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Nach „Junischnee“ spannt sich in Ljuba Arnautovićs neuem Roman das Drama des 20. Jahrhunderts
Karl kehrt nach zwölf Jahren Gulag mit russischer Ehefrau und zwei Töchtern nach Wien zurück. Von dem, was ihm passiert ist, will man im Nachkriegsösterreich nichts wissen. Den „Russen“ begegnet man bestenfalls mit Misstrauen. So rasch wie nur möglich und mit allen Mitteln muss deshalb der gesellschaftliche Aufstieg gelingen. Karl lässt sich scheiden, heiratet eine junge Medizinstudentin, zieht nach Deutschland, knüpft zweifelhafte Verbindungen nach Moskau – und trennt seine Töchter. Lara und Luna wachsen fortan in verschiedenen Welten auf: die eine in einfachen Verhältnissen bei der Mutter in Wien, die andere beim Vater und seiner neuen bürgerlichen Familie in München.
Ljuba Arnautović erzählt „in einer klaren, poetischen Sprache, ohne Sentimentalität“ (Ö1) von sich – und den Verwerfungen eines Jahrhunderts.
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Seitenzahl: 161
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Nach »Junischnee« spannt sich in Ljuba Arnautovićs neuem Roman das Drama des 20. JahrhundertsKarl kehrt nach zwölf Jahren Gulag mit russischer Ehefrau und zwei Töchtern nach Wien zurück. Von dem, was ihm passiert ist, will man im Nachkriegsösterreich nichts wissen. Den »Russen« begegnet man bestenfalls mit Misstrauen. So rasch wie nur möglich und mit allen Mitteln muss deshalb der gesellschaftliche Aufstieg gelingen. Karl lässt sich scheiden, heiratet eine junge Medizinstudentin, zieht nach Deutschland, knüpft zweifelhafte Verbindungen nach Moskau — und trennt seine Töchter. Lara und Luna wachsen fortan in verschiedenen Welten auf: die eine in einfachen Verhältnissen bei der Mutter in Wien, die andere beim Vater und seiner neuen bürgerlichen Familie in München.Ljuba Arnautović erzählt »in einer klaren, poetischen Sprache, ohne Sentimentalität« (Ö1) von sich — und den Verwerfungen eines Jahrhunderts.
Ljuba
Arnautović
Erste Töchter
Roman
Paul Zsolnay Verlag
Meinen Geschwistern
In liebevoller Erinnerung an Charlie
Er raucht filterlos.
Kein schöner Mann, auch wenn er kürzlich einem Fotografen Modell gestanden hat, der Herrenmode für ein Magazin ablichtet. »Sie sind ein Frank-Sinatra-Typ«, fand die Redakteurin, als sie ihn in der Straßenbahn ansprach.
Auf einem zweiten Stuhl stapeln sich die Tageszeitungen, und auf dem runden Tischchen liegt immer ein Buch. Er bestellt sich einen Mokka, und später noch einen.
Er ist nicht sehr groß. Die Kleidung sitzt tadellos an seinem schlanken, fast mageren Körper. Die Schuhe sind stets auf Hochglanz gebürstet. Immer trägt er Krawatte und eine Weste unter dem Sakko, und beim Verlassen des Lokals setzt er sich einen Hut mit elegantem Schwung auf den Kopf. Von der Nasenwurzel ausgehend haben sich tiefe Falten hinunter bis unter die Mundwinkel gegraben. Ein Gesicht mit einer Landschaft, findet Dörte. Es ist diese selbstbewusste Haltung, seine lässigen Bewegungen, die ihren Blick immer wieder anziehen. Die Art, wie er die Beine übereinanderschlägt, den Ellbogen aufstützt, die Zigarette hält, die Sauberkeit seiner Fingernägel überprüft. Das alles wirkt so souverän, so männlich. Er ist wesentlich älter als sie, sie schätzt ihn auf über vierzig.
Vor Tagen schon ist er ihr aufgefallen. Dörte besucht das Café unweit ihres Untermietzimmers im achten Bezirk fast jeden Spätnachmittag. Sie trinkt ein Kännchen Assam und versucht sich auf ihre Skripten zu konzentrieren. Ein Auslandssemester hat sie nach Wien geführt. Sie ist 23 Jahre alt und zum ersten Mal fern ihres behüteten Frankfurter Elternhauses. Sie genießt ihre Freiheit. Viel lieber hätte sie Archäologie studiert, aber das kommt nicht in Frage. Ihr Vater ist doppelter Doktor, Human- wie auch Veterinärmediziner, und er bekleidet das Amt des Direktors am Frankfurter Schlachthof. Für sein einziges Kind ist nur ein Medizinstudium vorstellbar. Wo käme man denn hin, würden alle ihr Hobby zum Beruf machen. Dörte, wie sie unter Gleichaltrigen gerufen wird — die streng protestantischen Eltern nennen sie hartnäckig bei ihrem Taufnamen Dorothée —, hat immerhin durchsetzen können, dass sie für ein paar Monate ins Ausland gehen und danach ihre Studien an der Universität von München, dieser angesagten Stadt, fortführen und abschließen wird — unter der Bedingung, dass sie bei der Schwester ihrer Mutter wohnen wird. Man erhofft sich eine Aufsicht der kostbaren Tochter durch Tante Gertrud. Dass diese recht unkonventionelle Ansichten hat, sich längst dem Schwabinger Lebensstil der 1960er Jahre angepasst hat, sich gar in Künstlerkreisen herumtreibt, ahnt die Frankfurter Verwandtschaft zu Dörtes Glück nicht.
Aber jetzt ist erst einmal Wien dran, der Sehnsuchtsort mit der großen Ägyptischen Sammlung. Dörtes Leidenschaft gehört dieser Hochkultur. Wann immer es sich zeitlich ausgeht, geht sie von ihrer Unterkunft in der Albertgasse die Josefstädter Straße hinunter zum Kunsthistorischen Museum. Dort, in diesen hohen, dunklen, stillen Räumen, hängt der Geruch, den sie so liebt. Mögen andere ihn muffig nennen, für Dörte atmet es sich hier leicht wie nirgendwo sonst. Die wurmstichigen Holzverkleidungen, Kästen und Vitrinen strahlen für sie Heimeligkeit aus. Sie tut sich mit dem Lernen leicht, und so passt in ihren Kopf nicht nur das Wissen um die menschliche Anatomie und Pathologie, sondern auch die Texte und Bilder der dicken Folianten in der Nationalbibliothek, nur wenige Gehminuten vom Museum entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite der Ringstraße.
Der Mann bemerkt ihren Blick, lächelt ganz leicht und nickt ihr grüßend zu. Beschämt senkt sie den Kopf. Was für ein umwerfend sympathisches Lächeln er hat.
Später tritt er mit den Zeitungen an ihren Tisch. »Möchten Sie eine davon, Fräulein? Entschuldigen Sie, ich nehm mir immer gleich den ganzen Stapel.«
»Nein, nein. Aber danke, sehr aufmerksam.«
»Dann also … bis morgen, Fräulein?«
Sie lächelt verlegen, er deutet eine winzige Verbeugung an, hängt die Zeitungshalter zurück an ihre Haken, schlüpft in seinen weich fallenden Mantel und verlässt das Café.
Die beiden werden bald ein Liebespaar. Dörte wird seine dritte Ehefrau sein, für sie ist es die erste Beziehung. Bisher hat es in ihrem Leben nur die eine oder andere Schwärmerei für einen Studienkollegen gegeben. Dieser hier ist ein richtiger Mann. Ein Mann, wie ihn ihre Eltern ganz bestimmt nicht im Sinn haben, wenn sie an einen künftigen Schwiegersohn denken.
Karl ist ein Gezeichneter. Nicht nur Gesicht und Körper tragen die Narben eines schweren Schicksals, auch seine Seele ist verwüstet. Was ihn Jahre des Hungers, der Kälte und ständiger Todesgefahr hat überstehen lassen, ist ein unbändiger Lebenswille und ein Ehrgeiz, der bereits da gewesen sein muss, bevor er ihn in eine bestimmte Richtung zu lenken weiß. Das harte Leben hat ihn eine Lektion gelehrt: Nie wieder Opfer sein! Nie wieder der Unterlegene, der Ohnmächtige sein. Stärker sein als andere. Keine Rücksicht nehmen. Immer nach oben streben, dorthin, wo die Macht ist.
Als Neunjähriger wird Karl gemeinsam mit seinem drei Jahre älteren Bruder Slavko von den wegen ihrer politischen Einstellung verfolgten Eltern ins vermeintlich rettende Exil in die Sowjetunion geschickt. Im Frühjahr 1934 werden die Buben zusammen mit einer Gruppe von Kindern über die Grenze nach Tschechien geschleust. Später würden die österreichischen Behörden dies als »mutwilliges und illegales Verlassen des Staatsgebiets« bezeichnen und damit den Verlust der Staatsbürgerschaft begründen. 1934 ahnt noch niemand, dass der 12. Februar ein Schicksalstag für diese und andere Familien, wie auch für die gesamte, noch junge Republik sein würde.
Bereits im Jahr 1927 kündigt sich eine verschärfte Gangart des Regimes gegen linke Parteien an. Da fallen die Schüsse von Schattendorf. Ein Verband extremer Rechter — sie nennen sich »Frontkämpfer« — und die paramilitärische Organisation der Sozialdemokratischen Partei — der »Demokratische Schutzbund« — geraten am 30. Jänner in dem burgenländischen Dorf aneinander. Die Frontkämpfer schießen aus einem Gasthaus heraus auf einen vorbeimarschierenden Demonstrationszug von Schutzbündlern. Ihre Kugeln treffen einen Kriegsinvaliden und einen achtjährigen Buben tödlich.
Ein halbes Jahr später findet am Wiener Straflandesgericht der Prozess statt. Drei Frontkämpfer werden des vorsätzlichen kaltblütigen Mordes bezichtigt, diese verteidigen sich, indem sie die Vorkommnisse als Notwehr darstellen. Das Gericht entscheidet auf Freispruch. Das Unrechtsurteil, wie es genannt wird, löst einen Sturm der Empörung aus, eine aufgebrachte Menschenmenge zieht zum Justizpalast und setzt ihn in Brand. Viele Unbeteiligte eilen herbei, um das Spektakel zu sehen, die Wiener haben dafür einen Begriff: »Gemma schaun.« Da gibt der Wiener Polizeipräsident mit Erlaubnis des Bundeskanzlers Seipel den Befehl, in die Menge zu schießen. Die Bilanz ist blutig: fast hundert Tote und mehr als 1500 Verletzte.
Jetzt beginnen die Menschen zu ahnen, dass ihr enthusiastisch betriebener Aufbau des »Roten Wien« (das freilich erst in der Rückschau so heißen würde — in jenen Jahren spricht man vom »Neuen Wien«) in Gefahr geraten könnte. All die Errungenschaften wie Wohlfahrts- und Bildungseinrichtungen, soziale Absicherung, ordentlicher Wohnbau würde man ihnen wieder nehmen, wenn sie sich um deren Erhalt nicht selber kümmern, und das kann nur Kampf bedeuten.
Karls Eltern schließen sich dem »Republikanischen Schutzbund« an, der paramilitärischen Gruppierung der Sozialdemokratie, und sie nehmen bald aktive Rollen ein. Der Vater Karl sen., arbeitslos wie so viele, bringt es zum Vertrauensmann in seinem Bezirk. Die Mutter Eva arbeitet als Sekretärin in der Krankenkassengenossenschaft und kümmert sich in ihrer Freizeit um das Bildungsprogramm einer Volkshochschule. Sie plant selbst, die Matura in Abendkursen nachzuholen und sich ihren sehnlichen Wunsch, den sie seit frühester Jugend hegt, zu erfüllen: ein Studium an der Universität. Was ihr bisher aufgrund ihrer Herkunft und ihres Geschlechts verwehrt geblieben war — jetzt scheint es möglich.
Im März 1933 wird dem Parlament durch eine Intrige des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß seine Wirkmacht genommen.
Im Mai 1933 wird die Kommunistische Partei verboten, und es scheint nur eine Frage der Zeit, bis es auch die Sozialdemokraten erwischt. Tatsächlich würde nicht einmal ein Jahr vergehen.
Am 21. Jänner 1934 wird die sozialdemokratische Arbeiter-Zeitung verboten.
Am 3. Februar lässt Emil Fey, der Sicherheitsminister und Führer der »Heimwehr«, einer selbsternannten Hilfspolizei, wieder einmal sozialdemokratische Versammlungslokale durchsuchen. Ziel ist es, die Bewegung zu entwaffnen. Diesmal werden zwei militärische Führer und mehrere Bezirkskommandanten des Schutzbundes festgenommen.
Eine Woche später, am 11. Februar, verkündet er auf einer Heimwehrversammlung in Langenzersdorf: »Wir haben jetzt Gewissheit: Kanzler Dr. Dollfuß ist der Unsrige. Wir werden morgen an die Arbeit gehen, und wir werden ganze Arbeit leisten. Für unser Vaterland! Heil Österreich!«
Am Rosenmontag, dem 12. Februar 1934, beginnt’s in Linz mit der von Emil Fey angeordneten Durchsuchung des »Hotels Schiff«, dem Parteiheim der Sozialdemokraten. Der Schutzbund leistet bewaffneten Widerstand und macht Meldung nach Wien. Es beginnt ein verzweifeltes, blutiges, letztes Gefecht.
Die Kräfte sind derart ungleich verteilt, dass einige führende Schutzbündler sich weigern, Waffen auszugeben oder deren Verstecke zu verraten, im guten Willen, unnötiges Blutvergießen zu vermeiden. Etliche kampfeswillige Genossen fühlen sich verraten und wenden sich von ihrer Partei ab — die ohnehin sofort verboten wird. Die am meisten Gefährdeten flüchten vor dem ausgerufenen Standrecht nach Prag, Brünn oder in die steirischen Berge, andere schließen sich der illegal tätigen KP an, wieder andere sind vom Auftreten jener erstarkenden Partei fasziniert, die auch das Wort »sozialistisch« im Namen trägt. In Österreich noch verboten, feiert sie in Deutschland fulminante Wahlsiege.
»Austrofaschismus« nennen die einen die Jahre zwischen jenem blutigen Februar 1934 und dem »Anschluss« an Deutschland 1938. Die anderen verwenden bis heute den harmloser klingenden Begriff »Ständestaat«.
Die reaktionäre Übermacht und die Gefahr sind zu groß. Der Schutzbündler Karl flüchtet mit einer Gruppe von Genossen nach Prag. Eva verliert kurz darauf ihren Posten. Das in der Zwischenzeit getrennte, jetzt mittellose Elternpaar ist nicht mehr in der Lage, seine Kinder durchzubringen.
Da kommt ein Hilfsangebot. Etwa hundert Frauen aus Wien, Oberösterreich und der Steiermark nehmen es an. Es ist wie das verzweifelte Greifen nach einem Strohhalm.
Die kommunistische »Internationale Hilfsorganisation für die Kämpfenden der Revolution« agiert in Österreich als »Rote Hilfe« und bietet den einstigen politischen Konkurrenten an, ihre Kinder erst einmal herauszuholen aus den prekären Verhältnissen. Man würde sie für einen erholsamen Ferienaufenthalt auf die Krim bringen und über den Sommer mit allem Nötigen versorgen. Danach würde man weitersehen.
Mit schwerem Herzen, aber auch voller Zuversicht verabschieden sich die Eltern in Prag von ihren Buben Slavko und Karli, die zusammen mit 120 weiteren Kindern den geschmückten Sonderzug besteigen. Dass sie ihren Älteren nie wieder und den Jüngeren erst nach mehr als zwanzig Jahren wiedersehen würden, können sie an diesem Tag nicht ahnen.
Die Situation in Österreich entspannt sich nicht, im Gegenteil. Die allein in Wien zurückgebliebene Eva wird verhaftet, verhört, gefoltert und schließlich des Landes verwiesen. An Leib und Seele versehrt fährt sie zu ihrem Lebensgefährten nach Tschechien. Dieses Land ist der geborenen Wienerin fremd, sie kennt es nur von gelegentlichen Besuchen bei ihrer mährischen Großmutter. Das Elternpaar hat jetzt nur den einen Wunsch, mit seinen Kindern wiedervereint zu sein. Es soll ihnen nicht gelingen.
Die Kinder werden von der Krim in ein rasch für diesen Zweck umgebautes Palais im Zentrum Moskaus gebracht, das Messingschild neben dem Portal verkündet auf Kyrillisch: »Kinderheim Nr. 6 für Schutzbundkinder«.
In der Sowjetunion tobt da bereits Stalins Terror, außerdem herrscht Mangelwirtschaft, aber die Kinder bekommen davon nichts mit. Sie leben von jeglichem Unbill abgeschottet in ihrem Palais, bestens betreut, bekocht und eingekleidet. Zum Unterricht fährt man sie mit einem eigenen Bus in die deutsche Karl-Liebknecht-Schule. Man zieht eine zweisprachige Elite heran, die man gut im Sinne der Sowjetideologie wird einsetzen können.
Erst, als die Verhaftungswelle unter Politemigranten ihren Höhepunkt erreicht, bekommen es auch die Zöglinge zu spüren. Nach der Auflösung ihres Heims 1939 werden die meisten Kinder und Jugendlichen auf gewöhnliche sowjetische Kinderheime verteilt.
1941 dreht sich ihr Schicksal ein weiteres Mal. Mit dem Bruch des Nichtangriffspakts und dem Überfall von Hitlers Wehrmacht auf die Sowjetunion geraten etliche von ihnen als angeblich deutsche Volksfeinde in Stalins Terrormühle.
So kommt es, dass mehr als 22 Jahre vergehen werden, ehe Karl nach Wien zurückkehren kann. Es sind Jahre eines Daseins als Heim-, später als Straßenkind. Er wird aufgegriffen, Monate im Erziehungsheim folgen, dann Jugendgefängnis, und kaum ist er achtzehn, folgt eine Verurteilung nach dem berüchtigten Paragraphen 58, dem »Politischen«, zu zehn Jahren Zwangsarbeit im Gulag. Die Urteile fällt kein Richter, sondern so genannte »Spezialkommissionen«, die mangels juristischen Personals und angesichts der Massen an zu Verurteilenden überall im Land eingesetzt sind. Der Tag, an dem Karl seine Strafe antritt, ist der 5. März 1943, als Tag der Entlassung ist der 5. März 1953 vorgesehen. Zufällig wird Stalin an genau diesem Tag sterben.
Zwei Jahre vor Ablauf seiner Frist hat er Nina kennengelernt, eine junge Frau, die als des »Diebstahls an sozialistischem Eigentum« zu zwei Jahren Straflager Verurteilte in der Lagerküche arbeitet und die Essensrationen zu den Waldarbeitern bringt. Er spricht mit ihr nicht über seine Vergangenheit, und so ahnt Nina lange nicht, dass er kein Russe ist.
Nina wird seine Geliebte, aber auch sein Freibrief. Als ihr zukünftiger Ehemann darf er nach seiner Entlassung die Region im Norden Sibiriens verlassen. Gefangene ohne Angehörige dürfen sich auch als Freie nicht in anderen Teilen der Sowjetunion ansiedeln, schon gar nicht in Städten.
Fast ein Jahr nach seiner Entlassung gelingt ein erster Kontakt zur Mutter in Wien. Kurz vor Weihnachten 1953 findet ein Brief seinen Weg zu ihr, nachdem sie seit zwölf Jahren kein Lebenszeichen von ihren Söhnen mehr hat. Der Brief war lange unterwegs. Nach der Überprüfung durch die sowjetische Zensur landet er im Briefkasten der Großeltern in Buchlovice, diese Adresse hatte Karl all die Jahre hindurch in Erinnerung behalten. Der Brief reist weiter nach Wien und erreicht endlich die überglückliche Eva.
Nach den Februarereignissen 1934 war Eva eine jener Frauen und Männer, die der illegalen Kommunistischen Partei beigetreten waren. Nach leidvollen, verlustreichen Jahren schöpft sie neue Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihren Kindern, die längst keine Kinder mehr sind. Diese Hoffnung hat mit dem Staatsvertrag 1955 zu tun, der einen Passus über die Rückkehr österreichischer Kriegs- und Strafgefangener enthält. Die Sowjets verlassen das Land, und jetzt holt Eva wieder ihr altes SP-Parteibüchl hervor, ein nicht unwichtiges Utensil im Österreich jener Jahre.
Ein weiteres Jahr muss noch vergehen, Mutter und Sohn sind hier wie dort beschäftigt mit Behördenwegen, Antragstellungen, Bittgängen. Zu Weihnachten des Jahres 1955 erfüllt sich endlich Evas sehnlicher Wunsch — wenn auch nur halb. Sie bekommt nach mehr als zwei Jahrzehnten einen ihrer beiden verlorenen Söhne zurück.
Die erste Umarmung fühlt sich anders an als von beiden erträumt. Die lange Trennung hat sie einander zu Fremden werden lassen. Das Gesicht der Mutter war Karl nach und nach in Vergessenheit geraten. Vor ihm steht eine grauhaarige, auf einen Stock gestützte alte Frau. Sie wiederum hat das Bild eines kleinen Buben und seine helle Stimme in Erinnerung bewahrt. Der zarte Neunjährige ist jetzt ein Mann. Sehr mager ist er, nicht sehr groß, und seine Haut wirkt fahl. Eva sucht gierig nach den Spuren ihres Kindes in diesem Gesicht, aber um seinen Mund haben sich tiefe Falten gegraben, das Haar wird an den Schläfen schütter, und die Augen strahlen Härte aus. Seine Muttersprache hat er fast vergessen, er spricht mit starkem Akzent, die Sätze sind fehlerhaft — wo Eva doch so großen Wert auf gutes Deutsch legt.
Die russische Frau an seiner Seite ist ihr noch fremder. Nina hatte insgeheim gehofft, dass es mit der Rückkehr ihres Viktors, wie sie ihn immer noch bei seinem russischen Lagernamen nennt, nichts werden und er bei ihr in Kursk bleiben würde. Sie fürchtet sich vor der Fremde, wo sie niemanden kennt und nicht weiß, was sie dort erwartet. Sie möchte in ihrer Heimatstadt bleiben, bei ihrer Mutter und ihren Geschwistern, sie kennt nichts anderes, und Karl hat sich doch so gut eingelebt. Sie versteht aber auch seine Sehnsucht nach seiner Mutter, nach seiner Heimat. Als sich dann abzeichnet, dass sie ihn nach Wien begleiten würde, denn eine Ehefrau folgt ihrem Mann, lernt sie rasch etwas Deutsch aus einem alten Schulbuch. Bei der ersten Begegnung mit ihrer Schwiegermutter sagt sie ihr Begrüßungssätzchen auf. Eva ihrerseits versucht sich auf Russisch, vor Jahren erlernt, als sie noch an eine Übersiedlung in die Sowjetunion zu ihren Kindern glaubte. Vor lauter Aufregung rutscht sie ins Tschechische, ihre eigene Muttersprache. Kühle Verlegenheit steht zwischen den drei Menschen, die einander doch so gerne verwandt wären. Wie gut, dass da das Kleinkind ist, diesem kann man sich zuwenden und so die betretene Stimmung etwas überspielen.
Karl ist wild entschlossen, dass hier und jetzt sein eigentliches Leben beginnen soll. Er will in kürzester Zeit nachholen, was andere in ihren frühen Jahren erledigen. Seine gesamte Jugend hat er in den Lagern gelassen, zwischen seinem 16. und 28. Lebensjahr war er ein Gefangener. Er hat weder eine höhere Schulbildung noch einen Beruf, weder die richtige Sprache noch nützliche Kontakte. Da ist nur diese innere Gewissheit, dass sein Ehrgeiz und sein starker Wille ihn zum Ziel führen würden. Zuerst muss er Anker werfen.
Sofort macht er sich auf die Suche nach Menschen, die er aus Russland kennt. Nach einer Gefährtin aus dem Kinderheim muss er nicht lange suchen. Erika und seine Mutter sind befreundet, Erika oft zu Besuch bei Eva. Die junge Frau war bald nach Kriegsende aus Kasachstan, wohin ihr sowjetisches Kinderheim evakuiert worden war, nach Wien zurückgekehrt.
Erika und Karls Bruder Slavko waren in Moskau ein jugendliches Liebespaar gewesen, bis man den Studienanfänger Anfang September 1941 verhaftet hat. Niemand hat seitdem etwas von ihm gehört. Erika sucht gleich nach ihrer Ankunft in Wien 1946 seine Mutter auf in der Hoffnung, Slavko hier wiederzusehen. Die beiden Frauen verbindet fortan das Warten auf Slavko und Karli.
Eva, die ihren Traum zu studieren nie aufgegeben hat, bewirbt sich an der Maturaschule für Berufstätige. Der Andrang dort ist groß, so vielen hat der Krieg den Bildungsweg abgeschnitten. Eva schafft die schwierige Aufnahmeprüfung und wird mit 55 Jahren wieder zur Schülerin.
Sie steckt mit ihrer Matura-Begeisterung die etwas orientierungslose Erika an. Auch ihr war ein regulärer Schulabschluss verwehrt geblieben. Die ältere und die junge Frau treffen sich fortan oft zum Lernen und zum gegenseitigen Motivieren in Evas Wohnung. Wenn es spät wird, schläft Erika auf Evas Couch. Es wird oft spät.
Karl und seine russische Frau Nina schließen sich Erikas Freundeskreis an. Es sind allesamt frühere Zöglinge aus dem Kinderheim, einige von ihnen haben, wie Karl, eine russische Frau mitgebracht. Sie haben sich in Wien zusammengefunden, und immer wieder sind Heimkehrende dazugestoßen. Karl ist einer der Letzten. Bald würde er verstehen, warum fast keine »echten« Österreicher in diesem Kreis verkehren.
Die Hiesigen begegnen den »Russen« voller Misstrauen. Nach Kriegsende waren im Sprachgebrauch die Befreier sehr schnell zu Besatzern geworden. Österreichs Nationalfeiertag wird den Schulkindern als jener Tag erklärt, an dem mit dem Verlassen des letzten russischen Soldaten die zehn Jahre Besatzung zu Ende gegangen sind — »Österreich ist frei«.
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