Es hätte alles so schön sein können - Horst Evers - E-Book

Es hätte alles so schön sein können E-Book

Horst Evers

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Beschreibung

Das Leben des siebzehnjährigen Marco verändert sich schlagartig, als er nächtens zufällig beobachtet, wie ein riesiger, in Leder gekleideter Mann kopfüber aus dem Fenster des unweit seines Heimatdorfes gelegenen Landbordells fliegt. Kurz darauf stürmt eine junge Frau aus dem Haus, und noch ehe Marco die ganze Situation mal in Ruhe mit seinen Hormonen ausdiskutieren kann, verspricht er ihr seine Hilfe. Die beiden beschließen, den toten Mann, den blutüberströmten Stein, auf dem er aufgeschlagen ist, und seinen Wagen verschwinden zu lassen. Jeweils an einem anderen Ort, um es den ermittelnden Behörden möglichst schwer zu machen. Als auch noch Marcos beste Freundin Mareike Wind von der Sache kommt, beginnt eine rasante Tour durchs Land, die für die drei mehr Überraschungen bereithält, als sie je erwartet hätten. Das, was Marco unter dem Beifahrersitz entdeckt, noch nicht mal mit eingerechnet. Horst Evers erzählt von einem Abenteuer, das seine Helden aus der zwar kruden, aber immerhin beschaulichen Idylle ihres Dorfes geradezu in die Welt hinausschleudert. Eine aberwitzige und doch absolut beneidenswerte Reise eines sehr jungen Mannes und zweier schöner Frauen – und zugleich ein grandios-komischer Roman über das Erwachsenwerden zwischen Stadt und Land.

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Horst Evers

Es hätte alles so schön sein können

Roman

Über dieses Buch

Das Leben des siebzehnjährigen Marco verändert sich schlagartig, als er nächtens zufällig beobachtet, wie ein riesiger, in Leder gekleideter Mann kopfüber aus dem Fenster des unweit seines Heimatdorfes gelegenen Landbordells fliegt. Kurz darauf stürmt eine junge Frau aus dem Haus, und noch ehe Marco die ganze Situation mal in Ruhe mit seinen Hormonen ausdiskutieren kann, verspricht er ihr seine Hilfe. Die beiden beschließen, den toten Mann, den blutüberströmten Stein, auf dem er aufgeschlagen ist, und seinen Wagen verschwinden zu lassen. Jeweils in einem anderen Bundesland, um es den ermittelnden Behörden möglichst schwerzumachen. Damit beginnt eine rasante Tour durch Deutschland, die für beide mehr Überraschungen bereithält, als sie je erwartet hätten. Das viele Geld, das sie statt des Reservereifens im Kofferraum finden, noch nicht mal miteingerechnet.

 

Horst Evers erzählt von einem Abenteuer, das seine beiden Helden aus der zwar kruden, aber immerhin beschaulichen Idylle ihres Dorfes geradezu in die Welt hinausschleudert. Eine aberwitzige und doch absolut beneidenswerte Reise eines sehr jungen Mannes und einer schönen Frau – und zugleich ein herrlich schräger Roman über das Erwachsenwerden zwischen Stadt und Land.

Vita

Horst Evers, geboren 1967 in der Nähe von Diepholz in Niedersachsen, studierte Germanistik und Publizistik in Berlin und jobbte als Taxifahrer und Eilzusteller bei der Post. Er erhielt u.a. den Deutschen Kabarettpreis und den Deutschen Kleinkunstpreis. Jeden Sonntag ist er auf radioeins zu hören. Seine Geschichtenbände, zuletzt «Für Eile fehlt mir die Zeit» (2011) und «Wäre ich du, würde ich mich lieben» (2013), wie auch sein Roman «Alles außer irdisch» (2016) sind Bestseller. Horst Evers lebt mit seiner Familie in Berlin.

Für Zuhause

Teil 1

-1-

Es hätte alles so schön sein können. Und eigentlich war es das ja auch.

Das «Village Rouge» war ein lebhaftes Landbordell mit Kundschaft aus allen vier angrenzenden Landkreisen. Nachdem es in der Nähe von Torfstede eröffnet hatte, veränderte dies nicht nur die innere gesellschaftliche Statik meines Heimatdorfes von Grund auf. Es hatte auch erhebliche Auswirkungen auf meine Gedanken, Träume und Tagesabläufe. Für einen siebzehnjährigen Jungen, der so ziemlich mitten im Nirgendwo von Niedersachsen aufwächst, reichen schon kleine Dinge, um sich große Gedanken zu machen.

Mir war, als hätte man mit dem Village Rouge ein Portal zu einer anderen Welt für mich freigelegt. Einer Welt, die ich nur aus Büchern, Filmen und Serien kannte. Unendlich weit entfernt von Torfstede. Einem dieser Orte, bei denen man manchmal denkt, es gibt sie eigentlich nur, um der Landschaft eins auszuwischen. Platz vier der unbekanntesten Orte Deutschlands. Da war Torfstede tatsächlich mal gelandet. Als man in einer Umfrage Menschen aus dem gesamten Land eine Liste mit den fünfzig unbekanntesten Orten vorgelegt hat. Wo man ankreuzen musste, welche dieser Orte man doch kennt, um so schließlich den Allerunbekanntesten herauszufinden. Die Orte auf den ersten drei Plätzen kennt man nicht. Doch da sie in der Berichterstattung über diese Umfrage immer wieder erwähnt wurden, müsste an sich mittlerweile Torfstede der unbekannteste Ort Deutschlands sein. Oder war es. Also bis zu den Ereignissen dieses Wochenendes im Mai, das nicht nur mein Leben für immer verändern sollte.

 

Angefangen hatte alles schon einige Zeit vorher. Als der Lindenwirt gestorben war. Ertrunken. Im Straßengraben. Neben der Hühnerhofstraße. Die ja eigentlich gar nicht mehr so hieß.

Umbenannt hatte man die Straße ein halbes Jahr nachdem der alte Grode, der Geflügelbaron, Gründer und Alleinherrscher eines Legehennenimperiums, beim Pinkeln von seinem eigenen Traktor überrollt worden war. Ihr Name sollte jetzt «Heinrich-Grode-Weg» sein. Genau genommen eine Degradierung: von der Straße zum Weg. Doch offiziell hatte sie ja ohnehin nicht «Hühnerhofstraße» geheißen. Die Leute hatten sie nur so genannt, weil die Straße eben zum Hühnerhof führte und bis zu Heinrich Grodes Tod gar keinen richtigen Namen hatte. Danach nannten sie sie weiter so. Trotz des jetzt offiziellen anderen Namens. Aus Gewohnheit. Was für den, der die Gewohnheit nicht gewohnt war, allerdings verwirrend anmuten musste. Schließlich gab es ja auch den Hühnerhof gar nicht mehr. Dort befanden sich nun das Clubhaus, die Tennisplätze sowie die Baustellenareale für die Squash- und Bowlinghalle mitsamt der Country Lounge, die dann Ausgangspunkt des entstehenden Golfplatzes werden sollte. Die Hühner wohnten lange schon in der gut fünf Kilometer entfernten «Nord-West-Grüner-Sonnenschein-Hofgemeinschaft e.G.».

Zu den Legehennenfabrikzeiten hatte der Betrieb noch «Grode-Ei» geheißen. Ein guter Name für einen norddeutschen Hühnerhof. Da hatte der alte Grode wirklich Glück mit seinem Namen. Wie er ja immer Glück hatte. Bis es losging mit dem Pech. Sprich, diesen unerfreulichen Geschichten über seinen Betrieb. Es folgten widerliche Artikel in der Lokalpresse, Legebatterierazzien, öffentliche Verleumdungen, Prozesse, Verurteilungen. Da hatte «Grode-Ei» irgendwann einen ziemlichen Beigeschmack. Der einstmals gute Name wurde zu einer Belastung. Weshalb die Umbenennung letztlich unausweichlich war.

Doch das hatte der alte Grode schon nicht mehr erleben müssen. Da war sein Traktor vor gewesen. Gut fünf Jahre war all das jetzt her. Sein Sohn Horst hatte übernommen. «Der Junior», wie ihn alle nannten, obwohl er schon fast fünfzig Jahre alt war. Zuerst hatte er die Firma in «Nord-West-Ei e.G.» umbenannt. Das war allerdings für den Verkauf kein optimaler Name. Und um umsatztechnisch wieder auf die Beine zu kommen, musste man deutlich mehr ändern als nur den Namen. Daher kaufte man den nahegelegenen kleinen Biohof «Grüner Sonnenschein» auf und richtete dort einen modernen regionalen Versorgerstandort mit Hofverkauf und Ferienapartments für Familien ein. Nach außen vermarktete man es als Fusion, weshalb die gesamte Firma nun eben «Nord-West-Grüner-Sonnenschein-Hofgemeinschaft e.G.» hieß, kurz «Grüner Sonnenhof», was auch als Markenname auf den Eierpappen stand. Im Großen und Ganzen war da jetzt alles artgerecht, natürlich, an sich sogar quasi bio. Also im Prinzip.

Seitdem läuft jedenfalls das mit den Eiern wieder rund, wie die Leute im Dorf sagen. Denn das ist so ganz der Humor der Menschen hier. Trocken, doch in seiner prinzipiellen Bodenständigkeit einer leicht übermütigen Albernheit nie abgeneigt. Ja, das ist schon ein Humor, da kann man eigentlich nichts gegen sagen.

 

Und dann ertrank also auch noch der Lindenwirt im Straßengraben der Hühnerhofstraße. Ein Fahrradunfall. Wenngleich «Alkoholunfall» wohl die treffendere Beschreibung gewesen wäre. Sein Landgasthof zur Linde lief, anders als Grodes Eierbetrieb, schon seit Jahren nicht mehr. Er lag etwas außerhalb von Torfstede, an der Bundesstraße. Damit war er das Aushängeschild des Ortes gewesen, denn kurz dahinter kommt die Abfahrt nach Torfstede. Das Dorf liegt anderthalb Kilometer von der Bundesstraße entfernt. Deshalb kommt da nie jemand hin, der nicht unbedingt will. Nicht mal unser Schulbus ist ins Dorf gefahren. Wir mussten jeden Morgen zur Haltestelle neben dem Lindenhof.

Der hatte sogar mal richtige Fremdenzimmer gehabt. Aber seit Ewigkeiten hatten da höchstens noch die Saisonarbeiter von Grode-Ei gewohnt. Und dann auch die nicht mehr, nachdem sich Junior-Grode mit dem Lindenwirt, der richtig Hans Kruger hieß, zerstritten hatte. Weil der ihm den Gasthof einfach nicht verkaufen wollte. Obwohl die Gastwirtschaft nur noch in gleichbleibendem Tempo vor sich hin verwahrloste.

Das ging so, seit dem Wirt seine Frau weggelaufen war. Kruger hatte zwar behauptet, er hätte sie fortgejagt. Doch niemand im Dorf glaubte das. So einer war der Kruger nicht. Kein wüster, unüberlegter Schreihals. Sondern an sich ein herzensguter Trauriger. Der hätte ihr gewiss verziehen, dass sie was mit einem aus der Stadt gehabt hatte. Oder vielleicht auch mit zweien oder dreien. Er hatte ja selbst was mit welchen gehabt. Unattraktiv war er beileibe nicht gewesen, und als Gasthofinhaber ergeben sich dann so Geschichten ja quasi wie von selbst. Ob man nun will oder nicht. Das sind solche Automatismen. Erst recht, wenn man als Wirt eben auch gar kein schlechter Kunde von sich selber ist. Da ist man all dem ja irgendwann mehr oder weniger wehrlos ausgeliefert.

Hat mir der Lindenwirt zumindest so erzählt. Ich mochte den Hans. War gerne da und habe geholfen. Nach der Schule, wenn ich von der Bushaltestelle nicht gleich nach Hause, sondern noch ein bisschen am Lindenhof herumgestrolcht bin.

Meistens mit Mareike. Meiner besten Freundin. Sie war exakt zwei Monate älter als ich, trug ihre dunkelblonden Haare als Zopf, damit sie nicht störten, und hatte vorne eine kleine Zahnlücke, seit sie mal vom Pferd gefallen war. Immer war sie die Beste im Sport gewesen. Auch besser als die meisten Jungs. Ganz sicher jedoch immer besser als ich. Richtig hieß sie Mareike Pieper, im Dorf wurde sie allerdings eher Grodes-Mareike genannt, da ihre Mutter die jüngste Tochter des alten Grode war und die Piepers im ganz alten, ganz kleinen Stammsitz der Familie Grode mitten im Dorf wohnten. Im sogenannten Grode-Haus. Da spielte es keinerlei Rolle, dass Ursula Grode längst mit dem gesamten mächtigen Clan der Grodes tief verfeindet war, weshalb sie bei der Heirat mit dem zugezogenen Martin Pieper umso lieber dessen Nachnamen angenommen hatte. Für die Menschen im Dorf blieb sie selbstverständlich «die kleine Grode», und ihre Kinder nannte man folgerichtig Grodes-Jochen, Grodes-Michael und, die Jüngste, Grodes-Mareike. Meine allerbeste Freundin. Eigentlich sogar mein einziger richtiger Freund überhaupt.

Der Lindenwirt hat uns oft ziemlich wilde Geschichten erzählt. Von fremden Welten, die ganz anders waren als Torfstede und durch die er viel gereist sein muss, bevor er den Gasthof geerbt und weitergeführt hat. Das war meistens richtig lustig. Doch nachdem die Frau weg war, wurde er immer wütender. Und betrunkener. Hat sich kaum mehr für sein Lokal interessiert. Noch weniger für uns.

Nach seinem Tod meinte mein Vater, der Lindenwirt habe bei sich selbst seit Jahren anschreiben lassen. Und wenn man sich bei sich selbst über so lange Zeit immer weiter verschuldet, gehört man irgendwann der Bank. Das dachten meine Eltern und auch alle anderen im Dorf.

Doch da täuschten sie sich. Denn nur einen Tag nachdem der Lindenwirt ertrunken im Straßengraben aufgefunden worden war, ging der Junior-Grode zur Bank, weil er dessen Schulden und damit den Landgasthof übernehmen wollte. Das Grundstück lag nämlich ausgesprochen günstig zum neu entstehenden Golfplatz. Das war der Grund, warum Horst Grode dem Krugerwirt mehrfach regelrecht unanständige Summen für seine runtergewirtschaftete Pension geboten hatte. Der sture Trinker hatte alle Angebote abgelehnt. Nicht nur das, das Abschmettern der Avancen wurde häufig gewürzt mit übertrieben obszönen Beschimpfungen. Daher waren die beiden am Ende so verfeindet gewesen.

Nach Krugers Tod hoffte der kommende Golfclubpräsident, endlich zum Zuge zu kommen. Tatsächlich war der Gasthof wie erwartet hoch verschuldet. Doch zur Überraschung aller, selbst seiner fortgezogenen Frau und sogar des Bankdirektors, hatte der Lindenwirt verfügt, im Falle seines Todes sofort einen Privatbankier in Frankfurt zu unterrichten. Dieser wiederum informierte kurz darauf alle Berechtigten, dass der Verstorbene in seiner Bank zehn Goldbarren deponiert habe, die die Schulden problemlos aufwogen.

Da es weder Scheidung noch Kinder gegeben hatte, erbte die Frau alles. Nun zeigte sich, dass sie wirklich nicht wegen ihres Mannes fortgegangen war, sondern wegen der anderen Frauen im Dorf, die sie offenkundig aufgrund ihrer Affären ausgegrenzt und gedemütigt hatten. Immer wieder war sie wohl hinter vorgehaltener Hand als Schlampe, Dirne oder Nutte beschimpft worden. Diese Frauen, so ihre Überzeugung, hatten ihr Leben und das ihres Mannes zerstört. Das sollten sie nun büßen. Also verkaufte die Frau des Lindenwirts den Landgasthof nicht an den höchstbietenden Grode, sondern vermutlich sehr viel günstiger an eine etwas in die Jahre gekommene Prostituierte aus Hamburg, die noch dazu über die notwendigen amtlichen Kontakte verfügte, um zügig eine Lizenz zu erhalten. So zumindest reimten sich meine Eltern vor meinen Ohren die ganze Geschichte zusammen.

Nur wenige Wochen später eröffnete also in unmittelbarer Nähe unseres kleinen verschlafenen Dorfes, an der Bundesstraßenabfahrt, praktisch als neues Aushängeschild des Ortes, das Village Rouge. Ein astreines, überregional werbendes Landbordell mit weit sichtbaren roten Lichtern. Perfider hätte die Rache an den ehemaligen vermeintlichen Freundinnen nicht sein können.

 

In der Hoffnung, zumindest einen Funken verbotener Frivolität zu erhaschen, wählte ich fortan praktisch jeden Weg, den ich zurückzulegen hatte, so, dass er mich am Lindenhof vorbeiführte. Natürlich benutzte auch in diesem Falle niemand im Dorf den neuen Namen «Village Rouge», sondern es blieb selbstverständlich bei «Lindenhof», so wie man es schon immer gewohnt war. Die gänzlich neue Verwendung der Räumlichkeiten konnte daran nichts ändern. Im Gegenteil, die aktuelle Nutzung als Bordell führte dazu, dass manch einer nicht ohne trotzigen Stolz erläuterte, wie umsichtig und passend es doch nun im Nachhinein gewesen wäre, die Hühnerhofstraße weiterhin Hühnerhofstraße heißen zu lassen. Denn am Hühnerhof vorbei führte sie ja direkt zum Village Rouge. Inhaltlich ergäbe damit ja quasi alles wieder einen Sinn. Das war eben erneut dieser Humor der Leute im Dorf, der sich immer so ganz von selbst seinen Weg ins Leben bahnt. Mit so einem Humor muss man im Dorf dann auch irgendwie leben.

Natürlich hatte Mareike meine ständigen abstrusen Begründungen, warum ich noch schnell am Lindenhof vorbei- oder ihn sogar umrunden musste, bald durchschaut. Mareike entging nie etwas, und sie hatte auch nicht die geringste Scheu, mich damit zu quälen.

«Oh, wie schön sonnig es heute ist. Das werden bestimmt manche nutzen, um ihre Unterwäsche zum Trocknen rauszuhängen. Ich nehme an, du würdest gerne noch durch das kleine Waldstück hinter dem Village Rouge fahren?»

Ich wusste, dass sie wusste, was ich dachte und dass mir das peinlich war. Trotzdem hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, ein Geheimnis vor ihr zu haben. Ja, sogar sie irgendwie zu hintergehen, wenn ich mich des Abends im dichten Gestrüpp des Waldrandes einrichtete. Von dort hatte ich einen exzellenten Blick auf die straßenabgewandte Seite des Village Rouge. Die rot, gelb und blau beleuchteten Fenster der dreistöckigen ehemaligen Pension. Die umgebauten alten Stallungen, den unauffälligen Hintereingang, vor dem der trüb beleuchtete Parkplatz lag.

Hier konnte ich nebenbei doch so manche vertraute Gestalt beim Besuch des geheimen Hauses erblicken. Hätte ich mir die Mühe gemacht, den sehr guten Fotoapparat meines Vaters mit in mein Versteck zu nehmen, und darüber hinaus unternehmerischen Ehrgeiz entwickelt, wäre es vermutlich möglich gewesen, ein paar außergewöhnliche Bilder besonderer Menschen zu machen, die mir eine deutlich wohlhabendere Jugend und eventuell sogar ein vollkommen sorgloses Hochschulstudium beschert hätten. Doch Geschäftssinn ging mir vollkommen ab, und noch mehr hätte es mir am notwendigen Mut gemangelt. Aber vor allem hatte ich für solche Aktivitäten gar keine Hirnkapazitäten frei.

Denn hier ging es für mich fraglos um etwas sehr viel Wichtigeres. Etwas, von dem ich im Prinzip nichts wusste, auch nichts wirklich sah und kaum etwas hörte. Allerdings war das, was ich mir aus den spärlichen Quellen in dieser relativen Nähe zusammenzureimen vermochte, eigentlich schon weitaus mehr, als ich aushalten konnte. Oft reichte es schon, wenn nur ein Fenster geöffnet wurde, damit mir der Atem stockte. Manchmal setzte sich dann eine der Frauen sehr leicht bekleidet auf das Fensterbrett, um zu rauchen. Das war natürlich der Jackpot. Aber auch wenn man nichts weiter sah als leicht flackerndes Licht und die menschlichen Geräusche die Musik übertönten, war das schon eine ordentlich große Sache. Durchs offene Fenster fühlte es sich beinah an, als wäre ich mit im Raum. Manchmal klang es wie ein Streit. Ein lauter, heftiger, leidenschaftlicher Streit. Mit Schlagen, Stoßen, Schreien und allem. Das hatte schon etwas Wundersames. Aufregendes. Es erschien mir in jedem Falle sehr viel spannender als alles, was ich bislang im Internet zu dieser Thematik recherchiert hatte. Und das, obwohl ich hier praktisch nichts sah, während ich mir im Netz so gut wie alles ansehen konnte. Teilweise in Großaufnahme.

Vielleicht war das ja genau das Geheimnis. Das Internet zeigte mir einfach so die ganze Bude. Alle Zimmer und Kammern, plus Keller. Ohne den geringsten Aufwand meinerseits. Nichts brauchte einem peinlich zu sein. Hier zu hocken und auf diese Fenster zu starren, ohne etwas zu sehen, war hingegen superpeinlich. Die Angst, entdeckt zu werden, die Scham, die Nervosität waren um ein Vielfaches reeller. Die ganze Sex-Kiste hatte natürlich etwas Furchteinflößendes. Diese Furcht zu überwinden war Teil des großen Dings. Da war ich mir mittlerweile sicher.

«Wenn du keine Angst hast, ist es keine Liebe», hatte mein Großvater mal zu mir gesagt. Damals ging es darum, ob ich mich traute, ein Trompetensolo im Posaunenchor zu spielen. Weshalb ich mich dann getraut habe und wahrlich grandios gescheitert bin. Vor versammelter Gemeinde. Mein Opa war trotzdem stolz auf mich. «Etwas wagen, weil man es eigentlich total gut kann, ist an sich nichts Besonderes. Aber sich etwas trauen, obwohl man es wahrscheinlich überhaupt gar nicht kann: Das erfordert echten Mut.»

Meine Mutter hingegen meinte kürzlich: «Durchs Internet verlernen die Menschen, sich zu schämen. Das ist unser eigentliches Problem.» Ich glaube zwar, dass sie damit nicht die Pornoseiten meint, sondern irgendwas Gesellschaftspolitisches, doch für den Sex leuchtet es mir sogar ein. Das, was alles so aufregend macht, ist doch die Scham, das Verbotene, Geheimnisvolle. Im Internet gibt es null Geheimnisvolles. Doch noch weniger gibt es das, was ich eigentlich mehr als alles andere suchte: Abenteuer! Nach all meinen bisherigen Überlegungen war ich mir vergleichsweise sicher, dass es die Sache war, um die es eigentlich ging. Aber original.

 

Irgendetwas in dieser Art mochte ich gedacht haben, als plötzlich ein sehr großer, massiger Mensch quasi durch das offene Fenster im dritten Stock des Quergebäudes schoss. Kurz stand er in der Luft, ehe sich der Körper wie der eines bewusstlosen Turmspringers drehte und aufgrund der ungeheueren, unerbittlichen Erdanziehung dem Boden entgegenraste. Dort tauchte er jedoch nicht ein, sondern schlug knirschend auf, bevor er noch mal ganz leicht auf dem Parkplatz aufzuditschen schien, um dann mit einem leicht matschenden Geräusch das Fallen als solches zu beenden und reglos liegen zu bleiben.

-2-

Für einen ganz kurzen Moment war es, als würde die Welt stillstehen. Alle Geräusche verstummten. Der Wind hielt inne. Das Licht fror ein.

Dann nahm alles seinen Betrieb wieder auf. Ich hörte die Musik und den zarten Lärm aus den Zimmern mit geschlossenen Fenstern. Das Village Rouge lag vor mir, als wäre nichts geschehen. Der Klumpen Mensch auf dem Parkplatz hingegen vermittelte einen anderen Eindruck. Obschon er sich nicht rührte. Kein bisschen. Doch gerade dieses völlig Reglose des Mannes zwang mich zu realisieren, dass eben sehr wohl etwas passiert war.

Ich überlegte, ob ich die Polizei rufen sollte. Anonym natürlich. Wobei das selbstverständlich ein Witz war. Im Dorf mochte es nun wirklich so einiges geben, aber Anonymität hatten wir beim besten Willen nicht zu bieten. Wenn sich herausstellte, dass jemand vom Gestrüpp des Waldrandes aus den Fenstersturz beobachtet hatte, würde es vermutlich einen halben Filterkaffee lang dauern, bis man auf mich käme und ich Fragen beantworten müsste. Andererseits, wenn ich jetzt nicht die Polizei rief und der Mann gar nicht tot war und dann herauskam, dass ich alles gesehen hatte, und der Mann sterben würde, weil nicht rechtzeitig ein Krankenwagen gerufen wurde … Könnte ich mir das je verzeihen?

Und wäre es nicht unterlassene Hilfeleistung? Machte ich mich damit nicht strafbar? Und schuldig? Sollte ich unter falschem Namen einen Krankenwagen rufen? Schon wieder die Illusion des Anonymen. Warum kam niemand aus dem Lindenhof raus, um den Mann zu untersuchen? War es womöglich tatsächlich ein Unfall ohne fremde Beteiligung? Oder am Ende ein Selbstmord, den die Frauen des Etablissements gar nicht mitbekommen hatten?

Um meinen eigenen Fragen auszuweichen, beschloss ich, mich erst mal unauffällig dem Mann zu nähern. Mir ein genaueres Bild zu machen. Ganz vorsichtig stieg ich aus dem Gebüsch, rutschte den kleinen Hang zum Parkplatz hinunter und schlich mich behände, jede Deckung suchend, möglichst dicht an den Wänden haltend, näher an das Opfer heran. Ich hatte es fast erreicht, als plötzlich eine Seitentür aufflog. Eine junge Frau kam herausgestürmt. Sie schimpfte, aber im Flüsterton. Ein Flüstern, das so gepresst klang, dass es emotional viel lauter wirkte als Schreien: «Oh verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt. Was für ein Idiot. Bitte sei nicht auch noch tot! Du blöde Sau! Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt!»

Sie rüttelte an dem Haufen Mensch. Versuchte ihn auf den Rücken zu drehen. Glitt jedoch ab und plumpste auf ihren Hintern. Jetzt konnte ich ihr Gesicht sehen. Sie weinte.

O Gott, wie schön sie ist, dachte ich und tadelte mich gleichzeitig selbst für den jetzt wenig hilfreichen reflexhaften Gedanken.

Sie schlug mit der Hand auf den Boden, tat sich dabei offensichtlich weh und schimpfte weiter: «Aua, verdammt, Mann! Er ist tot. Warum ist dieser Arsch tot? Was soll das denn? Bitte lass das doch! Sei nicht so idiotisch tot, du Hornochse! Verdammt!»

Aufs Neue rüttelte sie an dem Mann. «Hör jetzt gefälligst auf, so blöde tot zu sein! Hör auf! Das macht der doch mit Absicht! Dieser blöde Arsch. Was für eine dumme tote Sau.»

Sie fing an, auf den Mann einzuschlagen. Erst mit einzelnen Schlägen, dann zunehmend unkontrolliert trommelnd. Nach einer Weile stand sie auf und trat und schlug den Mann in unstetem Wechsel. Dabei fluchte sie in kaum verständlichen Wiederholungsschleifen weiter flüsternd vor sich hin. Schließlich sank sie entkräftet zu Boden und schlug noch zwei-, dreimal mit den Fäusten auf die Erde, ehe sie das tränenüberströmte Gesicht hob und etwas Unerwartetes erblickte.

Mich, der ich nach wie vor gelähmt vor Entsetzen und Angst ganz dicht an die Wand gepresst dastand, sie anstarrte und mich meiner sichtbaren Erregung schämte.

Von nahem war sie tatsächlich noch schöner, als ich sie mir von fern vorgestellt hatte. Erst jetzt fielen mir ihre blauen Haare auf. Leuchtend hellblaue, schulterlange Haare mit Seitenscheitel. Ich hatte die Farbe erst für eine optische Täuschung gehalten.

Doch noch etwas anderes kam mir nun seltsam vor. Ich brauchte einige Augenblicke, bis ich realisiert hatte, was mich so an ihr irritierte. Sie sah vollkommen normal aus. Ich weiß nicht, wie ich erwartet hatte, dass eine Prostituierte aus der Nähe wirken würde. Aber irgendwie anders eben. Sie war schlank, sportlich, fast so groß wie ich, trug schwarze Jeans und ein mattweißes Hemd. Doch gar nicht tief ausgeschnitten oder bauchfrei, sondern eben nur ein schlichtes Hemd. Auch die Jeans war nicht sehr eng geschnitten, und an den Füßen hatte sie grüne Sneakers.

Kurz, sie sah wahnsinnig toll aus. Gerade weil sie es überhaupt nicht darauf anlegte, gut auszusehen. Sondern mehr so cool und lässig. Wie die Mädchen an unserer Schule. Nur etwas älter. Eine Studentin vielleicht. War das ihre Rolle im Village Rouge? Die Studentin von nebenan? Nur recht dezent geschminkt, ohne jeden Schmuck. Ein wenig erinnerte sie mich an Frau Hettig, eine Referendarin, die letztes Jahr an unserer Schule gewesen war. In die hatten sich alle Jungs des Jahrgangs nach zwei Minuten verliebt. Nur hatte Frau Hettig knallrote Haare gehabt, und ich war mit ihr nie so zu zweit gewesen wie mit dieser echten Frau jetzt hier.

Bestimmt eine Minute lang sagte die nichts. Mit großen wässrigen braunen Augen beobachtete sie mich.

Bis ich das Schweigen nicht mehr aushielt und fragte:

«Alles in Ordnung?»

-3-

Der Gesichtsausdruck der jungen Frau bekam etwas Ungläubiges.

«Wonach sieht es denn aus?»

Ich blickte zu dem Mann auf dem Boden. Der große Stein, auf dem er mit dem Kopf aufgekommen war und der ihm beim Aufprall vermutlich den Schädel eingeschlagen oder das Genick gebrochen hatte, färbte sich zusehends rot.

«Hat er Sie angegriffen?»

«Bitte?»

«Ich meine, war es Notwehr?»

Sie schüttelte den Kopf. «Nicht direkt. Er ist von sich aus gesprungen.»

«Selbstmord?»

«Würde ich so nicht sagen. Er dachte, er kann fliegen.»

«Konnte er dann aber gar nicht, was?»

«Eben.»

«Also genau genommen war es ein Irrtum?»

«Eigentlich schon. Er hat sich einfach getäuscht.»

«Tod durch Irrtum quasi.»

«Ja. Sozusagen.»

«Sollen wir die Polizei rufen?»

«Das möchte ich eigentlich nicht so gerne.»

«Verstehe.»

«Echt?»

«Ja, klar. Sind Sie eventuell illegal?»

Die junge Frau kniff die Augen zusammen und schien angestrengt nachzudenken.

«Warum sollte ich denn illegal sein?»

«Na, weil Sie hier arbeiten.»

«Ich bin nicht illegal. Nicht mal, wenn ich arbeite.»

«Aber wieso wollen Sie denn dann nicht die Polizei rufen?»

«Das ist kompliziert.»

«Wäre ich in Gefahr, wenn ich die Wahrheit wüsste?»

Nun fasste sie sich an die Stirn.

«Äh, ja, genau, du wärst in sehr großer Gefahr, wenn du die Wahrheit wüsstest. Am besten wäre es, du weißt so wenig wie möglich.»

Sie nickte, wie um sich selbst recht zu geben, und fuhr fort.

«Allerdings. Solange die Leiche hier so liegt, könnte das auch gefährlich für dich werden. Wir sollten sie so schnell wie möglich wegschaffen.»

«Weg? Wohin denn? Und wie?»

Die junge Frau zögerte. Dann stürzte sie sich auf den toten Mann und fing an, seine Taschen zu durchwühlen.

«Kannst du Auto fahren?»

«Ich bin siebzehn.»

«Das habe ich nicht gefragt.»

«Ich kann Trecker fahren. Und Moped. Und vielleicht auch ein bisschen Auto.»

«Ein bisschen?»

«Wir sind hier auf dem Land. Hier kann jedes Kind ein bisschen Auto fahren. Also zumindest genug, um das Auto der betrunkenen Eltern von der Dorfgaststätte zurück auf den Hof zu manövrieren.»

«Das wird reichen.»

Triumphierend hielt sie den Autoschlüssel in die Luft, den sie in einer der Hosentaschen gefunden hatte. Dann drückte sie auf den Türöffner. Die Lichter einer großen dunklen Limousine blinkten, die Türentriegelung knackte.

Ich staunte. «Einen 7er BMW hatte ich allerdings noch nie. Können Sie denn nicht Auto fahren?»

«Könntest du mal aufhören, mich zu siezen? Auto fahren … ja, ein wenig.»

«Ist ein wenig weniger als ein bisschen?»

«Vermutlich. Es geht ja auch erst mal nur darum, den Wagen so vor den Toten zu fahren, dass man ihn vom Hintereingang aus nicht mehr sieht. Also den Toten. Es ist ja sowieso ein Wunder, dass noch niemand gegangen oder gekommen ist, seit der hier liegt.»

«Dass niemand gekommen ist, während der hier liegt, da wäre ich mir nicht so sicher.»

Ich lachte ein leises pubertäres Lachen und bekam dafür einen beinah liebevollen, nachsichtigen Blick. Ganz, als wollte sie sagen: «Ich weiß, mein Junge, in deinem Alter musst du so was wohl sagen. Es ist alles gut.»

Tatsächlich erwiderte sie jedoch: «Fahr einfach vorsichtig vor. Und bitte nirgendwo gegen und schon gar nicht über ihn drüber.»

Als ich die Fahrertür öffnete, schlug mir ein Schwall Rasierwasserduft entgegen. Ich hatte manchen Geruch erwartet: kalten Zigarettenrauch, ranziges Fett, Alkoholdunst, vielleicht auch den Geruch von Wurst oder rohem Fleisch, möglicherweise sogar Neuwagenspray, aber dieser feine, durchaus edle Parfümgeruch passte eigentlich gar nicht zu dem riesigen, langhaarig-bärtigen Rocker in Nietenlederjacke, der da totgefallen auf dem blutüberströmten Stein lag. Der Sitz war so weit nach hinten verschoben, wie es nur ging, und befand sich noch dazu fast in einer Liegeposition. Ich probierte eine kleine Ewigkeit lang, ihn nach vorne zu bringen.

«Was ist los?», zischte die Frau.

«Ich kriege den Sitz nicht nach vorne.»

«Das ist nicht dein Ernst.»

«Doch.»

In Panik zog ich an jedem verfügbaren Hebel. Die Kühlerhaube sprang auf.

«Ich glaube es ja nicht.»

Wütend sprang die Frau vor das Auto und drückte die Kühlerhaube zu, dann riss sie die Fahrertür auf und brachte mit zwei schnellen Handgriffen den Sitz in die richtige Position.

«Woher weißt du, wie das geht?»

Sie schüttelte den Kopf, fauchte leise «Los jetzt!» und schloss fast geräuschlos die Tür.

Ich startete den Wagen, ließ ihn etwas rollen und brachte ihn so zum Halten, dass er die Leiche verdeckte. Hernach stellte ich den Motor wieder ab, stieg aus dem Auto und schloss die Tür.

Die Frau schnalzte zufrieden.

«Okay. Ich schaue drinnen nach einer möglichst großen Decke, in die wir ihn einwickeln können. Check du solange schon mal den Kofferraum.»

«Den Kofferraum?»

«Klar, oder hast du einen anderen Vorschlag?»

«Ich hatte da so jetzt noch gar nicht …»

«Dachte ich mir.»

Entschlossenen Schrittes entschwand sie durch die Tür des Seitenflügels. Nur das verschmierte Make-up erinnerte noch an ihre Verzweiflung vor wenigen Minuten. Aber das tat ohnehin nichts zur Sache. Egal, ob verzweifelt oder entschlossen. In jeder Stimmung, in der ich sie bislang erlebt hatte, war sie die mit enormem Abstand schönste fremde erwachsene Frau, der ich jemals so nahe gekommen war. Als sie meinen Fahrersitz vorgestellt hatte, war ihr Gesicht so dicht an meinem gewesen, dass ich ihre Schminke riechen konnte. Oder war es das Parfüm? Womöglich sogar ihr eigener Duft? Wie auch immer. Jedenfalls konnte ich mich nicht entsinnen, jemals etwas Erregenderes erlebt zu haben. Nichts kam da auch nur annähernd ran.

In mir tobte es. Ich fühlte mich gut. Gerade weil ich so große Angst hatte. Denn ohne es genau zu verstehen, hatte ich doch das Gefühl: Dies war eine Angst, wie ich sie mir schon immer gewünscht hatte. Wo einem die Übelkeit auch wieder egal ist. Es stand für mich völlig außer Frage, dass diese Frau unschuldig war. Und wenn sie doch schuldig wäre, dann sicher aus gutem Grund. Bestimmt wäre es keine Schuld, die ich ihr nicht verzeihen könnte. Denn ich würde ihr alles vergeben. Also höchstwahrscheinlich. In jedem Falle war es eine blanke Selbstverständlichkeit für mich, alles zu tun, was notwendig sein würde, um ihr zu helfen. Mehr musste ich erst mal nicht wissen. Wie in Trance lief ich zum Kofferraum. Ich wollte gerade meine Hand ausstrecken, um ihn zu öffnen, als aus dem Hintereingang des Clubs mein Mathematiklehrer trat.

-4-

Herr Schröder blinzelte. Es dauerte etwas, bis er mich im Dunkeln erkannte. Mit einem raschen Seitenblick realisierte er, dass er selbst hingegen unter der Beleuchtung des Hintereingangs für mich gewiss sehr gut zu erkennen war. Ein paar Augenblicke zögerte er, dann entschloss er sich zur Flucht nach vorn.

«Was machst du denn hier?»

Er trat aus dem Licht und ging drei Schritte auf mich zu. Instinktiv ging ich ihm gleichfalls drei Schritte entgegen, um zu verhindern, dass er dem Wagen zu nahe kam.

«Nichts.»

Jetzt war er nur noch eine Armlänge entfernt.

«Wie, nichts?»

Ich warf einen schnellen Blick über die Schulter, um zu kontrollieren, ob er aus seiner Position etwas sehen konnte, das ein Problem aufwerfen würde. Wohl nicht. Ansonsten schaltete ich gesprächstechnisch direkt in den Schüler-Lehrer-Modus. Eine solide Patzigkeit war er gewohnt. Die würde ihn wahrscheinlich am wenigsten misstrauisch machen.

«Na, nichts halt. Das darf ich. Oder ist es neuerdings verboten, wo zu stehen und nichts zu machen?»

Mein Mathematiklehrer legte den Kopf schief.

«Dann bist du ganz sicher, dass du hier nicht stehst, um zu schauen, wer da so aus dem Club kommt und reingeht? Und dass du nicht sogar versehentlich Fotos machst?»

«Warum sollte ich denn so etwas tun?»

«Sag du es mir.»

Triumphierend stand er mit dem jahrelang trainierten «Erwischt!»-Blick des abgeklärten Pädagogen vor mir. Aber auch ich war schon zu lange Schüler, um mich davon noch beeindrucken zu lassen.

«Also ich persönlich», sagte ich, «mache hier jedenfalls absolut nichts. Und das ausschließlich. Aber was machen Sie denn hier?»

Er zuckte. Pfiff leise durch die Zähne. Eigentlich sollte Herr Schröder ja schwul sein. Sagte er zumindest selbst. Angeblich hatte er einen festen Freund, der in Braunschweig lebte. Niemand hatte ihn je gesehen. Weshalb nicht wenige vermuteten, seine Homosexualität sei nur eine Schutzbehauptung. Um von seinen Affären mit verschiedenen Frauen des Ortes abzulenken. Denn da wurde so manches gemunkelt.

Zumindest kann man da mal sehen, wie fortschrittlich und weltoffen unser Landkreis mittlerweile ist. Ein schwuler Lehrer ist den Leuten viel lieber als einer, der verheirateten Frauen nachsteigt. Von wegen Hinterwäldler! Auch ein unverheirateter Mann, der ins Bordell geht, wäre hier höchstens gut für ein paar pikierte oder schlüpfrige Bemerkungen, aber nichts, was nachhaltig den Tratsch beflügeln könnte. Jemand jedoch, der die braven und humorvollen Menschen des Landkreises mit einer arglistig vorgetäuschten Homosexualität mutwillig an der Nase herumführt – das wäre ohne Frage ein starkes Stück und würde auch gewiss entsprechend besprochen werden. Insofern war es nicht überraschend, dass Herr Schröder nun anfing, unruhig herumzutrippeln. Erneut linste ich hinter mich, um sicherzugehen, dass er nichts sah.

Was seine Aussicht völlig neu gestalten konnte, war der Umstand, dass der BMW jetzt plötzlich begann, ganz langsam, beinah unmerklich, zurückzurollen. Verdammt. Hatte ich tatsächlich vor Aufregung und im gewohnheitsmäßigen Tran ausgekuppelt? Das musste man nämlich immer beim alten Trecker von Grodes, weil sonst angeblich das Getriebe beim nächsten Starten einen Schlag bekam. Sagte der Grode-Junior, bei dem ich mir ab und an als Aushilfsfahrer etwas dazuverdiente. Auf exakt dem Trecker, der seinerzeit den alten Grode beim Pinkeln überrollt hat. Was ja nur passieren konnte, weil man bei dem immer auskuppeln musste. Und trotzdem bestand der junge Grode weiterhin darauf.

Überhaupt ist es ein komisches Gefühl, einen Trecker zu lenken, von dem man weiß, dass er schon einmal jemanden totgefahren hat. Oder eben totgerollt. Führerlos. Das hat der Trecker praktisch ganz allein gemacht. Quasi aus freien Stücken. Als wollte er den alten Grode für irgendwas bestrafen. Etwas, das der ihm angetan hat. Oder etwas, das der Grode einem anderen zugefügt hat. Das haben dann ja auch durchaus Leute im Ort vermutet. Dass der brave Trecker den alten Grode womöglich für etwas richten wollte. Für Taten, die der arme Trecker mitansehen und nicht mehr ertragen konnte. Für die Leute war das natürlich nur ein Scherz. Denn das war ja so ihr Humor. Aber man hat dann schon irgendwie einen anderen Respekt vor so einem Fahrzeug.

Ich hatte also vermutlich ausgekuppelt. Und deshalb zuckelte dieser verdammte BMW nun los. Um mich zu bestrafen. Für das, was ich seinem Fahrer angetan hatte. Oder was er denkt, dass ich ihm angetan hätte, denn eigentlich ist es ja schon erstaunlich, wie wenig ich bis zu diesem Zeitpunkt tatsächlich erst getan hatte. Gemessen daran, wie unglaublich schuldig ich mich bereits fühlte.

Ich schaute noch mal zum Auto. Keine Frage, es bewegte sich. Zweifellos nur noch ein kurzer Moment, bis der BMW-Vorhang den Blick auf die Leiche freigegeben hätte. Doch noch merkte Herr Schröder nichts. Zu beschäftigt war er wohl mit seiner angestrengten Suche nach einer neuen Gesprächsstrategie. Ich nutzte seine Unaufmerksamkeit, um unauffällig die drei Schritte zurückzuhuschen. Erneut direkt hinter das Auto. Doch diese Bewegung entging ihm nicht. Überrascht von meinem unmotivierten Zurückweichen, schaute er auf, und noch ehe einer von uns etwas sagen konnte, spürte ich das Gewicht der Limousine. Mit aller Kraft lehnte ich mich dagegen. Gleichzeitig konzentrierte ich mich darauf, so natürlich und entspannt wie nur möglich auszusehen.

Herr Schröder schien sich nicht ganz sicher, was er da gesehen hatte.

«Sag mal, wurdest du gerade von dem parkenden Wagen angefahren?»

«Was? Nein. Natürlich nicht. So ein Quatsch. Ich lehne mich nur ein wenig an, weil mir vom langen Stehen die Gelenke weh tun.»

«Echt? Das sieht aber nicht sonderlich bequem aus, wie du da stehst.»

«Doch. Doch. Für mich ist das sehr bequem. Gerade wenn ich mich mit Knie und Schulter so ein bisschen abstützen kann. Das mögen die Gelenke.»