Erster Preis: Du! - Lisa Honroth Löwe - E-Book

Erster Preis: Du! E-Book

Lisa Honroth Löwe

0,0

Beschreibung

Endlich Wochenende! Herdith Aßmussen ist ihren Job als Sekretärin leid und fiebert dem Feierabend im Ruderclub entgegen. Nicht nur die Vorbereitung für die wichtige Partie gegen Potsdam stimmt sie euphorisch, sondern auch ihr Trainer Jobst, auf den sie ein Auge geworfen hat. Doch leider nicht nur sie, sondern auch die gesamte Damenmannschaft und vor allem ihre verhasste Teamkollegin Marion. Und gerade als Marion sich wieder einmal fragt, wie sie ihrer Konkurrentin eins auswischen kann, läuft ihr Franz über den Weg, Herdiths Exfreund. Er sucht dringend einen Job und bittet Marion um Hilfe. Diese Gelegenheit kann sie sich unmöglich entgehen lassen, denn ganz sicher kann sie daraus irgendeine Intrige spinnen ... Unterdessen sitzt Herdiths Onkel, Sanitätsrat Reunecke, frustriert zu Hause herum und streitet mit seiner Schwester: Er kann es ihr nicht verzeihen, dass sie seine geliebte Nichte damals aus dem Haus geekelt hat. Irgendwie muss er es schaffen, Herdith wieder nach Hause zu holen!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 289

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lisa Honroth Löwe

Erster Preis: Du!

Roman

Saga

Erster Preis: Du!

© 1933 Lisa Honroth-Loewe

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711593301

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Erstes Kapitel.

Direktor Fredrichs, ziemlich am Schluss, diktierte:

„... wir werden uns also gestatten, in den nächsten Tagen persönlich bei Ihnen vorzusprechen ...“

Herdiths schmale, braune Hände flogen auf den Tasten.

„Bei Ihnen zu versprechen“, wiederholte sie und wurde rot.

„Wo sind Sie denn heute mit Ihren Gedanken, Fräulein Assmussen?“

Direktor Fredrichs schüttelte ärgerlich den Kopf. Aber wie er Herdiths schuldbewusstes Gesicht sah und den heimlichen Blick nach der Uhr, die, gross und sonnebeleuchtet, auf Direktor Fredrichs Schreibtisch stand, lächelte er:

„Aha, Wochenendunruhe, Fräulein Assmussen — nicht wahr? Na, machen wir Schluss. Den Brief noch, und Sie können gehen.“

„Danke, Herr Direktor!“

Herdith sagte es leise. Sie schämte sich wirklich. Wie konnte sie so fahrig sein? Aber bei dem Wort „vorzusprechen“ hatte sie natürlich an „versprechen“ gedacht. Sie hatte Jobst Reichardt versprochen, vor Beginn des Trainings da zu sein. Und nun würde sie es noch nicht einmal pünktlich zu Beginn schaffen! Ihre Hände rannten noch schneller über die Tasten. Sie hatte eine wahre Wut gegen die Firma Eckmann, der dieser Brief des Chefs galt. Eckmann hätte es auch nicht so eilig haben brauchen; ob er seinen Posten Papier einen Tag später oder früher bekam, war doch gleich.

„Uff!“ Sie reckte die Arme; man war fertig. Ordentlich steif war man in den Gliedern von der ewigen Hockerei an der Maschine. Da würde das scharfe Training im Vierer ordentlich gut tun. Mit einem energischen Schwung knallte sie den Schreibmaschinendeckel auf die Maschine.

So, nun Ordnung machen! Drüben von der Nikodemuskirche schlug es bereits halb zwei Uhr. Eine ärgerliche Falte stand in Herdiths braungebrannter Stirn. Kein Gedanke, dass sie pünktlich sein konnte. Energisch bürstete und wusch sie sich ihre Hände. Schnell mit dem Kamm übers Haar. Köfferchen in die Hand, die kleine, weiss gestrickte Mütze auf den blonden Kopf. Blick in den Spiegel nicht nötig, kostete nur Zeit.

Mit einem kleinen Wonnegefühl empfand sie das Zuschlagen der Bürotür. Wie wartete man immer auf diesen Augenblick! Man arbeitete gern. Man war glücklich, dass man Arbeit hatte. Aber das konnte einem kein Mensch auf Gottes weiter Erde einreden, dass Arbeit schöner wäre als Wochenende.

Im Hause wurde es schon still. Die Angestellten waren wohl schon gegangen. Nur ein paar Nachzügler eilten, fröhlich plaudernd, dem Ausgang zu. Auf allen Gesichtern stand ein Gedanke: Wochenende. Frühling! Frei sein!

An der Ecke des ersten Stocks stiess Herdith auf Herrn Fröschke, den Abteilungsleiter aus dem Stockwerk über ihr.

„Na, Fräulein Assmussen, immer die Letzte? Immer fleissig, fleissig!“ sagte er etwas asthmatisch, denn er steckte gut in seinem Fett. Er warf einen wohlgefälligen Blick über Herdiths schlanke Gestalt und ihr helles, verbranntes Gesicht.

„Bitte, Fräulein Assmussen!“ Galant hielt er ihr den Fahrstuhl auf. Herdith stieg ein.

„Vielen Dank, Herr Fröschke!“

„Na — was tun Sie denn heute mit Ihrem schönen Sonnabend, Fräulein Assmussen?“

„Rudern, Herr Fröschke!“

Herr Fröschke schüttelte verständnislos seinen kugelrunden Kopf, seine blauen Augen quollen beängstigend hervor.

Sieht wirklich wie ein Frosch aus!, dachte Herdith.

Herr Fröschke war nur unter dem Spitznamen „Frosch“ im ganzen Hause bekannt.

„Das begreife ich, dass Sie das nicht verstehen, Herr Fröschke! Für Sie wäre das wohl nichts?“

„Nein, wirklich nicht!“ meinte Herr Fröschke melancholisch. „Wenn man sich die ganze Woche im Betrieb abrackert und dann in so ’n Boot — und dann noch eins, zwei, eins, zwei. Und dann ist es heiss. Und man schwitzt. Und zu trinken gibt’s auch nichts. Nein, Fräulein Assmussen, das denk’ ich mir durchaus nicht schön! Sehen Sie, da ist es doch viel hübscher, man nimmt seinen kleinen Wagen —“

„Wenn man einen hat!“ schaltete Herdith ein.

„Wenn man keinen hat, hat ’n anderer einen!“ Herr Fröschke sah Herdith aufmunternd an. „Und dann fährt man so zu zweien hinaus in die schöne Gotteswelt. Sichert sich irgendwo ein nettes Plätzchen, trinkt ein gutes Möselchen — es kann auch eine Bowle sein, die Damen lieben ja Bowlen mehr.“

„Ach so, Sie fahren mit einer Dame?“

In Herdiths Augen funkelte es vor Vergnügen.

„Wenn ich eine habe, die mir zusagt, Fräulein Assmussen!“

Gott sei Dank, dass wir nun gleich da sind!, dachte Herdith. Der fängt wahrhaftig an, mir eine Liebeserklärung zu machen.

„Was machen Sie denn da?“ sagte sie entgeistert.

Herr Fröschke hatte ganz wie in Gedanken an den Klingelknöpfen des Fahrstuhls gespielt. Ssst! — fuhr der Fahrstuhl aufwärts.

„Aber wir wollen doch ’runter, Herr Fröschke!“

Herr Fröschke legte sein Gesicht in bekümmerte Falten:

„Ach natürlich wollen wir ’runter, Fräulein Assmussen! Tausendmal Entschuldigung. Ja, wenn man so abgearbeitet ist wie ich, da wird man zerstreut.“

„Na, nun lassen Sie mich mal machen.“ Herdith schob Herrn Fröschkes Hand energisch von den Klingelknöpfen weg. Der war imstande und schunkelte sie so eine Weile auf- und abwärts.

Jetzt waren sie wieder knapp vor dem Erdgeschoss angelangt. Da gab sich Herr Fröschke einen Ruck:

„Fräulein Assmussen, würden Sie nicht mal mit mir so einen kleinen Wochenendausflug machen? In allen Ehren natürlich, in allen Ehren.“

„Dachten Sie etwas anderes?“ fragte Herdith lachend. „Aber tut mir leid, Herr Fröschke, es geht nicht! Sehen Sie, ich brauche das Training, ich muss auf Linie halten. Einen recht schönen Tag, Herr Fröschke!“

Sie war aus dem Fahrstuhl heraus. Noch als sie auf die Elektrische sprang, musste sie über das verdutzte Gesicht von Herrn Fröschke lachen.

In der Stadt brütete schon die Mittagshitze. Der Frühling tat, als ob er der Sommer wäre. Herdith stand vorn auf der Elektrischen. Da war ein wenig Luft und Windzug. Draussen würde es schön sein. Sie schloss die Augen. Da hatte sie das Bild: das Wasser, umkränzt von dem Grün der Wälder. Segelboote, weiss auf dem schäumenden Blau dahinschiessend. Sonne. Fröhliche Menschen, braun gebrannt, gesund, frei von Stadtenge und Stadtkleidung.

Die Boote glänzten in der Sonne. Fröhliches Getümmel. Die Kameraden vom Klub. Die Kameradinnen. Und zwischen ihnen Jobst Reichardt mit seinem kantigen, braunen Gesicht, in dem die grauen Augen so hell standen, dem der blonde Schopf immer ein wenig unordentlich in die Stirn wehte.

Ach, es war schön, wenn man jung ist, wenn Wochenende war! Wenn man Jobst Reichardt entgegenfuhr!

Herdith hielt sich an der Stange der dahinsausenden Bahn fest. Eine blonde Strähne ihres Haares wehte im Winde. Die Elektrischen klingelten so lustig. Die Blumenauslagen in den Fenstern leuchteten in der Sonne. Kinder spielten Kreisel und Murmeln auf einem Spielplatz. Die Frauen hatten schon helle Frühlingskostüme. An mancher Bluse steckte ein kleines Sträusschen.

„Jugend!“ sangen die Schienen, auf denen die Bahn dahinfuhr, „Jugend!“ schien der Wind zu singen — „Jugend!“ die Frühlingsluft und die kleinen weissen Sommerwölkchen, die über dem Tiergarten dahinzogen. Nur noch eine Haltestelle, dann war der Potsdamer Platz da. Dann musste sie aussteigen und mit der Vorortbahn weiterfahren.

Sie sah hastig auf die Normaluhr. Herrgott, schon zwei Uhr! Wenn sie nur den Anschluss nach Babelsberg noch erreichte, sonst waren wieder zwanzig Minuten verpatzt!

Sie stand schon halb auf dem Sprunge, auszusteigen. Da fuhr ein feuerrot lackierter kleiner Wagen dicht an ihr vorbei und bog in die Bellevuestrasse ein. Am Steuer sass eine junge Dame im schneeweissen Automantel; schneeweisse Handschuhe, eine giftgrüne Kappe, darunter ein dunkles, pikantes Gesicht. Herdiths Fröhlichkeit wich einem jähen Aerger. Natürlich, wenn man in einem eigenen Wagen fahren konnte wie Marion Karnau! Wenn man nichts zu tun hatte als an sich zu denken und zu machen, was einem passte, dann konnte man gut pünktlich sein. Wenn sie einen Wagen hätte — vor ein paar Tagen war Jobst Reichardt sehr ärgerlich gewesen, dass sie wieder zu spät zum Training gekommen war.

„Weiss ich alles, Herdith!“ hatte er ihre Erwiderung abgeschnitten. „Aber jetzt, wo’s um die Wurst geht, ein paar Wochen, ehe wir gegen den Klub in Prag antreten, jetzt muss eben Zeit sein. Die anderen sind doch auch pünktlich da.“

Herdith hatte schon ein heftiges Wort auf der Zunge. Aber da sah sie Marions spöttisches Gesicht. Der den Gefallen tun, einen Krach mit Jobst Reichardt zu haben? Nein, lieber herunterschlucken! Aber wenn sie an Marions Stelle gewesen wäre, dann hätte sie vermutlich gesagt:

„Vielleicht kann ich dich einmal abholen, Herdith?! Da kommst du doch schneller heraus!“

Ja, Kuchen! Marion würde sich schonen. Die freute sich ja nur, wenn es zwischen ihr und Jobst Reichardt etwas setzte. Herdith hatte eine gänzlich unkameradschaftliche Wut auf Marion. Und die Wut war noch in ihr, als sie jetzt in ihrem Abteil im Wannseezug sass und Babelsberg entgegenrollte.

Das Klubhaus stand hell und festgefügt in der Sonne, wie angelehnt an den dunklen Kiefernwald dahinter. Vor dem Hause war es weiss von hellem Licht und hellem Sand. Dazwischen leuchtete das goldene Braun der Boote. Einige standen noch draussen. Andere wurden herausgebracht. Ein fröhliches Gewimmel von Menschen überall. Junge Mädchen und junge Männer im Ruderdress. Dazwischen andere in bunten Badeanzügen. Lachen, Rufen, Scherzen, Sorglosigkeit überall.

Marion Karnau hielt mit ihrem kleinen roten Wagen vor der Einfahrt.

„Herr Reichardt schon da?“ fragte sie den vierzehnjährigen Jungen des Bootwarts.

„Jawohl, Fräulein, dort steht ja sein Rad!“ Er zeigte auf ein Motorrad, das seitlich am Zaun lehnte.

Marion stieg aus. Sie ging ums Haus herum. Dort in der Sonne sah sie Jobst Reichardt. Sein blonder Schopf wehte. Er sprach mit ein paar Klubkameradinnen, die gemeinsam mit ihm an dem Rennboot des Klubs hantierten.

Marion zog aus ihrer giftgrünen Ledertasche das Spiegelchen. Schnell fuhr sie sich noch einmal mit der Puderquaste über ihr pikantes Gesicht, zog die Lippen schnell nach. So — nun war sie mit sich zufrieden.

„’n Tag, Reichardt!“ Sie rief es laut über die anderen hinweg, nickte den Kameradinnen zu.

„Guten Tag, Marion!“ sagte der; sah nur flüchtig auf. „Na — warum sind Sie denn noch so pikfein? Wir wollen doch gleich starten. Wenn nur Herdith bald da wäre! Machen Sie wenigstens los.“

Er sprach schon wieder mit den anderen jungen Mädchen, die um ihn herumstanden.

„Grobian!“ sagte Marion leise vor sich hin. Da hatte sie nun ihren neuen Mantel an, ihre neue Mütze auf und war, wie ihr Vetter Thom vor der Abfahrt versichert hatte, zum Anbeissen! Aber Jobst Reichardt hatte ja nichts anderes im Kopfe als das Rudertraining, Sieg, Kampf. Er schien der Meinung, dass eine Frau im Ruderdress allein Wert hätte.

Ich glaube wirklich, dachte Marion böse, während sie langsam den Ankleidekabinen zuging, um sich umzukleiden, er wäre imstande und heiratet eine Frau nicht, weil sie hübsch ist oder reich, oder sonst was — nur, weil sie am besten rudern kann. Dann hätte er eigentlich auch noch vor kurzem sie wählen müssen. Da war im letzten Moment Herdith Assmussen dazwischengekommen. Wie sie Herdith hasste! Ohne Herdiths Auftauchen wäre sie jetzt Schlagmann und unbestrittene Beste im Skull-Vierer des Klubs. So aber hatte sie Herdith den Platz abgeben müssen. Das kam davon, wenn man solche Leute wie Herdith in den Klub aufnahm. Sie hatte sich ja den Mund fusselig geredet. Wer war schon Herdith Assmussen?

Eine kleine Sekretärin in irgendeinem Geschäft. Sie gehörte eigentlich gar nicht in den Vierer!, dachte Marion. Aber die anderen hatten sie überstimmt, und Jobst Reichardt hatte sehr energisch erklärt:

„Was haben Sie gegen Herdith einzuwenden, Marion? Dass sie arm ist und für sich selber sorgen muss? Das erhöht meine Achtung vor ihr. Sie ist ein feiner Kerl und ein guter Kamerad — die beste unter Ihnen allen! Wenn Sie Wert darauf legen, mich als Trainer zu behalten, dann kommt Herdith Assmussen in den Vierer.“

Da hatte Marion nichts mehr zu sagen gewagt, denn sie spürte, es war Jobst Reichardt ernst. Ehe sie den verlor, nahm sie lieber diese eklige Herdith in Kauf.

Zweites Kapitel.

Herdith sprang mit ein paar Sätzen die Treppe herunter. Rücksichtslos drängte sie sich durch die Reihen der Menschen, die jetzt zum Wochenende hinaus ins Freie strömten. Noch ein paar Sekunden, dann ging der Autobus, mit dem sie zum Klubhaus kam. Da — ein Tuten, ein Rattern — hatte sich der Zug verspätet oder war der Autobus zu früh da? Er setzte sich gerade auf dem grossen, sonnenbeschienenen Bahnhofsvorplatz in Bewegung.

„Auch das noch!“ sagte Herdith verzweifelt laut vor sich hin. Ausgeschlossen noch mitzukommen. Die Menschen hingen an dem Bus wie ein Bienenschwarm; das energische „Besetzt!“ des Schaffners klang noch über den Platz.

„Verzeihung!“ klang es neben ihr im Gewühl. Ein junger Mann, nett, in hellem Hemd, grauer Hose stand neben ihr: „Der Bus ist Ihnen fortgefahren. Sie wollten nach —“

„Nach Blumenbrügg, Klubhaus.“

„Wenn Sie mitfahren wollen, bitte!“ — der junge Mann wies auf einen schnittigen Wagen, der am Parkplatz stand.

„Ja — wenn Sie denselben Weg haben?“

„Wenigstens dran vorbei. Darf ich?“

Höflich nahm er Herdith das Köfferchen ab. Sie ging neben ihm dem Wagen zu. Eigentlich war sie gar nicht dafür, so plötzliche Bekanntschaften zu machen, noch weniger, mit unbekannten jungen Leuten im Auto zu fahren, mochten sie auch noch so nett und höflich sein wie dieser Unbekannte. Auch vorstellen hätte er sich ja können. Es waren jetzt burschikosere Sitten; aber in manchen Dingen war sie da anderer Meinung. Na, für die paar Minuten, die man fuhr, mochte es auch so gehen. Man sagte „schönen Dank“, damit war der Fall erledigt.

„Bitte schön!“ — der junge Herr öffnete den Schlag des Wagens. „Horch, neue Type!“ stellte Herdith fest; eigentlich mehr, um dem gefälligen jungen Manne etwas Nettes zu sagen. Autobesitzer waren in ihre Wagen verliebter als ein junger Ehemann in seine Frau.

„Sie fahren selbst?“ fragte der junge Herr, indessen er mit zärtlicher Bewegung den Motor einschaltete. Ja, es war wirklich wie eine Liebkosung; er schien den Wagen noch nicht lange zu haben.

Herdith lachte in sich hinein. Natürlich fuhr sie selbst. Allerdings nicht das allerkleinste Auto, sondern nur Bus, Elektrische, wie es gerade kam. Aber es packte sie plötzlich eine übermütige Laune, den Unbekannten ein bisschen zu necken. Er sah so nett aus, wie er nun neben ihr sass, die dunklen Augen aufmerksam auf den Weg gerichtet, mit der hübschen freien Stirn und dem glatten Haar, das straff und ordentlich nach hinten lag.

„Der Wagen zieht gut“, bemerkte Herdith, als man jetzt schnell und weich eine Anhöhe hinauffuhr — da lag nun der weite See, blau und frühlingshell; Birken am Rande säumten ihn wie ein weisses Band, die Kätzchen an den Weiden waren wie silberne Seidenflöckchen, ein paar Amseln sangen den Frühling aus sonnentrunkenen Kehlen.

„Schön, die Umgebung hier“, plauderte der junge Mann. „Sehr viel Schönes hier —“ Er streifte mit einem schnellen Blick das junge Mädel neben sich.

„Sie sind nicht von hier?“

„Nein, nur auf Zeit! Geschäftlich. Ich wohne in Prag. Kennen Sie Prag?“

Als Herdith verneinte, erzählte der junge Mann; er verstand anschaulich und interessant zu schildern. Man bekam ein Bild der Stadt und des Landes.

„Es ist eine interessante Stadt. Sie sollten sie sich einmal ansehen.“ Und dann schwieg er, weil Herdith ein betont abweisendes Gesicht machte. War das eine versteckte Einladung gewesen oder nur so dahingeredet? Na ja, sie würde sogar vermutlich nach Prag kommen, aber nicht auf Einladung des netten jungen Mannes hier.

„Wenn Sie bitte hier halten wollen, ich hab’s nur noch ’n paar Schritt’ bis zu meinem Klubhause!“

„Doch selbstverständlich, meine Gnädigste, dass ich Sie bis vor die Tür fahre!“

Herdith war das gar nicht so angenehm. Mit einem fremden jungen Manne so grossspurig vorfahren — aber der junge Herr hatte schon das Schild erspäht: Zum Ruder- und Schwimmklub. Er bog einfach links ein, ein paar Meter, und er fuhr in schöner Kurve vor dem Klubhause vor.

Jobst Reichardt rannte wie ein Wilder hin und her. Es war zum Auswachsen mit den Mädels! Nie, niemals pünktlich! Die schönste Trainingszeit ging hin; es wurde zeitig kühl, und man konnte den Mädels doch nicht so viel zumuten wie Jungens. Der Teufel hatte ihn geritten, dass er das Training hier übernommen hatte. Aber einmal und nicht wieder. Und immer war Herdith die Unpünktlichste. Immer musste es Krach mit Herdith Assmussen geben. Dabei wurde es ihm so verdammt schwer, ihr gegenüber immer den Harten zu spielen.

Er wusste ja, sie hatte es schwer. Viel Arbeit, keinen Menschen hier — nur die Gemeinschaft des Klubs und die gemeinsame Freude am Sport. Aber schliesslich am Sonnabend konnte sie sich doch freimachen, wenigstens jetzt vor dem Wettrudern. Zum Wildwerden war es!

„Wir warten noch fünf Minuten; wenn Herdith dann nicht da ist, übernehmen Sie den Schlagmann, Marion!“ bestimmte Jobst; eine steile Falte stand ihm in der Stirn. „Und für Sie bitte ich Hildegard.“

„Jetzt auf einmal!“ Marion machte ein ironischbeleidigtes Gesicht. „Ich gehör’ überhaupt als Schlagmann, auch sonst.“

„Das bestimmt sich nach der Tüchtigkeit, liebe Marion!“

„Pünktlichkeit ist auch eine Tüchtigkeit!“

Marion sagte es so keck, und ihre schwarzen Augen funkelten so siegesgewiss, dass Jobst trotz seiner Wut lächeln musste.

„Fünf Minuten um!“ meldete Kläre Grasshoff, eine kleine, mollige Blonde.

Jobst sah auf seine Uhr:

„Also los, Boot zu Wasser lassen!“

Jobst packte selbst mit an, den Mädels wurde das doch immer schwer. Ausserdem fehlten Herdiths kraftvolle Hände. Er sah sie plötzlich vor sich, wie sie fest und sicher mit den schlanken, arbeitgewohnten Fingern zugriffen. Blödsinn! Kam er denn mit seinen Gedanken überhaupt nicht von Herdith los? Da hatte er sie gebeten, vor dem ganzen Schwarm da zu sein; er wollte ihr erzählen, dass er endlich eine bezahlte Assistentenstelle zum ersten Juli bekommen hatte. Er war so voller Freude gewesen — und Herdith hatte die Erste sein sollen, die es erfuhr. — Er ärgerte sich über sich selbst; schöner Trainer, der hier träumte, statt auf seine Schäflein aufzupassen.

„Gleichmässig tragen, Kläre! Sie halten ja schief. Vorsichtig, nicht anstossen, langsam —“

So, nun hatte man es geschafft. Das schmucke Rennboot lag auf dem Wagen und wurde langsam, von den Mädels rechts und links gehalten, dem Wasser zugefahren.

Nun glitt es auf der schiefen Ebene herab, tauchte ins Wasser.

„Dort kommt ja Herdith!“ rief Kläre.

Jobsts Kopf fuhr herum — und was er sah, liess die unterdrückte Wut wieder in ihm aufflammen: dort stieg eben Herdith Assmussen aus einem bemerkenswert schnittigen Wagen, reichte einem bemerkenswert gut aussehenden Manne die Hand, die er, wahrhaftig, die er ziemlich lange — Jobst kam es minutenlang vor — in der seinen behielt, um diese dann ausgiebig zu küssen. Herdith sagte irgend etwas; er verstand nicht, dann ein Lachen, so warm und hell, wie nur Herdith Assmussen es hatte.

„Aha, so sieht das Büro aus!“ spottete Marion und schoss einen blitzschnellen Blick zu Jobst herüber. Jobst schwieg. Was sollte er auf Marions schnoddrige Bemerkung antworten? — Ein Wort noch, und er explodierte.

Herdith kam im Laufschritt auf die Gruppe zu:

„Tausendmal Verzeihung!“ bat sie atemlos, riss schon an der kleinen Krawatte ihrer weissen Bluse.

„Na, auf einmal hat sie’s ja schrecklich eilig!“ flüsterte Marion einer der Kameradinnen zu, aber die antwortete nicht. Alle hatten Herdith hier gern, die Tüchtigste unter allen Ruderinnen des Klubs. Dazu ein lieber, warmherziger Kamerad. Was sich die Marion auch alles einbildete! Weil ihr Vater, der reiche Industrielle Karnau, das Klubhaus gestiftet hatte, dachte sie, sie könnte über jeden reden. Dabei wusste doch jeder hier, warum Marion sich so heftig für den Klub eingesetzt hatte. Alles, seitdem der Jobst Reichardt hier Trainer für ihren Vierer geworden war.

„Fahren wir nicht endlich los?“ maulte Marion. Sie wollte durchaus im Boot sein, ehe Herdith fertig war.

„Na, bei dir piept’s wohl?“ fragte Tina Lüders. Sie sprach mit Vorliebe ihren geliebten Berliner Dialekt als Gegengewicht; sie studierte Literatur und behauptete, sie müsste sich auch mal vom „Gebildet-Quatschen“ erholen. „Wir werden doch nicht fortfahren jetzt, wo Herdith da ist“, kam es empört von einer anderen der Kameradinnen; „das könnt’ dir so passen, Marion!“

„Nette Kameradschaft“, fuhr Jobst Reichardt hart dazwischen, „die Klubgenossinnen zanken sich, Pünktlichkeit ist auch nicht. Aber das sage ich euch, noch mal solch Schweinerei, und ich bin euer Trainer gewesen.“

Da schwiegen alle still. Sie kannten Jobst Reichardt — er war der beste, gefälligste und gutmütigste Kerl von der Welt. Aber wenn es so weit war, dass er so ein Gesicht hatte und mit dieser eisigen Stimme sprach, da hiess es vorsichtig sein. Man hatte ihn gern — und man musste dem Schicksal dankbar sein, dass es ihnen Jobst Reichardt geschickt hatte. Seit er sie leitete, war aus ihrer Ruderei erst etwas Richtiges geworden. Preis auf Preis hatten sie bekommen, und nun sollten sie zum ersten Male in kurzer Zeit einen internationalen Wettbewerb mitmachen. War dem Jobst Reichardt nicht zu verdenken, dass er schliesslich einmal wütend wurde.

Auch Herdith hatte die letzten Worte Jobsts gehört. Sie hatte sich mit einer selbst für sie bemerkenswerten Schnelligkeit umgezogen. Ihr Gesicht war schuldbewusst, wie sie sich jetzt in die Mannschaft einreihte. Braun, kräftig und jung, so standen nun alle vier vor Jobst.

Jobsts Blick hatte sonst immer etwas von kameradschaftlicher Freude, wenn er seine Mannschaft vor sich sah. Jetzt aber war sein Gesicht finster. Die Szene mit dem Auto, dem fremden Manne und Herdith konnte man nicht so schnell herunterschlucken. Seine Kommandos klangen noch schärfer als sonst:

„Alles fertig machen!“

Nacheinander kletterten die Mädels ins Boot. Als letzte auf ihren Platz als Schlagmann Herdith.

Marions hübsche Züge trugen einen verkniffenen Ausdruck. Jetzt stieg auch Jobst ein:

„Fertig! Los!“ kommandierte er. Gleichzeitig, wie von einer Hand geführt, tauchten acht Skulls ins Wasser. Es war nicht ganz leicht, jetzt von Land abzukommen. Eine Unmenge Boote waren herausgekommen, fuhren von den Landungsstegen ab. Andere kamen schon zurück. Man musste vorsichtig manövrieren:

„Backbord vorwärts!“ rief Jobst. „Vorsichtig! Langsam! Steuerbord rückwärts! Alles rückwärts! Fertig! Los!“

Nun hatten sie das freie Wasser gewonnen. Das Boot schoss, von den kräftigen Armen gelenkt, auf der blauen Wasserfläche dahin. Alle Gesichter hatten nun etwas Angespanntes. Alles andere war vergessen. Herdith, Marion, Jobst, sie alle wussten nichts mehr Persönliches. Jetzt war nur noch das Boot, zu dem sie alle gehörten. Die Leistung, der sie zustrebten. Das Kommando des jungen Führers. Sie arbeiteten gleichmässig wie Maschinen. In gleichem Takt wurden die Arme zurückgerissen und wieder vorgeholt, tauchten die Skulls ins Wasser, trieben das Boot vorwärts.

Unermüdlich kommandierte Jobst und verbesserte:

„Kreuz hohl! Kläre, wollen Sie wohl den Kopf mitnehmen! Richtiger Einsatz. Zum Donnerwetter — eins, eins, eins!“

Es ging tadellos im Takt und doch Jobst offenbar immer noch nicht präzis genug.

„Langsam vorrollen! Marion, hören Sie nicht? Langsam! Steuerbord rückwärts! Alles rückwärts! Fertig! Ellbogen an den Körper — Sie wollen doch nicht Kiste schieben!“

Tina Lüders wurde rot. Sie hatte sich immer noch nicht an den Sportgrundsatz gewöhnt: Nichts übelnehmen! Aber sie hielt nun die Ellbogen sportgerecht am Körper.

„Mehr durchschwingen — Takt halten! Kläre, warum spritzen Sie so schrecklich?“

Unermüdlich verbesserte Jobst. Seine Augen waren scharf zusammengezogen. Keine Bewegung der jungen Körper entging ihm. Und wie von seinem Willen zusammengehalten, gaben sie alle ihr Bestes her. Immer wieder verglich Jobst seine Uhr.

„Zeit verbessert sich!“ rief er. Da strahlten sie alle und legten sich fester in die Ruder.

Es war ein scharfes Training. Die braunen Gesichter glühten. Aber sie bissen die Zähne zusammen. Sie mussten jetzt noch mehr leisten als beim letzten Male.

Zwei Stunden dauerte die Arbeit. Dann gab Jobst das Zeichen zur Rückfahrt. Bis zum letzten Augenblick hielten sie Takt, Zeit und Stil tadellos aus. Die Beste war, wie immer, Herdith. Sie hatte mit besonderem Ehrgeiz gekämpft. Jobst sollte an ihr nichts auszusetzen haben.

„Komisch, der Herdith sagt er nie etwas!“ tuschelte Marion, als sie wieder am Landungssteg des Bootshauses waren.

„Weil er keinen Grund dazu hat!“ Kläre sah Marion Karnau spöttisch an.

„Na, so tadellos ist sie ja schliesslich auch nicht.“

„Das kannst du gerade beurteilen! Aus dir spricht ja nur der blasse Neid, dass du nicht Schlagmann bist. Solltest lieber mal ordentlich helfen sauber machen. Aber das schätzt du nicht.“

Marion zog ein Gesicht. Jetzt kam der unangenehmste Teil: das Boot reinigen. Es wurde vorsichtig vom Wasser her wieder auf die Laufbahn geschoben und von den Mädels unter Jobsts Hilfe auf die beiden Standböcke getragen. Dann ging das Putzen los. Man machte es nicht gern. Aber es war Ehrensache, das Boot in tadellosem Zustand wieder in den Bootsschuppen zu bringen. Die braunen Mädchenhände arbeiteten energisch an dem rotbraun glänzenden Holze. Jobst beteiligte sich wie selbstverständlich. Die Putzlappen glitten hin und her. Erst wurde das Boot von innen und aussen völlig trocken gewischt. Jobsts scharfe Augen entdeckten immer noch irgendwo ein Wassertröpfchen.

„Das sind die Schweisstropfen, die immer wieder ’reinfallen, Reichardt!“ lachte Tina Lüders. „Da können wir putzen und putzen — und es wird immer noch was sein.“

Jobst lachte über sein ganzes heisses, verbranntes Gesicht:

„Dann kann ich Ihnen als Literaturkennerin nur mit einem Satz einer deutschen Dichterin antworten: ‚Der Künstler versäume nie, die Spuren seines Schweisses zu verwischen. Gesehene Mühe ist zu wenig Mühe?‘“

„Huch, wie gebildet!“ spöttelte Tina. Aber sie rieb tapfer weiter.

„Marion spielt wieder mal gnädige Frau!“ konstatierte Kläre. Sie liebte es, Marion immer etwas am Zeuge zu flicken. Marion, die eigentlich gar nicht zu ihnen passte — reich, verwöhnt, zu Intrigen geneigt —, war so ganz anders wie die anderen drei Mädels des Skull-Vierers. Die sollte nur wissen, was es heisst, sich allein durchs Leben zu schlagen!, dachte Kläre, dann würde sie vielleicht anders sein und kameradschaftlicher.

„Wieso ‚gnädige Frau‘?“ gab Marion gereizt zurück.

„Will ich dir erklären. Weisst du, wie unsere Familie noch reich war und wir drei, vier Angestellte im Hause hatten, da ging meine Grossmutter immer mit weissen Glacéhandschuhen und behauptete Staub zu wischen. Das heisst, sie fuhr an den Möbeln entlang, um zu sehen, ob die Mädchen abgestaubt hatten. Das nennen wir eben seitdem ‚Gnädige Frau‘ spielen.“

„Na erlaube mal, wo habe ich weisse Glacéhandschuhe an?“

„Aber du tust nur, als ob du was tust. In Wahrheit kontrollierst du nur, ob wir’s gut machen.“

„Kinder, haltet doch Frieden!“ Herdith sagte es zwischen ihrer Arbeit. Sie war die Gleichmässigste. Systematisch fuhr ihr Putzlappen hin und her, bis alles blank gerieben war. Sogar die Dollenschmiere trug sie auf. Etwas, was am wenigsten beliebt war.

„Noch böse?“ fragte sie leise Jobst, der gerade neben ihr stand.

Es klang so weich und bittend, dass Jobsts Wut zerschmolz:

„Ach, Herdith!“ sagte er, und machte eine vage Handbewegung durch die Luft, schwieg aber.

Marion beobachtete die beiden mit glitzernden Augen.

„Wir schwimmen doch noch!“ rief Tina Lüders und legte ihren Arm um den Hals Herdiths.

„Natürlich! Jetzt kommt ja erst die Belohnung!“ lachte Herdith. Sie fühlte den Druck von sich weichen.

„Die haben die Schinderei noch vor sich“, bemerkte Tina, als sie sah, dass ein Trainingsboot von ein paar Jungens vom Klub nebenan zu Wasser gelassen wurde und der Trainer dort in einem herzlichen, aber immerhin mächtig rauhen Ton seine Kommandos ertönen liess.

Herdith reckte sich:

„Ich weiss nicht — Schinderei? Wenn man sich so richtig ausgearbeitet hat, und es hat geklappt — Herrgott!, das ist doch das Schönste!“

Und dann liefen sie alle in die Kabinen, um sich zum Schwimmen umzukleiden.

Drittes Kapitel.

Jobst war als erster fertig. Er ging vor dem Sprungbrett auf und ab und wartete auf die vier Mädels vom Boot „Frohe Fahrt“. Zwischendurch plauderte er ein paar Worte mit den jungen Männern und Mädchen, die hier herumwimmelten.

Er war erst ein paar Wochen hier im Klub als Trainer und eigentlich noch einer der „Jüngsten“ hier. Aber dennoch, man kannte und respektierte ihn schon. Man hatte ihn erst kritisch begutachtet, den jungen Arzt, der hier als Sporttrainer erschien, um sich in wahrstem Sinne des Wortes „über Wasser zu halten“, wie ein witziges Klubmitglied sagte. Aber Jobst hatte es sehr bald verstanden, sich Respekt zu verschaffen. Er hatte seinen Skull-Vierer mit den vier Mädels so in Zug bekommen, wie kein anderer. Die Leistungen der Vier vom Skull „Frohe Fahrt“ wurden besser und besser. Die Entscheidungskämpfe innerhalb des Klubs waren immer mehr zugunsten von Jobsts Schutzbefohlenen ausgefallen. Der letzte Wettbewerb hatte ergeben: Der Vierer „Frohe Fahrt“ kam als einziger in Betracht, die Einladung des Prager-Deutschen Damen-Ruderverbandes anzunehmen und die deutschen Farben in der schönen Moldaustadt zu vertreten.

Das hatte Jobsts Stellung mit einem Schlage zu einer überragenden gemacht. So wurde er auch jetzt von allen Seiten angesprochen. Man hatte das Training seines Skull-Vierers mit kritischen Augen beobachtet und die Verbesserung der Zeit mit viel Freude konstatiert. Man wusste, die Prager Damenmannschaft war aus verschiedenen Wettkämpfen bisher siegreich hervorgegangen. Nun die deutschen Farben auf der Moldau zum Siege zu führen, war der Wunsch aller.

Jobst antwortete freundlich, aber ein wenig zerstreut. Er war jetzt, nun die Anspannung der Arbeit vorüber, wieder ganz bei der kleinen Szene von vorhin. Ob Herdith ihm erzählen würde? Da kam sie schon in der Mitte der anderen Mädels.

Wie sich doch die Verschiedenheit der Charaktere bei den Mädels sogar im Schwimmdress ausprägt!, musste Jobst denken. Tina Lüders hatte einen gelben Anzug, der zu ihrer etwas fahlen Blondheit eigentlich gar nicht stimmte. Sicher war er der erste, der ihr beim Kauf unter die Hände gekommen war. Sie war in allem faul und gab sich nicht gern lange Mühe.

Kläre Grasshoff, die immer sehr Sachliche, Herbe, hatte einen dunkelblauen Anzug an, schmucklos, beinah puritanisch. Es passte zu ihrer schlichten, allem Schein abholden Art.

Marion dagegen hatte das Modernste vom Modernen. Einen grünweiss gestreiften Anzug, im Rücken unwahrscheinlich tief ausgeschnitten, auf Wirkung und Koketterie zurechtgemacht. Sie sah bezaubernd aus, wie sie da mit ihrem wiegenden, selbstbewussten Schritt ging. Ihre zierliche Gestalt war vielleicht ein klein wenig zu voll. Aber das gab ihrer ganzen Erscheinung dieses Weibliche und Verlockende, zu dem die bizarre, grüne Schwimmkappe nur wie eine lustige Verkleidung erschien.

Herdith dagegen? Ein weisser Wollanzug ohne jeden Schmuck. Er passte zu dem Reinen, Lichten, das von ihr ausging; eine weisse, helmartige Kappe, die sie jetzt noch in der Hand trug.

Jobsts Augen leuchteten auf. Aller Aerger war vergessen. Er hatte nur den Wunsch, mit Herdith in dieser sonnenseligen Nachmittagsstunde frei und gelöst zu sein.

Herdith bemerkte die Veränderung in seinem Gesicht. Auch ihre Augen leuchteten froh. Unmerklich liess sie die anderen vor. Die erste, die auf das Sprungbrett kletterte, war Kläre. Tina dagegen liess sich faul, einfach vom Strand aus, ins Wasser gleiten.

„Kommen Sie, Reichardt!“ Marion ging hinter Kläre her und drehte sich lächelnd zu Jobst um.

Der aber sagte kurz:

„Fangt nur schon an! Ich habe mit Herdith was zu besprechen.“

Gekränkt kletterte Marion empor. Herdith und immer Herdith. Ueberall war sie ihr im Wege. Schon in der gemeinsamen Schulzeit damals in Braunschweig. Immer sass Herdith einen Platz vor ihr. Immer war sie in den Arbeiten ihr voraus. Immer der Liebling der Lehrer. Und so war es weitergegangen bis zur Tanzstunde. Wer bekam die meisten Blumen? Herdith! Wer wurde immer zum Tanz zuerst aufgefordert? Herdith! Dabei konnte Herdith in nichts mit einem selber konkurrieren. Was hatte sie immer für jämmerliche Fähnchen angehabt? Aber es schien, als ob die Männer nur Augen für Herdith Assmussen gehabt hatten. Es war wie verhext. Nun war man längst aus Braunschweig heraus, wohnte in Berlin, hatte diese Herdith Assmussen längst vergessen. Da musste sie einem wieder hier in dem Klub entgegentreten. Und was das Schlimmste war: Jetzt ging es nicht mehr um eine Eins oder eine Zwei in den Schularbeiten, nicht mehr um einen Blumenstrauss von einem der kleinen Primaner. Jetzt ging es um Jobst Reichardt! Aber Herdith sollte sich in acht nehmen! Sie wollte siegen, und sie würde siegen.

„Ich habe so sehr auf Sie gewartet, Herdith“, sagte Jobst unten leise. „Ich wollte Ihnen ...“ Er unterbrach sich. „Wer war denn das, mit dem Sie vorhin da angekommen sind?“ fragte er.

„Ach das?“ Herdith zuckte die braungoldenen, schönen Schultern.

„Offen gestanden, ich weiss nicht. Ich hatte mich verspätet im Büro, Direktor Fredrichs fand und fand kein Ende. Ich war schon so ungeduldig, Jobst. Das können Sie mir glauben. Hab’ schon lauter Dummheiten geredet, bis sogar Fredrichs Mitleid bekam und ich endlich aus dem Laden ’raus konnte. Am Bahnhof Babelsberg hatte ich Pech. Der Bus war gerade fort. Da stand plötzlich dieser junge Mann neben mir, bot mir an, mich mitzunehmen. Und da bin ich mitgefahren. Wer er ist, und wie er heisst — keine Ahnung! Aber ist ja egal. Sonst wäre ich nämlich noch später gekommen, und da wäre ich traurig gewesen. Ich weiss ja, Sie waren sehr ärgerlich.“

„Da wär’s mir schon lieber gewesen, Sie wären noch später gekommen, Herdith. Sie sollen nicht mit fremden jungen Leuten fahren!“ Es kam sehr heftig.

Herdith lächelte. Sie war gänzlich ungekränkt. Dummer, lieber, geliebter Jobst!, dachte sie.

„Ich werde ja auch nicht mehr. Der war nicht von hier, soviel habe ich noch behalten. — Das gibt’s nur einmal, das kommt nicht wieder ..., summte sie lachend.

Jobsts Wutanfall machte sie beinah glücklich. Lieber, einziger, geliebter Jobst — ach, wenn man doch bloss nicht so arm wäre! Wenn man nur ein bisschen Sicherheit hätte! Sie glaubte zu wissen, warum Jobst nicht sprach. Er war nichts, er hatte nichts. Sie mit ihrem kleinen Gehalt und er mit seinen paar Pfennigen für den Trainingsunterricht hier: Null zu Null gab nichts!

Aber man war ja noch jung. Man konnte ja warten. Man brauchte ja auch noch nicht zu sprechen. Wenn nur alles klar war, man umeinander wusste — schon das war ein grosses, ein unverdientes Glück. Ganz selbstvergessen ruhten ihre Augen auf Jobst. Soviel Innigkeit und Liebe strahlte aus ihnen, dass alles in ihm davor verging.

„Herdith, ich habe Ihnen vorhin was erzählen wollen.“

„Was denn?“

„Denken Sie, ich habe eine Assistentenstelle. Zum ersten Juli in einem grossen Krankenhause hier.“

„Bezahlt?“ fragte sie atemlos.

„Ja. Und eine Arbeit, die mich interessiert. Ich glaube, da bin ich in die richtigen Hände gekommen. Ein berühmter Chef. Da werde ich was lernen. Man wird mich fördern. Ich glaube“ — er atmete tief auf —, „nun ist die Pechsträhne erst mal abgerissen.“

„Oh!“ Sie sagte nichts als dies kleine Oh, aber es lag soviel Freude darin, mehr als in einem langen Glückwunsch. Und dann atmete sie auch auf, als ob auch sie selbst von einer schweren Last befreit wäre: „Wie schön, wie wunderschön! Ich hab’s ja gesagt, es kommt einmal wieder besser. Sie schaffen’s schon, Jobst. Passen Sie auf, Sie werden mal was ganz Berühmtes werden.“

Jobst war beinah beschämt über diesen gläubigen Ausdruck in ihren Augen. Beschämt und beglückt.

„Ach, du lieber Gott, Herdith, so hoch hinaus will ich gar nicht. Ich wünsche nur eins: arbeiten können — eine Arbeit, die meiner würdig ist.“

„Nicht so eine Herde dummer Mädels trainieren — nicht wahr?“ lachte sie schelmisch.

„So habe ich das nicht gemeint, Herdith! Ich bin ja so stolz auf das, was wir erreichen. Diese Trainingsmonate mit Ihnen allen, die möchte ich nicht missen. Wirklich nicht“, er streckte ihr die Hand entgegen.