Erinnere mein nicht | Ein düsterer Suspense Psychothriller - Stephanie Schmid - E-Book
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Erinnere mein nicht | Ein düsterer Suspense Psychothriller E-Book

Stephanie Schmid

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Beschreibung

Ein folgenschwerer Unfall – und du erwachst in einem Albtraum, in dem die Grenze zwischen Realität und Wahn verschwimmt

Valeries Leben scheint perfekt – bis ein tragischer Unfall alles zerstört. Ohne Erinnerung an das, was geschehen ist, erwacht Valerie im Krankenhaus. Ihr Ehemann Markus ist tot und ihr altes Leben wird komplett aus den Bahnen gerissen. In einer fremden Stadt allein in dem Haus, das einst ihr gemeinsamer Neuanfang werden sollte, häufen sich plötzlich verstörende Ereignisse: Dinge verschwinden, Valerie hört Stimmen, und bald kann sie nicht mehr zwischen Realität und Wahn unterscheiden. Ist sie dabei, den Verstand zu verlieren? 

Valeries einziger Halt ist ihr Arzt, der ihr selbstlos beisteht. Doch je mehr sie nach Antworten sucht, desto unheimlicher werden die Entdeckungen. Nichts ist wie es scheint – und bald erkennt sie, dass die Wahrheit weitaus gefährlicher zu sein scheint als ihre Wahnvorstellungen …

Erste Leser:innenstimmen
Die düstere Atmosphäre des Thrillers und das Gefühl, niemandem trauen zu können, haben mich total in den Bann gezogen.
Dieser Psychothriller hat die perfekte Mischung aus Psychospiel, Gänsehautmomenten und einem unfassbaren Twist die mich bis zur letzten Seite gefesselt hat.
Stephanie Schmid spielt gekonnt mit Wahrnehmung und Wahnsinn – ich habe bis zum Schluss mitgerätselt.
Man spürt Valeries Angst und Verwirrung förmlich – und fragt sich ständig: Was ist real, was nicht?“

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 390

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses E-Book

Valeries Leben scheint perfekt – bis ein tragischer Unfall alles zerstört. Ohne Erinnerung an das, was geschehen ist, erwacht Valerie im Krankenhaus. Ihr Ehemann Markus ist tot und ihr altes Leben wird komplett aus den Bahnen gerissen. In einer fremden Stadt allein in dem Haus, das einst ihr gemeinsamer Neuanfang werden sollte, häufen sich plötzlich verstörende Ereignisse: Dinge verschwinden, Valerie hört Stimmen, und bald kann sie nicht mehr zwischen Realität und Wahn unterscheiden. Ist sie dabei, den Verstand zu verlieren? 

Valeries einziger Halt ist ihr Arzt, der ihr selbstlos beisteht. Doch je mehr sie nach Antworten sucht, desto unheimlicher werden die Entdeckungen. Nichts ist wie es scheint – und bald erkennt sie, dass die Wahrheit weitaus gefährlicher zu sein scheint als ihre Wahnvorstellungen …

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe August 2025

Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-69090-007-2 Taschenbuch-ISBN: 978-3-69090-157-4

Copyright © 2022, Stephanie Schmid Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2022 bei Stephanie Schmid erschienenen Titels Erinnermeinnicht (ISBN: 978-3-75621-035-0).

Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © Galina, © pawimon, © Thanthara Lektorat: Katrin Gönnewig

E-Book-Version 30.07.2025, 12:13:36.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Prolog

»Ich will nicht mehr!« Er flüsterte, obwohl sie allein waren.

»Du musst!«, sagte der andere eindringlich. Auch sein Ton war gedämpft, wenn auch nicht ganz so vorsichtig. Aus dem Blick sprach blanker Wahn.

»Ich kann nicht!«, zischte er. »So habe ich mir das nicht vorgestellt.«

»Pff, wer von uns hat das schon?«, antwortete der andere überheblich. Nichts in Tonfall oder Miene deutete auf Schuldgefühle hin.

»Wie sollen wir weiterleben? Wie soll das gehen?« Er versuchte, stark zu klingen, doch es gelang ihm nicht.

»Wie das gehen soll? Ich schätze, ganz gut.« Sein Gegenüber verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. Es sah verzerrt aus … falsch, irgendwie unmenschlich.

Er sah dem anderen für einen Moment stumm in die Augen. Wie konnte der Kerl nur so gleichgültig sein? Wo war er im Leben falsch abgebogen? Um das beurteilen zu können, kannten sie sich nicht gut genug. Und wie die Dinge standen, würde das ganz sicher so bleiben. Es war wahrscheinlich auch besser, dass sich ihre Wege so bald wie möglich trennten. Er hatte das alles nicht kommen sehen. Hatte den anderen nicht als das erkannt, was er war – eine Ausgeburt der Hölle, die Unheil und Verderben über ihn gebracht hatte. Sein Leben zerstört hatte, statt es zu retten. Er fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht.

»Wir hätten uns nie begegnen dürfen. Wenn ich könnte, würde ich die Zeit zurückdrehen und dich zum Teufel schicken.«

Der andere lachte heiser.

»Bei dem bin ich, mein Freund.« Mit der sarkastischen Betonung des Wortes Freund verstummte das Lachen.

Sie fixierten einander mit Blicken.

Der eine, weil er nicht wusste, was er sagen oder tun sollte. Der andere, weil er zweifellos überlegen wirken wollte.

Und doch hatte dieser Mistkerl recht. Es war zu spät. Es gab kein Zurück mehr. Der schwerste Weg seines Lebens lag vor ihm.

Ein zögerliches Nicken. Sie hatten ihren Pakt erneut besiegelt. Widerwillig auf der einen Seite, gierig auf der anderen.

Ein lautes Scheppern. Und der andere verschwand wieder in der Dunkelheit.

1

Valerie versuchte, die Augen zu öffnen, doch es gelang ihr nicht. Als wären sie mit Sekundenkleber zusammengeklebt, blieben sie bleiern geschlossen. In der Schwärze hinter ihren geschlossenen Lidern nahm sie ein unangenehmes, rhythmisches Piepen umso intensiver wahr. Es schmerzte in ihrem Kopf.

Ein beißender Geruch von Desinfektionsmitteln stieg in ihre Nase, was Valeries Magen sofort mit einem flauen Gefühl quittierte.

Beim dritten Versuch, die Augen zu öffnen, schaffte sie es. Nur widerwillig blieben sie die paar Millimeter geöffnet. Zur Strafe trieb ihr das grelle Tageslicht sofort einen spitzen Pfeil durch die Netzhaut, der sich schmerzhaft bis tief in ihren Kopf bohrte. Sie kniff die Lider wieder zusammen.

Verdammt, was …?

Es dauerte einen Moment, bis sie es wagte, einen erneuten Versuch zu unternehmen, um mehr von ihrer Umgebung zu erkennen. Zaghaft zwang sie ihre Augenlider wieder auseinander. Mit jeder Sekunde, in der sie sich langsam an den Schmerz und das Licht gewöhnte, gewann das verschwommene Bild mehr an Schärfe. Nach ein paar Augenblicken konnte sie schemenhafte Einzelheiten ausmachen. Nur allmählich klärte sich das Bild.

Sie war in einem kleinen Raum aufgewacht, nichts kam ihr bekannt vor. Dem ersten Eindruck nach war er steril, lieblos und … weiß. Ein einsames, hässliches Gemälde mit undefinierbaren blauen Blumen darauf versuchte wohl, dem Zimmer etwas Gemütlichkeit einzuhauchen, woran es aber kläglich scheiterte. Daneben ein Wandkalender, auf dem ein kleiner roter Rahmen ein Datum im Oktober markierte. Die genaue Zahl erkannte sie nicht. Es war nicht schwer zu schlussfolgern, wo sie sich befand. Sie war in einem Krankenhaus. Allein. Und sie hatte keinen Schimmer, warum.

Valerie drehte den Kopf mühsam nach links. Es war, als wäre ein Gummiseil an ihrer Kopfhaut befestigt, das jede ihrer Bewegungen doppelt so schwer machte. Neben ihrem Bett sah sie einen Überwachungsmonitor stehen. Er piepte unaufhörlich. Daher kam also dieses fürchterliche Geräusch. Sie musterte das Gerät, von dem etliche Kabel zu ihrem Körper führten. Offenbar waren sie an ihr befestigt, doch ihr Körpergefühl ließ sie zu sehr im Stich, um ausmachen zu können, wo genau.

Sie erinnerte sich an rein gar nichts. Fühlte sich so benommen, als hätte sie eine Woche durchgefeiert, dementsprechend heftig waren auch ihre Kopfschmerzen. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Als hätte jemand ihr Innerstes kräftig durchgeschüttelt.

Valerie sah an sich herunter. Ihr langes braunes Haar hing strähnig an ihren Schultern hinab. Ihre sonst so glänzenden Wellen waren stumpf und fettig. Ihr schlanker Körper fühlte sich schwer und träge unter der Krankenhausbettdecke an. Genau wie ihre Augenlider, die jeden Moment wieder zuzufallen drohten. Ihr Denken, ihre Bewegungen, ihre gesamte Wahrnehmung arbeiteten zäh wie altes Kaugummi.

Niemand war bei ihr. Dass niemand auf ihr Aufwachen wartete, konnte nur bedeuten, dass sie schon eine Weile hier lag. Zu lange jedenfalls, um nonstop Wache an ihrem Bett zu halten. Hatte sie im Koma gelegen? Ihr äußeres Erscheinungsbild hätte zumindest dafürgesprochen.

Ihr Gedächtnis war leer gefegt. An die letzten Tage erinnerte sie sich nicht mehr. Eine diffuse Beklemmung kroch ihr die Kehle hoch. Immerhin kannte sie ihren eigenen Namen: Valerie Stein. Das verbuchte sie für den Moment auf einer gedanklichen Positiv-Liste, um nicht gänzlich in Panik zu verfallen.

Sie schloss die Augen wieder. Eine Wohltat für ihre Netzhaut und ihren Sehnerv, obwohl ihr das Brennen Tränen in die Augenwinkel trieb. Ihr Name war also Valerie Stein. Gut. Und sie wusste auch, dass sie verheiratet war. Der Ehering, den sie an ihrem rechten Ringfinger ertastete, bestätigte das. Sie visualisierte das Gesicht ihres Ehemannes. Markus hieß er. Ja, genau. Er hatte dunkelbraune Haare, an den Schläfen schon etwas grau meliert, braune Augen und einen Dreitagebart. Ein attraktiver und sportlicher Mann von … von vierundvierzig Jahren. So weit, so gut. Was noch? Sie wohnten in der Schweiz, in Genf, um genau zu sein. Doch sie wollten nach Deutschland ziehen … in die Nähe der holländischen Grenze. War das schon passiert? Sie glaubte, schon. Doch so wirklich wusste sie es nicht.

Valerie schlug die Lider wieder auf und runzelte die Stirn, soweit das ohne erneute Schmerzexplosion möglich war.

Markus … Wo war er? Sie drehte den Kopf auf die andere Seite. Es war an der Zeit, den Ruftaster für die Schwestern oder für wen auch immer zu drücken. Sie tastete nach dem roten Knopf in der weißen Konsole.

Bestimmt war Markus zu Hause oder er trieb sich im Krankenhaus herum und wartete auf Neuigkeiten. Sie mussten ihn holen. Bisher hatte ja noch niemand bemerkt, dass sie bei Bewusstsein war. Folglich hatte noch keiner ihren Ehemann benachrichtigen können. Das war einleuchtend. Kein Grund zur Sorge.

Valerie atmete tief ein und wieder aus.

Sie versuchte, sich zu beruhigen und zu sammeln, bevor sie den Druck auf den Knopf verstärkte. Sie war bereit, doch sie kam gar nicht erst dazu, den Auslöser gänzlich herunterzudrücken, da wurde auch schon die Tür aufgestoßen.

»Frau Stein? Wie schön, Sie sind wach!«

Die Stimme war eine Spur zu laut und eine Spur zu euphorisch für Valeries dröhnenden Schädel.

Zweifelsohne war der Kerl, der gerade mehr oder weniger ihr Krankenzimmer stürmte, ein Arzt – weißer Kittel, weiße Hose, selbstbewusstes Auftreten, kräftige Stimme. Ein Prototyp. Hinter ihm eine Schwester in einem bordeauxroten Kasack und ebenfalls weißer Hose.

»Ich bin Dr. Mertens, Chefarzt der Neurologie«, sagte er, nachdem er neben Valeries Bett zum Stehen gekommen war. Immerhin gab er sich nun Mühe, etwas weniger forsch zu sprechen. Er fixierte Valerie, während er blind eine kleine Taschenlampe aus seiner Kitteltasche fischte. »Können Sie mich verstehen?«

Aha, sie war also in der Neurologie. Das hatte Valerie auch trotz des Wattebauschs, der einmal ihr Gehirn gewesen war, verstanden. Sie wollte Dr. Mertens antworten, doch der begann inzwischen, mit der Taschenlampe vor ihrem Gesicht herumzufuchteln und ihr abwechselnd in beide Augen zu leuchten. Ihre Antwort verschob sie, denn das grelle Licht schickte erneute Schmerzensblitze durch ihre Augäpfel.

Mertens schien mit dem Ergebnis seiner kurzen Untersuchung zufrieden zu sein, denn er steckte die Lampe kommentarlos wieder ein.

Nun nickte Valerie wenigstens als verspätete Reaktion auf seine Frage.

Dr. Mertens’ blondes, etwas wild bis zu den Ohren gewachsenes Haar hing ihm lässig in die Stirn. Er gab nicht das klassische Bild eines Arztes ab. Rein optisch würde Mertens sogar eher als Beach-Boy durchgehen, fand Valerie. Sein Teint war leicht gebräunt und seine Zähne von einem augenscheinlich natürlichen Weiß. Der Neurologe stand neben ihrem Bett und machte keine Anstalten, sich auf den kleinen Rollhocker zu setzen. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?

Da er sehr groß war, musste Valerie den Kopf weit in den Nacken legen, um ihm in die Augen sehen zu können. Da ihr Blick dabei zwangsläufig die grelle Deckenlampe streifte, war der erneute Schmerz vorprogrammiert. Schnell schirmte sie ihre Augen mit den Händen ab. Sie gab ihren Stimmbändern den Befehl zu sprechen, doch sie gehorchten nicht. Wasser. Sie brauchte Wasser.

»Frau Stein?« Dr. Mertens setzte sich nun doch auf den Rollhocker.

»Ich … hm«, krächzte sie endlich und versuchte, sich zu räuspern. Ihre Kehle war trocken und schmerzte ein wenig. Ihre Stimme klang brüchig.

»Schon gut. Es ist vollkommen normal, dass Ihr Hals etwas rau ist.« Dr. Mertens las Valeries Gedanken und schenkte ihr ein Glas Wasser aus einer Karaffe ein. Beides stand auf dem Tisch neben ihrem Bett bereit. »Trinken Sie einen Schluck. Sie waren einige Zeit nicht bei Bewusstsein, aber es geht Ihnen den Umständen entsprechend gut. Sie waren zu keiner Zeit in Lebensgefahr und …«

»Lebensgefahr? Aber was …?« Mehr schlecht als recht hatte Valerie mit einem Mal ihre Stimme wiedergefunden, doch ein Hustenanfall ließ nicht mehr Fragen zu, obwohl sie Hunderte davon hatte. Ihr wurde schwindelig, nachdem sie sich eine Spur zu schnell aufgerichtet hatte. Kein Wunder. Ihr Körper legte gerade einen Kickstart von null auf mindestens tausend Umdrehungen hin.

Dr. Mertens machte eine beschwichtigende Geste mit beiden Händen. Die Schwester stand nur da und sah sie mitleidig an. Kein gutes Zeichen.

»Bleiben Sie bitte ganz ruhig. Sie befinden sich im Klinikum Langenfeld.« Langenfeld. Das klang ziemlich deutsch. Also hatte der Umzug bereits stattgefunden. »Mein Name ist, wie gesagt, Dr. Stefan Mertens, und ich bin der Chefarzt der Neurologie. Ich kann mir vorstellen, dass Sie einige Fragen haben. Sie waren ziemlich orientierungslos, als Sie vorgestern hier aufgenommen worden sind, aber Sie hatten enormes Glück. Rein körperlich betrachtet ist Ihnen nichts Schwerwiegendes passiert. Sie sind mit ein paar Schrammen und einer Handvoll blauer Flecken davongekommen. Allerdings ist ein leichtes Schleudertrauma nicht auszuschließen. Können Sie sich an den Vorfall erinnern?«

Welcher Vorfall? Nein, zum Teufel!

Sonst hätte sie ihn ja wohl kaum danach gefragt! Klar war, irgendetwas Schlimmes musste passiert sein. Dieser Blick der Schwester … Jetzt nur keine Panik. Dass sie sich an einen Unfall nicht erinnerte, ließ sich auf einen Schock schieben, damit konnte Valerie leben. Aber der Umzug … die letzten Tage?

Sie schüttelte den Kopf. Griff nun doch nach dem Wasser und trank einen Schluck.

»Tut mir leid … Ich … ich verstehe nichts von dem, was Sie sagen. Ich erinnere mich an gar nichts. Ich … Wir sind vor Kurzem hierhergezogen … Glaube ich zumindest.«

»Nun ja …« Dieses Zögern gefiel Valerie gar nicht. Der Blick des Neurologen verdunkelte sich kaum merklich, doch ihr fiel es sofort auf. »Wie gesagt, Sie kamen ohne schwere Verletzungen davon. Aber beim Aufprall des Fahrzeugs haben Sie sich heftig den Kopf gestoßen.«

»Ein Autounfall?«

Herrje, musste man ihm denn alles aus der Nase ziehen?

Die Häppchen, die er ihr hinwarf, regten Valerie auf und verwirrten sie mehr, als dass sie Licht in ihr Dunkel brachten.

»Ja, Frau Stein, und Sie sind nicht die Fahrerin des Wagens gewesen.« Der Blick des Chefarztes verdunkelte sich weiter, bekam langsam auch einen Hauch von Mitleid. Das gefiel ihr ganz und gar nicht. Valeries Kopfkino lief Amok, denn diese Informationshäppchen ließen nichts Gutes erahnen.

Bitte, lass es nicht so sein, wie ich denke …

Dann sprach Dr. Mertens weiter. »Zunächst, Frau Stein, kann ich Ihnen sagen, dass wir davon ausgehen, dass sich Ihr Gedächtnis wieder weitestgehend erholen wird. Wie lange das dauern wird und bis zu welchem Grad Ihre Erinnerungen wiederkehren, das wird sich in den nächsten Tagen zeigen.«

Unter Valerie tat sich ein Loch auf, sie wollte wenigstens eine der Fragen stellen, die in ihrem Kopf kreisten, aber sie würde den trägen Mertens unter keinen Umständen unterbrechen. Wahrscheinlich wollte er behutsam vorgehen, doch er war vor allem eins: langsam!

»In etwa einer Stunde wird Sie jemand von der Kriminalpolizei besuchen. Es tut mir leid, dass wir Sie schon so früh nach Ihrem Aufwachen damit konfrontieren müssen. Wir haben die Anweisung, die Polizei unverzüglich zu verständigen, sobald Sie vernehmungsfähig sind.«

Was … soll das?

Valerie hielt sich selbst im Moment für alles andere als vernehmungsfähig und jeder andere konnte ihrer Meinung nach besser beantworten, was passiert war, als sie selbst. Doch jedes ihrer Worte hätte Mertens’ Ausführungen wahrscheinlich noch länger hinausgezögert. Also schwieg sie, auch wenn alles in ihr schrie.

Mertens’ Blick verfinsterte sich, verriet alles. Noch mehr als der der Krankenschwester, die in diesem Moment einen Tick zu beschäftigt irgendetwas auf einem Klemmbrett notierte – vermutlich, um Valerie nicht ansehen zu müssen.

»Ihr Mann …« Nein! »Er war der Fahrer des Wagens. Leider …«

Nein, nein, nein! So darf der Satz nicht weitergehen! Nicht mit einem »Leider«!

Offenbar fielen ihm die richtigen Worte schwer. Schlussendlich fand er sie. »Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann den Unfall nicht überlebt hat.« Nein … »Er wurde zusammen mit Ihnen eingeliefert, aber man konnte nichts mehr für ihn tun. Er trug schwerste innere Verletzungen davon. Meine Kollegen haben alles versucht, doch sie konnten die inneren Blutungen nicht stoppen. Die Details zum Unfall wird Ihnen die Polizei sicherlich später schildern … wenn Sie das überhaupt möchten. Ich bin bedauerlicherweise nicht befugt, Ihnen an dieser Stelle mehr zu erzählen, und die Beamten können Ihnen alle Fragen, von denen Sie wahrscheinlich mehr als genug haben, besser beantworten als ich. Es tut mir wirklich sehr leid.«

Als Valerie ihn, unfähig zu sprechen, nur entsetzt anstarrte, fügte Mertens noch etwas hinzu. Irgendetwas von »psychologische Hilfe«, aber sie hörte nicht mehr hin.

Markus war tot. Bei einem Autounfall gestorben. Ihr Markus … der Raser und Verkehrsrowdys stets mit den kreativsten Schimpfwörtern bedacht hatte, nie auch nur einen Euro Bußgeld kassiert hatte. Es konnte einfach nicht sein, dass sie nur mit ein paar Schrammen davongekommen war und … und ihr Mann tot war.

Tränen füllten Valeries Augen, die Erkenntnis sickerte nach und nach in ihre Glieder und in jede einzelne Körperzelle. Ihre Wangen wurden nass.

»Ich … bitte …« Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte, was man in so einem Moment sagte, wie sie auch nur eine Sekunde ohne ihren Mann weiterleben konnte. »Würden Sie mich … einen Augenblick allein lassen?«, bat sie schließlich Dr. Mertens und die Schwester, die nun mit ihrem Klemmbrett etwas abseits stand.

Valerie wollte allein sein und nicht allein sein. Schreien und schweigen. Woanders sein und hier sein.

Der Arzt wusste all das natürlich nicht, nickte nur betreten und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

Was blieb, war Stille. Viel zu laute Stille.

2

Ein Klopfen riss Valerie aus ihren dunklen Gedanken, die sich in den letzten Minuten um nichts und alles gedreht hatten. Sie hatte geweint und gehofft, sich danach irgendwie anders zu fühlen. Nicht mehr … so. Aber nichts hatte sich geändert. Natürlich nicht. Markus war immer noch tot, sie immer noch hilflos und irgendwo zwischen Realität und Nichtwahrhabenwollen gefangen.

Die Schwester, die nach Mertens das Zimmer verlassen hatte, hatte die Tür offen stehen lassen, daher erschien ihr das Anklopfen überflüssig, doch sie hätte es aus Höflichkeit genauso gemacht.

»Frau Valerie Stein?«

Im Türrahmen stand ein breitschultriger, braunhaariger Mann mit einer Mappe in der Hand. Er war kurz nach der Tür stehen geblieben und wartete offenbar darauf, von Valerie vollends in den Raum gebeten zu werden.

Sie schnappte sich ein Taschentuch aus einer Box auf ihrem Nachttisch und wischte sich damit die Tränen unter ihren spürbar geschwollenen Augen weg. Die Box stand sicherlich nicht standardmäßig auf jedem Beistelltisch. Man hatte gewusst, was kommen würde … dass sie sie brauchen würde … Dann nickte sie knapp, was den Besucher dazu veranlasste, wortlos bis vor ihr Bett zu treten. Das selbstsichere Auftreten von Dr. Mertens wurde von dem Kerl noch getoppt. Valerie sah zu ihm auf und musterte ihn unverhohlen. Für Diskretion fehlten ihr die Kraft und die Lust.

Der Mann sah schon aus wie einer von der Polizei, obwohl er keine klassische Uniform anhatte. Er war hochgewachsen, trug dunkelblaue Jeans mit braunem Gürtel, ein schwarzes Jackett mit weißem Hemd darunter und dunkelbraune Lederschuhe. Der Mann war schätzungsweise Mitte dreißig, hatte neben dem dichten, dunkelbraunen Haar auch braune Augen. Insgesamt war er eine attraktive und imposante Erscheinung, wie Valerie nüchtern feststellte.

Na, dann mal los …

Sie wollte diesen grauenhaften Termin endlich hinter sich bringen und versuchen, nicht zusammenzubrechen.

Der Mann begann also an Ort und Stelle zu sprechen, als würde er einen Vortrag halten. Er hatte so etwas wohl schon viel zu oft getan.

»Guten Tag, Frau Stein, mein Name ist Patrick Maler, ich bin Kommissar bei der Kriminalpolizei. Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich fragen, warum ich hier bin.« Er machte eine kurze Pause, streckte seine Hand aus, aber Valerie reagierte nicht. »Ich bin hier, um Ihnen die Sachlage zu erläutern. Bitte entschuldigen Sie den abrupten Einstieg, doch so lässt es sich offener sprechen.« Maler zog sich den kleinen Rollhocker heran und setzte sich. »Die Staatsanwaltschaft hat Grund zur Annahme, dass bei dem Unfall noch ein weiteres Fahrzeug beteiligt gewesen ist. Die Kollegen der Verkehrspolizei, die Ihr Auto sichergestellt haben, haben Bremsspuren eines zweiten Wagens am Unfallort festgestellt. Daher wurde ich mit Ihrem Fall betraut. Es ist nicht auszuschließen, dass jemand anderes den Unfall verursacht und anschließend Fahrerflucht begangen hat. Wir müssen daher Ermittlungen einleiten und brauchen Ihre Aussage dazu.«

Schockiert riss Valerie die Augen auf. Natürlich. Ein einfacher Verkehrsunfall rief nicht gleich die Kripo auf den Schirm. Der Albtraum wurde immer unerträglicher, immer verworrener. Nicht nur, dass Markus den Unfall nicht überlebt hatte, er war von jemand anderem regelrecht getötet worden. Und dieses feige Schwein hatte sich einfach so aus dem Staub gemacht, womöglich ihren Ehemann sterbend zurückgelassen … In die Trauer mischte sich Wut. Sie hatte gewusst, dass Markus nicht schuld gewesen sein konnte. Doch das half ihr nun auch nichts mehr. Und ihm auch nicht …

Paralysiert starrte sie Kommissar Maler an. Noch immer konnte sie keinen Ton von sich geben, was Maler nicht daran hinderte, seinen Dienst zu verrichten. Er zog sich den Nachttisch heran und quetschte seine Mappe neben Taschentuchbox, Wasserglas und Karaffe, die dadurch bedrohlich nah an der Kante stand.

»Zunächst möchte ich Ihnen mein Beileid aussprechen. Es tut mir sehr leid, was passiert ist. Aber ich muss leider sofort zum Punkt kommen und hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel.« Sein Ton klang mitfühlend, aber geschäftsmäßig. Professionell. Er schlug seine Mappe auf, kniff die Lippen zusammen und zog einen Kugelschreiber aus seinem Jackett.

»In erster Linie dient mein Besuch dazu, Ihnen zu vermitteln, was geschehen ist, und Ihre Zeugenaussage aufzunehmen. Man hat mir gesagt, dass Sie sehr verwirrt waren, als Sie hier eingeliefert wurden, und Ihre Erinnerung an den Unfall bis jetzt nicht zurückgekehrt ist. Ist das richtig?«

Der Kugelschreiber klackte.

Valerie nickte.

»Das tut mir wirklich leid. Das muss schrecklich sein.« Er wiederholte sich, doch seinem Tonfall nach schien er das ernst zu meinen. Oder es war einstudiert. »Ich muss Ihnen jetzt trotzdem einige Fragen zum Unfallhergang stellen. Der Vollständigkeit halber. Ich werde die Befragung aber nicht mehr als nötig in die Länge ziehen, in Ordnung?«

Wieder nickte Valerie nur. Sie war ausgebrannt, die letzten Stunden – oder waren es nur Minuten gewesen? – hatten sie ausgesaugt. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und bemühte sich, gefasst zu wirken. Dass ihr das nicht wirklich gut gelang, konnte sie an Malers mitleidigem Blick erkennen.

»Ich weiß, dass die Art der Fragen, die ich Ihnen nun stellen muss, nicht angenehm für Sie ist. Das ist nur unerfreulicherweise das Vorgehen bei derartigen Personenschäden.«

Derartigen Personenschäden? Hatte er sie noch alle?

Das war Markus also für ihn: der tausendste derartige Personenschaden seiner Laufbahn. Nun war sie fast schon froh darüber, Maler keine Auskunft geben zu können. Immerhin kam da ein neues Gefühl hinzu: Trotz. Sie machte Fortschritte.

Es folgte ein kurzes Verhör, sofern man das Frage-Antwort-Spiel, zu dem Valerie so gut wie nichts beitragen konnte, so nennen konnte. Patrick Maler hielt Wort und zog die Befragung nicht unnötig in die Länge. Valerie hatte den Kommissar offenbar falsch eingeschätzt, denn er war verständnisvoll genug, sie nicht mit einer Unzahl an quälenden Fragen zu löchern.

Nach ungefähr einer halben Stunde veränderte sich seine Stimme. Er klang viel mitfühlender als zuvor. Menschlicher. Valerie entschuldigte sich stumm bei ihm für ihre zickigen Gedanken. Er faltete seine Hände wie zum Gebet und legte sie auf die inzwischen zugeschlagene Mappe. Er zog sogar die Karaffe wieder mehr Richtung Tischmitte. Seine Körperhaltung entspannte sich ein wenig. Der erste Teil war erledigt. Valerie ahnte, dass nun etwas noch Schlimmeres kommen musste. Und sie behielt recht.

»Ich schildere Ihnen jetzt, wie der Unfall aus unserer Sicht abgelaufen sein könnte. Wir können in vielen Dingen nur spekulieren, da es keine weiteren Zeugen gegeben hat und wir den Fahrer des zweiten Wagens erst noch aufspüren müssen. Wollen Sie, dass ich fortfahre?«

Wieder nickte Valerie nur stumm. Eigentlich war ihre Antwort auf diese Frage ein klares Nein, aber das würde sie sich später nie verzeihen. Sie musste wissen, was Markus in seinen letzten Minuten durchgemacht hatte, egal wie schmerzhaft es für sie sein würde.

»In Ordnung. Sie dürfen mich jederzeit unterbrechen.«

Valerie schluckte. Die Menschlichkeit in der Stimme des Kommissars war wieder verschwunden. Das war wohl auch besser so, wenn er nicht wollte, dass Valerie sofort losheulte wie ein Schlosshund.

»Sie und Ihr Mann waren unseren Untersuchungen zufolge auf der Landstraße in einem Waldstück unterwegs. Aufgrund der Bremsspuren kann man wie gesagt davon ausgehen, dass der Fahrer eines zweiten Wagens den Unfall verursacht hat. Er muss von seiner Fahrbahn abgekommen sein und aller Wahrscheinlichkeit nach frontal auf Sie zugerast sein. Er bremste, muss das Fahrzeug wieder unter Kontrolle gebracht haben und weitergefahren sein. Nachdem sich Ihr Wagen nach Ihrem eigenen Bremsmanöver einmal um seine eigene Achse gedreht hat, prallte er gegen einen Baum.«

Maler machte eine kurze Pause, wahrscheinlich, um in Valeries Gesicht nach einem Zeichen zu suchen, dass er seine Geschichte beenden oder unterbrechen sollte.

Aber sie verzog keine Miene und hörte ausdruckslos zu.

Also fuhr er fort: »Ihr Mann wurde im Wagen eingeklemmt. Der Baum hat die Fahrerseite völlig eingedrückt. Dass das Auto in diesem Winkel dagegengeprallt ist, hat Ihnen selbst vermutlich das Leben gerettet. Sie wurden beide von einem Rettungswagen in dieses Krankenhaus hier gebracht.«

Maler sah nun doch betreten auf seine Hände. Den Rest der Geschichte sparte er sich offenbar.

So soll es also gewesen sein. Genauso unspektakulär wie entsetzlich. Der Kloß in Valeries Hals wuchs, als sie sich Markus’ zertrümmerten schwarzen Porsche Cayenne vorstellte.

»Okay« war alles, was sie hervorbrachte. Mehr Wörter hätten gleichzeitig noch mehr Tränen bedeutet.

»Ich verspreche Ihnen, Sie sofort anzurufen, wenn es Neuigkeiten in Bezug auf das zweite Fahrzeug gibt. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, dann melden Sie sich unbedingt bei mir persönlich.« Er fischte eine Visitenkarte aus dem Jackett und reichte sie Valerie. »Ich bin fast rund um die Uhr erreichbar. Sollten Sie mich aber tatsächlich nicht erwischen, dann sprechen Sie mir auf die Mailbox oder hinterlassen Sie auf dem Revier eine Nachricht für mich, und ich melde mich bei Ihnen. Die Kollegen wissen, dass ich Ihren Fall betreue.«

Natürlich tun sie das, so etwas passiert nicht jeden Tag …

Wieder streckte Maler die Hand aus. Dieses Mal nahm Valerie sie entgegen und murmelte ein ersticktes »Danke«.

Dann packte er zusammen und ging.

Valerie und ihre Gedanken waren wieder allein. Sie und Markus waren also schlichtweg zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Wären sie nur eine Minute früher oder später losgefahren, wäre das alles vielleicht gar nicht passiert. Ein grauenhafter und quälender Gedanke, den sie sofort beiseiteschob. Sie hoffte inständig, dass dieser miese Feigling seine gerechte Strafe bekommen würde.

Und dann sprengte der Kloß in ihrem Hals die Dämme.

Sie sah aus dem Fenster. Es war Herbst und es regnete.

Wie passend.

3

Einige Stunden waren inzwischen vergangen. Die Tränen waren reinem Existieren gewichen.

Sie war für weitere Untersuchungen abgeholt worden und war für ein Schädel-MRT in diese ekelhaft laute Röhre geschoben worden. Mertens hatte dadurch endgültig ernsthafte Verletzungen ihres Gehirns ausschließen können. Was ihr blieb, waren die penetranten und stechenden Kopfschmerzen. Und deshalb wollte er sie noch ein wenig hierbehalten. Doch Valerie wollte raus. Sie musste mit Mertens reden.

Sie lag in ihrem Krankenbett und starrte auf die Regentropfen, die langsam an der Fensterscheibe hinunterliefen. Mit irgendetwas musste sie ihren Geist verankern, um nicht völlig in einem tiefen schwarzen Loch zu versinken. Sie versuchte krampfhaft, sich zu erinnern. An Markus und an die letzten Tage.

Vor rund zweiundsiebzig Stunden waren sie – vermutlich – von Genf nach Norddeutschland gezogen. Länger konnte es, dem Wandkalender nach zu urteilen, nicht her sein. Hieß der Ort Kollberg? Sie wusste es nicht mehr genau und presste die Fäuste gegen ihre Stirn, als könnte sie ihr Gehirn so dazu bewegen, sich mehr anzustrengen. Sie schloss die Augen.

Atmen. Erst mal nur atmen und sich konzentrieren.

Sie konnte sich an den Auszug aus ihrem alten Haus erinnern. An den Einzug in das neue nicht. Markus und sie hatten ein neues Leben beginnen wollen, so abgedroschen das auch klang. Alles, was vor der Abreise geschehen war, wusste sie noch. So glaubte sie zumindest. Einen Beweis dafür hatte sie nicht und auch niemanden, der ihr das bestätigen konnte.

Am Abend des Einzugs hatte sich wohl der Unfall ereignet. Sicherlich waren sie den ganzen Tag unterwegs gewesen, um die gesamte Strecke an einem einzigen Tag hinter sich zu bringen. Sie meinte, dass das so besprochen gewesen war, und so mussten sie das Haus noch einmal verlassen haben. Vielleicht, um essen zu gehen … Und dann, um kurz nach zwanzig Uhr, war es passiert. Sie konnte sich zwar an den Einzug nicht mehr erinnern, doch sie wusste natürlich, dass sie ein Haus gekauft hatten. So ein Prozess dauerte schließlich etwas länger. Markus und sie hatten es zusammen ausgesucht und dafür wochenlang das Internet nach der passenden Immobilie durchforstet. Es fühlte sich beängstigend an, nicht nur den Ehemann, sondern mindestens drei Tage ihres Lebens verloren zu haben.

Was war geschehen? Hatten sie auf der Fahrt gelacht? Musik gehört? Über ein bestimmtes Thema gesprochen?

Die Verzweiflung kroch in ihr hoch und drohte sie erneut zu zerreißen. Sie hatte immer alles im Griff gehabt, stand mit beiden Beinen fest im Leben und strotzte vor Selbstbewusstsein. Sie war beliebt, strahlte immer eine gewisse Sicherheit aus, die sie in ihrem Innersten stets selbst spürte, war ein Fels in der Brandung, der das Leben liebte und genoss. Bereits mit Anfang zwanzig hatte sie eine kleine Kosmetikfirma gegründet, die stetig mehr Kunden und Mitarbeiter angezogen hatte. Das Unternehmen lief mit der Zeit immer besser. Es war Valeries Baby und aus diesem Grund machte sie ihren Job gut. So gut, dass sie sich Angestellte, ein kleines Labor und einige Filialen, in der ganzen Schweiz verteilt, leisten konnte. Sie liebte ihren Beruf über alles. Und der kostete sie Zeit. Zu viel Zeit für Markus’ Geschmack. Aber er brachte auch Geld ein. Sehr viel Geld.

Markus hatte seinen Bürojob vor zwei Jahren verloren, als die Firma, in der er arbeitete, pleitegegangen war. Seitdem war er mit seiner Rolle als Hausmann und Valeries privater Assistent sehr zufrieden gewesen. Zumindest hatte er sich nie beklagt. Dennoch hatte er hin und wieder geäußert, dass er sich mehr wünsche. Er erwähnte nicht nur einmal, dass sie mehr Zeit zusammen verbringen und endlich die Früchte von Valeries Arbeit genießen sollten. Er wollte auf Reisen gehen und mit ihr die Welt erkunden. Hätte sie ihm diesen Wunsch nur erfüllt …

Nach vielen schlaflosen Nächten war Valerie also schweren Herzens über ihren Schatten gesprungen und hatte beschlossen, ihr Unternehmen vollständig zu verkaufen. Ein reines Delegieren hätte nicht gereicht. Sie hätte weiterhin alles und jeden kontrolliert, Perfektionismus sei Dank. Und um loslassen zu können, brauchte sie Abstand. Dass ihr Neuanfang in Deutschland beginnen würde, hatte sich schlichtweg so ergeben. Sie fanden ein Haus, das ihren Vorstellungen entsprach. Der kleine Ort, dessen Name Valerie nicht einfallen wollte, wirkte idyllisch und perfekt für einen Neustart. Mit ihrem Vermögen mühelos machbar. Umgerechnet neun Millionen Euro lagen nun auf ihrem Bankkonto und erschienen ihr wie ein Witz. Markus hatte sich so sehr auf das Leben ohne Verpflichtungen, Zeitpläne und Vorgesetzte gefreut. Valerie selbst hatte jedoch schon eine nächste, etwas weniger zeitaufwendige Geschäftsidee vor Augen gehabt – die Investition in ein Start-up im Gesundheitsbereich. Sie brauchte immer einen Plan B. Markus hatte zwar etwas widerwillig ihrem Vorhaben zugestimmt, aber sie hätten schon einen Kompromiss gefunden. Das hatten sie bisher immer.

Ein Klopfen beendete Valeries Flashback. Ohne ein »Herein« von ihr stand Dr. Mertens im Türrahmen.

»Frau Stein, wie geht es Ihnen?«

Was für eine blöde Frage. Er hat mich vor einer Stunde selbst untersucht.

Dennoch antwortete Valerie lapidar: »Den Umständen entsprechend«, weil ihr keine bessere Antwort einfiel. Dass Mertens kam, traf sich gut, denn sie wollte diesem Albtraum wenigstens ein Stück weit entkommen.

»Wann kann ich denn hier raus?«, warf sie ihm also ohne Umschweife entgegen.

»Sehen Sie …«

O nein, wenn er so anfing, dann lag ihre Entlassung sicher in weiter Ferne.

»Sehen Sie«, wiederholte er, »auch wenn Ihr Gehirn keine Auffälligkeiten zeigt, ist Ihre Amnesie dennoch besorgniserregend. Sie haben gerade Ihren Ehemann, Ihre einzige Bezugsperson hier, verloren. Eine psychologische Untersuchung steht ebenfalls noch aus …« Er hob besorgt die Augenbrauen. »Ich kann Sie so eigentlich nicht gehen lassen.«

Eigentlich?

Valerie reagierte rhetorisch beinahe so schnell wie früher, fing den Ball und spielte ihn zurück.

»Warum nicht? Ich entlasse mich selbst!« Sie wusste, dass das irgendwie ging. Sie wusste aber auch, dass Mertens auf eine Art recht hatte. Sie war allein. So allein, wie man nur sein konnte, und zu allem Überfluss mit Löchern im Gedächtnis. Doch die Worte waren raus. So wie sie es bald sein würde. Hoffentlich. Ihr fiel die Decke auf den Kopf, sie konnte sich nicht ablenken. Nicht einmal ihr Handy hatte in diesen vier Wänden anständigen Empfang! Und sie wollte nach Genf. So schnell wie möglich. Nicht mehr allein sein. Sie wollte mit ihrer Schwester reden, der sie bisher nur einmal auf die Mailbox gesprochen hatte. Für mehr hatten ihr der Mut und die Kraft gefehlt. Jeden Rückruf hatte Valerie ignoriert, ihr nur per SMS versichert, sie würde sich melden, wenn sie konnte. Sie hatte es auf das Handynetz geschoben.

Mertens erwiderte nichts, wodurch Valerie sich genötigt fühlte, noch etwas hinzuzufügen. »Wenn es nur wegen meiner Psyche ist … Das bekomme ich schon hin!« Richtig überzeugend klang sie nicht. Zu gewollt optimistisch. Mist, sie hatte sich zu vorschnell aus der Reserve locken lassen.

Mertens schnaufte. Er sah gedankenverloren aus dem Fenster und schien zu überlegen.

Bitte, bitte, bitte.

»In Ordnung«, sagte er seufzend. »Unter einer Bedingung.«

Jede!

Mertens ging offenbar nicht auf Valeries Forderung der Selbstentlassung ein. Dann stand das wohl doch nicht zur Debatte. Schade, aber sie würde jede Auflage erfüllen, um wieder einen Teil ihres Lebens zurückzugewinnen. Wenigstens ihre Selbstbestimmung.

»Körperlich fehlt Ihnen nichts, die Kopfschmerzen werden verschwinden, dafür gebe ich Ihnen Tabletten. Ihr seelischer und psychischer Zustand ist der, der mir Sorgen macht. Ich bereite Ihre Papiere vor, wenn Sie im Anschluss einen Psychiater oder wenigstens einen Psychologen aufsuchen. Anders könnte ich es nicht verantworten. Und unser Entlassungsmanagement sieht solche Verordnungen vor, wenn wir Ärzte das für notwendig halten.«

Nein. Das nicht!

»Psychiater?« Valeries Gedanken schlugen Purzelbäume. Das war das Letzte, was sie wollte. Ihr war natürlich bewusst, wie es um sie bestellt war. Mertens hatte es selbst gesagt. Ihr Ehemann war gestorben. Und war es da verwunderlich, dass sie nicht gerade ein Quell der Freude war? Sie würde sicherlich keiner wildfremden Person ihre Lebensgeschichte auftischen, nur um dann zu erfahren, dass ihr inneres Kind geheilt werden müsse. Nein. Sie holte zum Gegenschlag aus. Zum ersten Mal kam wieder etwas Spannung und Kampflust in ihren Körper. »Dr. Mertens, ich versichere Ihnen, ich schaffe das. Allein. Ich brauche weder Gespräche noch Antidepressiva oder solchen Kram. Nur bitte: Lassen Sie mich gehen. Ich drehe hier drin noch durch.« Valerie wollte ihre Forderung von vorhin wiederholen. Eine Entlassung, und zwar ohne Psychodoktor. Er konnte sie zu nichts zwingen. »Ich entla…«

»Ich betreue Sie.«

Valerie verstand nicht. Doch Mertens’ Miene veränderte sich. Wurde offener. Er bemerkte offenbar ihren verwirrten Gesichtsausdruck und fuhr fort: »Ich kann das übernehmen. Sie müssten sich nicht umstellen und ich könnte Sie guten Gewissens nach Hause schicken.«

»Aber wie …?« Valerie begriff noch immer nicht.

»Nicht als Neurologe natürlich, sondern als Psychiater. Mein zweites Fachgebiet. Zusammen mit einem Kollegen bieten wir psychosomatische Nachsorge an. Das ist meine ärztliche Anordnung, wenn Sie so wollen. Ich beobachte Ihre Genesung, Ihre Amnesie, Ihre Psyche.«

»Aber … Ich kann doch nicht jeden Tag hierher …«

»Das müssen Sie nicht. Ich komme zu Ihnen nach Hause. Ihre Versicherung deckt das ab. Das hat sich in dieser ländlichen Gegend bewährt. Nicht jeder hat ein Auto und auf einen Bus können Sie lange warten.«

Hausbesuch also … von einem Psychiater. Klar, das wäre auch für Mertens oder das Krankenhaus recht rentabel. Er könnte ein schönes Sümmchen abrechnen, das Valeries private Versicherung sicher anstandslos übernehmen würde.

»Und wie lange soll das gehen?« Ganz überzeugt war sie noch nicht. Valerie war versucht, Mertens noch einmal plump ihre Forderung der Selbstentlassung ohne Wenn und Aber um die Ohren zu hauen, aber auf der einen Seite kam sie sich jetzt schon vor wie ein trotziges Kind – nicht wie die taffe Businessfrau, die sie eigentlich war … gewesen war. Und auf der anderen Seite stimmte es. Sie stand unter Schock. Sie war allein. Sie musste sich eingestehen, dass sie verunsichert war. Hilflos. Vielleicht war sein Vorschlag doch nicht so …

»Bis Ihre Kopfschmerzen abklingen und Sie wieder stabil sind. Das lässt sich so pauschal nicht sagen.«

Mertens grätschte mit seiner Antwort in Valeries gedankliche Pro-und-Kontra-Liste.

Stabil … Er sagte das einfach so. Valerie überschlug, so schnell es ihr schwammiges Hirn zuließ, weiter ihre Möglichkeiten. Sie wollte nach Hause, eigentlich zurück nach Genf, doch wie schnell würde sie dorthin zurückkehren können? Markus … Ja! Markus musste auch noch hier raus. Sie hatte eine Menge zu organisieren, würde also wahrscheinlich sowieso eine Weile an diesen Ort gefesselt sein. Ohne richtige Ansprache, ohne wirkliche Unterstützung. Sie hatte sich im Grunde gerade selbst von Mertens’ Vorschlag überzeugt. Er würde ohnehin nicht lockerlassen, möglicherweise sogar noch mehr Gründe finden, die eine Entlassung herauszögerten. Also schön. Dann eben so.

»In Ordnung.«

4

Am nächsten Tag wurde Valerie also entlassen.

Im Badezimmer schlüpfte sie in ihre Jeans, zog sich den dunkelblauen Wollpullover und auch die schwarze Übergangsjacke über, die sie wohl während des Unfalls getragen hatte. Das Klinikpersonal hatte ihre Sachen offenbar gewaschen. Sie rochen seltsam. Irgendwie … steril. Nicht nach ihr selbst. Dann stieg sie in die schwarzen Stiefeletten – das einzig Vertraute im Moment. Das Patientenhemd legte sie ordentlich gefaltet auf den geschlossenen Toilettendeckel. Vor dem Spiegel betrachtete sie, kurz bevor die Abschlussvisite stattfinden sollte, das Ausmaß ihrer Verletzungen. Diese verdienten die Bezeichnung nicht einmal. Ehrlich gesagt, erkannte Valerie kaum etwas. Sollte es oberflächliche Wunden gegeben haben, so waren diese nach drei Tagen bereits nicht mehr sichtbar. Sie musste ihrem Schutzengel danken, dass sie noch am Leben war, während Markus wahrscheinlich im Keller dieses Krankenhauses in einem Kühlfach lag und darauf wartete, dass andere entschieden, was mit ihm passierte.

Sie hatte ihn noch einmal sehen wollen und Mertens darum gebeten, zu ihm gehen zu dürfen. Er hatte natürlich zugestimmt, sie aber darauf vorbereitet, dass »von seinem Gesicht nichts mehr übrig« sei, wie er es ausgedrückt hatte. Valerie hatte mit sich gehadert, Tränen vergossen und regelrechte Kämpfe mit ihrem Gewissen ausgetragen. Bei dem Gedanken, ihren Ehemann auf einem Edelstahltisch in der Gerichtsmedizin zu sehen, nur noch eine entstellte Hülle, die man bestenfalls mit Drähten und Kleber, so gut es eben ging, wiederhergestellt hatte, wurde ihr speiübel. Wollte sie ihn wirklich so in Erinnerung behalten? Valerie lief es bei der Vorstellung eiskalt den Rücken hinunter. Es würde ihr alles nur noch schwerer machen. Sie konnte es einfach nicht und so zog sie ihre Bitte vor Mertens zurück.

Das inzwischen vertraute Klopfen an der Tür verriet ihr, dass der Zeitpunkt für die letzte Visite gekommen war. Und auch diese nahm Dr. Mertens vor. Valerie riss sich zusammen und schluckte ein weiteres Mal den schweren Kloß im Hals hinunter.

»Hallo, Frau Stein.« Fast schon gut gelaunt kam er auf Valerie zu, die inzwischen vor der Badezimmertür stand. Ohne Umschweife drückte er ihr eine kleine weiße Dose und einen Umschlag in die Hand. Tabletten. Endlich, die Kopfschmerzen brachten sie noch um.

Die Dose war ringsherum mit einer Banderole versehen. Sie sah auf das Etikett und begann zu lesen. »Ociph…« Sie konnte den Namen nicht aussprechen und im Prinzip interessierte er sie auch nicht.

»Ich weiß, ein Zungenbrecher.« Dr. Mertens lachte. »Die sind gegen Ihre Kopfschmerzen. Ich habe Ihnen ein paar davon abgefüllt. Diese Menge dürfte in den nächsten Tagen ausreichen. In drei bis vier Tagen sollten Sie eine deutliche Besserung spüren. Nehmen Sie immer eine Tablette, wenn Sie merken, dass der Schmerz wiederkommt. Die Höchstdosis liegt bei fünf Stück in vierundzwanzig Stunden. Bitte schonen Sie sich noch so viel wie möglich. Am besten vereinbaren wir gleich einen Termin für unsere erste Sitzung. Sagen wir, übermorgen um siebzehn Uhr?«

Richtig, sie würde Mertens so schnell nicht loswerden.

»Danke … In Ordnung«, stammelte Valerie.

Im Moment hätte sie auch zugestimmt, nackt einen Regentanz im Klinikgarten aufzuführen, wenn sie das nur aus dem Krankenhaus gebracht hätte.

»Ihre Daten, Ihre Adresse habe ich ja.« Er deutete auf den Umschlag in Valeries Hand. »Ich habe in Ihren Entlassungspapieren gesehen, dass wir zufällig gar nicht so weit voneinander weg wohnen. Das trifft sich gut. Ansonsten können Sie sich jederzeit auch bei mir melden.«

Bestimmt nicht.

Er griff in seine Kitteltasche und holte ein Kärtchen hervor, das er Valerie reichte. Sie sah nicht darauf, steckte die Visitenkarte aber in ihre Jackentasche und schenkte Mertens ein angedeutetes Lächeln. Sie hatte nicht vor, die Karte zu benutzen.

»Danke für alles, was Sie in den letzten Tagen für mich getan haben. Und … bis bald.« Es fühlte sich falsch an, das zu sagen, aber etwas Besseres fiel ihr nicht ein und die Wahrheit wäre zu unhöflich gewesen.

Mertens nickte und streckte ihr seine Hand entgegen. »Am Taxistand wartet bereits ein Fahrer auf Sie. Wir waren so frei und haben einen bestellt. Also dann, bis übermorgen, Frau Stein. Siebzehn Uhr.«

Seine letzten Worte kommentierte Valerie schon gar nicht mehr und schüttelte stattdessen nur stumm seine Hand, nickte und schnappte sich den kleinen Stoffbeutel vom Bett, in dem das Klinikpersonal ihre wenigen Habseligkeiten, die sie bei sich gehabt hatte, verstaut hatte. Ein Schlüsselbund, ein Handy und eine Haarspange.

Nun wollte sie endlich in Gottes Namen hier raus.

»Soll Sie jemand rausbegleiten?«, sagte Mertens noch, als er ihr die Tür aufhielt.

»Nein, danke, nicht nötig«, erwiderte Valerie viel zu schnell, ihrem Fluchtinstinkt folgend.

Sie sah nicht mehr zurück und folgte der Beschilderung erst zu den Aufzügen, dann nach draußen.

Die frische Luft tat ihrem Kopf, aber auch ihrer geschundenen Seele gut. Dennoch hatte Valerie sich noch nie so allein gefühlt. Sie blinzelte eine Träne weg.

Nicht jetzt. Wenigstens noch die Fahrt überstehen.

Auch der Weg zum Taxistand war ausgeschildert.

***

Valerie saß auf der Rückbank und versuchte vergeblich, ihre wirren Gedanken zu ordnen. Eins stand jedoch schon fest: Sie würde die Organisation der Beerdigung einem Beerdigungsinstitut überlassen. Valerie fehlte die Kraft dazu. Sie würde es nicht durchstehen, sich in den nächsten Tagen rund um die Uhr mit dem Abschied von ihrem toten Mann auseinanderzusetzen. Herrgott, sie hatte es noch nicht mal geschafft, ihn ein letztes Mal zu sehen. Markus würde ihr beides verzeihen, da hatte sie keine Zweifel.

Ihr Kopf fühlte sich an wie Knetmasse, die langsam auszutrocknen begann. Wie in Watte gepackt, nahm sie die Fahrt in ihr neues Zuhause wahr. Hätte sie den Weg hinterher beschreiben sollen, sie hätte es nicht gekonnt.

Ob sie schon ausgepackt hatten? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie dazu gekommen waren. Vielleicht hatte das aber auch ein Unternehmen übernommen. Beides war möglich. Sie wusste es nicht mehr.

Zum Teil fehlten sogar Fragmente ihres Gedächtnisses aus der Zeit vor dem Umzug. Doch das sei normal, hatte ihr Dr. Mertens versichert. Ihr Gehirn könne die Linie des Vergessens nicht strikt ab dem Zeitpunkt des Unfalls ziehen. Manchmal kam es ihr vor, als wäre mit dem Übertreten der Fußschwelle ihres alten Hauses auch ein Teil ihres Erinnerungsvermögens in den Mauern zurückgeblieben.

Während Valerie gern die meisten Dinge selbst in die Hand nahm, hatte Markus oft Aufgaben delegiert. Gegen Bezahlung, versteht sich. Natürlich hatte das hin und wieder zu Auseinandersetzungen geführt, aber niemals hatte es einen handfesten Streit deswegen gegeben. Denn am Ende bestimmte Valerie, wofür Geld in die Hand genommen wurde. Es war ja schließlich ihres. Eine Kontovollmacht hatte sie Markus nie erteilt, und er hatte sie nie darum gebeten. Sie bevorzugte es, selbst den Überblick über ihre Finanzen zu behalten, und ließ sich ungern reinreden. Stattdessen hatte sie Markus jeden Monat eine beachtliche Summe auf sein eigenes Konto überwiesen. »Taschengeld« hatte er es im Scherz genannt, aber es trotzdem gern angenommen. Wegen ihrer unkonventionellen Rollenaufteilung hätte er nie ein Fass aufgemacht.

Das Taxi hielt nach einer ungefähr zwanzigminütigen Fahrt vor einem stattlichen Haus. Oder vielmehr einer Villa. Sie sah unbewohnt aus. Also waren sie wohl an ihrem Ziel angekommen. Einem Ziel, das ihr so fremd war.

Das Haus war wunderschön. Sie erinnerte sich an die Fotos, an das Original natürlich nicht mehr.

Markus war allein zur Besichtigung angereist und hatte einige Häuser in die engere Auswahl genommen. Am Ende hatten sie sich per FaceTime für dieses entschieden: außerhalb, beinahe abgeschieden, wohlhabende Nachbarn.

Markus war ein paar Tage in Deutschland geblieben und hatte den Kauf abgewickelt. Es hatte Valerie nichts ausgemacht, dass er allein im Grundbuch stand. Denn so war es einfacher gewesen, ihre Geschäfte in der Schweiz und den Verkauf der Firma zum Abschluss zu bringen. Es war absurd. Sie hatte weder Straßennamen noch Hausnummer gekannt, hatte beides von einem Dokument des Krankenhauses abgelesen: Feldweg 17. Das kam ihr nicht im Geringsten bekannt vor. Und sie würde es sich auch nicht lange merken müssen. Sie würde nicht hierbleiben. Das Projekt Auswanderung war mit Markus’ Tod gescheitert. Ein neues Leben ohne ihn war kein Leben.

Tränen stiegen ihr in die Augen, weil sie diesen Moment am meisten gefürchtet hatte, seit sie ihr Krankenzimmer verlassen hatte. Es war ihr nicht bewusst gewesen, aber der einzig ihr im Moment vertraute Raum war das nach Desinfektionsmitteln riechende, hässliche Zimmer gewesen. Sie hatte nichts hier. Keinen Mann, kein echtes Zuhause … kein Glück.

Sie wischte sich ihre Wangen mit dem Ärmel ihres Pullis trocken, bezahlte den Fahrer, schnappte sich ihren armseligen Stoffbeutel, der neben ihr lag, und stieg aus.

Sie holte tief Luft, unterdrückte noch mehr Tränen und zwang sich hinzusehen, während der Fahrer den Wagen schon wieder startete und davonfuhr. Das Haus war frei stehend mit einer imposanten Auffahrt und einer Garage mit Platz für mindestens drei Autos nebeneinander, soweit Valerie das von außen beurteilen konnte. Es war in einem strahlenden Weiß gestrichen und zwei Säulen säumten die elegante, massive Holztür. Darüber erhoben sich zwei Stockwerke. Ein so großes Haus nur für zwei Personen war Valerie eigentlich absurd vorgekommen.

Die kühle Herbstluft blies ihr ins Gesicht und trocknete die Reste ihrer Tränen, die ihr Ärmel nicht aufgesaugt hatte.

Valerie hatte die frische Luft und das Gefühl, unter freiem Himmel zu stehen, vermisst, ohne es wirklich bemerkt zu haben. Die wenigen Tage in der Klinik waren ihr vorgekommen wie eine Ewigkeit. Alles hatte sich gezogen wie Kaugummi. Valerie stellte sich innerlich darauf ein, dass das auch so schnell nicht enden würde.

Sie verstärkte den Griff um den leichten Beutel in ihrer Hand und ging die Auffahrt hoch.

An der massiven, eleganten, aber schlichten Tür aus Holz angekommen, holte sie tief Luft und fischte den Schlüsselbund aus ihrem Jutesack. Sie probierte die Schlüssel, die daran hingen, nacheinander aus, und schon der zweite passte. Sie drehte ihn herum, schob die Tür auf, machte die ersten Schritte in das fremde Haus, warf die Tür hinter sich zu und atmete den ungewohnten Geruch ein. Es roch nicht nach ihr, nicht nach Markus.

Dann brach sie zusammen.