Es ist deine Schuld - Bernhard Schuh - E-Book

Es ist deine Schuld E-Book

Bernhard Schuh

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Beschreibung

Inhaltszusammenfassung: Im Oktober 2016 dringt ein Mann in die Wohnung einer jungen Frau in Prag ein. Er bereitet alles vor, damit er sein geplantes Verbrechen ausführen kann. Er sprayt schwarze Farbe an das Fenster im Schlafzimmer und legt komplette Schutzkleidung inklusiv Kapuze, Augenmaske, Mundschutz und Überschuhe an. Als die junge Frau gegen 22 Uhr ihre Wohnung betritt, wird sie von ihm überwältigt, geknebelt und auf ihr Bett gefesselt. Während er die Szene mit einer Kamera filmt, schlitzt er sein Opfer auf und ermordet es auf bestialische Art und Weise. Zwei Jahre später, im Oktober 2018, werden einer Einheit unter der Leitung von Hauptkommissar Stefan Wagner bei der Behörde EUROPOL in Den Haag die Ermittlungen in zwei Mordfällen übertragen. Diese Morde geschahen im September 2017 in Duisburg und im März 2018 in Lyon. Die Polizeibehörden vor Ort gingen bisher von einem lokalen Täter aus. Die brutale und absolut identische Tatausführung und das Fehlen jeder verwertbaren Spur lassen auf einen und denselben Täter schließen, der aber nicht mit dem Umfeld der Opfer in Duisburg oder Lyon in Verbindung steht.

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Seitenzahl: 305

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Es ist deine Schuld

von

Bernhard Schuh

Texte: © Copyright by Bernhard Schuh

Umschlagsgestaltung: © by Bernhard Schuh

Verlag:

Bernhard Schuh

Pfarrgasse 4

69121 Heidelberg Germany

Email: [email protected]

Druck:

Epubli - ein Service der neopubli GmbH Berlin

Inhalt

Kapitel 1

Prag Sa. 15.10.2016 19 Uhr

Kapitel 2

Prag Sa. 15.10.2016 21:40 Uhr

Kapitel 3

2 Jahre später Den Haag Mi 17.10.2018 08:30 Uhr

Kapitel 4

Den Haag Mi 17.10.2018 11:50 Uhr

Kapitel 5

Den Haag Mi 17.10.2018 12:00 Uhr

Kapitel 6

Den Haag Do 18.10.2018 08:30 Uhr

Kapitel 7

Den Haag Do 18.10.2018 17:00 Uhr

Kapitel 8

Duisburg Fr 19.10.2018 07:30 Uhr

Kapitel 9

Duisburg Fr 19.10.2018 14:30 Uhr

Kapitel 10

Düsseldorf Fr 19.10.2018 17:30 Uhr

Kapitel 11

Düsseldorf Fr 19.10.2018 19:45 Uhr

Kapitel 12

Lyon Sa 20.10.2018 08:30 Uhr

Kapitel 13

Lyon Sa 20.10.2018 13:00 Uhr

Kapitel 14

Lyon Sa 20.10.2018 15:30 Uhr

Kapitel 15

Lyon So 21.10.2018 02:00 Uhr

Kapitel 16

Lyon So 21.10.2018 09:00 Uhr

Kapitel 17

Lyon Mo 22.10.2018 08:00 Uhr

Kapitel 18

Den Haag Di 23.10.2018 09:00 Uhr

Kapitel 19

Den Haag Mi 24.10.2018 07:00 Uhr

Kapitel 20

Den Haag Do 25.10.2018 08:30 Uhr

Kapitel 21

Den Haag Fr 26.10.2018 08:30 Uhr

Kapitel 22

München Sa 27.10.2018 19:30 Uhr

Kapitel 23

Stockholm Mo 29.10.2018 09:00 Uhr

Kapitel 24

Den Haag Di 30.10.2018 08:30 Uhr

Kapitel 25

Duisburg Mi 31.10.2018 11:00 Uhr

Kapitel 26

Den Haag Do 01.11.2018 09:00 Uhr

Kapitel 27

Den Haag Fr 02.11.2018 09:00 Uhr

Kapitel 28

Mannheim Mo 05.11.2018 13:55 Uhr

Kapitel 29

Den Haag Di 06.11.2018 09:00 Uhr

Kapitel 30

Den Haag Mi 07.11.2018 09:00 Uhr

Kapitel 31

A3 Fr 09.11.2018 16:00 Uhr

Kapitel 32

Langenthal Sa 10.11.2018 09:00 Uhr

Kapitel 33

A3 Mo 12.11.2018 10:00 Uhr

Kapitel 34

Mannheim Di 13.11.2018 10:00 Uhr

Kapitel 35

Mannheim Mi 14.11.2018 19:45 Uhr

Kapitel 36

Heidelberg Do 15.11.2018 10:00 Uhr

Kapitel 37

Mannheim Sa 17.11.2018 09:00 Uhr

Kapitel 38

Düsseldorf Sa 15.12.2018 20:00 Uhr

Kapitel 1

Prag Sa. 15.10.2016 19 Uhr

Um kurz nach 19 Uhr parkte er seinen Wagen in der Lucemburska, einer Parallelstraße zur Jagellonska. Es war ein ungemütlich kalter Septemberabend in Prag und ein böiger Wind wehte durch die Straßen. Zwei Ecken war er von seinem Ziel entfernt, dem Haus, in dem er seinen Plan umsetzen wollte. Wie viele Stunden hatte er den Ablauf durchdacht - schlaflos nachts im Bett, im Auto auf einer langen Fahrt oder, wenn seine Gedanken zu seinen innersten Vorstellungen abschweiften. Er hatte sich jeden seiner Schritte bis in die kleinste Einzelheit vorgestellt. Ein ungeheures Hochgefühl durchströmte ihn, denn heute sollte es losgehen. Bei aller Euphorie lauerte aber im Hinterkopf die lähmende Angst vor einem Fehler, die er nicht unterdrücken konnte. Würde nichts schiefgehen bei seinem ‚Ersten Mal‘? Hatte er nichts vergessen, nichts übersehen? Er griff zum Beifahrersitz und zog die große Sporttasche zu sich herüber. Die Tasche war nach einer sorgfältig erstellten Liste gepackt, mit allen Gegenständen, die notwendig waren. Als Erstes ein Ganzkörperanzug mit Kapuze wie ihn die Tatortermittler tragen. Dazu eine dicht anliegende Schutzbrille aus Plastik, um zu verhindern, dass Wimpern, Hautschuppen oder Tränentropfen zu Boden fiel. Plastikhandschuhe und Überzieher für seine Straßenschuhe. Eine große Rolle stabiles, silberfarbenes Gaffaklebeband. Aus seiner Studienzeit besaß er zwei scharfe Skalpelle und Klammern zum Aufhalten von Wunden und hatte diese ebenfalls eingepackt. Für dieses erste Mal hatte er auch eine Kamera mit Stativ und eine kleine aber leistungsstarke Lampe in der Tasche. Zwei Dosen mit schwarzem Sprühlack, um die Fenster lichtdicht zu sprayen sowie eine Lockpickpistole. Wichtig waren der Elektroschocker und ein Metallkästchen mit einer Spritze mit dem Betäubungsmittel Propofol. Als Anästhesist hatte er keine Schwierigkeiten, sich das Medikament zu besorgen. Das Einpacken hatte er anhand der Liste mehrfach überprüft und dann diese über der Toilette im Hotelzimmer verbrannt.

Er griff die Sporttasche und stieg aus. Es war genau 19:14 Uhr. Er bog um die erste Ecke, und dabei sah er sich in der Scheibe eines Zeitungsladens auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Wie so oft schon dauerte es eine Sekunde, bis ihm klar wurde, dass er sich selbst gegenüberstand. Das Bild, das er von sich hatte, war ein völlig anderes. In seiner Vorstellung war er groß, schlank, intellektuell und sensibel. In seiner Jugend war er manchmal mit Peter O´Toole verglichen worden. In den letzten Jahren war sein Gesicht zunehmend aus der Form geraten und er ähnelte jetzt eher dem Schriftsteller Houellebecq. Weiter ging er in Richtung der Jagellonska und um die nächste Ecke. Es waren 50 Schritte bis zu seinem Ziel und er blieb vor der Haustür stehen.

Rechts im Erdgeschoss war eine Pizzeria mit dem Namen ‚Roma‘. Das Gebäude stammte aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und war ein typisches Prager Stadthaus. Auf dem obersten Klingelschild, das zum 2. Stock gehörte, stand der Name Vera Komorova. Vom Auto bis hierher hatte er niemanden gesehen, der ihm entgegengekommen wäre. Unter dem Schirm seiner Baseballkappe spähte er aus dem Augenwinkel nach links und rechts. Kein Fußgänger zu sehen. Er griff in eine Seitentasche der Sporttasche, die er über den Arm gehängt hatte, und holte eine Lockpickpistole heraus, die er vor vier Jahren während einer Ärztetagung in London gekauft hatte. Die Haustür war alt, ebenso das Zylinderschloss. Er setzte die Pistole an und drückte mehrmals den Abzug um die Festhaltestifte in die Position zum Öffnen der Tür zu bringen. Nach wenigen Sekunden hörte er, wie der Schlossriegel zurückfuhr.

Er schob die Haustür auf und betrat das Haus. Das Treppenhauslicht ging nicht automatisch an und in dem düsteren Abendlicht, das durch die wenigen Fenster fiel, stieg er die Treppen hoch bis in den zweiten Stock. Er hielt sich dabei möglichst nahe an der Wand, um zu vermeiden, dass die hölzernen Stufen knarzten. Es war still im Haus. Nur aus einer Wohnung im ersten Stock hörte er leise Klaviermusik und von der Pizzeria im Erdgeschoss kamen die typischen Geräusche und Gerüche. Vor der Wohnungstür von Vera Komorova setzte er die Sporttasche ab. Aus seiner Jackentasche holte er zwei Gummihandschuhe, zog sie an und drückte auf den Klingelknopf. Nach wenigen Sekunden klingelte er nochmals. Es war niemand zu Hause. Das Gegenteil hätte ihn gewundert, denn er hatte vor einer halben Stunde von seinem Auto aus beobachtet, wie Vera Komorova den Kyokushin-Karateclub betrat, in dem sie einmal pro Woche trainierte. Mit der Lockpickpistole öffnete er das Schloss der Wohnungstür, das simpler konstruiert war, als das Schloss unten in der Haustür. Nachdem er die Tür etwas aufgeschoben hatte, verstaute er sie wieder in der Seitentasche der Sporttasche und nahm aus dem Hauptfach zwei Überzieher aus Plastik, die er über seine Schuhe streifte. Er schob die Tür vollends auf, stellte die Tasche auf den Boden unter die Garderobe an der rechten Wand des Flurs und schloss die Tür. Um keine DNA Spuren zu hinterlassen, hatte er die Tasche intensiv mit einer Bleichlösung besprüht, die biologisches Material vernichten sollte. Im Flur stehend nahm er nacheinander den Ganzkörperanzug mit Kapuze, die Gesichtsmaske und die Brille aus der Tasche und legte alles an. Als Nächstes kontrollierte er die Räume der Wohnung. Es bestand ja die Möglichkeit, dass Vera zum Beispiel den Schäferhund einer Freundin für einige Tage zu sich genommen hatte, der in der Küche schlief. Oder ein Freund oder ein Verwandter lag auf der Couch im Wohnzimmer und hörte Musik mit Kopfhörer. Aber alle Räume waren - wie erwartet und erhofft - leer. Die Küche war klein. Eine Kochstelle mit zwei Platten auf einem Regal. Daneben die Spüle und darüber ein Hängeschrank. Hinter der Küchentür brummte laut ein alter Eisschrank. Unter dem Fenster zum Hinterhof stand ein Esstisch mit nur einem Stuhl. Die Möbel waren alle aus billigem Holz, mit Resopal beschichtet und augenscheinlich gebraucht gekauft. Eva Komorova aß wohl überwiegend allein. Im Badezimmer fand er die typischen Accessoires, alles war nur für eine alleinstehende Frau vorhanden. Im Zahnputzglas am Rand des Waschbeckens stand nur eine Zahnbürste. Ein Hängeregal hing daneben mit Tuben und Flaschen zur Hautpflege und zur Reinigung. Das Wohnzimmer, das er als nächstes betrat, war ebenfalls spartanisch eingerichtet. In dieser Wohnung gab es nicht viele Besucher. Eine billig aussehende zweisitzige Couch mit Stoffbezug, daneben ein dazu passender Hocker. Davor ein kleiner Couchtisch. An der gegenüberliegenden Wand stand ein niedriges Regal mit einigen Bücher und CDs und einem Fernsehgerät. Er holte die Sporttasche aus dem Flur und trug sie in das Schlafzimmer. In der rechten Wand war ein großes Fenster, das zum Hof hinausging. Der Eingangstür gegenüber stand das Bett mit dunkelroten Kopfkissen und Bezügen, daneben ein Nachttisch, ein Wecker und Medikamentenflaschen. Ein alter Kleiderschrank befand sich auf der linken Seite.

Er stellte die Sporttasche neben die Tür, nahm die Sprühdosen mit schwarzem Lack heraus und besprühte damit das Fenster im Schlafzimmer von innen und wiederholte den Vorgang. Danach untersuchte er das Bett. Das Kopfteil bestand aus einem durchgehenden Holzbrett. Er würde die Füße des Bettes benutzen müssen, um sein Opfer festzubinden. Er zog es etwas mehr in das Zimmer, um später besser hinter das Kopfende zu kommen. Nachdem er die Oberfläche des Nachttischs leergeräumt hatte, legte er das Klebeband, die beiden Skalpelle, die chirurgischen Klammern und die Spritze mit Propofol darauf. Das Stativ für die Kamera kam vor das untere Ende des Bettes und die LED-Lampe wurde darüber montiert. Da diese von einer Batterie betrieben wurde, war kein Stromkabel nötig. Er nahm den Elektroschocker aus der Tasche und setzte sich im Dunkeln auf einen Stuhl in der Küche. Es war gerade hell genug, um die Uhr an der Wand zu sehen. Auf dieser war es jetzt 20:30 Uhr und Vera Komorova würde gegen 21:45 von ihrem Training nach Hause kommen.

Kapitel 2

Prag Sa. 15.10.2016 21:40 Uhr

Um 21:40 Uhr ging er in den dunklen Flur. Er stellte sich hinter die Wohnungstür. Sobald Vera Komorova ihre Wohnung betrat, war seine Position zwischen der Tür und der Garderobe. Dann war vor allem Schnelligkeit ausschlaggebend. An sie herantreten und den Elektroschocker ansetzen. Draußen schlug eine Kirchenglocke 21:45 Uhr. Seine Konzentration galt jetzt nur der unmittelbaren Gegenwart. Alles andere verschwand in einem schwarzen Loch. Die Anspannung im gesamten Körper war ungeheuer. Dieses Gefühl der vollständigen Fokussierung, die keinem anderen Gedanken Raum ließ, hatte er noch nie in seinem Leben so überwältigend empfunden. In genau diesem Moment empfand er absolutes Glück und Allmacht. Schritte waren aus dem Treppenhaus zu hören. Ein Schlüssel wurde in das Türschloss geschoben und die Tür öffnete sich. Dann geschah alles rasend schnell, aber gleichzeitig kam es ihm so vor, als ob die Ereignisse in Zeitlupe vor seinen Augen vorbeizogen. Vera Komorova trat in die Wohnung. Sie war eine große, kräftige Frau in einer hellen Windjacke und Bluejeans. Über der linken Schulter trug sie einen Beutel und in der rechten Hand den Schlüsselbund. Er trat einen Schritt vor und presste den Elektroschocker an eine freie Stelle an ihrer Halsseite. Dabei legte er den linken Arm um ihren Hals, um mehr Druck ausüben zu können. Den Auslöser für den Stromschlag drückte er länger als in den Gebrauchsanweisungen aus dem Internet angegeben. Die Frau in seinem Arm stieß unartikulierte Geräusche aus und sackte zusammen. Die Tasche und die Schlüssel fielen zu Boden.

Er ließ den Schocker fallen, hielt sie mit den Armen aufrecht und trat mit dem Fuß die Wohnungstür zu. Rückwärts gehend schleppte er sein Opfer bis ins Schlafzimmer und warf es aufs Bett. Er drehte sie auf den Rücken und schob sie hoch, bis ihr Kopf das obere Ende berührte. Nachdem er die Spritze mit dem Propofol vom Nachttisch genommen hatte, legte er ihren Arm über die Bettkante und drückte auf den Unterarm, damit die Venen besser zu sehen waren. Er führte die Nadel ein. Das Propofol zu spritzen war jetzt leicht und nahezu unmittelbar setzte die Bewusstlosigkeit ein. Das Medikament war für etwa eine Viertelstunde berechnet. Am Kopfende stehend, zog er sie zu sich, bis er die Arme hinter der Abschlussplatte des Bettes nach unten ziehen konnte. Er nahm das stabile Gaffa Band vom Nachttisch und wickelte mehrere Lagen um ihr linkes Handgelenk. Dann führte er es bis zu dem Bettfuß auf dieser Seite und um diesen ebenfalls in mehreren Lagen. Das Gleiche wiederholte auf der rechten Seite. Als Nächstes ging er zum Fußende des Bettes. Dort umwickelte er erst ihr linkes Fußgelenk und zog das Klebeband zum Bettfuß auf der linken Seite, wo er es befestigte. Das rechte Fußgelenk spannte er auf gleiche Weise an den rechten Bettfuß. Er achtete darauf, das Band möglichst straff zu spannen. Als Letztes umwickelte er ihren Kopf-und Halsbereich, vor allem in Höhe ihres Mundes, um zu verhindern, dass sie schrie oder um Hilfe rief. Das Wichtigste war jetzt erledigt. Mit einem der beiden Skalpelle, die auf dem Nachttisch lagen, schlitzte er die Ärmel ihrer Kleidung der Länge nach auf und trennte sie an der Schulter ab. Er warf sie auf den Boden und schnitt durch Jacke, T-Shirt und Büstenhalter vom Hals bis zum Becken und zerrte die Fetzen unter ihr hervor. Er streifte die Schuhe und Socken von ihren Füßen und schlitzte ihre Hosen an der Seite und entlang des Reißverschlusses auf und warf die Reste neben das Bett. Jetzt lag Vera Komorova vollständig nackt, betäubt und gefesselt vor ihm.

Nachdem die LED-Lampe eingeschaltet war und ihr grelles Licht die Szene beleuchtete, schaltete er die Kamera ein. Die schwarze Farbe auf den Glasflächen des Fensters verhinderte, dass die Nachbarn auf den Lichtschein aufmerksam wurden. Neben dem Bett stehend, wartete er und betrachtete Vera Komorova. Sie war eine recht große, kräftige junge Frau mit dunklen, kurzen Haaren, der man ihre sportlichen Aktivitäten ansah. Das großflächige und kantige Gesicht war auf eine maskuline Art attraktiv. Langsam kam sie wieder zu Bewusstsein. Ihre Augenlider fingen an zu flattern. Sie versuchte zu sprechen und schlug die Augen auf. Erst nach einigen Sekunden wurde ihr die Lage klar, in der sie sich befand. Es war ihr nicht möglich, sich zu bewegen und ihr Mund war derartig mit Klebeband verschlossen, dass sie kein Geräusch hervorbrachte. Neben ihrem Bett sah sie eine Person stehen, die komplett in Plastik gehüllt war und eine Atemmaske und eine Schutzbrille trug. Darüber eine Kapuze. Die ganze Erscheinung schien aus einem Science Fiction oder aus einem Horrorfilm zu stammen. In ihren aufgerissenen Augen und dem Hin- und Herwerfen ihres Kopfes war ihr namenloses Entsetzen zu erkennen. Er beobachtete ihre Zuckungen eine Weile.

Schließlich nahm er eines der Skalpelle vom Nachttisch und beugte sich über Vera Komorova. Soweit es die straff gespannten Klebebänder zuließen, wand und drehte sie sich. Sie zitterte am ganzen Körper und ihre aufgerissenen Augen zeigten ihr Entsetzen. Während sie ihren Kopf hin- und her schlug, drangen undefinierbare Geräusche durch ihren Knebel. Mit dem Skalpell zog er einen tiefen Schnitt von ihrem Brustbein bis zu ihrem Schambein aus dem tiefrotes und dampfendes Blut heraustrat, das auf beiden Seiten ihres Körpers herablief und sich auf dem Bettlaken in Pfützen sammelte. Im Zimmer verbreitete sich der widerlich süßliche Geruch eines Schlachthauses.

Kapitel 3

2 Jahre später Den Haag Mi 17.10.2018 08:30 Uhr

Um 8:30 Uhr hole ich, wie fast jeden Tag, Sergio bei sich zu Hause ab. Er sitzt neben mir auf dem Beifahrersitz, auf italienische Art lässig gekleidet. Ein blau-weiß gestreiftes Hemd mit dunkelblauen Hosen. Leichte Emilio Adani Boots mit geflochtener Oberfläche und dazu ein dunkelblaues Sakko aus leichter Seide. Ich habe - wie üblich - ein blaues Poloshirt unter einem dunkelblauen Pullover, dazu schwarze Jeans und schwarze Sportschuhe von Adidas. Im Büro hängt immer ein Jackett, wenn mir etwas formellere Bekleidung passend erscheint. Die letzten zehn Kilometer im Auto bis zu unserer gemeinsamen Arbeitsstätte streiten wir ohne Pause. Obwohl – ein richtiger Streit ist es nicht. Eher eine Kabbelei unter Kollegen, die sonst blendend miteinander auskommen. Es geht, wieder mal, um Sport. Genauer: um Juventus Turin und Bayern München oder - ganz einfach gesagt - italienischen und deutschen Fußball. Sergio ist Italiener und leidenschaftlich auf der Seite von Juventus Turin, während ich dagegen für Bayern München Partei ergreife. Mir ist Fußball eigentlich nicht so wichtig, aber diese Kabbeleien machen richtig Spaß. Vor allem, weil Sergio sich bei diesem Thema so schön aufregen kann. Gestern Abend hatte Deutschland in der Nations League gegen Frankreich verloren. 1:2 - das einzige deutsche Tor hatte Kroos geschossen. Welch ein Jubel - zum wiederholten Mal hat Sergio die Gelegenheit mich aufzuziehen.

„Wie kann man nur einen solchen Spieler gehen lassen!“, stichelt er neben mir. Dieses Thema kannte ich schon seit Jahren.

„In eurer Nationalmannschaft dürfen ja keine Italiener und Spanier mitspielen. Sonst wärt ihr bestimmt weiter,“ bohrt er weiter in meiner Wunde. „Macht es doch so wie die Bayern. Thiago, Martinez, Jamez, Tolisso und die anderen halten doch den ganzen Laden zusammen. „

Ich schaue zu ihm hinüber, schüttele den Kopf und seufze. Damit war dieses Wortgefecht zu Ende.

Wir biegen in die Eisenhowerlaan ein. Vor uns auf der rechten Seite liegt das große Gebäude unseres Arbeitgebers, die EUROPOL Behörde, in dem mein Chef Francois de Villiers sein Büro hat und in dem auch unser alleroberster Boss untergebracht ist, seit Mai ist es die Belgierin Catherine de Bolle. Die Abteilung, die ich leite, befindet sich im Haus gegenüber in der Beiwijkstraat. Die JITs – Joint Investigation Teams, die dort ihre Büros haben, gibt es erst seit kurzer Zeit. Mein JIT besteht seit etwa zwei Jahren und ist mit vier Ermittlern besetzt. Man hat mich, Stefan Wagner, vom BKA aus Wiesbaden geholt, wo ich als Kriminalhauptkommissar Dienst tat. Meine Kollegen sind zum einen mein Mitfahrer Sergio Giulini, ein Bilderbuchitaliener, lebhaft, elegant, freundlich - zumindest solange es nicht um Fußball geht - und in der Abteilung mein bester Freund. Er war aus Mailand zu uns gekommen. Die einzige Frau in unserer Gruppe. Lynn Summers kommt aus Manchester. Sie ist schlank, groß und ihre schwarzen Haare trägt sie in einer sportlichen Kurzhaarfrisur. Dazu ist sie – wenn man es positiv formulieren will – äußerst konfliktfreudig. In alle Diskussionen geht sie mit Volldampf, zum Ausgleich dafür ist sie nicht nachtragend, wenn sie einmal nachgeben muss. Unser vierter Kollege ist Pole und kommt aus Kattowitz. Radek Pochylzcuk ist nicht besonders groß und etwas rundlich. Er spricht sehr wenig. Der Schachmeister 2015 der polnischen Universitäten ist unser anerkanntes Computergenie. Bei der Diskussion zu komplizierten und undurchschaubaren Lagen, wie sie bei unseren internationalen Ermittlungen häufig vorkommen, sagt er oft nur einen Satz und der ist in den meisten Fällen in der Tat die Lösung.

Von der Eisenhowerlaan biege ich nach links in die Tiefgarage ein und parke im dritten Untergeschoss auf einem der Plätze für Mitarbeiter. Mit dem Aufzug fahren wir in den zweiten Stock zu unserer Abteilung. Zwei Räume am Ende des Flures für jeweils zwei Beamte und einem Durchgang, der beide Räume verbindet. Die Zimmer sind identisch eingerichtet. Für jeden gibt es einen Schreibtisch aus hellem Holz in gehobenem IKEA-Look und einen bequemen Drehstuhl. Die Arbeitsplätze sind selbstverständlich mit PCs und der dazu gehörenden Elektronik ausgestattet. In Sergios und meinem Zimmer, das ein wenig größer ist, steht in einer Ecke ein runder Tisch und vier Stühle, die für Besprechungen oder Besucher gedacht sind. In den hellen Wandregalen stapeln sich Handbücher aus dem Bereich Polizeirecht aus verschiedenen europäischen Ländern und die Akten der letzten Fälle, die wir bearbeitet haben. Eine Maschine für Kaffee und Tee und ein Eisschrank für Cola, Wasser etc. steht vor der Zimmertür am Ende des Flurs. Lynn und Radek sind wie immer noch nicht da. Radek raucht vermutlich die letzte Zigarette draußen vor dem Gebäude und Lynn zieht in der Wohnung ihrer letzten Eroberung in aller Eile ihre üblichen schwarzen Klamotten an. Sergio und ich setzen uns an unsere Plätze in unserem Zimmer und starten als Erstes die PCs um einen Blick auf die E-Mails zu werfen. Großes Thema im Intranet unserer Behörde ist natürlich das Verschwinden des Chefs von Interpol, Meng Hongwei, der nach seiner Ankunft in China vermisst wurde. Es gibt alle möglichen Diskussionen und Verschwörungstheorien zu diesem Fall. Er beschäftigt viele in unserer Behörde, denn wir arbeiten häufig mit Interpol zusammen und ein solches rätselhaftes Verschwinden eines der ranghöchsten Polizeibeamten ist noch niemals vorgekommen. Ich höre wie Radek und Lynn gemeinsam das nebenanliegende Bürozimmer betreten. Lynn redet in ihrem rapiden Englisch auf Radek ein, der dazu gar nichts sagt. Das ist die übliche Geräuschkulisse aus dem Nebenzimmer.

Eine der E-Mails mit dem Vermerk ‚dringend‘ kam vom Chef im Hauptgebäude. Francois de Villiers bittet sobald wie möglich mit dem Rest meiner Truppe in sein Büro zu kommen. Ich wende mich an Sergio und frage ihn auf Englisch, das ist die die vereinbarte Amtssprache in unserer Behörde:

„Sergio, der Chef will uns sehen. Hast du heute noch einen Termin oder ein terminiertes Telefongespräch?“

„Nein, heute habe ich keine Termine. Ich muss am Nachmittag mit der Fahrbereitschaft telefonieren, damit wir möglichst immer dieselben Fahrzeuge bei Außeneinsätzen bekommen. Darüber hatten wir bereits mehrmals gesprochen.“

Als Italiener hadert Sergio andauernd mit den Wagen, die uns aus dem Fahrzeugpool gestellt werden. Ein Porsche ist dabei nicht drin, und noch viel weniger ein Maserati. Alle Mitarbeiter haben Zugriff auf die Fahrzeuge, die von den Abteilungen Korruption und Betrug sichergestellt werden. Darunter sind immer einige spektakuläre Luxuswagen. Aber Sergio kommt mit seinem italienischen Temperament nicht besonders gut mit den älteren, niederländischen Beamten in der Verwaltung zurecht. Ich muß selbst einmal mit ihnen sprechen. Vielleicht springt ein schicker Fiat 500 für Sergio dabei raus.

„Dann können wir gleich mal zum Boss rüber. Ich klär das noch mit den Anderen.“

Ich öffne die Durchgangstür zu dem angrenzenden Büro. Beide sitzen vor ihren Bildschirmen. Radek benutzt als einziger in unserer Abteilung drei Monitore und für seinen ganz speziellen Job benötigt er auch so viele. Er sieht in seinem Uraltpullover etwas schlampig und wie immer verschlafen aus. Lynn in ihrer üblichen schwarzen Lederhose und einem schwarzen AC/DC Shirt versprüht ihre immense Energie – ebenfalls wie immer. Hinter ihr hängt ein Poster von Lana Lang als Superwoman mit Stiefeln und Lederjacke.

„Guten Morgen ihr beiden. Wir müssen rüber zum Boss. Habt ihr jetzt Zeit?“

Radek nickt stumm. Lynn meint:

„Alles Ok. Wenn es wieder um die alte Geschichte mit der ‚unverhältnismäßigen Gewaltanwendung‘ geht, werde ich aber wirklich sauer. Das Arschloch hat mich angegrapscht und da habe ich wohl das Recht ihm eine rein zu hauen.“

„Darum geht es bestimmt nicht, sonst müssten nicht wir alle vier bei ihm antanzen. Ich mache gleich einen Termin aus und gebe euch Bescheid.“

Zurück an meinem Schreibtisch sende ich eine E-Mail an Renate Brucker, die Sekretärin unseres Chefs. Wir können um 12 Uhr kommen. Viele Grüße, Stefan

Bitte um 11 Uhr Gruß Renate, kommt die rasche Antwort.

Ich sage Sergio Bescheid und rufe durch die offene Verbindungstür ins Nebenzimmer „10 Minuten vor 11 Abmarsch nach drüben“. Ich höre nur ein undefinierbares Murmeln von Lynn als Reaktion. Nachdem ich mir einen Kaffee von der Maschine im Flur geholt habe, beschäftige ich mich während der nächsten Stunde wieder mit dem Einsatzbericht von voriger Woche. Zweihundert Beamte bei der Polizei und bei Steuerbehörden führten bei Razzien achtundfünfzig Hausdurchsuchungen bei Fußballvereinen und Spielerberatern in Brügge, Mechelen und anderen Städten durch und ermitteln jetzt wegen des Verdachts auf Korruption, Geldwäsche und organisierte Kriminalität. Beteiligt war unsere Abteilung gemeinsam mit den Finanz-und Steuerbehörden.

Kapitel 4

Den Haag Mi 17.10.2018 11:50 Uhr

Um 10 Minuten vor 11 versammeln wir vier uns auf dem Flur. Gemeinsam verlassen wir unser Gebäude durch den Nebeneingang auf der Rückseite, der auf die Eisenhowerlaan hinausgeht. Gegenüber steht die große EUROPOL Zentrale. Wir marschieren mit unseren ID-Karten durch die Sperre am Eingang, wie immer beobachtet vom Wachpersonal. Mit dem Aufzug fahren wir in den vierten Stock hoch und gehen durch den langen verwinkelten Flur bis zu den Büroräumen meines Chefs Francois de Villiers. Im Vorzimmer sitzt seine Sekretärin Renate Brucker.

„Seid ihr schon da? Gut, ihr könnt gleich durchgehen“, sagt sie. De Villiers sitzt hinter einem antiken Schreibtisch, den er selbst aus seinem Schloss in Südfrankreich mitgebracht hatte. Er trägt einen perfekt geschnittenen dunkelblauen Anzug zu einem blendend weißen Hemd und der üblichen blau-grünen Krawatte, die, wie ich erfahren habe, das Erkennungszeichen seines Klubs an der Universität Oxford ist. Er ist ein Karrierebeamter aus Frankreich mit einem hohem Selbstbewusstsein und allerbesten Verbindungen. Und er legt größten Wert auf äußerste Pünktlichkeit, weswegen wir frühzeitig zum Termin aufgebrochen waren.

„Chère Madame e Messieurs“, begrüßt er uns jovial und charmant. „Nehmt Platz, es wird etwas länger dauern.“

Aus einer Ecke holen wir uns vier Stühle, die um einen Besprechungstisch aufgestellt sind, und setzen uns vor den Schreibtisch.

„Erster Punkt: Stefan, wie weit bist du mit deinem Bericht über die Razzia vorige Woche?“

„Ich denke, dass ich bis morgen fertig bin.“

„Mail ihn bitte gleich an Renate, damit ich alles durchsehen kann. Jetzt zum aktuellen Problem: Wie ihr wisst, sind unsere Hauptaufgabengebiete Internationaler Terrorismus, Menschenhandel und Drogenschmuggel. Wir wollen uns zukünftig unter anderem um grenzüberschreitende Schwerverbrechen z.B. Mord und Entführungen kümmern, so wie es eim FBI schon lange üblich ist.Gerade ist ein akuter Fall eingetreten. Zwei Mordfälle. Der erste geschah 2017 in Duisburg und der zweite in diesem Jahr in Lyon. Beide Opfer sind junge Frauen und es gibt einen praktisch identischen Modus Operandi. Es handelt sich um ungewöhnlich grausame Taten. Ich lasse euch die Einzelheiten mailen und ihr setzt euch bitte sofort mit den entsprechenden Polizeibehörden in Verbindung.“

„Wie sollen wir jetzt vorgehen?“, frage ich.

„Ich schlage vor, dass ihr zwei Teams bildet. Zum Beispiel Team Eins mit Stefan und Radek und Team Zwei mit Sergio und Lynn. Stefan fährt nach Duisburg und Sergio nach Lyon. Dort könnt ihr euch mit den zuständigen Polizisten zusammensetzen. Ist das so in Ordnung?“

Wir nicken. Sergio ein wenig zögerlich. Mit Lynn hat er, diese Erfahrung haben wir alle gemacht, eine Handgranate kurz vor der Explosion an Bord. Andererseits war auf sie in brenzligen Situationen absolut Verlass. Ich war im Team mit Radek zusammen, der keine Stimmungskanone, aber ein äußerst aufmerksamer Kollege mit einer ausgezeichneten Beobachtungsgabe ist.

„Dann ist das so beschlossen“, fährt de Villiers fort. „Gebt das bitte bei Renate an. Sie setzt sich mit dem BKA in Wiesbaden und dem Innenministerium in Paris in Verbindung. Die melden euch bei den lokalen Behörden an. Heute Nachmittag müsste das erledigt sein.“

„Welche Befugnisse haben wir bei solchen Ermittlungen?“, fragt Sergio.

„Ihr sollt erst mal nur beraten und Ähnlichkeiten bei den Fällen herausarbeiten. Dazu auch ermitteln, aber bitte sehr zurückhaltend gegenüber der Zivilbevölkerung, also keine Befragungen oder Festnahmen vornehmen. Passt ein bisschen auf die Empfindlichkeiten der dortigen Kollegen auf. Die sehen die Mitarbeit von EUROPOL manchmal sehr kritisch. Über das Verhältnis von FBI zur US-Polizei gibt es viel Negatives zu lesen und auch das BKA tut sich bei örtlichen Polizeibehörden manchmal ebenfalls etwas schwer. Also keine Arroganz und, bitte, Lynn hau keinem Kollegen dort auf die Nase.“

„Sagen Sie mal, was denken Sie von mir. Ich verhalte mich doch immer vorbildlich“, protestiert Lynn sofort.

„Der Vorfall vorige Woche bei der Razzia in Rotterdam ist bereits auf meinem Tisch gelandet. Der Mann, mit dem du dich unterhalten hast, musste anschließend ärztlich versorgt werden. Ich kenne den Polizeidirektor von Rotterdam gut und die haben inoffiziell dem Geschädigten angedeutet, dass du vom CIA bei dem Einsatz dabei warst. Und denen traut ja jeder alles zu. Aber bitte keine weiteren Eskapaden. Du weißt, Lynn, irgendwann ist eine Verwarnung unausweichlich.“

Gott sei Dank hält Lynn jetzt ihre große Klappe und wir verabschieden uns. De Villiers macht einen überaus zivilisierten, kultivierten und manchmal einen etwas abgehobenen Eindruck. Aber wir wissen, dass er kompromisslos hinter seinen Untergebenen steht und diese immer in Schutz nimmt. Er hatte in Frankreich lange Rugby gespielt und war ein Jahr Abteilungsleiter bei RAID (Recherche, Assistance, Intervention, Dissuasion), eine Einheit mit der, wegen ihrer notorischen Rücksichtslosigkeit, niemand gerne zu tun hat. Beim Rausgehen informiere ich Renate über das Ergebnis der Besprechung und die Zusammensetzung der Teams. Sie verspricht mir, sich zu melden, wenn sie mit Wiesbaden und Paris gesprochen hat.

Kapitel 5

Den Haag Mi 17.10.2018 12:00 Uhr

In der gemeinsamen Mittagspause sitzen wir um den runden Tisch in unserem größeren Büro, das ich mir mit Sergio teile. Duisburg ist sicher nicht die aufregendste Stadt Europas. Da hatten es Sergio und Lynn mit Lyon ganz bestimmt besser getroffen. Vor der Zeit beim BKA war ich 10 Jahre in Stuttgart bei der Kripo. Wegen meines Studiums an der Hochschule für Polizei in Gelsenkirchen kenne ich das ganze Ruhrgebiet und Duisburg ein wenig. Es stellt sich heraus, dass Radek Verwandte im Ruhrgebiet hat. Ich erinnere mich an ein Fußball-Länderspiel aus einer Zeit, in der Schalke 04 aus Gelsenkirchen eine große Zahl an Nationalspielern stellte. Das war, glaube ich, im Jahr 1958. In der deutschen Mannschaft spielten damals neben anderen die Schalker Juskowiak, Szymaniak und Cieslarczyk. Bei Schalke selbst spielten noch einige Spieler mehr mit polnischen Namen. Bei einem Länderspiel gegen Polen hatte der Radiosprecher seine liebe Mühe mit der Aussprache der Namen der polnischen und der deutschen Spieler.

„Du kannst doch mal deine Verwandten besuchen“, meine ich. Radek murmelt nur und es klingt nicht begeistert. Wahrscheinlich sitzt er lieber in seinem Hotelzimmer vor dem Laptop. Sergio hingegen freut sich schon auf Lyon. Er spricht etwas Französisch. Das ist bestimmt ganz nützlich, denn je nachdem, an wen man gerät, kommt man mit Englisch in Frankreich nicht sehr weit. Nicht dass die Franzosen nicht könnten, aber viele von ihnen wollen nicht. Vor allem wenn ein englischsprechendes Großmaul wie Lynn etwas will. Aber Sergio mit seiner freundlichen und verbindlichen Art kommt da bestimmt gut zurecht.

„Ihr müsst euch die Gänge in den Blocks auf dem anderen Ufer der Saône anschauen, die sind toll anzusehen. Und macht einen Bogen um die Brasserie Le Sud an der Rhone. Da steht zwar Bocuse drauf, es ist aber nur mittelmäßig und teuer.“ Ich war im vorigen Jahr in Lyon und die Stadt hatte mir sehr gut gefallen.

Nach der Mittagspause setze ich mich wieder an den Bericht. Einige Male muss ich Lynn und Sergio hinzuziehen. Sie waren bei dem Einsatz ebenfalls dabei gewesen. Lynn hat überwiegend in Rotterdam ermittelt. Es ging um Korruption, Geldwäsche und organisierte Kriminalität. Dabei wurden Hausdurchsuchungen bei elf Profivereinen durchgeführt und ein paar Fußballbonzen und Spielerberater festgenommen.

Um 15 Uhr ruft Renate aus dem Vorzimmer von de Villiers an. Sie hat alles Nötige über Wiesbaden und Paris in die Wege geleitet. Bis zum nächsten Morgen kündigt sie die Unterlagen an. Anschließend bekommen wir die Namen der direkten Ansprechpartner bei der Polizei in Duisburg und in Lyon. Außerdem vorab die Kopien der jeweiligen Fallakten per Mail. Die Hotelreservierungen sind bald fertig. Um kurz nach 17 Uhr schicke ich meinen Bericht an Renate. Wir machen alle Schluss für heute. Nachdem ich Sergio nach Hause gefahren habe, bin ich gegen 18 Uhr zu Hause.

Ich ziehe meine Joggingklamotten an und verlasse die Wohnung wieder. Ich habe das Glück, in der Nähe eines großen Parks am Rand von Den Haag zu wohnen. Es geht nur über zwei ruhige Vorstadtstraßen hinweg und schon bin ich unter Bäumen auf den Parkwegen. Ich laufe keine großen Strecken und nicht sehr schnell und es ist mir völlig egal, ob mich jemand überholt, ganz gleich ob Männlein oder Weiblein. Es geht mir mehr um eine Art Nachdenken in der Natur. Es mag für manche lächerlich klingen, aber ich habe beim Laufen ein archaisches Gefühl der Verbindung zu Heimat und Umgebung. Ab und zu sehe ich dabei vor meinem inneren Auge ein Bild von einem Ururahn in spärlicher Kleidung und mit einem Speer in der Hand durch eine Savanne laufen. Nach etwa fünf Kilometern bin ich wieder zu Hause. Kurz unter die Dusche und danach in weite, lockere Jeans und Sweatshirt. Ich setze mich mit einem Thunfisch-Sandwich und einer Flasche mit alkoholfreiem Bier an den Esstisch in meiner Küche. Dann nehme ich das Handy und rufe meine Schwester an.

Claudia ist, mit 38, vier Jahre jünger als ich. Sie lebt seit acht Jahren mit Alberto Grandi zusammen und beide haben im Vorjahr geheiratet. Alberto ist Musiker, Keyboarder und Leiter der Band ‚Sound Explosion‘. ‚Sound Explosion‘ ist eine sogenannte Gala-Band, das heißt eine Coverband, die keine eigene Kompositionen spielt, sondern bekannte Hits und Evergreens. Sie ‚covern‘ keine spezielle Band wie zum Beispiel AC/DC oder die Beatles oder spielen nur einen besonderen Musikstil. Dadurch sind sie sehr beliebt bei großen Festen und Galas. Diese Bands haben zu jedem Moment einer Veranstaltung das richtige Programm. Ein Wiener Walzer für das Hochzeitspaar, ‚Auld Long Syne‘ am Silvesterabend um 24 Uhr, mit drei Musikern direkt am Tisch ein Geburtstagsständchen. Der typische Abend fängt mit Dinnermusik als Begleitung zum Essen an – dezent und nur instrumental. Zwischen den Gängen etwas Besonderes „I will always love you“ von Whitney Houston oder ein Panflötensolo. Zu Beginn der Tanzmusik Evergreens, die jeder kennt – von Elton John bis zu Lionel Ritchie. Bei älterem Publikum mal einen Langsamen Walzer oder einen Foxtrott. Danach, nach den ersten Gläsern Wein, wenn die Stimmung steigt und es lauter wird steht Discomusik auf dem Programm - Gloria Gaynor und Kool and the Gang. Ab zwölf Uhr geht dann die Post ab. Mit den modernsten Charthits und Musik vom Ballermann. Zum Schluss gegen ein oder zwei Uhr gibt es Standing Ovations und die Leute sind begeistert. Leider werden diese Auftritte zurzeit immer seltener. Der Grund ist das Aussterben von richtigen Künstleragenturen, die diese Bands kennen und wissen, dass es so etwas überhaupt gibt. Die Veranstaltungsplanung liegt heute oft in den Händen von Werbeagenturen, mit denen die veranstaltenden Firmen arbeiten. Und die meist jungen Werbefuzzis suchen eine Band, die genau die Musik spielt, die sie selbst mögen. Und diese Musik geht schon von Anfang an der Hälfte der Gäste auf die Nerven und spätestens ab zehn Uhr dem Rest. Darüber weiß ich so gut Bescheid, weil ich selbst schon in der Band von Alberto spielte. Er und Claudia wohnen in Düsseldorf und in den dortigen großen Hotels finden eine Menge dieser Firmengalas statt. Dadurch haben sie Gott sei Dank ziemlich viel zu tun.

Claudia meldet sich mit „Pronto“, so wie sich Italiener melden. Das hat sie von Albertos Familie übernommen.

„Hallo Claudia, hier ist Stefan. Wie geht es euch. Ich muss vielleicht am Freitag nach Duisburg. Wollen wir uns treffen?“

„Bei uns ist alles OK. Wir spielen am Samstagabend im Hilton hier in Düsseldorf. Du kannst selbstverständlich bei uns wohnen. Nach Duisburg fährt sogar eine Straßenbahn.“

„Daran habe ich schon gedacht, aber ich will euch nicht stören.“

„Aber nein! Wir freuen uns, wenn du kommst. Am Freitagabend haben wir eine kurze Probe für zwei neue Stücke. Falls du Lust hast, kannst du wieder mal mitspielen.“

„Wenn es Ok ist, komme ich am Freitagabend an. Ich fahre zuerst nach Duisburg. Geht das in Ordnung?“

„Ja natürlich. Dann bis Freitag.“

Vor meiner Polizeiausbildung habe ich vier Jahre an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf Musik studiert, mit dem Hauptfach Schlagzeug. Schon während der Schulzeit spielte ich Drums in einer kleinen Band und später im Studium in einer sehr bekannten Düsseldorfer Tanzband. In dieser Zeit hatte ich Alberto kennen gelernt, der in einer konkurrierenden Band der Keyboarder war. Und so kam dann durch mich meine Schwester mit Alberto zusammen. Nach dem Abschlussexamen an der Hochschule, das ich entgegen meiner Erwartungen in der Tat bestand, ging ich lieber zur Polizei. Das Leben als Musiker war mir zu unsicher. Es ist ein schwerer Beruf mit vielen Existenzsorgen, vor allem als Freiberufler.

Der CD-Player spielt meine aktuelle Lieblings-CD ‚Nightfly‘ von Donald Fagen und ich lese etwa eine halbe Stunde in einem Schwedenkrimi. Danach gehe ich ins Bad und anschließend ins Bett. Am nächsten Tag will ich ausgeschlafen sein. Ich weiß, dass eine große Menge Papierkram auf uns alle wartet.

Kapitel 6

Den Haag Do 18.10.2018 08:30 Uhr