Erzählung zur Sache - Stephanie Bart - E-Book

Erzählung zur Sache E-Book

Stephanie Bart

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Beschreibung

»Für das Leben, gegen den Tod.« Stephanie Bart folgt in ihren Romanen der Spur des Widerstands. Auch in der Erzählung zur Sache widmet sie sich dem Widerspruch zwischen dominanten gesellschaftlichen Kräften und ihren Antipoden, hier: Gudrun Ensslin. Wir tauchen ein in die Atmosphäre der Bundesrepublik des Jahres 1972 und verfolgen aus der Subjektive von Gudrun Ensslin, was es bedeutet, wenn sich ein junger Mensch mit einem intakten Gewissen dazu entscheidet, die faschistische Kontinuität der Bundesrepublik nicht hinzunehmen. Mit ihrer Sprache, deren Wucht wir aus der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss kennen, lässt die Autorin in einer trommelnden, singenden, rhythmischen Komposition aus historischem Dokumentenmaterial und Schlüsselzitaten der linken Theorie die Figur der Gudrun Ensslin vor unserem inneren Auge lebendig werden: von den bunten, gewaltfreien Protesten in der Apo über die Baader-Befreiung (Gründung der RAF) und die 5 ½ Jahre ihrer Inhaftierung bis zu ihrem Tod im Stammheimer Gefängnis am 18. Oktober 1977. Stephanie Bart knüpft im Spiegel dieser Figur an eine gesellschaftliche Perspektive an, die nicht erst seit Heine, Büchner, Benjamin oder Brecht auf das gute Leben für alle zielt, das der Mensch, laut Schiller, nur da zu leben imstande ist, wo er spielt. Spielerisch entfesselt Stephanie Bart in der Erzählung zur Sache ein Denken, in dem der immerzu bemühte aber nie verwirklichte Begriff der Würde des Lebens endlich laufen lernen könnte: auf eine Zukunft zu, in der niemand zurückgelassen und das Ökosystem instand gehalten wird, denn es ist 12:05!

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Stephanie Bart

Erzählung zur Sache

Roman

Die Autorin dankt der Akademie der Künste und dem Berliner Senat für die Förderung ihrer Arbeit an diesem Roman.

Erste Auflage

© 2023 by Secession Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christian Ruzicska

Korrektorat: Peter Natter

www.secession-verlag.com

Gestaltung und Satz: Eva Mutter, Barcelona

Gesetzt aus Roboto Serif

Printed in Germany

ISBN 978-3-96639-079-8

Der Verlag dankt dem Hamburger Institut für Sozialforschung für die Abdruckgenehmigung der auf dem Nachsatz gezeigten Skizze von Gudrun Ensslin

© Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung / Bestand En, G

Wir ergreifen keine Idee, sondern die Idee ergreift uns und knechtet uns und peitscht uns in die Arena hinein, dass wir wie gezwungene Gladiatoren für sie kämpfen.

Heinrich Heine

Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.

Karl Marx

Wir behaupten, dass die Organisierung von bewaffneten Widerstandsgruppen zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik und Westberlin richtig ist, möglich ist, gerechtfertigt ist.

Rote Armee Fraktion

   I. Heidelberg, Mai 1972

  II. Essen und Köln, Juni 1972 bis April 1974

 III. Berlin, Mai 1970

 IV. Stammheim, April 1974 bis Mai 1975

  V. Berlin 1965 und Frankfurt 1968

 VI. Stammheim, Mai 1975 bis September 1977

VII. Hamburg, Juni 1972, und Stammheim, Oktober 1977

Haftungsausschluss:

Alle in diesem Roman enthaltenen strafrechtlich relevanten Beleidigungen und Verunglimpfungen von Personen der Zeitgeschichte, lebenden und toten, sowie Aufforderungen zu strafbaren Handlungen und was sonst nach StGB strafbar ist, sind entweder, dem literarischen Verfahren entsprechend, nicht gekennzeichnete wörtliche oder bearbeitete Zitate der RAF oder repräsentieren deren Position. Außerdem enthält der Roman ebenfalls nicht gekennzeichnete Zitate der im »Team Gudrun« namentlich genannten Autorinnen und Autoren.

I. Heidelberg, Mai 1972

Ostwind kommt auf mit dem Tag.

Jagt durchs Neckartal, gebettet in Oden- und Pfälzerwald, fliegt mit dem Fluss, weckt im Vorbei die Altstadt auf, wirbelt an Bögen und Pfeilern von Brücken und rollt, sich nach Norden und Süden verbreitend, aus in der Rheinebene, wo der Neckar, der kanalisierte, rechts nach Norden rauf abdreht. Es geht auf den Juni zu, sieben Tage noch, dann ist er da. Die flachen Felder im Westen und hoch aufsteigenden Wälder im Osten der Stadt wachsen dem Mittagshimmel entgegen – wolkenlos, nackt: auch Ehrenfriedhof und Thingstätte, über der Stadt gelegen, beheizt die Sonne mit Kraft, Weltkriegszeugnisse, Nazi-Theater, hin und her geschobene Tote. Die Lebenden in den Häusern und auf den Straßen schwitzen auf kommende Sommerhitze hin, seit Wochen wird es jeden Tag wärmer. Aus dem roten Sand auf dem Appellplatz der Campbell Barracks verdunstet der Tau, die Kaserne liegt in der Südstadt, der Sand trocknet, Schritte beginnen zu knirschen. Im Rücken vier Anschläge im Abstand von wenigen Tagen: am 11. die Amis, am 12. die Polizei, am 15. die Justiz, am 19. die Presse. Zwei Jahre Vorbereitung auf die Offensive im Mai 72, Handwerk und Struktur, der Kleine Krieg, die Rote Armee Fraktion liegt in Führung, die Fahndung läuft auf höchsten Touren, und die US-Luftwaffe erklärt öffentlich, dass für uns bei Bombenangriffen auf Vietnam ab sofort kein Ziel mehr ausgenommen bleibt, dass ab sofort das ganze Land das Ziel unserer Bombardierung ist: neben den üblichen militärischen Zielen auch Städte, Dörfer, Reisfelder, Dämme, Krankenhäuser, Schulen, die Bevölkerung und ihre Nahrungsgrundlagen, alles, jeder Quadratzentimeter des ganzen Landes: ab sofort überall Bomben drauf, mehr Bomben drauf, noch mehr Bomben drauf als in den letzten sieben Wochen, in denen wir bereits dreimal mehr Bomben auf Vietnam geworfen haben, als im Zweiten Weltkrieg auf Japan und Deutschland zusammen, wir wissen, wie es geht, die Knarre löst die Starre nur, erst die Bombe löst den Rest, auch in Heidelberg, und so ist unser Anschlag auf das Heidelberger Hauptquartier die Antwort auf die Ansage der amerikanischen Luftwaffe, und so ist die Wirkung unseres Anschlags zugleich seine Botschaft: einfach, hell und klar wie die Sonne am Himmel.

In der Kaserne – anderthalb Quadratkilometer Nazi-Architektur, roter Sandstein, an der Biegung des Flusses – alles wie immer: Dienste, Schichten, Kontrollgänge, Wachen, im Computerraum, in der Kegelbahn, am Sendemast, an den Toren, und die Abschiede derer, die wieder zurück nach Hause dürfen, weil ihr Auslandseinsatz endet. Die Glücklichen, die in Europa sind und nicht in Vietnam, bjutiful Haidlbörg, wissen seit dem 11. des Monats, dass wir uns mit unseren Verbrechen am Vietnamesischen Volk neue, erbitterte Feinde geschaffen haben, dass es für uns keinen Platz mehr geben wird in der Welt, an dem wir vor den Angriffen revolutionärer Guerilla-Einheiten sicher sein können, Goodbye heute im Kasino ab 17.00 Uhr, zweiter Stock, Offiziersklub, mit Damen:

Schlag 17.00 Uhr stehen die ersten in der Tür, die Party beginnt, nach und nach kommen die weiteren Gäste. Auf den Straßen der Kaserne ist Dienstende, Dienstanfang, Schichtwechsel, Wachablösung, Stoßzeit zum Anstoßen im Offiziersklub, militärisch diszipliniert, mit Weißweinschorle und Whiskey und dem Befehl: »Feiern!«, Toasts werden ausgegeben, Zigaretten geraucht, Canapés gereicht und Konversation gemacht, und alles im Stehen, mit Blick durch die Glastüren auf die Terrasse, von der Terrasse auf den großen, ihr zu Füßen liegenden Parkplatz: rechteckig, einstöckig umbaut, die Autos gerichtet in drei doppelten, 150 Meter langen Reihen, und alles ist wonderful, der Parkplatz, Heidelberg und die Rückkehr nach Hause, no really, so wonderful.

Der Wind lässt nach. Das Kasino liegt mittig auf der langen Westseite des Parkplatzes, an seinen östlichen Ecken die Zufahrten, an seiner ganzen südlichen Hälfte sensible Struktur: der EDV-Bereich, der Sendemast, die Fernmeldestation, die mobilen Nachrichtenaufbauten für Lastkraftwagen, einschließlich des Kommandoaufbaus, in dessen Tür ich stehe und hinüber zum Kasino schaue, von wo zwei Kellnerinnen kommen, schräg über den Parkplatz, zwischen Fahrzeugen hindurch, an meiner Tür vorbei. Sie sprechen Englisch mit deutschem Akzent, und eine der Damen macht mir gegenüber eine Bemerkung, die ich nicht verstehe. Ich bin Nachrichtentechniker, aber »ich« kann jeder sagen und daher immer ein anderer sein. »Ich« kann immer eine andere sein. Die Damen verlassen den Parkplatz an seiner südöstlichen Zufahrt, passieren seine Randbebauung, überqueren die nächste Straße, die parallel zu seiner langen Ostseite verläuft, gehen geradeaus weiter an der Stirnseite der Kegelbahn vorbei und sehen zwei Männer den Appellplatz zum Haupttor hin überqueren. Den roten Appellplatz, ein wenig heller als Tennis, die grünen Bäume an den Seiten, geradeaus das pompöse Hauptgebäude in rosa, seine Tordurchfahrt, den Uhrenturm auf dem Dach, dahinter der hochgelegte Horizont des steil ansteigenden, blaugrün bewaldeten Ameisenbuckels, darüber der Himmel, Postkarte, Greetings from Heidelberg, was ich nicht sehe, weil ich es feierabendeilig habe, zur Straßenbahn, über den Appellplatz, geht vor mir ein Mann, der wie ich den Haupteingang ansteuert, der Zeit zu haben scheint, den ich gleich überholen werde, der an diesem schönen, trockenen Tag einen Regenschirm bei sich hat, einen Stockschirm, wie seltsam, warum wohl, sonst hat er nichts dabei, wahrscheinlich ein Ami, mit dieser Wildlederweste, mit dieser bügelfaltenlosen beigen Hose, jeansartig, die Amis sind anders als wir, ich überhole ihn, ich sehe ihn von der Seite her an, er merkt es, schaut aber nicht zu mir zurück, er trägt backenbartartige Koteletten, die bis unter die Ohrläppchen reichen und sich leicht kräuseln, hohe Stirn, weiche Gesichtszüge, dunkle Augen, ich muss die Straßenbahn kriegen, ich eile durch die Tordurchfahrt, nicke der Wache zu, gehe die Römerstraße rechts runter, sehe eine junge Frau in einem lilafarbenen Maximantel mir entgegenkommen, höre hinter mir jemanden rufen, drehe mich um: er ist es, er ist Zivilist, weil solcher Backenbart für Soldaten verboten und sein Nacken, wie meiner, unrasiert ist. Er winkt, genau an mir vorbei, ich wende mich zurück nach vorn, die junge Frau winkt ihm zu, sie lächelt, die beiden freuen sich, ich beschleunige, ich muss die Straßenbahn kriegen, nach Hause, wo die Frau kocht, wo das Radiogerät im Wohnzimmer Polizeifunk empfängt.

Ich verlasse das Kasino, die Party, wonderful, ich gehe zu meinem Wagen, wonderful, ich habe in meiner Eigenschaft als Oberst einen reservierten Stellplatz am südlichen Ende in der mittleren Reihe für mich, wonderful, ich fahre hinüber zum Secret Service, jenseits der nördlichen Parkplatzumbauung, dort will ich ein Wort mit einem anderen Oberst wechseln, aber der ist nicht da.

Jenseits der nördlichen Parkplatzumbauung das Hauptgebäude des Secret Service, dunkelroter Backstein, mit seiner Einbuchtung in der Front, den fünf Stellplätzen für PKW, und innen drinnen, hinten rechts, der Hinterhalt auf deutschem Boden, von dem aus der Krieg geführt wird am zentralen Rechner, auf dem wir die Flugeinsätze und Bombenabwürfe über Vietnam koordinieren, wir Ausrottungsstrategen, ich habe meiner Frau heute morgen versprochen, gegen 6 pm zu Hause zu sein, ich mache seit Wochen, seit Monaten, seit einem halben Jahr jeden Tag Überstunden für IBM im Auftrag der Armee, ich bin dabei, Feierabend zu machen, die meisten sind pünktlich gegangen, weil der Oberst auf Dienstreise ist, sonst wären alle noch da, ich packe meine Sachen und gehe, und auf dem Flur fällt mir noch etwas ein, und ich gehe wieder zurück in mein Büro.

Feierabend, aber wirklich, in der Wellblechbaracke einen Block weiter, wo eine andere Secret-Service-Abteilung untergebracht ist: »Geh schon mal vor, ich hol den Wagen und komm rüber, und – eh! – wir nehmen den Major mit.«

Du gehst vor, du bringst das Testergebnis ins Hauptgebäude hinüber, und ich hol den Wagen und komm rüber, ich parke in der Einbuchtung an der Front und warte auf dich. Der Wind hat sich gelegt. Keiner da außer mir. Ein weißer, etwas schmutziger Ford fährt heran, am Steuer sitzt eine Frau mit schulterlangem, hellbraunem Haar, wendet, stellt sich rückwärts, mit dem Heck zum Haus, auf den reservierten Parkplatz des Obersts, der auf Dienstreise ist, steigt aus, schließt die Tür und geht, ohne sich umzusehen, weg in Richtung Appellplatz.

Dann kommst du aus dem Haus, alles erledigt, steigst ein, und wir fahren los, den Major zu holen, rollen hinüber zu seiner Unterkunft, parken, bleiben sitzen, warten auf den Major, und die Frau aus dem weißen Ford geht direkt vor unserem Wagen vorüber, und ich sage: »Als ich drüben auf dich gewartet habe, hat sie ihr Auto auf dem Platz vom Oberst geparkt. Es ist seltsam, dass sie den Wagen dort lässt und zu Fuß hinausgeht.«

»Ich habe sie durchs Fenster gesehen«, antwortest du, »sie scheint zu wissen, was sie tut«, ich nicke, wir meinen die Bestimmtheit ihres Blicks und ihrer Schritte, wir meinen ihre Körpersprache, ich sage: »Schöne, wohlgeformte Beine«, und du: »Weder zu dick noch zu dünn«, und ich finde, dass die Schuhe etwas zu sportlich sind für die Nylons und den dunkelgrünen Rock, und wir denken, dass sie gut aussieht, Figur hat, angezogen ist, der passende Pullover, der Gürtel auf den Hüften, wir taxieren ihre Titten und dann verlassen wir die Kaserne, wir fahren ohne den Major, weil er nicht gekommen ist.

Ich kriege Luft, wir jagen den Secret Service, die Mörderbande, zum Teufel, ich gehe, ich habe den Wagen abgestellt, ich gehe, ich verlasse die Kaserne, ich gehe, draußen wartet Andreas auf uns, ich gehe, ich sehe die Schäbigkeit des Secret-Service-Gebäudes in meinem Rücken, ich gehe, ich sehe die glotzenden Soldaten in dem geparkten Auto, ich gehe, ich gehe extra dicht vor seiner Schnauze vorbei, ich gehe, wir ernten die Früchte unserer Arbeit, ich gehe, wir haben die Tatsachen an uns gebracht und schaffen neue, ich gehe, niemand kann uns hindern, wir handeln, reibungslos, in der windstillen Farbigkeit hier, ich gehe, ich hole Luft in der Höhle des Löwen, ich gehe, die Bombe wird den Rechner zerfetzen, und da ist Andreas, wartet nicht draußen, kommt mir entgegen, wir sind eins, wir sind Aktion, wir sind Angriff, wir ziehen uns geordnet zurück.

Rote Armee Fraktion auf rotem Appellplatz

Byebye Campbell Barracks

Sieg im Volkskrieg, es lebe der Vietcong

Ich melde mich bei meinem Captain ab, um zum Essen in die Snackbar der Kegelbahn zu gehen. Der Captain kommt mit raus, er will seinen Wagen umparken, der auf einem weiter entfernten Parkplatz steht, und jetzt sind die Stellplätze in der Einbuchtung vor der Tür frei, nur der des Obersts ist besetzt, und zwar von einem weißen, etwas schmutzigen Ford, der nicht ihm gehört – jedenfalls, der Captain geht seinen Wagen holen und ich gehe zur Snackbar in der Kegelbahn.

Zur Kegelbahn zwischen Appellplatz und Kommandoaufbau, den ich verlasse, um meinen normalen Kontrollgang um die mobilen Aufbauten herum zu machen. In der ersten Parklücke steht ein VW Variant, älteres Modell, ich ziehe mit dem Finger einen Kringel in die stark verstaubte Vorderhaube, kontrolliere die Aufbauten, gehe zurück in den Kommandoaufbau und protokolliere den Kontrollgang: alles in Ordnung.

Ich parke den Wagen und gehe zum Eingang des Kasinos, aus dem ein Offizier herauskommt. Ich verlasse das Kasino, komme auf dem Weg zu meinem Wagen bei dem Stellplatz meines Obersts vorbei, Mitte Süd, auf dem jetzt ein grüner VW Käfer steht, der nicht ihm gehört, seltsam, dass er rückwärts in den Stellplatz eingefahren ist, ich bleibe stehen, betrachte ihn, nun ja, ein Käfer eben, ein grüner, ein grüner Käfer, der Käfer rollt und rollt, hier steht er, ich gehe weiter zu meinem weinroten Buick und fahre durchs Haupttor hinaus, in der Wache sitzen drei Mann.

Meine Ablösung ist schon da, ich warte nur noch auf den Wagen, der mich ins Hospital bringen soll, denn meine Frau liegt in den Wehen, darum gehe ich auch nicht zu der Abschiedsparty im Kasino. Wonderful. Die Heimkehrer haben sich in einer Reihe aufgestellt, die Hacken gerichtet, an der Längsseite, vor den Fahnen, den amerikanischen, wo früher Hakenkreuzfahnen waren, wonderful, it’s over long time over here, wonderful, sie schauen ins Gegenlicht aus den Terrassentüren, sie schauen auf die Silhouetten der Männer, die vor ihnen stehen, die Tabletts in den Händen halten, die ihnen diese Tabletts gleich überreichen werden: das ist die Würdigung ihres Auslandseinsatzes, offizieller Höhepunkt der Abschiedsparty, und der Zeremonienmeister schlägt mit dem Löffel ans Glas und sagt, was zu sagen ist: Vaterlandsliebe, Fahne, Opferbereitschaft, serve the country, brave and free, freedom and democracy, wonderful, Applaus, everyone loves military ease, und dann: »Ladies and gentlemen, attention please!« Und die Silhouetten heben synchron die Tabletts an und machen synchron einen Schritt auf die Heimkehrer zu und ein Laut zerschneidet die Luft.

Der Laut kommt von der Bombe im Kofferraum des etwas schmutzigen, weißen Ford vor dem Hauptgebäude des Secret Service. Sie explodiert. Zuallererst zerfetzt es den Behälter. Er birst. Sein Bersten setzt die Druckwelle frei. Sie expandiert.

Sie expandiert mit einer Erschütterung, einer Stichflamme und einer Rauchwolke. Die Stichflamme über zehn Meter senkrecht hoch, die Rauchwolke weiß zuerst, sofort grau werdend, wabernd, wallend, auf der Stelle wandernd, sich schwärzend, sich in sich drehend, steigend. Das Volumen des Gases dehnt sich mit Überschallgeschwindigkeit aus, vom Explosionsort weg in alle Richtungen, es erschüttert das Gelände, der Laut schneidet die Luft, macht taub, geht durch meinen Körper, ich höre die Druckwelle mit den Knochen, sie ist stärker als die Schwerkraft, ich spüre es, ich denke, ich denke mit ungewöhnlich überhöhter, mit übersteigerter, mit geradezu unerträglicher Klarheit und Präsenz, während nichts außer mir existiert, denke ich: ich könnte schweben aber es tut weh, und die Erschütterung hält die Zeit an.

In der angehaltenen Zeit hebt die Druckwelle den Ford an seinem Heck hoch und zerreißt es, sie bohrt eine knietiefe Versenkung unter sich in die Betondecke des Stellplatzes, sie drückt die Wand, an der das Heck des Wagens stand, ins Gebäude hinein, zerlegt sie in Ziegel und in Klumpen von Ziegeln, Fensterrahmen, Leitungen, sie lässt alle Kofferraumdeckel, Motorhauben und Türen von Fahrzeugen im Umkreis von über hundert Metern auf einen Schlag aufspringen und alle geschlossenen Fenster von Gebäuden in Scherben niedergehen. Sie lässt den Rest des Ford aufs Pflaster fallen, Schnauze voraus, sie schiebt parkende PKWs in die nächsten. Alles, was eben noch war, endet, alles wird zerrissen, gebrochen, geschleudert, fliegt auseinander, in tausend Stücken der Ausrottungsrechner von IBM, die Druckwelle bricht auch das Hauptwasserrohr in der Damentoilette, das die Verheerungen im Secret Service flutet.

Der Captain wird von der Druckwelle auf Bauchnabelhöhe halbiert, er steht direkt daneben, als es knallt: dieses Ereignis, Tod durch Bombenexplosion, gehört zu seinen Berufsrisiken als Soldat der US-Armee, er hat es unterschrieben, jetzt tritt es ein, sein Oberkörper bleibt in der Nähe am Boden liegen, entkleidet, perforiert von Metallteilen und Geröll, seine Beine fliegen in den Baum gegenüber, die Blätter des Baumes, alle, ausnahmslos, fliegen, auf eins gepflückt von der Druckwelle, mit dieser weg, Entlaubung hat der Captain nur von oben gesehen, bei drei Einsätzen in Vietnam, endlose Flächen dichtesten Waldes unter sich, ist ihm kein Haar gekrümmt worden, aber jetzt hat er seinen Wagen zur falschen Zeit umgeparkt, der Ausrottungsstratege hinterlässt Frau und Kind, und ich habe das Gefühl, dass irgendjemand eine Bombe gelegt hat. Ich denke an die Anschläge aufs Pentagon und in Frankfurt, Augsburg, München und Hamburg, die Lampen fallen von der Decke oder schaukeln an Kabeln, Staub wirbelt, das Licht ist aus, nur noch Notbeleuchtung brennt, alle Zwischenwände zur Fensterfront bersten, die Einrichtungsgegenstände und Büroutensilien fallen um und zerbrechen, die Zwischenwand zum »Plans and Requirement«-Büro wird dicht gelöchert, Dreck, Glas und Papier fliegen und fallen überall. Heute ist niemand in diesen Räumen. Ich will das Gebäude verlassen, aber die Eingangstür ist durch die Explosion verkantet, ich kann sie nicht öffnen, ich laufe zum Notausgang, ich kann den Notausgang vor Aufregung nicht öffnen, ich laufe zurück, dann hilft mir jemand von außen.

Die Tür öffnet sich, da liegt ein Körper. Ich habe das Gefühl, dass noch Leben in dem Körper ist, aber dass er nicht durchkommt. Der Körper liegt auf dem Rücken, Arme und Beine ausgestreckt, wie Kinder beim Schneeengel-Machen. Der Körper ist nicht mehr vollständig bekleidet, die Bekleidungsreste sind schwarz, verkohlt, die nicht bekleideten Teile des Körpers sind rot und schwarz verfärbt, wie in Vietnam massenhaft. Ich kann für diesen Körper nichts mehr tun, ich kenne ihn nicht, ich berühre ihn nicht, Leute kommen angelaufen, auch Militärpolizisten, ob der Verletzte noch lebt, kann ich nicht sagen, denn ich habe in meinem Leben erst wenige Leichen gesehen, als wir ihn auf die Bahre heben, beißt er mich in die Hand, wir verladen ihn, wir fahren zum Hospital, auf der Römerstraße sagt der Arzt: »Brauchst nicht so schnell fahren, der Patient ist gestorben«, wir verlieren Luft aus dem linken Hinterreifen, ich halte an und wechsle das Rad, ich habe mir einen faustgroßen, scharfkantigen Metallsplitter in den Reifen gefahren, ich bringe den Toten ins Hospital und fahre sofort zurück zum Explosionsort, ich will nur weg sein, ich gehe zu meinem Auto, alle verlassen die Snackbar, einige Sekunden später höre ich eine weitere Explosion, der Raum ist völlig zerstört, Teile des Gebäudes hängen von Wänden und Decken, als ich den Raum betrete, sehe ich einen Soldaten mit dem Gesicht nach unten im Wasser liegen.

Ich höre den zweiten Knall, als ich in der Türe bin, höre ich eine Explosion und renne auf den Appellplatz, dann höre ich die zweite Explosion und renne weiter. Ich höre die Explosion und danach eine zweite Explosion. Ich stehe auf und dann kommt die zweite Explosion, die viel näher ist als die erste, und ich werde zu Boden geworfen, ich weiß nicht, ob ich auch zu Boden geworfen werde, ich höre eine Explosion, die die Wände des Zimmers erschüttert, dann gibt es eine zweite Explosion, Stücke fallen aus den Wänden und Decken, eine Lampe fällt auf meinen Kopf. Ich höre die Explosion und danach eine zweite Explosion. Ich springe auf und ins Nachbarzimmer, der Boden ist mit Glas übersät, dann gibt es noch eine etwas entferntere Explosion, ich habe richtig Angst, dass noch mehrere Explosionen kommen. Wir versuchen in Deckung zu gehen, als eine zweite, nähere Explosion ausgelöst wird, stehe ich in der Nähe der Glastüren, die sich zur Terrasse öffnen, ich trete hinaus auf die Terrasse, werfe einen Blick auf den Parkplatz und gehe wieder hinein, und in diesem Moment knallt es zum zweiten Mal, als ich auf dem Appellplatz stehe, ich drehe mich um, ich sehe eine Unmenge von Blättern von den Bäumen auf mich zufliegen, eine Unmenge, sie landen auf dem Dach der Kegelbahn und auf dem Appellplatz, ich gehe hinüber, auf dem Parkplatz vor dem Sendemast finde ich zwei Metallstücke, ich nehme sie als Souvenir mit nach Amerika, ich gehe zurück zur Snackbar, um zu essen, mein Büro betrete ich durch das Loch in der Wand, mein Arbeitsplatz direkt hinter dem Loch, mein Drehstuhl zerbrochen, die tragende Gewindestange nach unten durchgeschlagen, in den Boden hinein, auf dem Boden Mörtelteile und zerstörte Büromöbel.

Ich esse, eine Kollegin meiner Dienststelle kommt zu mir an den Tisch, sie ist nicht verletzt, sie steht unter Schock, sie sagt: »Es hat uns getroffen«, ich esse, die Kegelbahn wird geschlossen.

Zehn Sekunden nach der Explosion am Secret Service explodiert die Bombe in dem grünen Käfer an der Südseite des Parkplatzes vor dem Kasino. Sie fegt mit demselben Spektakel wie drüben die mobilen Aufbauten weg, die Wellblechplatten heben sich in die Luft wie Federflaum, sie knickt den Sendemast, sie zerbröselt alle Kommunikationsgeräte, sie bricht durch die Fenster in die Gebäude der Parkplatzumbauung, um alle Fronträume des EDV-Bereichs zu verheeren, sie imprägniert die Fahrzeuge auf dem Parkplatz mit abnehmendem Wirkungsgrad nach Norden hin, der grüne Käfer mit der Bombe wird regelrecht auseinandergerissen, die Teile liegen im Umkreis von 100 Metern zerstreut, in der Betondecke der Parklücke sind zwei Vertiefungen mit strahlenförmigen Spuren, der VW Motor liegt am Fuße des Sendemasts, ein amerikanisches Kennzeichen liegt auf dem Parkplatz zwischen Explosionsstelle und Filmtheater, und ich sage: »It’s a bomb«.

Ich renne zur Tür und sehe Rauch aufsteigen, und ich frage meinen Kollegen, ob es ihm gutgehe, dann rennen wir von der Explosionsstelle weg, und bevor ich losrenne, sehe ich noch die Blätter von den Bäumen fallen, am Sendemast steht ein brennender VW Käfer, jemand bringt einen Feuerlöscher, ich lösche den Wagen, ich rufe über Funk Verstärkung und Feuerwehr, ich kontrolliere, ob sich in den geparkten Fahrzeugen verletzte Personen befinden, die Mikrowellenstation am Sendemast sieht aus, als ob jemand mit einem Schrotgewehr darauf geschossen hätte, die Außenwand der Station ist vollkommen durchlöchert, wir sehen, dass jeder Metallteile aufsammelt, die Fahrzeuge auf der mittleren Parkplatzreihe sind am stärksten geschädigt, ich sehe ein Metallteil beim Rinnstein liegen, ich nehme es auf, und weil das Metall heiß ist, verbrenne ich mir die Hand, ich lasse es wieder fallen und nehme es mit meinem Hemd auf, ich renne, mir kommen zwei Soldaten entgegen, einer am Kopf, der andere am Arm verletzt, ich renne weiter, ich sehe ein brennendes Fahrzeug, jemand ruft: »Drei Deutsche sind durchs Offizierskasino gelaufen!«, ich renne zum Kasino, durch die Küche zum Hinterausgang, rechts rauf, in nördlicher Richtung am Zaun entlang, ich will sie festnehmen, das Tor beim Secret Service steht sperrangelweit offen, normalerweise ist es verschlossen, ich habe dieses Tor noch nie offen gesehen, ich sehe es zum ersten Mal offen, ich erhalte die Erlaubnis der Militärpolizei, das Gebäude zu betreten, um die Verschluss-Sachen in Sicherheit zu bringen, die digitale Vernichtungsstruktur für Vietnam, der Rechner ist im Eimer, ich nehme diese Verschluss-Sachen aus dem doppelt einbetonierten Tresor und bringe sie in Sicherheit, und Andreas bringt Gudrun und die anderen in Sicherheit, und so bringen beide Kriegsparteien ihre kostbarsten Schätze in Sicherheit.

Auf der Landstraße sagt Gudrun: »Ich habe Hunger«, und Andreas greift in das Fach an der Fahrertüre, dort liegt neben einer Knarre eine Tüte Puffreis, die gibt er ihr, und Gudrun stopft sich den Puffreis mit beiden Händen in den Mund und sagt: »Alle Arten von Ungeheuer werden besiegt werden.«

Wenn wir auch von Auschwitz sonst nichts begriffen haben, so haben wir doch das begriffen, worauf es zuerst und zuletzt ankommt: dass man einen Völkermord, der im Gange ist, nicht anders als illegal und bewaffnet, das heißt mit militärischer Gewalt, wenigstens stören, wenn nicht aufhalten kann.

Im Übrigen zwingen wir den Feind mit unseren Angriffen dazu, den politischen in den militärischen Ausnahmezustand umzuwandeln. Damit macht der Feind sich kenntlich, sichtbar, für alle, und bringt so, durch seinen eigenen Terror, die Massen gegen sich auf. Die Heidelberger Wälder sind schwarz, die Felder sinken ins Grau, es wird dunkel. Die Heidelberger Massen schreiten umgehend zur Tat, genauer gesagt nehmen einzelne Teile der Massen den Anschlag als Trittbrett für ihren Hass: in der Polizeidirektion hagelts Bombendrohungen am laufenden Meter: hallo, hallo, in zwanzig Minuten geht das Altenheim hoch, knallts im Hauptbahnhof, brennt das Krankenhaus, die Uni, der ASTA, das Kaufhaus, fliegt das Theater in die Luft, explodiert die IHK, die Bankzentrale, die Firma Harwester, die 18.000 Liter Benzin lagert, und ihr seid als nächstes dran, euch holen wir – alles klar, besten Dank, geht in Ordnung, wir kümmern uns, schicke sofort jemanden los. Es stellt sich heraus, dass die Drohungen gegen das Altenheim und das Krankenhaus von Insassen dieser Anstalten kommen, und es gibt auch Bombendrohungen gegen einzelne Personen in ihren Wohnungen, alte Konflikte, offene Rechnungen, der Hass in den vorgeschriebenen Bahnen der Spaltung, und die Polizei ist beruflich durchaus an die Niedertracht in ihrer ganzen Tiefe und Breite gewöhnt, an die Kaputtheit der sozialen Verhältnisse, weil sie die Antwort darauf ist.

Wir gehen jeder Trittbrett-Bombendrohung nach, das ist unser gesetzlicher Auftrag, wir arbeiten sie routinemäßig ab, überall schicken wir unsere Leute hin, die das Gelände sorgfältig nach Bomben absuchen, als ob es Teil zwei eines Doppelanschlags sein könnte, auch wenn das Anschlagsziel der Trittbrett-Bombendrohung dem Anschlagsziel des ursprünglichen Anschlags diametral entgegensteht und wir daher genau wissen, dass wir nichts finden werden, weil es das Merkmal von Trittbrett-Bombendrohungen ist, dass keine Bomben hinterlegt werden, und der Befehl für diese Einsätze lautet: Nachahmung verhindern durch Unauffälligkeit, und alle ansonsten verfügbaren Kräfte, insbesondere unsere drei Englisch sprechenden Beamten sowie die Mannheimer Soko BM werden in die Kaserne geschickt, wo wir für die Fortsetzung der Beweisaufnahme Lichtkanonen installieren müssen, und wo die Neugierigen ein erhebliches Problem darstellen und auch der zuständige Staatsanwalt bereits anwesend ist.

Der Anschlag hat ein Loch in den Bombenteppich auf Vietnam gerissen und ist ein Faktor geworden, den die Ausrottungsstrategen bei ihren Operationen jetzt einkalkulieren müssen: das Hinterland hat sich in Front verwandelt, es gibt kein strategisches Hinterland mehr, das allerdings für die Ausrottungsoperationen unerlässlich ist. Das ist der beabsichtigte und der größere Schaden als der kaputte Rechner, der seinerseits allerdings für die Ausrottungsoperationen ebenso unerlässlich ist wie das sichere Hinterland und der ebenso unverzüglich ersetzt werden muss wie die gesamte zerstörte Kommunikationsanlage. Noch während der Sperrung und Absicherung der Explosionsorte arbeitet das aus dem Feierabend zurückgepfiffene Fernmeldepersonal fieberhaft daran, die Kommunikationsanlage für die Ausrottung des vietnamesischen Volkes wieder aufzubauen. Zusätzliche, hierfür geeignete, ebenfalls aus dem Feierabend zurückgepfiffene 25 Mann sind zu seiner Unterstützung abkommandiert. Das organisierte Morden des Krieges duldet keinen Feierabend. Auf nächtlichen Autobahnen, die von Zwangsarbeitern unter Naziknüppeln gebaut worden waren, sind Soldaten aus drei anderen Stützpunkten in High-Speed-Dreier-Konvois mit den erforderlichen, aber in Heidelberg nicht vorrätigen Geräteteilen unterwegs. Militärpolizei und Polizeiagenten werden eingesetzt, Armeefotografen eingewiesen, Befehl an alle Einsatzkräfte erlassen, keine Auskünfte an die Presse zu erteilen, sondern diese an die Pressestelle zu verweisen, alle verfügbaren Sprengstoffexperten auf deutscher und amerikanischer Seite werden angefordert, alle Nummernschilder identifiziert und die Eigentümer festgestellt, die Fahrzeuge auf weitere Sprengsätze geprüft, am Rande zwei Mann mit einer Leiter versehen und abkommandiert, die Beine des Captains aus dem blattlosen Baum zu holen, und im Hospital werden die fünf Verletzten behandelt und aus den drei Toten die Metallsplitter herausgezogen und schließlich die Rechnungen für diese Dienstleistungen geschrieben.

II. Essen und Köln, Juni 1972 bis April 1974

1

Zwei Wochen später wurde Gudrun gefasst und in die Justizvollzugsanstalt Essen eingeliefert. Dort zeigte sich, dass der Preungesheimer Bau, in dem sie drei Jahre zuvor wegen der Kaufhausbrandstiftung gesessen hatte, im Vergleich mit dem Essener die reinste reformpädagogische Erholungsanstalt war. Allein der Ton, in dem das Personal die Gefangenen ansprach: ein Unterschied wie Tag und Nacht.

Draußen war Sommer.

Nicht durchdrang die Sonne das Gemäuer, eiskalt war die Zelle, ihrer Habe enteignet Gudrun, eingekleidet in ein zu großes, hauchdünnes Anstalts-Kittelschürzenkleid, Anstalts-Synthetiksocken, Anstalts-Hausschuhe mit Plastiksohlen auf fünf mal einsachtzig Metern Betonboden, im Uhrzeigersinn von der Tür her: Toilette, Waschbecken, Stuhl, Tisch, Fenster (vergittert), Bett, Schrank. Und war im Keller, unter den schwermütigen Schritten der Gefangenen wie den gesetzlichen der Justiz, war im anmutlosen Bezirk bei den Schatten, weh, weh, statt des Fensters der schmale Lüftungsschacht. Nicht durchdrang das Kunstlicht die Dunkelheit, veratmet und feucht war die Luft, wie Beulenpest und Cholera der Gestank: Schimmel, Moder, erkalteter Angstschweiß vergangener Generationen und Gudruns eigene synthektiksockenstinkende Füße. Sie schrieb Briefe und Anträge und turnte und rannte gegen die Kälte alle dreiviertel Stunden die fünf Meter von der Tür bis zum Fenster hin und her: Zellengymnastik. Neun Quadratmeter hier waren vier mehr als in Tegel, Andreas in Düsseldorf, Post und Besuche, Anwälte ausgenommen, nur für und von und mit Familienangehörigen, weil Blut dicker ist als Wasser und es richten sollte alle vier Wochen einmal dreißig Minuten, leer die angrenzenden Zellen, verboten das Rufen am Fenster, erlaubt das Sprechen mit Vollzugsbeamten dreimal am Tage beim Essenfassen sagte Gudrun Nein und Ja und benannte fehlende Medikamente, Schuppen, Haarausfall, Hautausschlag, Kopfhaut- und Zahnfleischbluten und ungeschnittene Fuß- und Fingernägel in Ermangelung einer Nagelschere: das war der Rechtsstaat, so waren die gesellschaftlichen Verhältnisse: einer bis fünf abgezählte Tropfen Haarshampoo von der uniformierten Justiz während des Duschens, nackt und nass, in die hohle Hand.

Sie hatte zweieinhalb Jahre Untergrund hinter sich, die Teilnahme am Guerilla-Ausbildungslehrgang im internationalen Guerilla-Ausbildungszentrum der Fatah in Jordanien und den Aufbau der Struktur (Wohnungen, Waffen, Fahrzeuge, Papiere, Geld) in der BRD und West-Berlin, dann die konkreten Anschlagsvorbereitungen und die Mai-Offensive 72, und hatte jetzt alles vor sich: sie musste, es war identisch, Andreas sehen und den Kampf gegen den Imperialismus in der Gefangenschaft organisieren. Sie musste den Knasteinlieferungsschock bewältigen, sie musste lernen, unbewaffnet und gefangen zu kämpfen, sie musste Wollstrümpfe, Unterhemden, Hautcreme, Shampoo beschaffen, damit sie nicht vor die Hunde ging, sie musste widerstehen der Demütigung bei der Shampooausgabe unter der Dusche, dem hämischen Warten der Wärter auf ihr Einknicken in der Kellerzelle und dem elenden, mitleiderregenden Anstaltsfetzen am Leibe: compassion – dieses Schwein.

Sie schrieb einen sieben Seiten langen Brief an Andreas, in den sie alles hineinlegte, was in ihr war: Verlangen, Liebe, Kampf, Hass, und der Beamte in der Poststelle der Anstalt legte ihn abseits in eine Pappschachtel. Sie musste mit ihren Rechtsanwälten korrespondieren, sie musste ihnen erklären, wie eine politische Verteidigung auszusehen hatte, anstatt einer juristisch bourgeoisen, weil sie es nicht von selbst wussten, diese Rechtsanwälte, diese Sklaven der Klassenjustiz, was objektiv notwendig war. Rechtsanwalt Schily, die nackte Angst, hatte postwendend auf die lachhafte Kassiber-Unterstellung damit gedroht, das Mandat niederzulegen und gefragt, ob der Herr Vater eventuell bereit wäre, für die Kosten der Verteidigung aufzukommen. Wegen des unterstellten Transports des Kassibers war er sogleich von der Verteidigung ausgeschlossen worden, natürlich ohne Beweisgrundlage, sie musste Beschwerde einlegen beim Bundesgerichtshof, sie musste mobilisieren bei den Unterstützern und Sympathisantinnen draußen, sie musste drinnen – revolutionäre Pflicht! – das Gefängnis politisieren, denn bitte, aus wem, wenn nicht aus Gefangenen, konnten revolutionäre Subjekte werden? Sie stellte sich ans Fenster und schrie und brüllte, und andere Gefangene, darunter Elke und Gabriele, brüllten und schrien durch die Gitter ihrer Zellenfenster zurück, über den Hof, den rechteckigen, an allen vier Seiten von Zellenfensterfassaden umgebenen Hof mit einem Ausschnittchen Himmel darüber. Sie alle schrien und brüllten gegen das Verbot der Kontaktaufnahme und wurden willkürlich bestraft mit Einkaufssperren, Hausanzeigen, Bunker und Prügel, und außerdem musste Gudrun tun, was jede normale, hauptberufliche Revolutionärin im Gefängnis tun muss, oder sie ist keine: fleißig lesen und schreiben, um die revolutionäre Theorie voranzubringen. Sie brauchte Bücher. Keine Praxis ohne Theorie, keine Theorie ohne Praxis, keine Bücher ohne Revolution, keine Revolution ohne Bücher. So sah es auch die Essener Anstaltsleitung und schickte, um diese Revolution, die allerdings in aller Munde war, zu verhindern, die von Gudruns Anwälten genau nach Vorschrift des entsprechenden BGH-Beschlusses bestellten Bücher am Tag ihres Eintreffens in der Anstalt zurück an die Buchhandlungen. Die Bücher mussten erstritten werden.

Gudruns Brief an Andreas wurde aus der Pappschachtel in der Poststelle genommen und in die Zensurstelle der Anstalt getragen. Der Zensor fertigte, noch bevor er ihn las, vorschriftsmäßig eine Kopie für die sogenannte Sicherungsgruppe an, die Soko BM zur Bekämpfung des Terrorismus im Bundeskriminalamt, tütete die Kopie ein, machte sie versandfertig, dann las er den Brief. Er verstand ihn nicht, er spürte, glaubte, glaubte sicher zu wissen, dass jeder Satz des Briefes ein Sprengsatz war. Er wurde zweimal kalt erwischt von der poetischen Kraft einzelner Satzteile und schickte den Brief, ebenfalls vorschriftsmäßig und unabhängig von seiner eigenen Einschätzung, nach Karlsruhe an Ermittlungsrichter Knoblich beim Bundesgerichtshof, der dafür zuständig war, den Brief entweder befördern zu lassen oder von der Beförderung auszuschließen.

Nachts stand einer mit Waffe im Anschlag und Funkgerät auf dem Flur vor ihrer Zelle, die jeden Tag gefilzt wurde. Jedes einzelne Ding wurde in die Hand genommen, gedreht und gewendet, niedergeschrieben, buchgeführt, verzeichnet: Briefkuverts: unbeschriftet: 4 DIN A4, 3 C6, beschriftet: 1 DIN A4 an Rechtsanwalt Kurt Groenewold, 1 C6 an Rechtsanwälte Laubscher, Becker, Becker und Haag, Briefmarken in Stückelung, Papiere einseitig beschrieben, beidseitig beschrieben, unbeschrieben, Kohlepapier, Durchschlagpapier, Anzahl der Kippen im Aschenbecher, 1 Kugelschreiber blau, Filzstifte: 1 rot, 1 grün, die Stifte aufgeschraubt, ihr Inneres überprüft, die Zahnpastatube geöffnet, daran gerochen, die Gitterstäbe abgeklopft auf Klang, ob angesägt oder gefeilt, und so weiter und so fort, eine klebrige, zeitfressende Prozedur, die alles betatschenden Finger der Justiz in ihrer Zelle, in ihrem Schrank, an ihrer Unterwäsche, in ihrer Schmutzwäsche, an ihrer Matratze, an ihrem Kissen, auf dem Tisch, am Stuhl, an der Sitzfläche, an der Unterseite der Sitzfläche, am Waschbecken, an der Seife, jeden Tag, in Gudruns Raum, auf Gudruns Sachen, auf Gudrun.

Von wegen.

Gudruns Sachen waren nicht Gudruns eigene im herkömmlichen Sinn. Besitzlosigkeit war eine Waffe, wie sich zeigte, nicht nur draußen, sondern auch im Knast. Drinnen noch viel mehr als draußen, weil der Knast nichts anderes war, als die Verhältnisse draußen, die Verhältnisse zugespitzt, verschärft, entschleiert, wie unter dem Brennglas die Mechanismen der kapitalistischen Gesellschaft: Tauschhandel, Korruption, Anpassung, Schuld-und-Sühne-Überbau, Herrschaft. Es stärkte sie gegen die Filzerei, dass die Filzstifte nicht ihre eigenen waren, dass sie die alten, eingepeitschten Synapsenverbindungen vom Besitzen zum Sein durchtrennt und ersetzt hatte durchs Kollektiv, das sie jetzt nur noch im Herzen trug, weil sie materiell von ihm abgeschnitten war. Es musste Verbindung hergestellt werden gegen die Spaltung, gegen die Vereinzelung, über die Rechtsanwälte, das war das A und O für den Kampf, und auch über die eigene Gruppe hinaus musste Gudrun unbedingt dafür sorgen, dass das, was wir in den zwei Jahren bewaffneten Kampfes gelernt haben, dokumentiert wird, denn es steht nirgends geschrieben, man musste zusammentragen und weitergeben, es war kostbares Wissen, von dem man das eine aufschreiben konnte und das andere nicht, es musste gehütet und verbreitet werden, aber das war Zukunftsmusik, denn im Augenblick galt es den Spieß umzudrehen, den Spieß der Post- und Besuchsbeschränkung auf Familienangehörige.

Und so agitierte Gudrun ihre Schwester Christiane, indem sie sofort, als ersten Schritt, das Verhältnis neu bestimmte als ein politisches, um die Nazischeiße vom dickeren Blut, die sie auf Linie bringen, sie rebourgeoisieren sollte, dort zu lassen, wo sie herkam, diese Nazischeiße: beim Bundesgerichtshof, der sie verfügt hatte. Das war nur möglich, wenn Christiane es auch wollte, und die nackte Wahrheit war die, dass Gudrun frierend mit dem Rücken zur Wand stand, mit vor Kälte steifen Händen und Füßen, dass ihr die Haare ausgingen und Krusten auf der Kopfhaut blühten. Das körperlich zehrende, ungesunde Leben im Untergrund draußen war nichts gegen die Bedingungen in diesem Loch, unter denen sie sich den Belastungen des dickeren Bluts nicht aussetzen konnte, noch durfte, noch wollte. Sie machte das politische Verhältnis zur Bedingung, sie sagte: »Es geht nur so, anders geht es nicht.«

Nur so und nicht anders ging es auch für Ermittlungsrichter Knoblich, als Gudruns Brief an Andreas – er las ihn mit großem Befremden und einer unbestimmten, zwischen den Lungenflügeln sitzenden Furcht – von der Beförderung auszuschließen per Verfügung auf Grundlage des Beschlusses über Post- und Besuchsbeschränkung auf Familienangehörige: Zack, Verfügung an die Anstalt, die Anwälte und die Gefangene, die es mit Groenewold besprach, in der Besuchszelle, am Anfang des Besuchs, während sie sich setzten: »Kurt, der Brief ist wichtig«, und Groenewold setzte ein Schreiben mit einer Beschwerde und einem Antrag an Ermittlungsrichter Knoblich auf. Der Beschluss über die Beschränkung des Postverkehrs auf Angehörige sei keine Grundlage für das Beförderungsverbot, denn Gudrun Ensslin und Andreas Baader seien Verlobte und damit Angehörige im Sinne des Gesetzes nach § 52 StPO.

Nach einem gründlichen Streit sagte Christiane Ja zu dem politischen Verhältnis und ging auf direktem Weg vom Besuch im Gefängnis in der Krawehlstraße zum Hauptpostamt hinterm Bahnhof. Goethestraße, Bismarckstraße, Ernst-Schmidt-Platz: ein Staatsdichter, ein Junker, ein Kommunist, keine Frauen. Vom Knast bis zur Post lief alle Welt frei herum, als ob nichts wäre, lief ums Folkwangmuseum herum und umher zwischen missratenen Nachkriegsbauten und übriggebliebenen Zeugnissen der industriellen Revolution, lief herum, als gebe es nichts anderes auf der Welt als ihren eignen freien Willen, lief vom und zum Einkaufen und Arbeiten.

Auf dem Hauptpostamt, an der Fensterseite der großen Schalterhalle, suchte sie sich aus den Frankfurter, Hamburger, Berliner und Münchner Telefonbüchern die Nummern und Adressen der Roten Hilfen heraus. (Frisch gelernt: Gefangenenhilfsorganisation aus den zwanziger Jahren, wegen der Nazis gegründet, von den Nazis zerschlagen, erst jetzt wieder aufgebaut). Die Telefonbücher hingen in der Mitte ihres Rückens an einer Stange, man schlug sie über den benachbarten Rücken der hängenden auf: die Rote Hilfe würde ihr, und sie würde der Roten Hilfe helfen. Sie wollte und musste, Gudrun machte Vorschläge, durch Lektüre revolutionärer Schriften ihr Bewusstsein verändern, schärfen für die Widersprüche, sich selbst politisieren, eine andere werden, Theorie verstehen und in Praxis überführen, sie wollte und musste Bücher, Körperpflege und Klamotten für Gudrun beschaffen, beschaffen das Geld dafür von der Roten Hilfe, den Rechtsanwälten und aus eigener Tasche. Und wenn sie die Sachen beschafft hatte, musste sie der Justiz die Aushändigung an Gudrun abtrotzen. Die Arbeit war ein wichtiger Beitrag zum Kampf gegen den Imperialismus.

Erstens: Antrag mit Begründung schreiben und verschicken.

Zweitens: Beschaffung. Die Läden finden, die überhaupt bereit waren, Sachen ins Gefängnis an eine Terroristin zu schicken.

Drittens: Durchsetzung der Aushändigung an Gudrun vermittels Telefonaten, Terminen, Vorsprechen in Karlsruhe, Vorsprechen in Essen, Anstalten machen, nicht aufgeben, Ablehnung des ursprünglichen Antrags, gehe zurück auf null, für Wollstrümpfe, Unterhemden, Hose, Pullover, Schuhe, Bücher, Bücher und nochmal Bücher, Shampoo, Nagelschere, Hautcreme, Tampons, milde Seife, am besten Kinderseife, Haarbürste, Wimperntusche, Kajal, Körperöl, Abschminke, Puder, Feuchtigkeitscreme und bitte, ein Beutelchen, um alles reinzutun.

Das Beutelchen, um alles reinzutun, kam in ihre Zelle, als beim Bundesgerichtshof in der Karlsruher Herrenstraße Gudruns Brief an Andreas in einer Laufmappe durch die interne Hauspost vom Schreibtisch des Ermittlungsrichters Knoblich auf den des Generalbundesanwalts Dr. Bell befördert wurde. Nun hielt ihn Dr. Bell in seinen Händen, wie vor ihm der Ermittlungsrichter und der Anstaltszensor in den ihren. Ohne eine Sekunde darüber nachdenken zu müssen, beantragte er bei Knoblich, der Beschwerde des Rechtsanwalts Groenewold nicht abzuhelfen und sie dem 3. Strafsenat zuzuleiten, bei dem er zugleich ihre Verwerfung beantragte. So das normale Verfahren. Zur Begründung wies er darauf hin, dass der Briefverkehr zwischen den Beschuldigten nicht mit dem Haftzweck – der Verhinderung von Flucht und Verdunkelung – vereinbar war, sondern dass er zu konspirativen Mitteilungen missbraucht werden konnte, die auch durch die Briefkontrolle nicht festgestellt werden konnten.

Gudrun schlief, unruhig, ich liege auf dem Boden in der Mitte der Zelle, ich liege auf der geblümten Decke aus der Frankfurter Ex-Heimkinder-Kommune, ein Schnurrbart hängt mir über Mund und Kinn, ein Schnurrbart aus Kopfhaaren, wie früher mein Pony in die Stirn, ich liege auf dem Rücken, ich habe die Hand zwischen den Beinen, die Tür geht auf, Andreas kommt herein, abgemagert, legt sich zu mir, will mich küssen, kommt nicht mit den Lippen durch das Haar vor dem Mund, umfängt mich, ich ihn, wir liegen einander in den Armen, Polizei und Justiz kommen herein, Bullen, Kripo, Grüne, Richter, Staatsanwälte kommen, strömen, drängen herein, umstellen uns, stehen um uns herum, die Schuhspitzen schon auf der Decke, füllen die Zelle, werden mehr und mehr, stellen sich schließlich auch auf uns, türmen sich aufeinander, übereinander, bis unter die Decke, und wir robben unter und zwischen ihren Füßen hinaus auf den Flur, von wo weitere Wärter, Richter, Kripo, Bullen in die Zelle drängen, unaufhörlich, finden uns wieder im Hof, mit Blessuren aber auf den Beinen, es ist die Stunde des Hofgangs, die Gefangenen gehen im Kreis, sie singen:

Es geht eine dunkle Wolk herein

mich deucht, es wird ein Regen sein

ein Regen aus den Wolken

wohl in das grüne Gras.

Und kommst du, liebe Sonn, nit bald

so weset alls im grünen Wald

und all die müden Blumen

die haben müden Tod,

wir sehen die Kripo, Grünen, Richter, Bullen, die ganze Beamtenschaft aus meinem Zellenfenster quellen, durch Gitter und Gitternetz wie durch den Fleischwolf, an der Hauswand hinunter in den Hof hineinfließen, und wir steigen in einen weißen Sportwagen und die Gefangenen singen:

Es geht eine dunkle Wolk herein

es soll und muss geschieden sein

Ade, Feinslieb, dein Scheiden

macht mir das Herze schwer.

2

Schon nach den ersten fünf Wochen Haft, nach ein paar Briefen, als Christiane zum zweiten Mal ins Gefängnis kam, als sie in einer Besuchszelle saß und auf Gudrun wartete, auf einem Stuhl, an einem Tisch, zwischen pissgrünen Wänden, als die Tür aufging, als ein Kripobeamter und zwei Grüne Gudrun hereinführten, als Gudrun Christiane ansah, als Christianes Blick auf Gudrun ruhte, als sie einander umarmten und losließen, als sie miteinander redeten, als Christiane mit ihr stritt: hart, und lächelte: weich, da wurde Gudrun schwindelig von Christianes Liebe, Wärme und Güte. Zwar war Christiane kein bisschen liebevoller, wärmer und gütiger, als sie es immer gewesen und so auch jetzt war. Aber Gudruns Körper schüttete ohne Ende Endorphine aus. Trotz der Anwesenheit des Kripobeamten und der Grünen, die hemmungslos dazwischenquatschten, durchströmte sie vierundzwanzig Minuten lang ein süßes Glücksgefühl, ein Rieseln wie von Sonnenstrahlen in die Seele hinein, die leicht werdende, die sich dehnende Seele, ein Streicheln wie von einem Lufthauch auf der nackten Haut am Strand, das sie hinterher mit in die Zelle nahm, dem sie nachspürte, wie es sich in ihr setzte, wie es sie wärmte, wie es die Wunden leckte, wie es Balsam war, wie sie überschwemmt wurde von dem Gefühl, wie sie eine Verdurstende unter dem Wasserfall war, ausgeliefert, ferngesteuert, Marionette. Wie die Endorphine verdampften, wie aus Lufthauch und Sonnenstrahlen wurde, was sie waren: Produkt ihrer Abwesenheit, ihres Fehlens, der Entbehrung über bisher nur fünf Wochen, aber immer, jeden Tag, täglich in jeder Minute: entweder nichts und niemand, oder die Gesichter der Justiz mit dem Auftrag, sie zu brechen. Es war wie Dostojewski es gesagt hatte: die Isolation saugt allen Lebenssaft aus dem Menschen, zermürbt seine Seele, um eine moralisch verdorrte Mumie, einen Halbwahnsinnigen als Musterbeispiel von Besserung und Reue präsentieren zu können. Der Mensch geht kaputt ohne sozialen Kontakt, der staatliche Vernichtungswille lag offen zu Tage. Sie war ihm unterlegen, sie war nicht gegen die Isolation angekommen, die Isolation war stärker gewesen als sie. Das musste sie ändern. Sie musste sich gegen den Vernichtungswillen wehren oder sie wurde vernichtet, wurde zu einem aus der Hand fressenden, willenlosen vegetable, zur Musterbeispiel-Mumie der Kapitalsherrschaft. Entweder sie ging drauf, oder sie wurde Lava und Eisen. So einfach. Krieg. Eisen und Lava, sie musste Andreas sehen, ihr Brief an ihn war nicht genug.

Der 3. Strafsenat bat den Ermittlungsrichter Knoblich um Zusendung des Briefes, weil er in den Unterlagen des Vorgangs fehlte, und Ermittlungsrichter Knoblich bat die Justizvollzugsanstalt Essen um Zusendung des Briefes, denn er hatte ihn auch nicht, und die Justizvollzugsanstalt Essen schrieb dem Ermittlungsrichter Knoblich, dass der Brief von Gudrun an Andreas nicht vorliege, und Ermittlungsrichter Knoblich schrieb dem 3. Strafsenat, dass die Anstalt den Brief von Gudrun an Andreas auch nicht habe, und endlich bat der 3. Strafsenat Fräulein Ensslin persönlich, falls sie die Beschwerde aufrecht erhalten wolle, ihren Brief an Andreas erneut zu senden, und Gudrun antwortete postwendend, dass sie ihn auch nicht habe, hiermit aber ersatzweise einen neuen beilege, es waren abermals sieben Seiten, und dass sie die Beschwerde, die sich ja darauf beziehe, überhaupt mit Andreas Baader als ihrem Verlobten korrespondieren zu können, aufrecht erhalte.

Der 3. Strafsenat lachte, als er das las, orderte frischen Kaffee beim Fräulein Sekretärin und antwortete gut gelaunt, hiermit sei die Beschwerde ihres Anwalts gegenstandslos, weil der beanstandete Brief nicht mehr vorhanden war und damit auch nicht mehr weiterbefördert werden konnte. So einfach. Dann belehrte er sie darüber, dass sie den im Hause der Justiz abhandengekommenen Brief ihrer Beschwerdeschrift hätte beilegen müssen, und dass ihr neuer Brief, wie jeder Brief, dem Ermittlungsrichter vorgelegt werden müsse, und dass es ihr unbenommen bliebe, falls der Ermittlungsrichter die Weiterbeförderung nicht genehmige, erneut Beschwerde einzulegen.

Gudrun las es, zerknüllte den Schrieb mit einer einzigen Handbewegung und schoss ihn in den Papierkorb. Dann rauchte sie eine Zigarette und verfluchte den Bundesgerichtshof, dann sammelte sie sich. Sie kanalisierte die Wut, so war ihr gleich wohler, setzte sich hin und schrieb einen gepflegten, einen sorgfältigen, einen profunden Kampf- und Agitationsbrief an Christiane, und wandelte so den Hass der Charaktermasken auf einen Liebesbrief um in Widerstand gegen das Schweinesystem: ich bin nicht erpressbar. Ich lache darüber, ich schnippe es mit dem kleinen Finger weg, es ist mir geradezu eine Ehrensache: die Kellerzelle – den Bunker wollen sie mir ja partout nicht von innen zeigen – die kalten Füße, die Filzerei, die ganze Krätze, die mich zum Kriechtier machen soll. Ich werde kein Kriechtier werden, mehr ist dazu nicht zu sagen. Schrieb es und sah zum Fenster, das Fenster, der Fixpunkt der Zelle. Rechteck hochkant. Die unteren zwei Drittel zwei Flügel, das obere Drittel einer, waagrecht zu öffnen, auf Kipp, sofern der Griff nicht abgeschraubt, dann nur durch Beamte.

Die Fensterbalken: ein T in dem Rechteck. Dahinter, im Gegenlicht, das Fenstergitter: Stabdurchmesser anderthalb Zentimeter, drei waagrechte Gitterstäbe, sechs senkrechte: 28 hochkante Gitterrechtecke hinter den drei Rechtecken des Fensters. Sie musste Christiane erklären, dass nur der unterste Rang der Vollzugsbeamten Uniform trug, die Wärter, die daher »Grüne« hießen, und dass die Ränge darüber, wie die privilegierten Gefangenen, ihre Privatkleidung tragen durften, Hierarchie, oben und unten, und auch den Unterschied zwischen Kellerzelle und Bunker, Knastologie, bürgerliche Ordnung: die Kellerzelle war eine ›normale‹ Zelle im Keller, wenn auch ohne Fenster, der Bunker eine Strafzelle, eine Disziplinierungszelle, früher Beruhigungszelle genannt, in der renitente Gefangene so lange eingeschlossen wurden, bis sich ihre Renitenz erledigt hatte. Sie erledigte sich immer. Es war eine ganz leere Zelle, in der man nur mit Brot und Wasser abgefüttert wurde. Der Boden war zu kalt zum Sitzen. Sie stand auf, sie hatte es nötig, sie musste hin- und herrennen, vom Fenster zur Tür und zurück, und Kniebeugen machen, Liegestützen, Rumpfdehnungen. Sie setzte sich vors Fenster auf den Boden, lehnte sich nach hinten, stützte sich auf die Unterarme und hob und senkte die durchgestreckten Beine. Sie zeichnete die Linie des senkrechten Fensterbalkens mit den Füßen weiter, die Waagrechte ihrer Schultern war auf Linie mit dem waagrechten Fensterbalken. Hinter dem Fenstergitter, im Gegenlicht, das Gitternetz und Friedrich Schiller: nur da ist der Mensch ganz Mensch, wo er spielt. Warum? Weil er im Spiel seine ursprüngliche Einheit wiederfindet, die er verloren hat. Weil er, wenn er nicht spielt, zerrissen ist, gespalten, zerstückelt von den Widersprüchen Freiheit – Notwendigkeit, Subjekt – Objekt, Seele – Leib und so weiter, die Widersprüche hatten viele Namen, und in der Aufklärung das dialektische Moment, der Gegensatz von Gleichheit als Postulat und Ungleichheit als Wirklichkeit der ökonomischen Struktur. Schwesterherz, du musst ihn lesen, es geht aber nicht nebenher und nicht allein: Marx erklärt die Widersprüche, erkennt ihre ökonomische Bedingtheit, benennt als ursprüngliche Einheit die Einheit von Produzierenden und Produktionsmitteln, als Spiel die Sonne der Arbeit, im Kern, unzulässig vereinfacht: der dreckige Zusammenhang von Profit und Macht und Gewalt. Um den dreht sich alles. Alles. Buchstäblich alles. Die Menschen sehen, wo sie bleiben, von Völkermord zu Völkermord, von Namibia nach Armenien, von Armenien nach Auschwitz, von Auschwitz nach Vietnam, von 24-Stunden-Tag zu 24-Stunden-Tag, in dem sie sich nicht finden.

In dem sie nicht sich finden, sondern das Elend, Ware zu sein. Das Arbeitskraft-Sein, das Konsument-Sein, das Ins-Verhältnis-Treten auf dem Markt, der Markt in jedem Verhältnis, die Bilanzen in den Beziehungen, jedes Verhältnis ein Tausch, eine Gegenrechnung von geldwerter Schuld und geldwertem Haben.

Sie stand auf. Sie setzte sich wieder auf den Stuhl an den Tisch mit Blick auf die Wand. Die bürgerliche Ordnung ist die dreckige Lüge aus umfassender Gewalt als gesellschaftlicher Praxis, vom Ohrenziehen bis zum bewaffneten Werkschutz, im Verein mit der Gewaltlosigkeit als Ideologie eben dieser Gesellschaft. Die bürgerliche Ordnung kann alle Götter entbehren, alles Mögliche enttabuisieren, nur nicht die Gewalt, weil Baum weil Ast, das Gitternetz hinter dem Fenstergitter.

Das Gitternetz stahl Tageslicht, legte einen Schleier über alles, einen Schatten, raubte den Farben die Kraft, klebte auf der Netzhaut wie Teer und siebte die Luft. Es siebte die Luft aus der Zelle hinaus, und das Dicke, der Knast, blieb drin, und es siebte die Luft in die Zelle hinein, und das Dicke, das freie Leben, blieb draußen. Stabdurchmesser dreieinhalb Millimeter, pro Gitterrechteck 60 Gitternetzquadrate, 560 pro Fensterrechteck, 1680 das gesamte Fenster. Das war ihre Funktion, dass man anfing, Gitterstäbe und Gitternetzquadrate zu zählen, so fickten sie dich ins Hirn, aber nicht Gudrun, die hatte sich ebendarum das Zählen verboten und zählte nicht, sah stattdessen über den Hof auf die gegenüberliegende Seite, sah dort Gitternetz, Gitter und Fensterbalken von außen.

In einem anderen Gebäudeteil des Gefängnisses, in einem Büroraum mit Blick hinaus auf die Straße und einer 12 Jahre alten Topfpflanze auf dem Fensterbrett las Anstaltsleiter Solbach Gudruns Antrag auf einen Haarschnitt, der für den Weg von ihrer Zelle auf seinen Schreibtisch nur schlanke zwei Wochen gebraucht hatte, und griff sofort zum Telefon. Er rief die Sicherungsgruppe, die Soko BM des BKA, in Bonn an und teilte mit, dass die Gefangene Ensslin einen Haarschnitt beantragt habe, dass von seiner Seite keine Bedenken dagegen bestünden, und er versprach, wie gewünscht, den Termin, sobald er feststand, per Telex durchzugeben. Dann drückte er kurz die Gabel und wählte, geradezu beflügelt, die Nummer seiner Schwester: »Käthe, willst du die Ensslin frisieren?«

»Was? Die Ensslin wird sich doch nicht von uns den Kopf richten lassen!«

Gudrun hatte mit dem Antrag wissen wollen, ob ihr auch dies verwehrt würde, und falls es gewährt würde, käme sie einmal für eine halbe Stunde aus der Zelle und wer weiß wohin. Wollte man sowieso auf sehr grundsätzliche Art raus, wenn man drin war, so wollte sich Gudrun vor allem Orientierung über das Gebäude verschaffen, denn für Guerillas ist Ortskenntnis alles. Sie kam nicht aus der Zelle. Die Friseurmeisterin Käthe Rickert, eine Kriminalkommissarin der Sicherungsgruppe und zwei Grüne kamen zu ihr in ihre Zelle. Die Grünen stellten sich einer ans Fenster und einer an die Tür. Die Kriminalkommissarin fragte, ob sie sich setzen dürfe, Gudrun beantwortete die Frage nicht, die Kriminalkommissarin blieb stehen. Friseurmeisterin Rickert packte ihre Utensilien aus: »Kann ich die Sachen da aufn Tisch legen?«

»Aber natürlich«, sagte Gudrun und schob Papiere zur Seite und bekam – »Darf ich?«, »Ja, bitte« – einen Friseurumhang mit aufgedruckten Rosen angelegt und am Hals zugebunden.

»Wie hätten Sies denn gern?«

Gudrun gab Anweisungen, dann schwieg sie. Die Friseurmeisterin schnitt und schwieg ebenfalls. Auch die Grünen und die Kriminalkommissarin schwiegen. Die Schere klapperte, Klospülungen rauschten im Gebäude, Rufe tönten über den Hof. Mittagspause. Anstaltsleiter Solbach hatte seiner Schwester verboten, über etwas anders als Haare zu sprechen, und die Friseurmeisterin hatte ihm geantwortet, sie würde dann sagen, dass sie dazu nichts sagen könne. Gleich nach den ersten paar Handgriffen an Gudruns Kopf stellte sie fest, dass an der Terroristin nichts Besonderes und ihr Wahnsinn nicht auszumachen war. Sie hatte schon Steuerbetrügern und Nazis die Haare geschnitten, aber noch nicht Raubmördern, und nun schnitt sie einer Raubmörderin die Haare, und die Haare waren in schlechtem Zustand, und die Kopfhaut sah nicht besser aus. Sie dachte an die Produkte, die sie draußen empfehlen würde und meistens auch verkaufte, eine Pflegespülung fürs Haar und eine Waschlotion für die Kopfhaut, sie sah die Markenlogos vor ihrem inneren Auge, während sich unten in der Küche die Gefangenen, die das dreckige Geschirr vom Mittagessen in Spülmaschinen einräumten, darüber unterhielten, dass es die Rote Armee Fraktion nicht unterhalb der Anstaltsleitung mache, wenn es um ihre Frisuren gehe.

Der Schnitt gewann Form. Gudrun hatte den Mund nicht einmal zum Atmen aufgemacht, sie atmete durch die Nase, und die Grünen an Tür und Fenster warteten darauf, die Zelle wieder verlassen zu können. Ein Versuch der Kriminalkommissarin, mithilfe der Friseurmeisterin eine möglichst lockere, allgemeine Konversation in Gang, also Gudrun zum Sprechen zu bringen, war daran gescheitert, dass die Friseurmeisterin »dazu nichts sagen« konnte, und nun hatte die Kriminalkommissarin Rückenschmerzen vom Stehen, setzte sich aufs Bett, ohne zu fragen und gab ihr Vorhaben auf, mit Gudrun ins Gespräch zu kommen. Gudrun dachte an Andreas.

Ihr neuer Brief an ihn war vom 3. Strafsenat an Ermittlungsrichter Knoblich geschickt worden. Ermittlungsrichter Knoblich las ihn, er leckte den Zeigefinger, um die Seiten an der Ecke oben rechts zu wenden, und erinnerte beim Lesen einzelne Passagen aus dem ersten Brief mit der gleichen unbestimmten, zwischen den Lungenflügeln sitzenden Furcht. Dann fiel ihm ein, dass der Brief nicht von der Anstalt gekommen war, die eine Kopie an die Sicherungsgruppe zu schicken hatte, sondern vom 3. Strafsenat, der dafür nicht zuständig war, ließ darum eine Kopie für die Sicherungsgruppe anfertigen und versenden, und unterwarf hierauf den neuen Brief dem Ausschluss von der Beförderung: er schickte ihn, zusammen mit den anderen Unterlagen des Vorgangs, an Generalbundesanwalt Dr. Bell, den er um Stellungnahme bat.

Der Generalbundesanwalt leckte den Daumen, wendete die Seiten an der Ecke unten links, nahm Stellung mit dem Antrag, den Brief von der Beförderung auszuschließen, schickte ihn zurück an die Anstalt zur Habe der Gefangenen und seine Stellungnahme an Ermittlungsrichter Knoblich, der hierauf den Beschluss fasste, den Brief von der Beförderung auszuschließen:

»Es kann dahingestellt bleiben, ob ernstlich die Eingehung einer Ehe im bürgerlich rechtlichen Sinne beabsichtigt ist und damit ein Verlöbnis besteht. Der Briefverkehr mit dem Mitbeschuldigten Baader kann der Beschuldigten Ensslin schon deshalb nicht gestattet werden, weil er mit dem Zweck der Untersuchungshaft nicht vereinbar ist. Der Brief gibt nach Inhalt und Anordnung des Textes Anlass zu der Befürchtung, dass die Beschuldigte konspirative Mitteilungen machen will. Denn er enthält Wendungen, die für einen Außenstehenden weder in sich noch im Zusammenhang mit dem übrigen Brieftext verständlich sind.«

Zum Abschied packte Friseurmeisterin Käthe Rickert aus, was sie nicht mit ihrem Bruder abgesprochen hatte: »Ich soll Ihnen von meiner Kusine ausrichten, weil Sie doch immer ›Schweinesystem‹ sagen, Schweine sind intelligente, friedliebende Lebewesen und haben Gefühle, so ähnlich wie wir. Und sie sagt, also meine Kusine, wenn man Tiernamen als Abwertung und für Hass benützt, dann drückt man damit das Herrschaftsverhältnis und das Warenverhältnis aus, in dem man zur Umwelt steht, und dass man die Tiere so nicht kennenlernen kann, und dass man keinen Respekt und keine Achtung vor dem Leben hat!«

Augenblicklich wünschte Gudrun, Schweine, die echten, kennenzulernen, und hundert Gedanken schossen ihr gleichzeitig durch den Kopf, was sie alles gern getan und kennengelernt hätte, und dass sie, hätte sie nicht der Imperialismus daran gehindert, sich auch gern von Joseph Beuys durch die documenta hätte führen lassen, wie er es auf seiner Installation dort behauptete und wie es nicht geschehen konnte, und dass es sinnlos war, der Friseurin zu erklären, dass »Schweine« ein politischer Kampfbegriff war, den wir von den Black Panthers übernommen haben, und dachte, dass es drauf ankam, der Friseurin zu vermitteln, dass nicht die RAF, sondern das Schweinesystem keinen Respekt und keine Achtung vor dem Leben hatte und eben die friedliebenden, gefühlvollen Lebewesen zu Waren machte und gerade darum von der RAF bekämpft wurde, und fragte: »Ihre Kusine betreibt eine Schweinezucht?«

»Dazu kann ich nichts sagen, und ich muss jetzt auch gehen.«

»Also gut, dann kommen Sie gut nach Hause und überlegen Sie mal auf dem Weg, wem Sie was sagen würden, wenn Sie könnten, und warum es nicht geht.«

Als alle draußen und ihre Schritte auf dem Flur verklungen waren, fegte Gudrun die abgeschnittenen Haare auf dem Boden zusammen, begutachtete den neuen Haarschnitt im Spiegel über dem Waschbecken – war gar nicht schlimm, in der Tat: hätte viel schlimmer sein können – setzte sich an den Tisch, nahm den Brief an Christiane auf, schrieb, dachte nach und hörte wieder das Klicken des Spions. Auftragsgemäß führte der Beamte vor der Tür alle zwanzig bis dreißig Minuten Sichtkontrollen durch. Er klickte die Abdeckung des Spions zur Seite, legte Wangenknochen und Nase an die Tür, klemmte sein linkes Auge zu und sah mit dem rechten durch die Fischaugen-Linse: Gudrun auf dem Stuhl, am Tisch, im Profil, ihr Rückgrat und die Lehne vom Spion ins Hohlkreuz gebogen wie mit dem Zirkel gezogen. Was diese Terroristin immerzu schrieb, tststs naja, besser wars allemal als Bomben zu legen, mit dem Schreiben tat sie ja niemandem weh, und Gudrun schrieb: bitte, Christiane, schick mir das Bild von Andreas her, nur einmal gefaltet.

Zunächst erhielt Gudrun nicht das Spiegeltitelbild von Andreas, sondern das RAF-Strategiepapier zum Anschlag des palästinensischen Schwarzen September auf die Olympischen Spiele in München. Sie hatte die Schüsse und Handgranaten von Fürstenfeldbruck bis in ihre Zelle gehört. Alle hatten es gehört, alle redeten darüber und einige säßen lieber für ein Attentat im Knast als für den Diebstahl von hundert Mark, um die Miete zu bezahlen. Die Bundesrepublik reagierte auf die Ereignisse mit dem Aufbau der GSG 9 nach dem Vorbild von Carlos Marighellas Stadtguerilla, lernte vom Feind, hatte aber die zwei entscheidenden Vorteile, dass sie nicht im Untergrund agieren und sich nicht auf die lächerlich mangelhafte Ausrüstung beschränken musste, wie sie dem brasilianischen Widerstand gegen die Militärdiktatur zur Verfügung stand. Die Rote Armee Fraktion reagierte mit ihrem Strategiepapier: jeder nach seinen Mitteln und Möglichkeiten. Gudrun erhielt es, wie alles, zeitverzögert und nahm es mit der Axt auseinander, denn es enthielt, neben dem Richtigen, Fehler, die nicht sein durften und ausgemerzt werden mussten.

Vietnam war die grauenhafte Erfahrung der Völker der Dritten Welt, dass der Imperialismus entschlossen war, Völkermord an ihnen zu begehen, wenn nichts mehr bei ihnen herauszuholen war, wenn sie als Markt, als Militärbasis, als Rohstofflieferant, als Lieferant von billigen Arbeitskräften nicht mehr mitmachten, und darum scherte sich die opportunistische Linke in den Metropolen einen feuchten Dreck: Bestandsaufnahme, geschenkt, Essensklappe, Medikamentenausgabe. Gudrun schluckte Pillen und zündete eine Zigarette an.

Sie fror.

Unbefriedigend war der Abschnitt über den Nationalsozialismus, in dem sie geboren, Säugling, Kind gewesen war. Sie wusste aber selbst auch nichts Befriedigendes darüber und wollte es auch gar nicht wissen, ließ darum den Nationalsozialismus und die toten jüdischen Sportler und die Bezeichnung Moshe Dayans als Himmler und den »Nazi-Faschismus Israels« rechts liegen und eilte weiter im Papier, und regte sich furchtbar auf über das, was geschrieben stand und vergaß das Gefängnis und begann bald zu schwitzen.

Völlig falsch, unmarxistisch, undialektisch, unsensibel, eine Todsünde war die Behauptung, den Massen gehöre ihr eigener Arsch. In dem nämlich, so hieß es da, diese opportunistische Linke säße: Arsch der Massen, ein Ort, dens nicht gab, gabs nicht, war nicht ihrer, nichts gehörte den Massen, was gemeint war, war immer noch der Arsch der Bourgeoisie, unter deren Diktatur weder das Verhältnis zum Konsum noch das Verhältnis zu sich selbst »ihres« war, sondern eins das andere: Warenverhältnis. Bewusstlos. Wie das Papier. Unerträglich. Schlimmer noch: dass manche Genossen sich zu schade seien, für die Sache ihr Leben und ihre Freiheit dranzugeben. Ein Unding. Gudrun kam ihr Herzschlag hoch. Draußen schien die Sonne.

Die Sache, um die es ging, das Leben, hieß da Tod; und die Sache, die zu verlieren war, die Unfreiheit, hieß da Freiheit. Alles stand auf dem Kopf, jetzt müsste das Kollektiv da sein, nicht nur die Gruppe, sondern das ganze Kollektiv, damit man es verbindlich klarstellen könnte. Aber das Kollektiv war getrennt in Gefangene und Freie, und die Gruppe zerrissen, Andreas in Schwalmstadt, Ulrike in Köln, Gudrun in Essen, die anderen anderswo, sie musste es alleine tun, sie tat es, sie hätte kotzen können, sie klemmte sich an die Schreibmaschine, sie schrieb es auf, sie schlug auf die Tasten, sie drosch auf sie ein, dass ihr die Knochen in den Fingern schmerzten und die Buchstaben das Papier stanzten: einem, der ihm so unmaterialistisch wie das Papier kommt, kann so ein Arbeiter wirklich nur noch eins in die Fresse bieten.