erik hat Recht.“
„Der Mensch träumt davon, das zu besitzen, was er nicht erreichen kann“, fuhr Erik leise fort und wurde dann lauter wie eine Glocke, die zu schwingen begonnen hatte. „Doch wer noch die Sterne vom Himmel holen will, stirbt mit seinen Träumen. Wir haben dieses Land. Es macht uns frei. Sorgen wir also dafür, dass nicht nur unser Land frei ist, sondern das ganze Land! Seien wir gerüstet, dass nicht die Skrälinger uns plötzlich den Weg versperren und wir von ihnen unser Leben aushandeln müssen!“
„Hurra!“, brüllten da einige Männer.
Erik atmete tief durch und machte einen Schritt beiseite.
Doch trat er noch einmal vor und rief mit Blick auf Björn: „Rüsten wir unsere Flotte wieder auf und beklagen wir uns nicht! Schiffe sind unsere Freiheit, die Freiheit zuerst für die Österbäue, für Grönland und am Ende für den Weg in alle fernen Welten. Mein ältester Sohn hat leider diese Reihenfolge nicht beherzigt. Wir sollten uns daran halten. Denn ganz Grönland ist unser und recht sprichst du, Björn: Gemeinsam muss man sich aus der Not helfen!“
„Hurra!“, brüllten da alle Männer, auch Björn.
Erik hielt sich dann zurück. Nur hin und wieder machte er Bemerkungen, wenn er spürte, dass die Männer nicht mehr das Ziel sahen, auf das er hinauswollte. Es lautete, mit den Westerbäuen wieder die Einheit herzustellen. Erik hielt immer darauf zu. Dabei wollte er zu ganz neuen Zielen. Doch das ging nur zusammen mit den Westerbäuern.
So redeten sie noch lange, bis Erik überraschend sagte: „Es ist spät geworden. Machen wir uns auf den Weg nach Hause!“
Das zu bestimmen war nicht recht. Erik hätte fragen müssen. Andere Versammlungen waren bis zum nächsten Tag gegangen.
Doch als die ersten Männer wirklich aufbrachen und zu ihren Booten wankten, räumten auch alle anderen zusammen. Erik wollte keine neues Gerede.
Zum Schluss umarmten sich die Männer und wünschten sich alles Gute für ihre jeweilige Fahrt nach Hause. Alle verschwanden sie im Nebel, und sie hörten voneinander noch eine Weile die Grüße, die sie sich von ihren Booten zuriefen.
Erik rief nach Streifhals. Der tauchte wie wundersam sofort aus dem Nebel auf.
Harald traf seine Schwester Sigrun zum ersten Mal wieder, als er zum Angeln ging. Sie saß vorgebeugt am Wasser und schnitzte an einem Stück Holz.
Sigrun schnitt seltsame Gestalten aus Holz, und keiner wusste, was sie damit tat. Thord hatte einmal eine solche Gestalt in einem Felsloch gefunden. Eine Öllampe stand dabei und der durchbohrte Schädel einer Robbe. Seitdem waren viele erst recht davon überzeugt, dass Sigrun den Teufel beschwöre. Doch war sie Eriks Tochter. So war ihr Leben sicher.
„Hier bist du“, sagte Harald. „Wo warst du all die Tage? Dein Bruder ist tot.“
„Er war auch dein Bruder“, erwiderte Sigrun und schnitt weiter mit scharfer Klinge an dem Stück Holz.
Sie sah Harald nicht an.
„Du hättest wenigstens auf seiner Beerdigung erscheinen können“, sagte Harald.
„Warum sagst du wenigstens?“, fragte Sigrun. „Was hätte ich sonst noch tun sollen?“
„Sein Leichenhemd schneidern“, antwortete Harald,
„sein Grab ausheben, seine Totenmesse vorbereiten, seine Habe ...“
„Was hast du für ihn getan?“, unterbrach Sigrun. Harald schwieg.
„Du hast ihn in den Tod gefahren“, sagte Sigrun da.
„Hexe!“, rief Harald und schlug ihr an den Kopf.
„Also stimmt es“, sagte Sigrun und stand auf und richtete ihr Messer gegen Harald.
„Tu das nicht noch einmal“, sagte sie langsam.
Harald wollte ihr das Messer entreißen, doch sie machte eine schnelle Bewegung damit.
„Himmel!“, schrie Harald und starrte auf das Blut, das ihm über die Hand lief.
„Es ist nur ein Ritz“, sagte Sigrun.
Sie legte das Messer behutsam auf einen Fels und sah Harald verächtlich an.
„Das Blut rinnt“, stöhnte er.
Sigrun lachte.
„Halt die Stelle in den Mund und hör zu!“, sagte sie.
„Du bist wie dein Vater. Die Schmerzen, die du anderen mit Leichtigkeit zufügst, bist du selbst nicht bereit zu ertragen. Und Schmerz um andere empfindest du erst gar nicht. Auf der Beerdigung hast du wie Erik keine Regung gezeigt. Deswegen weiß ich, dass du Ingolf in den Tod gefahren hast. Du warst nicht bereit, mit ihm zu kämpfen. Du hast höchstens für deinen eigenen Ruhm gekämpft. Der kommt dir ja nun zu, der du heldenhaft das Schiff zurückgebracht hast. Held wärst du gewesen, es in andere Welten zu steuern. Ingolf hat am Boden des Schiffes gekauert.
Er habe gewimmert, heißt es. Ich weiß, das hat er nicht. Ingolf sah in seinem Kampf keine Hoffnung mehr. Aber er hat nicht gewimmert. Ich kannte ihn.
Und ich kenne euch. Es heißt, er habe gewimmert, und wenn da einer nachfragt, so heißt es, man selbst habe das nicht gesagt. Trotzdem wollt ihr, dass dieses Bild bleibt: Der im Tode wimmernde Ingolf. Erik will das so. Dabei seid ihr Memmen. Ingolf war ein Krieger.“
„Wenn du nicht meine Schwester wärst, würde ich sagen, du gehörtest verbannt“, sagte Harald.
Er wollte Sigrun weiter drohen. Doch sein Blut im Mund bildete Schaum beim Sprechen, und Harald erschrak. Wie es seine Art nicht war, ging er wortlos davon. Er rechnete damit, dass ihm Sigrun etwas Verwunschenes nachriefe. Doch sie beugte sich nur wieder vor und schnitzte weiter an dem Stück Holz, das ein Kreuz wurde.
Der Winter fiel wieder über das Land, als wollte er es für immer besetzen. Wenigstens hatte der Sommer gereicht, die Scheunen zu füllen.
Doch die Leute mussten auch anders überleben. Sie mussten die Dunkelheit erhellen und nicht nur mit Feuer und blakenden Lampen. Die Leute gierten nach Geschichten.
An einem Tag war es Harald, der so Licht bekam. Doch dadurch sollte die ewige Finsternis beschworen sein.
Harald saß in dem großen Raum des Erikshofs. Es hatte sich ergeben, dass keiner sonst anwesend war, nur Grima. Eine einzige Öllampe brannte, und ihr Licht verlor sich in den tiefen Falten, die ihr Gesicht so zerfurchten, als hätte ein Bauer verwirrt sein Feld gepflügt. Grima schwieg meist. Früher hatte sie viel erzählt. Dazu war sie sogar ermuntert worden, zu erzählen von den heldenhaften Taten der frühen frühen Vorfahren. Aus ihrem eigenen Leben durfte sie nie erzählen. Wenn sie davon anfing, war ihr Erik jedes Mal über den Mund gefahren. So hatte sie von der Urzeit erzählt. Dabei hatten ihre Erzählungen aber immer einen klagenden Unterton. Sie gingen immer so aus, dass damit keine gute Zukunft erkennbar war. Ihre Erzählungen versperrten die Hoffnung auf Morgen wie das Eis die winterlichen Fjorde. Also hatte ihr Erik irgendwann verboten, auch davon zu erzählen. Grima hatte noch einige Male angesetzt, zu erzählen wie früher, aber einmal hatte Erik sie dann derb zum Schweigen gebracht.
„Grima, wie lange nur diese dunklen Winter dauern! Mein Herz ist kalt. Erzähl mir eine Geschichte!“, forderte Harald nun.
Er nahm sich einen Hocker und rückte an Grima heran. Sie sah ihn eindringlich an und suchte in dem fahlen Licht seine Augen. Harald hielt sein Gesicht in den Schein der Lampe.
„Du bist ein Mann geworden“, sagte Grima und lächelte verächtlich. „Wie doch das Alter verändert. Du blühst, und ich verwelke. Ich hoffe für dich und für einige andere, dass du reifen kannst. Du siehst deinem Vater schon sehr ähnlich.“
„Ich weiß: Wir werden alle älter“, sagte Harald. „Aber nun mach mein Herz warm!“
„Du kennst jede einzelne Geschichte“, murmelte Grima. „Du hast alle Geschichten oft genug von mir gehört.“
„Dann erzähl mir eine Geschichte aus der Zeit, als du geblüht hast!“, sagte Harald.
Grima zuckte zusammen, als hätte sie ein Ungeheuer gesehen.
„Was ist?“, fragte Harald. „Wieso erschrickst du?“
Sie schwieg und Harald forderte sie noch einmal auf zu erzählen. Er dachte nicht daran, dass es Grima verboten war, aus ihrem eigenen Leben zu erzählen.
Die Geschichten der Vorfahren waren für Harald nichts als Unterhaltung. Er war niemand, der daraus lernen konnte. Doch nun verlockte es ihn danach wie nach Honig, Kümmel oder Wein, nach all den Sachen, die er nur vom Hörensagen kannte. Sein Bruder hatte immer davon erzählt, hatte damit zur Fahrt getrieben, die dann sein Tod sein sollte. Harald hatte sich nie überlegt, dass mit dem Verbot, Grima sprechen zu lassen, die Erinnerung an eine vergangene Zeit ausgesperrt war.
„Grima, erzähl aus deiner frühen Zeit!“, sagte er laut.
Harald fühlte sich, als zöge ihn etwas wie mit Zauberkraft an. Es war, als hätte er all die Zeit vor einer Felswand gestanden und dort plötzlich ein Loch entdeckt, durch das man in eine Schatzhöhle sehen konnte. Eine Entdeckung war zu machen, das spürte er.
Grima atmete heftig.
„Grima, erzähl!“, sagte Harald noch einmal, noch lauter.
Da sah Grima von dem Licht weg und sah in den Raum. Ihre Augen öffneten sich so weit, als wollten sie sogar das Dunkel in den Ecken auffangen. Sie scheute sich plötzlich nicht mehr, diesem Sohn Eriks eine andere Wahrheit als die seines Vaters zu offenbaren. Grima sah dann zur Tür und mit Blick dorthin begann sie zu erzählen.
Sie sprach: „Die Westerbäue gehörten früher zu uns. Von den Westerbäuen stammt Erik. Das weißt du. Und du hast davon gehört, dass sich die Westerbäuer vor vielen Jahren von uns abgespalten haben. Wir dürfen nicht mehr zu ihnen. Sie betrachten uns als Gefahr. Wenn wir mit einem Boot in ihr Gebiet vorstoßen, greifen sie es an. Alles das weißt du und auch, dass damit die Westerbäuer unsere Sache verraten haben. Das hast du oft genug von Erik gehört. Erik hasst die Westerbäuer. Er hasst sie, weil sie damals ihn von ihrem Gebiet vertrieben haben. Da war Erik noch jung, und er war schon bei den Westerbäuern ein großer Führer. Eines Tages rüstete er viele Boote aus und zog gen Norden, immer weiter ins Eis, immer weiter in Gebiete, wo die Sonne tiefer und noch tiefer steht. Er hatte das Blut seiner Männer erhitzt. Die Skrälinger wollte er vertreiben. Ganz Grönland sollte wieder nordmännisch sein. Mit seinen Männern tötete er sie, wo immer er sie traf. Keiner von ihnen wurde verschont, auch keine Frau, auch kein Kind. Immer weiter stieß Erik vor, immer weiter hinein ins Eis. Er verlor Männer, einige zunächst, dann immer mehr. Denn auf immer noch mehr Skrälinger stießen sie, und die begannen, sich zu sammeln. Erik selbst erschlug einmal fünf von ihnen ganz allein. So sagt man. Aber es nutzte nichts. Die Skrälinger waren zu viele und der Weg zurück war plötzlich so lang. Am Ende traf Erik mit einem einzigen Boot wieder in den