Es geschah aus Nächstenliebe - Anne Alexander - E-Book

Es geschah aus Nächstenliebe E-Book

Anne Alexander

3,0

Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Martina Reichel war in der Küche mit der Zubereitung des Mittagessens beschäftigt. Gerade als sie die letzte Kartoffel geschält hatte, sah sie durch das Fenster den Postboten mit seinem beladenen Fahrrad die Straße entlangkommen. Sie nahm die Kartoffeln, wusch sie, tat sie in den Kochtopf und gab Wasser hinzu. Dann stellte sie den Topf auf den Elektroherd und schaltete die entsprechende Platte ein. Schnell trocknete sie noch ihre Hände ab und eilte nach draußen. Als sie den breiten Weg zu dem an dem Gartentor befestigten Briefkasten entlanglief, war der Briefträger schon beim nächsten Haus angelangt. Die heutige Post bestand aus einigen Werbesendungen und ein paar Briefen. Noch unterwegs zur Haustür sah sie die Absender durch. Sie waren durchwegs von Freunden, nur bei einem einzigen war ihr die Absenderin unbekannt. In der Küche angelangt, hörte sie ein leises Zischen, die Kartoffeln kochten über. Sie warf die Post auf den Tisch, eilte zum Herd und stellte den Regler auf eine niedrigere Stufe. Dabei fiel ihr ein, daß sie beim Aufsetzen vergessen hatte, Salz in den Topf zu tun. Eilig holte sie das nach, dann lief sie zum Tisch zurück. Stirnrunzelnd betrachtete sie den Brief. Annegret Markus, Heilbronn. Nein, sie kannte keine Frau dieses Namens. Doch plötzlich zuckte sie zusammen. Wohnte nicht in Heilbronn ihre Schwester? Eine Tante hatte ihr einmal geschrieben, daß Ingrid geheiratet hätte und zu ihrem Mann nach Heilbronn gezogen wäre. Martina lachte bitter auf.

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Seitenzahl: 148

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Sophienlust Bestseller – 16 –Es geschah aus Nächstenliebe

Kersten will aber keine Geschwister …

Anne Alexander

Martina Reichel war in der Küche mit der Zubereitung des Mittagessens beschäftigt. Gerade als sie die letzte Kartoffel geschält hatte, sah sie durch das Fenster den Postboten mit seinem beladenen Fahrrad die Straße entlangkommen. Sie nahm die Kartoffeln, wusch sie, tat sie in den Kochtopf und gab Wasser hinzu. Dann stellte sie den Topf auf den Elektroherd und schaltete die entsprechende Platte ein. Schnell trocknete sie noch ihre Hände ab und eilte nach draußen.

Als sie den breiten Weg zu dem an dem Gartentor befestigten Briefkasten entlanglief, war der Briefträger schon beim nächsten Haus angelangt.

Die heutige Post bestand aus einigen Werbesendungen und ein paar Briefen. Noch unterwegs zur Haustür sah sie die Absender durch. Sie waren durchwegs von Freunden, nur bei einem einzigen war ihr die Absenderin unbekannt.

In der Küche angelangt, hörte sie ein leises Zischen, die Kartoffeln kochten über. Sie warf die Post auf den Tisch, eilte zum Herd und stellte den Regler auf eine niedrigere Stufe. Dabei fiel ihr ein, daß sie beim Aufsetzen vergessen hatte, Salz in den Topf zu tun. Eilig holte sie das nach, dann lief sie zum Tisch zurück.

Stirnrunzelnd betrachtete sie den Brief. Annegret Markus, Heilbronn. Nein, sie kannte keine Frau dieses Namens. Doch plötzlich zuckte sie zusammen. Wohnte nicht in Heilbronn ihre Schwester? Eine Tante hatte ihr einmal geschrieben, daß Ingrid geheiratet hätte und zu ihrem Mann nach Heilbronn gezogen wäre.

Martina lachte bitter auf. Vielleicht war Ingrid wieder einmal durch ihren Leichtsinn in Not geraten, und diese Annegret Markus sollte die Vermittlerin spielen. Wütend riß sie den Umschlag auf. Doch schon beim Lesen der ersten Zeilen weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich. Nachdem sie sich etwas gefaßt hatte, las sie das Schreiben noch einmal leise durch.

Sehr geehrte Frau Reichel! Sie werden erstaunt sein, den Brief einer Ihnen Unbekannten zu erhalten, aber ich halte es für meine Pflicht, Ihnen den Tod Ihrer Schwester mitzuteilen, auch wenn Sie seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr hatten, wie mir Frau Sannwald einmal sagte, als ich sie nach Verwandten fragte.

Ich lernte Ingrid kennen, als sie vor vier Jahren mit ihrem Mann in die Nachbarwohnung einzog. Bald darauf bekam sie ihre Zwillinge. Ich weiß nicht, ob Sie darüber informiert sind, aber um die Kinder geht es mir. Ich kenne die Zwillinge sehr gut, da die Eltern, die sehr lebenslustig und mehr außer Haus, als im Haus waren, mich oft gebeten hatten, bei ihrer Abwesenheit den Babysitter zu spielen.

Diesmal wollten sie für längere Zeit nach England, aber die Reise konnte ich nicht machen, denn schließlich bin ich schon vierundsechzig und die Zwillinge sind sehr lebhafte Kinder. Ich gab den Eltern den Rat, die Kinder in das Kinderheim Sophienlust, das liegt bei Wildmoos­/Württemberg, zu bringen, was sie auch taten. Dort befinden sich die Kinder noch immer.

Um es kurz zu machen. Die Eltern sind aus England nicht mehr zurückgekehrt. Sie sollen dort irgendwo – ich kann mir nun einmal keine ausländischen Namen merken – vom Weg abgekommen und eine Steilküste hinunter ins Meer gestürzt sein. Als die Todesnachricht hier eintraf, fielen alle aus den Wolken, zumal sich bald darauf herausstellte, daß die auf so großem Fuß lebenden Sannwalds verschuldet waren. Alles kam unter den Hammer, für die Kinder blieb nichts.

Die Verwalterin des Kinderheims Sophienlust kam auch, um die persönlichen Sachen der Kinder abzuholen, und ihr erzählte ich von Ihnen und sagte, daß ich Ihnen schreiben würde. Über das Augsburger Einwohnermeldeamt erhielt ich Ihre Anschrift. Ich bitte Sie nun, mir mitzuteilen, was aus den Kindern werden soll. Es sind so allerliebste Kinder. Wenn auch das Sophienluster Heim überall als vorbildlich bekannt ist, so brauchen Kinder doch eine Familie. Wenn Sie auch mit Ihrer Schwester verfeindet waren – nachdem ich sozusagen Seite an Seite mit ihr wohnte, vermute ich, daß sie die Hauptschuld daran trug –, so frage ich Sie, was können die armen Kinder dafür?

Ich bitte um baldmöglichste Antwort. Mit den besten Grüßen

Annegret Markus.

Martina merkte nicht, wie ihr der Brief aus den Händen fiel. Nachdenklich schaute sie zum Fenster hinaus. Sie hatte von der Existenz der Kinder nichts gewußt. Seit dem Tod ihres Vaters war ihre Schwester für sie nicht mehr vorhanden gewesen.

Sie sah Ingrid vor sich, wie sie damals zur Beerdigung des Vaters erschien, in Schwarz von oben bis unten, tränenüberströmt.

Doch schon am nächsten Tag hatte sie auf ihn geschimpft und ihn geizig genannt, weil er sich zuletzt geweigert hatte, ihre Geldforderungen zu erfüllen.

Nach der Bestattung des Vaters, der Bezahlung der Kosten und der Begleichung verschiedener Verbindlichkeiten aus den letzten Monaten des schwerkranken Mannes wurde den beiden Töchtern vom Notar der Rest der Erbschaft ausgezahlt. Es waren für jede zirka zehntausend Mark.

Martina hatte ihren Anteil in ihre Kommode eingeschlossen, weil sie ihn auf das mit ihrem Mann gemeinsame Konto einzahlen wollte. Doch am nächsten Tag, als sie von Bekannten zurückkehrte, war die Kommode aufgebrochen und das Geld zusammen mit der Schwester verschwunden gewesen, genauso wie damals beim Tode der Mutter deren gesamter Schmuck.

Ihr Mann hatte gemeint, sie solle Ingrid anzeigen, aber das widerstrebte ihr, denn schließlich war sie ihre Schwester und selbst auf das Geld nicht angewiesen. Aber sie hatte alle Brücken zu ihr abgebrochen.

Als wenn Ingrid darauf angewiesen gewesen wäre, zu stehlen, dachte Martina Reichel bitter. Die um zwei Jahre jüngere Schwester war viel hübscher als sie und hatte eine aufreizende Figur. Sie hatte als gefragtes Mannequin sehr viel verdient. Aber das Geld war ihr immer wie Wasser durch die Hände geronnen.

Die Küchentür wurde aufgerissen. Schnelle Kinderschritte näherten sich der Frau am Küchentisch, die nichts zu sehen und zu hören schien. Erst die helle Kinderstimme schreckte sie aus ihren Gedanken auf: »Mutti, was ist, du weinst ja?«

Durch die Worte ihres Sohnes merkte Martina, daß ihr tatsächlich Tränen über die Wangen liefen. Hastig wischte sie sie mit ihrem Handrücken ab, dann nahm sie noch ihr Taschentuch zu Hilfe.

Erst jetzt bemerkte sie, daß die blauen Augen ihres blondhaarigen Sohnes sie maßlos erstaunt anblickten. Er hatte seine Mutter bisher noch nie weinen sehen.

Martina atmete tief durch, dann sagte sie: »Ich habe eben eine traurige Nachricht erhalten. Meine Schwester ist mit ihrem Mann tödlich verunglückt.«

»Ist es dieser Brief?« fragte der elf­jährige Kersten und hob das Schreiben vom Boden auf. »Darf ich ihn lesen?«

Die Mutter nickte und beobachtete Kersten, der sich an den Tisch gesetzt hatte und den Brief las. Doch kein Muskel zuckte in seinem Gesicht, es zeigte keine Anteilnahme.

»Was sagst du dazu?« fragte sie. Vom Herd kam ein brandiger Geruch. »Die Kartoffeln!« schrie die Frau, sprang auf und eilte zur Kochstelle.

»Was soll ich sagen?« fragte Kersten mürrisch. »Ich kenne sie doch eigentlich gar nicht.«

»Die Kartoffeln sind angebrannt«, jammerte Martina und hantierte mit den Töpfen herum.

»Macht nichts«, erwiderte der Junge, »dann essen wir sie eben als Bratkartoffeln.«

Martina mußte lachen. »Die obere Lage ist noch brauchbar«, meinte sie. Sie schlug noch schnell ein paar Spiegeleier in die Pfanne, dann trug sie die gefüllten Teller zum Tisch. Mittags, wenn ihr Sohn aus der Schule kam, gab es immer nur ein Schnellgericht, da erst abends richtig gekocht wurde, weil ihr Mann erst dann aus seiner Spielzeugfabrik kam. »Wir essen gleich in der Küche«, schlug sie vor.

»Ist auch viel gemütlicher«, meinte Kersten.

»Vater ist da anderer Meinung.«

»Vati ist gegen manches«, sagte der Junge grinsend. »Er wollte auch nicht, daß ich Fahrrad fahre.«

»Weil er Angst um dich hat«, sagte die Mutter in strengem Ton.

»Och, andere sind viel jünger und durften schon früher als ich fahren. Ich kann prima mit dem Rad umgehen, mir kann nichts passieren.«

»Das haben deine Tante Ingrid und ihr Mann wahrscheinlich auch geglaubt, und jetzt?«

»Ich fahr’ doch schließlich nicht Auto«, meinte Kersten mit vollem Munde. Er schluckte den Bissen herunter, dann fuhr er fort: »Aber ’ne tolle Kiste möchte ich gern mal fahren.«

»Eine Kiste?« fragte Martina verständnislos.

»Na ’n Motorrad«, erwiderte ihr Sprößling. »Axel fährt ein ganz tolles Ding.«

»Der ist ja auch schon achtzehn und so wie er fährt, bricht er sich eines Tages das Genick«, meinte die Mutter.

»Tante Ingrid ist mit dem Auto gefahren und hat sich auch das Genick gebrochen«, erwiderte Kersten ungerührt.

»Das kann ein unglücklicher Zufall gewesen sein«, erwiderte Martina.

»Eben. Bei Axel doch dann auch oder?«

Gegen soviel Logik kam Martina nicht an. Um abzulenken, fragte sie: »Tut dir denn deine Tante nicht leid?«

Kersten schob den leergegessenen Teller beiseite und erwiderte protestierend: »Warum? Sie war nur einmal hier, da war ich noch klein. Ich erinnere mich nur, daß ich ihr überall im Wege war. Ich konnte sie deshalb nicht leiden.«

Martina Reichel mußte unwillkürlich lächeln. »Du hast ein gutes Gedächtnis«, lobte sie. »Du warst bei ihrem Besuch etwa fünf Jahre alt. Sie hatte so elegante Kleider an und Angst, daß du sie schmutzig machen könntest, daher schob sie dich immer weg, wenn du zutraulich zu ihr gehen wolltest.« Sie nahm die schmutzigen Teller und legte sie in das Abwaschbecken.

»Na siehst du«, meinte Kersten zufrieden. »Wo ist denn Frau Winkler?« fragte er, als er sah, daß sich seine Mutter an den Abwasch machte.

»Sie hat sich heute Urlaub genommen«, erwiderte Martina.

»Hm! Soll ich dir helfen?« fragte er in der Hoffnung, daß die Mutter seine Hilfe ablehnen würde.

»Das bißchen Abwasch schaffe ich schon allein«, erwiderte sie auch prompt. »Aber ich möchte dich noch etwas fragen. Tante Ingrid hat zwei Kinder hinterlassen, Zwillinge. Seit ich den Brief gelesen habe, frage ich mich die ganze Zeit, ob wir die Waisen nicht zu uns nehmen sollen. Unser Haus ist dazu groß genug und auch unser Garten. Was meinst du?«

Die Frau hatte das abgewaschene Geschirr zum Abtropfen in den Ständer getan, nun drehte sie sich zu ihrem Sohn um, weil er nicht geantwortet hatte.

Kersten starrte sie mit offenem Mund an. »Doch nicht womöglich in meinem Zimmer?« brachte er endlich hervor.

»Nein, natürlich nicht. Dein Zimmer behältst du, wir haben ja schließlich noch andere Räume.«

»Hm!« Er dachte angestrengt nach. Wenn es Jungens waren und in seinem Alter, dann ließ sich mit ihnen allerhand anstellen, vielleicht Wettrennen mit den Fahrrädern und so. So übel war die Sache also nicht. »Sind es Jungens in meinem Alter?« fragte er deshalb interessiert.

Die Mutter runzelte die Stirn. »Da fragst du mich zuviel«, erwiderte sie. »Ich weiß nicht einmal ihre Namen, nur soviel, daß es sich um Zwillinge handelt. Du weißt doch, wir haben uns mit Tante Ingrid zerstritten. Aber in deinem Alter sind sie auf keinen Fall, älter als drei werden sie kaum sein.«

»Was soll ich mit Babys?« rief Kersten empört. »Etwa Babysitter spielen? Mit denen kann ich doch nichts anfangen. Sie werden meine Sachen schmutzig und kaputtmachen. Es fehlte dann nur noch, daß beide Mädchen sind. Nee, danke, die in dem Heim sollen sie ruhig behalten.«

»Aber Kersten! Hast du dich nicht erst vorhin beschwert, daß du Tante Ingrid nicht anfassen und schmutzig machen durftest?« erinnerte Martina aufgebracht.

»Och, Tante Ingrid! Die hätte auch wegbleiben können, wenn sie davor Angst gehabt hat«, meinte Kersten. »Die mochte ich sowieso nicht. Und auch ihre Babys nicht«, schloß er trotzig.

»Du kennst sie doch gar nicht«, entgegnete Martina. »Frau Markus schreibt, es wären ganz reizende Kinder.«

»Alte Damen übertreiben gern«, meinte Kersten altklug. »Die finden alle Babys niedlich. Darf ich jetzt raus?«

»Na, geh schon.« Martina machte sich daran, die Küche aufzuräumen. Sie hörte, wie draußen Kersten über den Nachbarzaun nach seinem Freund rief. Schließlich geht es nicht nach Kersten, dachte sie. Günther wird mir schon beipflichten, daß die verwaisten Kinder eine feste Heimat brauchen.

*

Noch am selben Abend nach dem Essen sprach Martina mit ihrem Mann über die Kinder. Kersten war in sein Zimmer hinaufgegangen. Es war die Zeit, die Martina so sehr liebte, wenn sie mit Günther abends allein im Wohnzimmer bei einem Glas Wein saß, er ihr aus der Spielzeugfabrik erzählte und sie ihm von den Dingen, die sie interessierten. Gab es einen guten Fernsehfilm, sahen sie sich auch den gemeinsam an. Sie lebten in einem Vorort Augsburgs in einer stillen Seitenstraße, wo kein Straßenlärm auf sie eindrang. Nur am Samstag gingen sie gewöhnlich aus, ins Theater, in eine Oper oder zu einer Party.

Sie hatte ihm erst nach dem Abendessen den Brief zu lesen gegeben. Aber sein Kommentar lautete nur: »Sie war für dich doch schon vorher gestorben.«

»Für dich etwa nicht?« erwiderte sie etwas gereizt auf seine Feststellung. »Aber wenn so etwas passiert, dann fragt man sich, ob man nicht selbst auch etwas falsch gemacht hat. Der Tod ist etwas Endgültiges, und man kann nichts mehr gutmachen.«

»Auch sie nicht«, erwiderte er trocken, »denn sie hat dich doch begaunert, wo sie nur konnte.«

»Aber ich habe trotzdem ganz gut gelebt, während sie ein Fiasko nach dem anderen durchgemacht hat.«

»Durch ihre eigene Schuld«, meinte ihr Mann.

»Das können wir nicht beurteilen«, erwiderte Martina. »Vielleicht war ihr Mann ein Trinker oder ein Spieler, wir kannten ihn ja nicht.«

»Dafür aber deine Schwester, die schon vorher nicht mit dem Geld umgehen konnte. Solche Leute sollten keine Kinder in die Welt setzen.«

»Du hast in gewisser Hinsicht schon recht«, mußte Martina zugeben, »aber die Kinder können nun einmal nichts dafür. Sie tun mir furchtbar leid. Uns geht es doch nicht schlecht, im Gegenteil, sehr gut. Ich habe mir gedacht, da wir doch die nächsten Verwandten der Kinder sind, daß wir sie zu uns nehmen sollten.«

Günther, der gerade zu trinken angesetzt hatte, verschluckte sich. Er stellte das Glas so hart auf den Tisch zurück, daß der Inhalt überschwappte, und starrte sie entgeistert an. »Das ist doch nicht dein Ernst?« stieß er hervor.

Automatisch griff Martina nach einer Serviette und wischte die Tropfen von dem blankpolierten Tisch. Dann sagte sie: »Ist das denn so abwegig?«

»Und wie«, erwiderte er heftig. »Die Kinder sind doch bestimmt noch klein. Dann ist es mit unserer Ruhe aus. Jeden Tag freue ich mich auf unseren gemütlichen Abend. Damit dürfte dann Schluß sein. Statt ein gemeinsames Gespräch oder einen netten Fernsehabend gibt es doppeltes Kindergeschrei.«

»Um diese Zeit liegen die Kinder doch schon längst im Bett«, erwiderte Martina.

»Weißt du denn, ob sie sich nachts ruhig verhalten?« fragte er.

»Das ist Erziehungssache«, meinte die junge Frau.

»Daß die gut erzogen sind, bezweifle ich«, erwiderte Günther. »Diese Frau Markus schreibt doch, daß die Kinder meist fremden Leuten überlassen wurden.«

»Ach, Günther, du suchst nur nach Ausreden, statt an die armen Waisen zu denken. Du bist immerhin durch unsere Heirat ihr Onkel und daher meiner Meinung nach verpflichtet, ihnen zu helfen.«

»Ich habe nichts dagegen, wenn wir ihnen finanziell hin und wieder unter die Arme greifen, oder sie auch mal besuchen. Aber ich bin nicht verpflichtet, sie bei uns aufzunehmen. Ich habe mehrere Neffen und Nichten. Stell dir mal vor, wenn ich die alle aufnehmen würde, dann wäre unser Haus mit einem Kindergarten vergleichbar.«

»Deine anderen Neffen und Nichten sind schließlich gut versorgt!« Martina wurde langsam ärgerlich. »Du kommst mit den Kindern kaum in Berührung, da du tagsüber außer Haus bist. Die Arbeit mit ihnen habe letzten Endes ich, und mir würde das nichts ausmachen.«

»Das glaubst du jetzt. Wenn ich dann abends nach Hause komme, bist du bestimmt von der zusätzlichen Arbeit so geschafft, daß du zu nichts mehr zu gebrauchen bist«, argumentierte Günther. »Und wie steht es mit unseren Wochenenden? Dann können wir nicht mal mehr ausgehen. Nein, schlag dir das aus dem Kopf, da mache ich nicht mit.«

»Wir können uns für diese Zeit einen Babysitter nehmen«, schlug Martina vor.

»Die laufen schließlich nicht zu Hunderten herum, genauso knapp sind auch Hausangestellte. Die Mehrarbeit bleibt bei unserer Frau Winkler hängen, und die wird sich bestimmt dafür bedanken.«

»Du siehst immer gleich schwarz. Sie mag Kinder, sie verträgt sich prima mit unserem Kersten und…«

»Der ist auch schon elf und sehr selbständig«, unterbrach sie ihr Mann.

»Du hättest mich aussprechen lassen sollen«, erwiderte Martina vorwurfsvoll. »Für die Extraarbeit bekommt Frau Winkler mehr Lohn. Ich glaube kaum, daß sie dann kündigen wird.«

»Hast du überhaupt schon mit Kersten darüber gesprochen? Schließlich ist er ja davon ebenso betroffen und hat daher Mitspracherecht.«

»Kersten befürchtet nur, daß er sein Zimmer teilen und Babysitter spielen muß. Im Charakter schlägt er ganz dir nach.«

»Ach nee, und was hast du an unserem Charakter auszusetzen?« fragte Günther und konnte sich dabei ein Grinsen nicht verkneifen.

»Ihr seid beide krasse Egoisten und denkt nur an eure Bequemlichkeit, und daran, daß euch ja niemand etwas davon raubt. Bei einem Kind, das bis jetzt die rauhen Seiten des Lebens noch nicht kennengelernt hat, ist das nicht allzu verwunderlich, aber von dir hätte ich einen so großen Egoismus hilflosen Kindern gegenüber nicht erwartet. Ich dachte immer, als Spielzeugfabrikant hättest du Kinder besonders in dein Herz geschlossen, aber anscheinend ist das nicht der Fall. Du tust es vielmehr nur des Verdienstes wegen.«

Günther lachte amüsiert auf. »Von dem du aber auch ganz schön lebst«, sagte er. »Außerdem habe ich die Fabrik von meinem Vater geerbt. Und ob dieser die Fabrik nur der Kinder wegen aufgebaut hat, bezweifle ich stark. Spielzeugfabrikant ist ein Beruf wie jeder andere auch. Trotzdem bin ich ein großer Kinderfreund, fühle mich aber für fremde Kinder nicht verantwortlich. Weißt du denn, was für Charaktereigenschaften die beiden haben, bei solchen Eltern? Wir werden mit den Zwillingen nur Ärger haben. Und nun laß uns bitte von was anderem reden.« Versöhnlich wollte er ihren Arm tätscheln, aber sie entzog sich ihm und stand abrupt auf.