Es könnte so einfach sein - Anne Handorf - E-Book

Es könnte so einfach sein E-Book

Anne Handorf

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Beschreibung

Eine Bestsellerautorin in der jungen Bundesrepublik.
Eine Ehe voller Respekt und Humor. Und das Ringen um Anerkennung einer Frau in männderdominierten Zeiten.


»Liebe. Im Leben geht es um die Liebe zu dem Menschen, neben dem man aufwachen möchte. Beim Schreiben geht es darum, auch mal was anderes als ›Liebe‹ zu schreiben. Zahnpasta. Oder Bettdeckenzipfel. Oder Urvertrauen.«

Ein Sonntag im September 2005: Noch vier Wochen bis zur Wahl der ersten Kanzlerin für Deutschland, nur noch achtundzwanzig Tage für Bestseller-Autorin Vera Albach, um ihren Roman im Rekordtempo zu Ende zu schreiben. Nachdem sie in den 1960-ern mit Heftromanen begonnen und sich in einer Männerwelt durchgesetzt hat, soll dies ihr letztes Buch sein, sie hat es ihrem Mann Leo versprochen. Doch so einfach wie gedacht ist es nicht, das Loslassen. Vielleicht braucht es im echten Leben wie in jedem guten Buch eine kleine Überraschung vor dem großen Glück?

Eine Frau, die es wagt zu träumen, eine Ehe auf Augenhöhe – und eine jahrzehntelange Liebe, getragen von Respekt, Verständnis und einem lebensklugen Humor.

»Die Geschichte einer Frau, die ihr Ziel verfolgt, unbeirrt und unermüdlich. Gestützt von der Liebe eines Mannes, ebenso unbeirrt und unermüdlich. Glück und Erfolg bekommen in diesem bezaubernden Buch eine ganz neue Bedeutung.« GISA PAULY

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Seitenzahl: 369

Veröffentlichungsjahr: 2025

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ANNEHANDORF ist das Pseudonym von Carla Grosch und Volker Jarck – beide in unterschiedlichen Rollen in der Buchbranche tätig. Ihr erster gemeinsamer Roman »Es könnte so einfach sein« entstand über 564 Kilometer Entfernung hinweg in schönstem Einvernehmen – und erzählt eine mögliche Geschichte über unser Land und darüber, wie Frauen es verändern.

»Liebe. Beim Lesen geht es um die Liebe zu dem Menschen,

neben dem man aufwachen möchte. Beim Schreiben geht es darum, auch mal was anderes als ›Liebe‹ zu schreiben. Zahnpasta. Oder Bettdeckenzipfel. Oder Urvertrauen.«

Ein Sonntag im September 2005:

Noch zwei Wochen bis zur Wahl der ersten Kanzlerin für Deutschland, nur noch 14 Tage für Bestseller-Autorin Vera Albach, um ihren Roman im Rekordtempo zu Ende zu schreiben. Nachdem sie in den 1960ern mit Heftromanen begonnen und sich in einer Männerwelt durchgesetzt hat, soll dies ihr letztes Buch sein, sie hat es ihrem Mann Leo versprochen. Doch so einfach wie gedacht ist es nicht, das Loslassen. Vielleicht braucht es im echten Leben wie in jedem guten Buch eine kleine Überraschung vor dem großen Glück?

Eine Frau, die es wagt zu träumen, eine Ehe auf Augenhöhe – und eine jahrzehntelange Liebe, getragen von Respekt, Verständnis und einem lebensklugen Humor.

www.cbertelsmann.de

Anne Handorf

Es könnte so einfach sein

Roman

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Copyright © 2025 C. Bertelsmann in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Vermittelt durch Graf & Graf und Literatur- und Medienagentur

und Literaturagentur Monika Kempf

Lektorat: Bianca Dombrowa

Umschlaggestaltung: © buxdesign | Lisa Höfner unter Verwendung einer Malerei von Lori Mehta (http://www.lorimehtaart.com)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-32637-1V003

www.cbertelsmann.de

»Insgeheim – tief, tief drinnen – nahm ich mich ganz und gar ernst! Ich wusste, dass ich eine Schriftstellerin war. Ich wusste nicht, wie schwer es werden würde. Aber so etwas weiß niemand, und es zählt auch nicht.«

Elizabeth Strout: Die Unvollkommenheit der Liebe

»Wer ein Geheimnis mit sich trug in diesem Leben – ob klein, ob groß, leicht oder schmerzhaft –, der sollte ganz gewiss auch einen Lieblingsmenschen an der Seite haben, dem er sich anvertrauen könnte, früher oder später.«

Hagen C. Wallner: Lange her und nicht vorbei

»If you want a happy ending, that depends, of course, on where you stop your story.«

Orson Welles: The Big Brass Ring

Es war der zweite Sommer im Frieden,

und Vera saß neben ihrem großen Bruder auf der knarrenden Bank hinterm Haus. Sie schielte rüber zum Kastanienbaum auf dem Hof nebenan, wo der Nachbarsjunge Leo schon auf sie wartete, dösend im Schatten.

Ein Blatt auf dem Schoß, einen kurzen Bleistift zwischen kurzen Fingern, schrieb Vera:

unser Dorf

ein Ferd Pferd

der Hut

die WiseWihse Wiese

mein Buh

»Fertig, Ulrich!«

Sie strahlte.

»Fünf neue Wörter. Bekomme ich jetzt die fünf Kirschen?«

»Vier.«

Ihr Bruder zählte die Früchte von einer Hand in die andere.

»Die fünfte bekommst du, wenn dein Buch fertig ist.«

Teil eins

Sonntag, 21. August 2005,Münster

Wie schwer kann das sein.

So oft schon hat Vera Albach diesen Satz auf die Notizzettel neben ihrer Schreibmaschine geschrieben, ohne Fragezeichen und ganz langsam, die Buchstaben ausgemalt, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Und jedes Mal aufs Neue fragt sie sich, wie sie nur auf den Gedanken hat kommen können, dieses Buch würde sie nun aber wirklich einfach so runterschreiben. In einem Rutsch.

Von wegen.

Nichts rutscht, alles klemmt, und ihr läuft die Zeit davon.

Egal wie oft Vera an diesem Morgen mit den Fingerspitzen über die verbleibenden Kalenderblätter vom August und September 2005 streicht: Nur noch vier Wochen, und sie wird sich die große Party zu ihrem fünfundsechzigsten Geburtstag vermasseln, wird weder feiern können noch wollen, wenn sie das Manuskript nicht bis dahin abgegeben hat – fertig, pünktlich und vertragsgemäß.

So hat sie es immer gehalten: Sie wird in diesem Leben keine Deadline reißen. Den 18. September hat sie zugesagt – und sie hätte ohnehin keinen Spaß bei ihrem eigenen Fest, solange da noch eine unfertige Geschichte rumliegt.

Und jetzt – findet sie keinen Einstieg. Außerdem hat sie schlecht geschlafen nach dem fürchterlichen Streit gestern auf dem Friedhof.

Aber sie hat keine Wahl. Muss zwölfeinhalb Seiten schreiben. Ab heute jeden Tag, achtundzwanzig Mal. Bisher hat sie nur ein paar Überschriften produziert, Seiten, auf denen nicht mehr steht als ((hier Widmung einfügen)) oder Kapitel 1 oder Die Autorin bedankt sich bei: …

Sie wird nicht fertig werden, wenn sie nicht anfängt. Ein Kapitel pro Tag. Sie muss mit der Geschichte beginnen, und zwar sofort. Und eigentlich weiß sie ja längst, welche Geschichte sie erzählen will. Erzählen muss. Und sie weiß nur zu gut, warum sie sie bisher zwar halb im Kopf, aber noch nichts auf dem Papier hat.

Ach Mensch, wie schwer kann das sein.

Ziemlich.

Es ist heute nicht einmal zu kalt. Das ist sonst immer ein guter Grund, um sich noch mal aus dem Lederpolster zu stemmen: gegen das leichte Frösteln einen Pullover aus dem Schlafzimmer holen, auf dem Rückweg in aller Ruhe die Usambaraveilchen auf der Fensterbank inspizieren und zwischen den kleinen pelzigen Blättern nach Ideen suchen. Auch Nero liegt satt und zufrieden auf dem dicken Kissen auf der Kommode, von dem aus er, wenn er denn mal blinzelnd die Augen einen Spalt weit öffnet, die Vögel oder das Eichhörnchen auf dem Pfirsichbaum hinten im Garten beobachtet.

Keine Idee für den Einstieg heute Morgen. Gestern übrigens auch nicht. Und den Glückspullover hat sie vorhin schon angezogen, bevor sie sich zu Leo an den Frühstückstisch gesetzt hat. Er hat wissend in seinen Kaffee geschmunzelt und nichts weiter gesagt als: »Oh, blau.«

Ja, genau, es ist der Tag des blauen Cashmere-Pullis, der das Glück bringen soll, wenn der Fleiß sie verlässt, die Schreibdisziplin, wenn die Einfälle stocken oder die Sorge um einen Lieblingsmenschen sie ablenkt.

Den blauen hatte sie an, als sie Die halben Ewigkeiten beendete und auch an dem Tag, als sie per Hand die letzten sieben Kapitel von Das ganz große Einmaleins noch einmal komplett über den Haufen warf: in einem Großraumwagen der Deutschen Bahn zwischen Münster und München, mit vier Bountys, fünf Cappuccinos und einer Oberleitungsstörung, die ihr die entscheidende zusätzliche Stunde Überarbeitungszeit verschaffte. Das muss Anfang der 1990er gewesen sein, ohne Laptop, nur mit ihrem Faber-Castell-Druckbleistift und einem Collegeblock. Im Hotel angekommen, sprach sie ihrer Lektorin auf den Anrufbeantworter: Der Roman sei fertig, und große Teile ihrer Handschrift in den Druckfahnen könne man sogar entziffern, es müsse vielleicht nur noch jemand abtippen, kurzfristig …

Dann warf sie den blauen Pullover auf die Kopfkissen-Schokolade und ließ sich das beste heiße Bad ihres Lebens ein.

Wenn nichts mehr geht, sprach damals die Schaumblase auf ihrer Hand wie eine Kristallkugel, dann glaub an dich selbst, Vera Albach, und an die Kraft vom blauen Cashmere. Seitdem war der Pulli eigentlich gesetzt für die Tage der letzten, nicht der ersten Sätze. Sie trägt ihn heute, bei 21 Grad Außentemperatur, ausnahmsweise und nur ein bisschen abergläubisch, um endlich loszulegen. Und dann wird sie ihn in vier Wochen wieder überstreifen, um feierlich mit letzter Kraft das E, das n, das d und noch einmal das e anzuschlagen. Doch von diesem unwahrscheinlichen Moment trennen sie noch 350 Seiten.

Beim Brötchen mit Pfirsichmarmelade hat Leo sie höflich und bestimmt daran erinnert, dass um 20:43 Uhr die Sonne untergehen werde.

»Ja, und?«

»Vom Waldspaziergang sollten wir im Hellen zurück sein.«

»Und wenn wir das Auto nehmen?«

»Dann machen wir keinen Spaziergang, Vera.«

Sie rollt die Augen.

»Kein Schreibtag ohne Waldspaziergang«, fügt er hinzu und schenkt Kaffee nach.

Als ob sie das nicht wüsste. Vor zehn Jahren hat Leo nach Veras Bandscheibenvorfall diese Routine eingeführt, aber sie haben sie schleifen lassen. Bis sie den letzten Neujahrstag in der Notaufnahme des St. Franziskus Hospitals verbringen mussten, weil der Schmerz so unvermittelt und heftig in Veras Kreuz gefahren war, dass sie nicht mehr aufstehen konnte und Leo die Ambulanz rief. Einige Wochen später fragte ihr Hausarzt ganz unverblümt: »Frau Albach, wo waren Sie eigentlich während der Physio-Termine, die ich Ihnen verschrieben habe? Im Reich der Fantasie?«

Und deswegen sagt sie jetzt zu ihrem Mann: »Du klingst wie Dr. Hermann.«

»Ich bin sein verlängertes Stethoskop«, entgegnet Leo ungerührt. »Also: kein Schreibtag ohne Bewegung. Bitte.«

»Neulich hast du gesagt, kein schreibfreier Tag ohne Bewegung.«

»Genau. Gar kein Tag mehr ohne Bewegung.«

»Leo, können wir mit dem Auto an den Waldrand fahren, bitte? Nur heute? Ich brauche jede Minute.«

»Dein Rücken braucht Entlastung. Milch?«

Sie schüttelt den Kopf. »Mein Verlag braucht ein Manuskript.«

»Und deine Bandscheibe braucht Bewegung.« Kopfschüttelnd sucht Leo nach einem Platz für das Milchkännchen.

»Und mein letztes Buch?«

»Ich geb’s auf.«

»Du bist der Beste.«

»Bin ich nicht, und das weißt du. Jetzt geh schon an deinen ungesunden Schreibtisch.«

Vera zögert. »Ach, weißt du …«

Leo verschränkt die Arme und sieht sie prüfend an.

»Lass mich raten: Du weißt nicht wirklich, wie du die Geschichte erzählen willst. Und du grübelst wegen gestern …«

»Ich sollte die Kleine noch mal anrufen.«

»Klein ist sie längst nicht mehr. Gib ihr Zeit, Vera.«

»Es lässt mir keine Ruhe. Sie kann doch nicht einfach …« Vera stockt, schluckt und wechselt dann das Thema: »Wie kommst du überhaupt darauf, dass ich nicht weiß, wie ich schreiben soll?«

»Erstens«, Leo hebt den Zeigefinger, »du trägst den blauen Pullover, zweitens: rote Flecken am Hals, wenn ich frage, wie du vorankommst, drittens: Du brütest schon so lange allein darauf herum, dass ich vermute, du hast Angst vorm ersten Satz, vorm ersten Kapitel.« Drei Finger sind in der Luft.

Vera spitzt die Lippen. Nicht weniger als vor dem letzten, denkt sie. »Und? Was wäre, wenn es so wäre?«

»Du könntest mit mir sprechen?«

»Und dann?«

Würde Leo ihr zumindest ein paar Gedanken zuwerfen. Aber das käme ihr wie ein Zugeständnis vor. Dass Vera Albach, x-fache Bestseller-Autorin, nicht weiß, wie sie anfangen soll. Dass Leo, der schon vor Jahren gefragt hat, ob sie denn wirklich noch einen weiteren Buchvertrag unterschreiben müsse, recht hat: Dieser Roman sollte nun wirklich ihr letzter sein. Dabei sind in ihrem Kopf noch so viele Geschichten, die sie erzählen möchte. Vielleicht fällt es ihr auch deswegen so schwer, einen Anfang zu machen, weil sie weiß, dass ausgerechnet diese Geschichte so etwas wie ein Abschied bedeutet?

Sie weiß, wenn jemand sie unterstützen kann, dann natürlich Leo. Zugeben würde sie das nicht. Aber dazu müsste Vera ihn einweihen. Sie versucht sich im Allgemeinen.

»Weißt du, Leo. Es ist so vieles im Umbruch in unserer Gesellschaft, so viele Themen, die es wert sind, erzählt zu werden. Aber gerade bekomme ich das nicht so richtig gefasst.« Sie fühlt sich nicht gut damit, Leo so draußen zu lassen.

»Also«, erwidert Leo gedehnt, »momentan interessieren sich die Menschen hierzulande zum Beispiel für die Frage, wer der neue Boss wird. Oder die Bossin. Bössin?«

»Kanzlerin.«

»Ja. Eine Frau, die etwas schafft, das ihr wenige zugetraut hätten – noch dazu aus Ostdeutschland. Wenn das kein Stoff ist, Vera.«

»Hm.« Sie stellt ihre Untertasse auf den Teller und knibbelt am Marmeladenetikett, auf das Leo erst kürzlich in Schönschrift Pfirsich 2005 geschrieben hat. »Und die Hauptfigur nenne ich Angela, oder wie? Ich weiß nicht …«

»Dann nimm doch Dorothea.«

»Hmm.« Das P von »Pfirsich« ist schon nicht mehr erkennbar.

»Oder«, schlägt Leo vor, »du fängst an mit den wichtigsten Menschen in deinem Leben.«

»Du meinst mit dir? ›Es war einmal ein netter Mann, der seine arme Frau jeden Tag in den Wald scheuchen wollte‹?«

Leo bleibt ernst. »Du weißt schon. Fang mit dem Gefühl an, die Handlung kommt dann schon.«

Vera rutscht mit dem Finger ab und schubst das Marmeladenglas versehentlich über die glatte Tischplatte, Leo fängt es gerade noch auf.

»Danke«, sagt sie. Wusste sie es doch: Er ist ihr längst auf die Schliche gekommen.

Er nickt nur, sie steht auf, berührt kurz seine Schulter. Dann geht sie aus der Küche mit den Worten »Ja, irgendwie so«, und Leo ruft ihr nach: »Aber … der Spaziergang, ja? Der Wald ist nicht vergessen!«

»Schöner Titel!«, kommt es prompt zurück.

»Ich will Tantiemen!«

»Jaja …«

Als sie sich langsam in den Schreibtischstuhl sinken lässt, probiert sie leise, wie sich der Name anhört: Dorothea. Dorothea. Das klingt gut, Leo, denkt sie. Warum also nicht Dorothea? Ein Name ist ein Anfang.

Wie schon so oft hat Vera fest im Gefühl: Wenn Leo ihr den Rücken freihält, dann schafft sie, was sie schaffen muss. Ganz bestimmt wird er sie heute in den Schreibpausen auf seine unbeirrbare Leo-Art auf andere Gedanken bringen, sodass sie vergisst, dass es ein Sonntag ist, den sie am Schreibtisch verbringt. Vergisst, dass ihre Nichte gestern bitter geschworen hat, nie wieder ein Wort mit ihr zu reden. Leo wird wie immer an Veras Seite sein. Leicht machen, was schwer erscheint.

Wenn das alles vorbei ist, muss sie ihn unbedingt mal fragen, wie er das all die Jahre geschafft hat. Dass er nicht selbstverständlich ist, das hat sie ihm schon oft gesagt, und seine Antwort war, immer mit dem Lausbuben-Feixen, das sie seit sechzig Jahren kennt: »Selbstverständlich nicht.«

Also wird sie das Beste aus diesem Tag machen, und das Beste ist der gute Anfang ihrer Geschichte, die sich dann endlich entfalten wird im Laufe der Wochen, die ihr bis zum Abgabetermin bleiben. Ja, sie wird es auch dieses Mal schaffen.

Durch die angelehnte Tür hört sie, wie Leo die Spülmaschine einräumt. Wenn er besonders leise zu sein versucht, fällt meistens ein Eierbecher runter, oder er schneidet sich am Brotmesser im Besteckkorb und flucht einmal kurz, aber unüberhörbar. Vera schmunzelt.

Für Leo?, überlegt sie. Das wäre die denkbar knappste Widmung. Oder einfach Für dich? Sie seufzt, weil sie daran denken muss, wie sie damals das erste Buch von vielen für ihn geschrieben hat – klammheimlich – und danach noch zahlreiche andere, die nicht ausdrücklich ihm gewidmet waren.

In der Rotbuche vor ihrem Fenster trippeln zwei Spatzen über die Äste, vorn an der Straße ist im Gewittersturm letzte Nacht eine Biotonne umgefallen, und nebenan wässert »der Hut« schon wieder seinen Bambus. Der Kater auf der Fensterbank hebt nur kurz den Kopf.

Severin Urban, der Mann, der niemals ohne dieses Monstrum von Kopfbedeckung in seinen Garten geht, fast so, als dürfe das Gewerbeaufsichtsamt ihn nicht ohne Sicherheitskleidung am Arbeitsplatz erwischen. Dabei ist das Laubrechen, das Tomatenernten und Bambusheckenwässern überhaupt nicht sein Beruf: Urban spielt zwar Gärtner mit Hut, aber von Haus aus ist er Deutschlands oberster Literaturkritiker. Und jedes Mal, wenn Vera sieht, wie der Hut seinen Bambus streichelt, sagt sie zum schnurrenden Nero: Wenn der mal mit Büchern so feinfühlig umginge wie mit Grashalmen. Sie grüßt, wenn es sich nicht vermeiden lässt.

In seiner Sendung Bücher vor acht schwingt Urban seinen gefürchteten Stempel wie ein Hammerwerfer und lässt ihn niedersausen auf jeden Roman, der ihm nicht in den kritischen Kram passt: Lebenszeitverschwendung steht dann da, und die Kamera fängt es in Nahaufnahme ein, damit auch alle sehen, was Severin Urban verachtet.

Lebenszeitverschwendung – so wie Mängelexemplar, aber mitten aufs Cover, als Warnhinweis. Vera mag nicht, was unter dem Hut ist, aber sie haben sich über die Jahre arrangiert. Oft ist Urban ja auch unterwegs, beruflich wie privat, und Vera im Arbeitszimmer, beruflich. Ab und zu unterhalten sie sich über den Gartenzaun hinweg – über das Wetter, das Gärtnern und hin und wieder auch über Bücher. Dabei umschiffen sie gekonnt, was Vera an ihrem Schreibtisch tut, und vor allem das, was vor über zehn Jahren auf der Buchmesse vorgefallen ist.

In der Küche scheppert es hell, die Krümelschublade des Toasters muss auf den Fliesenboden gefallen sein. Manchmal ruft Leo »Tut mir leid!« nach oben, weil er weiß, dass Vera bei geschlossener Tür nicht schreiben mag und deshalb alles im Haus hören kann, was nicht geflüstert ist. Manchmal ruft er auch »Das war die Zuckerdose!« oder »Ich heb’ das leise wieder auf!« oder einfach nur »Vera? Ich habe geklappert!«, nachdem er geklappert hat.

Ja, denkt sie, das hast du, aber wenn ich den Tisch abgeräumt hätte, dann stünde jetzt der Salzstreuer im Kühlschrank und noch immer kein Satz unter Kapitel 1.

Konzentrier dich, Vera. Aber die Gedanken an gestern schieben sich überdeutlich in den Vordergrund. Annabel, ihre Nichte, die Tochter ihres Bruders, wollte bei ihnen übernachten. Sie hätten heute zusammen gefrühstückt, bevor sie wieder heimgefahren wäre. Wie immer hätten sie über Annabels alte Schulhefte gesprochen und über Veras Romane, dazu Onkel Leos legendäres Fast-Vier-Minuten-Ei. Aber diese schönste Nichten-Tradition ist seit gestern wohl endgültig passé.

Und wenn Vera sie doch anruft, um sich zu entschuldigen? Kann man sich für so etwas überhaupt entschuldigen?

Nein, besser nicht. Noch nicht.

Sie blinzelt.

Da steht ja in der Tat bisher kein einziger Satz auf der Seite, die mit Kapitel 1 beginnt. In krassem Gegensatz zu der leeren Seite steht die Vereinbarung mit ihrem Verlag, dass sie das nächste Manuskript abgibt, kurz nachdem das letzte Buch erschienen ist, und Ein zweifelhaftes Glück liegt seit ein paar Tagen in den Läden.

Vera Albach hält sich an Verträge, so eisern, dass Leo sie sogar schon mal gefragt hat, ob sie möchte, dass dieses Charaktermerkmal in den Nachrufen auf sie an erster Stelle genannt werden soll.

Vergiss nicht, hat sie gesagt, wir haben auch eine Vereinbarung, und du wärest beleidigt, wenn ich mich nicht dran halte.

Nein, meinte Leo, beleidigt wäre er nicht, todtraurig schon.

Und plötzlich fällt Vera ein, dass sie dieses letzte Buch ihrer jüngeren Nichte widmen könnte, widmen sollte. Oder beiden Nichten, damit keine beleidigt ist: Annabel und auch Betty, der Tochter ihrer Schwester? »Nichte« – das klang so weit weg. Annabel und Betty: Für Vera und Leo waren die beiden von Anfang an so etwas wie die Kinder, die sie nie bekommen hatten.

Die Widmung formuliert sie normalerweise immer am Schluss. Aber was ist schon normal bei einem Buch, das das unwiderruflich letzte sein soll? Versprechen sind stachlig.

Ach, Anni, fuchsteufelswütende Anni, ich hab doch deiner Mama damals das Versprechen geben müssen, dass ich es dir niemals sagen werde! Und gestern hab ich mein Versprechen gebrochen.

Am Tag zuvor war der Parkplatz vorm Friedhof so überfüllt, als fänden an diesem Samstagnachmittag mehrere Beisetzungen gleichzeitig statt oder als wäre halb Münster aus dem Gartencenter direkt nach Roxel gefahren, um die neuen Jäthaken am Schachtelhalm vor Ommas Grabstein zu testen.

Annabel hatte ihren dunkelblauen Golf in einer Seitenstraße abgestellt und kam nun mit raschen Schritten auf Vera zu, die seit fünf Minuten vor dem Haupttor auf und ab ging.

Es tat gut, das kleine große Mädchen in die Arme zu schließen. Obwohl zwischen Münster und Hanau keine dreihundert Kilometer lagen, sah Vera die jüngere ihrer beiden Nichten viel zu selten, seit die ihre Heimatstadt verlassen hatte, um erst in Frankfurt zu studieren und dann als Referendarin den Grundschulkindern von Klein-Auheim die elementaren Dinge des Lebens beizubringen: fehlerfrei schreiben und rechnen.

Sommerlich gebräunt, mit ihren Jeans-Shorts und dem gestreiften Breton-Shirt, hätte Annabel auch irgendwo in Frankreich aus dem Auto steigen können. Und wie immer am Todestag ihres Vaters, wenn sie sich an seinem Grab trafen, fielen nach der innigen Begrüßung die Blicke auf die Blumen, die die jeweils andere bei sich trug.

Vera hatte einen Strauß Dahlien aus Leos Staudenbeet dabei. Als sie die bunten Zinnien in Annabels Hand sah, huschte die Erinnerung an das kleine Mädchen vorbei, das 1979 in dem schmalen Garten von Vera und Leo die Gänseblümchen gepflückt hatte, um sie auf der Steintreppe aufzureihen, engelsgeduldig, und erst zum Baden ins Haus kommen wollte, als sie sie alle gezählt hatte. Zwei Mal, zur Sicherheit. Es waren achtundfünfzig.

Vera bemerkte, wie Annabel die Schritte auf dem Weg zum Grab ihres Vaters verlangsamte.

»Anni? Sollen wir lieber später wiederkommen? Oder morgen?«

Energisch schüttelte Annabel den Kopf. »Nee. Nee, Quatsch. War schließlich mein Vorschlag, dass wir jedes Jahr an seinem Todestag gemeinsam hierherkommen. Er war ja nicht nur mein Vater, sondern auch dein Bruder.«

Die Grabstätte lag gleich neben der von Veras Eltern.

Ulrich Georg Langhoff

* 1937 † 1988

Denn du lässest mich erfahren viel und große Angst und machst mich wieder lebendig und holest mich wieder aus der Tiefe der Erde herauf.

»Was ist denn das für ein Zeug?« Annabel bückte sich, um die Blumen abzulegen, und zeigte auf das Unkraut, das an der Steinkante entlangwucherte.

»Das müsste Vogelmiere sein«, sagte Vera, war sich allerdings überhaupt nicht sicher.

»Sieht ein bisschen aus wie Gänseblümchen, oder? Gänseblümchen mit Blättern am Stängel.«

»Mhm.«

Während Vera die Dahlienstängel aus dem feuchten Küchenpapier pfriemelte, um sie in der grünen Hartplastikvase auf der Grabstelle zu platzieren, sagte Annabel wie zu sich selbst: »Müsste man doch eigentlich mal austauschen …«

Ihre Tante schaute sie fragend an.

»Das aus der Bibel da. Ich kann mich nicht erinnern, dass Papa ein besonders großer Bibel-Fan gewesen wäre.«

»Das mag sein, aber deine Mutter …«, versuchte Vera zu erklären.

»Er mochte Johnny Cash, das weiß ich noch, und Pink Floyd hat er immer gehört, richtig? Und Böll gelesen! Wie wär’s denn damit? Wir lassen den Psalm da rausfräsen, oder wie man das macht, und schreiben was Neues drauf. Zeitgemäßer irgendwie. Das ist doch gut, das machen wir, was meinst du?«

Vera spürte einen Meter neben sich dieses leichte Zittern, das Annabels Körper durchlief, das nervöse Wackeln in ihrer Stimme, wenn sie plapperte, um nicht loszuweinen, sie kannte es von damals, als Annabel in den Tagen nach dem Unfall Nachmittage lang bei ihr und Leo auf dem Sofa gesessen hatte, weil sie nicht zu Hause sein wollte, wie sie eine Kassette nach der anderen in den VHS-Player geschoben hatte, Cap & Capper, Bernard & Bianca, rauf und runter. Und wie sie geplappert, in einem fort seltsame Dinge gesagt hat, die zu der schon mit dreizehn so rationalen Annabel gar nicht passen wollten.

Mit einem Räuspern gab Vera zu bedenken, dass Annabels Mutter Birgit vielleicht gerne gefragt würde, bevor sie einfach eine Änderung der Inschrift in Auftrag gäben.

»Sie hat mich auch nicht gefragt, ob ich die Bibelstelle gut finde«, sagte Annabel.

»Na ja, sie war –«

»Oder ob ich Bockwurst mit Kartoffeln möchte.« Annabels Augen flackerten, als sie sich zu Vera drehte. »Wusstest du, dass sie zwei Wochen nichts anderes essen oder kochen wollte? Zwei Wochen, Tante Vera!«

»Ich erinnere mich.« Zu genau, dachte Vera. Als wäre es gestern gewesen. Die Trauer und Schwere, die sich mit einem Anruf auf die gesamte Familie gelegt hatte und nie wieder ganz gewichen war.

»Sie konnte es nicht!« Annabels Stimme drohte zu kippen, und Vera schaute zu einer Trauergemeinde hinüber, die sich allmählich Richtung Ausgang bewegte. »Sie kann es nicht, hat sie gesagt, sie kann nichts kochen, wenn die Welt so grausam ist, sie kann höchstens Bockwurst heiß machen, wenn es so schreckliche Unfälle gibt in der Welt, hat sie gemeint! Als ob nicht auch mein Vater verunglückt wäre, sondern nur ihr Mann, verstehst du?«

»Anni …« Vera strich ihr über die Schultern. Im Kopf das befreite Lachen ihres Bruders, wenn er sie früher auf dem Gepäckträger seines alten Rads mit zur Schule genommen hatte und absichtlich über jede Wurzel, durch jede Pfütze gefahren war. Wann hatte er das letzte Mal so gelacht?

»Und ich musste diese scheiß Kartoffeln schälen und bin immer abgerutscht, und sie hat nur geseufzt, wie schlimm alles ist.«

Vera legte ihren Arm um Annabel, die ihren Kopf schwer auf die Schulter ihrer Tante sinken ließ.

»Es war eben besonders hart für deine Mutter, du musst das verstehen …«

»Muss ich?«, grummelte Annabel in den Stoff von Veras Mantel. Dann machte sie einen Schritt zurück, richtete sich auf und sah Vera fest an. »Ernsthaft, Tante Vera? Muss ich verstehen, dass Mama nie wirklich mit mir geredet hat? Immer nur gejammert und sich weggedreht, aber ich – ich sollte ganz normal funktionieren! In die Schule gehen, Kartoffeln schälen, sogar die Post hab ich durchgeschaut, damit Mama nicht vergisst, unsere Rechnungen zu bezahlen.«

Vera streckte den Rücken durch und überlegte für eine Sekunde, ob sie über die Blumen und das Unkraut sprechen sollte, über den Schnaps, den sie später auf Ulrichs Andenken trinken würden. Eher zwei. Doch Annabel war an diesem Tag nicht zu bremsen, sie schimpfte, weil sie wohl wusste, nein, weil sie glauben musste, dass Tante Vera sie am besten verstehen konnte. Ach, Anni.

»… und was ich auch nicht kapiere«, sagte Annabel nun und kickte einen Kieselstein quer über den Weg, »wieso ihr sie immer verteidigt habt!«

»Was meinst du?«

»Du und Onkel Leo, ihr sagt bis heute ständig, dass es für Mama am schwersten war.«

Schon oft hat Annabel dieses Thema angesprochen. Meist jedoch am Küchentisch später am Abend. Und immer mit einer gewissen Vorsicht in der Stimme. Nicht mit dieser plötzlichen Dringlichkeit.

»Aber, Anni«, verteidigte sich Vera, »war es das denn nicht? Sie hat ihren Mann verloren und musste ihre Tochter versorgen, und das von jetzt auf gleich, und dazu all die Fragen und Zweifel …«

»Ich war ein Kind, verdammt noch mal! Ich habe meinen Vater verloren! Sozusagen die Hälfte meiner Eltern.« Eine Träne lief über Annabels Wange. »Zählt das denn gar nicht?«

Vera wusste nicht, was sie antworten sollte. Ihre Nichte hatte ja recht.

»Ich hab sie ewig nicht angerufen«, sagte Annabel nun kopfschüttelnd, »und ihr zum Geburtstag eine Gratispostkarte geschickt.«

»Hat sie geantwortet?«

Annabel schwieg.

»Vielleicht«, tastete Vera sich vor, »solltet ihr zwei euch mal wie erwachsene Menschen zusammensetzen, weißt du, vielleicht … will deine Mutter dir was sagen, aber nicht am Telefon oder per Postkarte.«

»Hm. Sich erklären oder entschuldigen, meinst du?« Sie seufzte. »Ich weiß nicht, ob ich das hören will. Wenn man eine Entschuldigung annimmt, erwarten alle, dass danach eitel Sonnenschein ist, und man darf nie mehr sauer sein, nicht mal an schlechten Tagen.«

Sie ist klug, dachte Vera, so klug wie verbissen.

»Heute ist so ein schlechter Tag, hm?«

Annabel wandte sich ihr zu, Vera sah das Salzwasser in Annis Augenwinkel schimmern.

Ihre Nichte nickte, als wäre ihr Kopf viel zu schwer. »Ein Scheißtag, Tante Vera.«

Ein Scheißtag.

Dämliches Versprechen.

Es ist genug.

Bin ich nicht zu alt, grummelte Vera in Gedanken, um mich an eine alte Abmachung gebunden zu fühlen? Traurig genug, dass ich ausgerechnet auf einem Friedhof, ausgerechnet kurz vor dem Rentenalter, begreifen muss, dass meine kleine Anni längst nicht mehr meine kleine Anni ist. Sie ist erwachsen, sie ist Halbwaise und hat ein Recht auf die Wahrheit. Sie ist keine verdammte Romanfigur, die man möglichst lange im Ungewissen lässt, um die Spannung zu halten. Annabel ist ein Lieblingsmensch, der das echte und das schlimme Leben kennt und aushalten kann. Also los, Vera Albach, mach den Mund auf! Du weißt doch am besten, wie das ist, wenn man zu lange die Klappe hält.

Mit einem kurzen Blick auf den eingravierten Namen ihres Bruders griff Vera nach Annabels Ellbogen und zog sie vom Grab weg. »Komm, wir gehen ein Stück.«

»Gehen, wohin?«

»Ich will dir was erklären.«

»Dazu müssen wir gehen?«

»Ja.«

Sie folgten dem Hauptweg, an den Priestergräbern vorbei. Als sie auf Höhe der Tafel mit den Bekanntmachungen der Friedhofsverwaltung angekommen waren, holte Vera tief Luft und sagte: »Du erinnerst dich doch, wie wir mal über das Romanschreiben und Dramaturgie und so weiter gesprochen haben – und über Konflikte?«

»Ja, dunkel. Dass die Romanfiguren immer Konflikte austragen müssen …«

»… egal, ob klein oder groß …«

»… sonst wird’s schnell langweilig.«

»Exakt.«

Vera unterdrückte den Impuls, ihre Nichte zu loben, als hätte sie das Diktatheft aus der 3a vorgezeigt.

»Aber«, fuhr sie fort, »es geht eben nicht nur um … also, der stärkste Konflikt ist manchmal nicht … beziehungsweise oft ist es sogar so, dass nicht zwei Figuren, nicht nur zwei Figuren, sondern auch … ein Mensch allein – verstehst du?«

Annabel schmunzelte durch eine Träne hindurch. »Früher konntest du irgendwie flüssiger erklären.«

»Früher«, murmelte Vera, »früher dachte ich auch, ich mache alles richtig.«

»Und jetzt nicht mehr? Hä?«

Ein Chor von klappenden Autotüren hallte vom Parkplatz herüber. Vor der Kapelle trat ein Pastor in den Schatten eines mächtigen Ahorns und wischte sich mit dem Talar den Schweiß von der Stirn.

Also, was soll das Gestammel, machte Vera sich Mut, heute oder nie, sie ist alt genug.

»Was ich meine, Anni, ist das klassische Dilemma. Eine Romanfigur im Konflikt mit sich selbst.«

»Aha.«

»Ich bin so eine … ich bin der Mensch, meine ich.«

»Du bist in einem Dilemma? Sag das doch gleich. Kann ich dir helfen?«

»Eben nicht. Kann ich nur selber.«

»Okay …«

Noch einmal atmete sie durch die Nase ein, fasste dabei Annabel fester am Arm. Showtime.

»Ich habe deiner Mutter versprochen, dass wir dir nichts sagen.«

»Bitte was?«

»Sie hat mich darum gebeten, Anni, sie war aufgelöst, verzweifelt, und trotzdem oder gerade deswegen wollte sie dich schonen, und weil ich dachte, das ist vernünftig, habe ich ihr mein Versprechen gegeben. Und gehalten. Bis heute.« Sollte sie wirklich?

Annabel blieb abrupt stehen, löste sich aus Veras Griff. »Wovon redest du, Tante Vera, was hast du mit Mama –«

»Die Kurve. Die verdammte Kurve, Anni, in der dein Vater geradeaus gefahren ist.« Jetzt war es raus.

»Wie, geradeaus gefahren? Von der Fahrbahn abgekommen, meinst du. Da war doch die Straße dreckig wegen der Erntefahrzeuge, und er war ein bisschen zu schnell und ist auf dem Matsch geschlingert!«

»Viel zu schnell war er, nicht nur etwas, und außerdem …«

»Außerdem was?«, fragte Annabel laut.

»Es gab keine Bremsspuren. Die Polizei hat keine Bremsspuren gefunden.«

»Keine …«

Vera sah die Farbe aus Annabels Gesicht weichen.

»Du meinst …«

Vera nickte. »Und angeschnallt war er auch nicht.«

In Annabels Gesicht zuckte etwas. Mit weit geöffneten Augen starrte sie auf den Kiespfad.

»Dein Vater war nicht angeschnallt, Anni.«

»Ich hab dich beim ersten Mal verstanden«, kam es kalt zurück.

Ein Spatz setzte sich auf den Grabstein der Droste-Hülshoff, ein ADAC-Hubschrauber flog über sie hinweg, eine ältere Frau schob einen Kinderwagen auf den Mittelweg.

»Warum?«, fragte Annabel kopfschüttelnd, »ich meine, was …? War er krank oder … oder hat er seinen Job verloren? Das hätte er – das hätte Mama mir doch sagen können!«

»Ulrich war … ziemlich verzweifelt, wenn ich deine Mama richtig verstanden habe, aber er hat wohl nie gesagt, was ihn so … deprimiert. Irgendwie muss er am Leben, an sich verzweifelt sein. Besser kann ich’s nicht erklären, Anni. Und weil wir, wir Erwachsenen, es damals auch nicht wirklich begreifen konnten, wollte Birgit dir nichts davon sagen. Zu deinem Besten! Was ich schwierig fand, aber akzeptiert habe. Denn sie ist deine Mutter. Verstehst du?«

Zögernd legte Vera eine Hand auf Annabels Rücken, doch die machte einen Schritt zur Seite, sodass die Hand ins Leere fiel, beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie, als müsse sie nach einem Sprint nach Luft schnappen.

»Verstehst du?«, fragte Vera leise noch einmal. »Verstehst du mein Dilemma?«

Anstelle einer Antwort schluckte Annabel schwer, stöhnte und richtete sich wie in Zeitlupe auf. Vera wollte auf sie zugehen, blieb aber stehen.

»Ob ich dein Dilemma verstehe? Sag mal, spinnst du? Du … erzählst mir am verfickten siebzehnten Todestag meines Vaters, dass ihr – ausgerechnet ihr – mich siebzehn Jahre angelogen habt, siebzehn Jahre lang, alle, wie ein dummes Kind, eiskalt angelogen, und fragst mich, ob ich dein Dilemma verstehe? Dein Dilemma?« Sie spuckte vor sich aus. »Ich würde gern kotzen, aber ich hab nichts gefrühstückt.«

»Du … du kannst doch bei uns frühstücken«, sagte Vera. »Komm, lass uns aufbrechen, ja?«

Für einen Moment starrte Annabel sie nur reglos an, dann verzog sie den Mund und suchte nach ihrem Autoschlüssel.

»Vielen Dank, ich will nach Hause.«

»Aber Anni, wir …«

»Ich sagte, ich fahre nach Hause!« Damit drehte sie sich um und lief den Weg zurück Richtung Friedhofstor.

»Du wolltest doch bei uns …« Vera fühlte sich hilflos und ging noch ein paar schnelle Schritte hinter Annabel her. Rennen durfte sie ja nicht, dieser blöde Rücken. »Lass uns in Ruhe darüber reden, Anni. Du bist doch viel zu aufgewühlt, um zu fahren!« Vera hielt inne, ihre Knie zitterten, ihre Brust war wie zugeschnürt. »Anni, bitte, bleib doch stehen!«

Aber ihre Nichte lief einfach weiter. So hatte Vera sich das nicht vorgestellt. So ein Quatsch. Gar nichts hatte sie sich vorgestellt. Zu impulsiv hatte sie gehandelt, das spürte sie jetzt. Jetzt, da es zu spät war. Ihr brach der Schweiß aus.

»Lass uns wenigstens telefonieren später, ja? Ich muss wissen, ob du gut angekommen bist!«

Da drehte Annabel sich ein letztes Mal um, die Fäuste geballt. »Ich rufe ganz bestimmt nicht an. Wir sprechen nämlich gar nicht mehr miteinander.«

Bei der Erinnerung an diese letzten Worte sacken Veras Schultern herab. Sie ist sich überhaupt nicht mehr sicher, ob sie das Richtige getan hat. Auch wenn sie weiterhin versucht, sich das einzureden. Sie seufzt tief und schwer.

Die Erinnerung an gestern lässt ihr den Einstieg in den Roman, der vor ihr liegt, noch einmal schwerer erscheinen. Aber wie so oft im Leben weiß sie: Sie hat keine Wahl. Ja, dieses Buch wird sie ihren Lieblingsmenschen widmen.

Die Spitze des linken Zeigefingers auf der Nasenwurzel – wie immer, wenn sie nachdenkt –, tippt sie mit dem rechten in Zeitlupe

Für euch

Punkt.

Für euch.

So. Fehlt nur noch der Roman zur Widmung.

Ob Annabel wohl ihre Anrufe gesehen hat? Gestern Abend hat es Vera zweimal bei ihr auf dem Festnetz probiert, aber ihre Nichte hob nicht ab. Und eine SMS will Vera nicht schreiben.

Die Uhr rechts oben über dem weißen Dokument zeigt 09:12. Vera könnte sie überkleben. 09:13. Vielleicht braucht sie auch mehr Kaffee. Immer noch 09:13.

Reiß dich zusammen, altes Mädchen, es ist doch nicht dein erster Roman, du kannst das, sagt sie lautlos zu sich selbst. Du hast das schon gekonnt, als es dir noch niemand zugetraut hat, nicht mal du selbst. Atmen und tippen, atmen und tippen. Also dann – der Roman über eine Frau, die immer dafür gekämpft hat, dass beides in ein gutes Leben passen muss: Familie und Beruf, ein Zuhause und eine Karriere. Also dann.

Wie schwer das sein kann …

Als sie gerade Luft geholt hat, sieht Vera ihren Mann auf der Terrasse. Er muss wie ein Mucksmäuschen die quietschende Seiteneingangstür geschlossen haben. Aus seiner Hemdtasche zieht er das alte Zigarettenetui, in dem er mittlerweile die gesunden Nüsse und die Vitamintabletten verwahrt, dann hält er inne, um zum Nachbarn hinüberzuwinken, und geht auf die Hecke am Ende des Gartens zu.

Der Hut hat den Schlauch abgedreht, um ein bisschen von seiner Bambuswässerungszeit mit einem Schwätzchen zu verschwenden. Die Männer reden und gestikulieren, zu den Bäumen zeigt der eine, zum Himmel der andere. Ein Stummfilm in Farbe, Sekunden vergehen, was könnte das doch für ein harmloser Sonntag sein. Vera schluckt, und zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie Angst vor dem Abgabetermin.

Die Gartenmänner lachen über etwas, dann nicken sie synchron.

Der eine, denkt Vera, kennt mich nach all der Zeit besser als ich mich selbst. Und der andere könnte sich allmählich mal öffentlich dafür entschuldigen, wie er meine Bücher jahrelang behandelt hat.

Sie wischt den Gedanken beiseite und einen letzten Vollkornkrümel vom Pullover.

Familie. Beruf. Geschichte. Schreiben, sagt sie stumm zu sich selbst.

Sie rückt die Tastatur zurecht:

Kapitel 1 – Vom Herzen

Und wenn ich demnächst nicht mehr da bin, denkt Dorothea, dann sollen meine Mädchen mich nicht als alte, kranke Frau in Erinnerung behalten. Was haben wir denn Sinnvolles getan, zwischen erstem Schrei und letztem Seufzer, wenn wir nicht ein bisschen Liebe ausschütten über die Welt?

Während Dorothea die Schmerztabletten runterspült, beschließt sie, dass sie einmal noch gefeiert werden möchte – wie es jeder Mensch verdient, der seine Reise halbwegs anständig zu Ende gebracht hat –, bevor ihre schon in wenigen Monaten ganz zu Ende gehen wird. Die Diagnose ist unmissverständlich.

Laute Musik, tanzen, bis der Vorhang fällt, das wünscht sie sich. Einmal noch feiern mit den Lieblingsmenschen: Wenn ich das schaffe, fällt mir ein Stern vom Herzen.

Oh.

Minutenlang starrt Vera auf den ersten Fehler, gleich auf Seite 1. Obwohl sie nämlich gar nicht sicher ist, ob es sich wirklich um einen Fehler im klassischen Sinne handelt. Immerhin sind das r und das i wie eh und je fünf Tasten voneinander entfernt, wie soll man sich da vertippen? Nein, sie muss es so gemeint haben, und so steht es jetzt da.

Für ihre private Manuskript-Korrektorin hätte sie nun einen Vermerk machen müssen: ACHTUNGABSICHT! Annabel mit den Adleraugen übersieht gar nichts: Groß oder klein, Komma oder nicht, zusammen oder getrennt – Annabel Langhoff ist auch deswegen Grundschullehrerin geworden, weil sie Fehler hasst, aufspürt und humorfrei markiert, immer schon und ohne nachzulassen, egal ob bei Zahlen oder Buchstaben.

Für jedes neue Buch suchte Vera eine andere freundliche Formulierung als Dankeschön an ihre liebste Korrekturleserin: Ein Dankeschön an Annabel, die meine Schwächen kennt oder Ich verneige mich wieder mal vor Annabel, Halbgöttin der Orthografie, die schon akribisch war, als sie›akribisch‹ noch mit ›ie‹ schrieb. Oder Annabel! Danke, dass du die Fehler findest, die sich vor mir so feige verstecken.

Noch während ihre kleine Nichte fürs Abi lernte, hatte Vera ihr vorgeschlagen, sie im Anschluss als Managerin einzustellen, aber Annabel antwortete todernst, erstens sei von so einer Option im Berufsinformationszentrum nicht die Rede gewesen, und zweitens sei eine Schriftstellerin ja kein Star, den man managen müsse, wie Linda de Mol oder David Hasselhoff.

Vera weiß noch, wie sie schmunzelnd zurückfragte: »Du meinst, deine Tante ist weder reich noch im Fernsehen, Anni?«

»Genau.«

Ja, in der Tat, hat sie da gedacht, im Fernsehen war ich noch nie.

Wie denn auch. Wenn man sich hinter einem ausgedachten Namen versteckt.

Doch nun wird sie wohl ausgerechnet beim allerletzten Buch jemand anderen für die Vorkorrektur engagieren müssen. Vielleicht würde dieses Mal ausnahmsweise die andere Nichte einspringen? Betty liest jeden von Veras Romanen direkt nach Erscheinen und freut sich immer diebisch, wenn sie verfremdete Figuren oder Anekdoten darin wiederfindet, die ihren Ursprung in der Berliner Politszene oder in Bettys Erlebnissen als Vollzeitberufstätige und alleinerziehende Mutter haben. Aber Betty ist einfach keine Erbsenzählerin – sie würde die Fehler, verloren in der Geschichte, einfach überlesen. Außerdem müsste Vera ihr dann von der Sache mit Annabel erzählen.

Mensch, Anni. Es kann doch niemand irgendwas ungeschehen machen, niemand. Ihr ist wieder ganz flau im Magen.

Beim letzten Buch hat sie mit dem feinsten Kugelschreiber noch einen Gruß mit Küssen im gedruckten Exemplar ergänzt: Liebe Nichte, ich wünsche dir ohne jeden Zweifel alles Glück!(Und suche bitte keine Fehler mehr …). Annabel freute sich auch dieses Mal über die Anerkennung so pur, als wäre sie gerade erst drei und nicht dreißig geworden.

Die Freude dürfte bis auf Weiteres futsch sein.

Vera hebt den Blick vom Monitor, ein Wirbel knackt.

Sie sollte sich ein Jahresabo Nackenmassage zum Geburtstag wünschen. Na ja, zu spät, sie hat allen gesagt: dieses Jahr bitte keine Geschenke. Die Erste, die angekündigt hat, sich nicht daran zu halten, war Annabel. Eine Kiste Wallner-Tropfen sei das Mindeste, worauf sich die Jubilarin freuen dürfe.

Ach ja, der Wallner-Gedächtnis-Tropfen, damals …

Annabel hatte nach dem aufsehenerregenden Vorfall auf der Frankfurter Buchmesse sämtliche Artikel über den Schriftsteller Hagen C. Wallner ausgeschnitten – FAZ, SPIEGEL, Süddeutsche, natürlich die EMMA – und die Schnipsel vom 16. Oktober 1993 auf Veras Küchentisch ausgebreitet, während Leo eines seiner drei Gerichte kochte.

Auch Betty, die ältere Nichte, war nach dem Ereignis direkt übers Wochenende aus Berlin angereist, wo noch nicht mal die letzten Umzugskartons ausgepackt waren.

»Muss ja total aufregend sein in Berlin«, sagte Vera.

Und Betty antwortete: »Spinnst du? Das hier ist aufregend«, sie deutete auf den Schnipselstapel, »du bist aufregend!«

Sie lasen sich die besten Sätze aus allen Rezensionen laut vor, Vera fand nach dem Essen irgendwo eine Flasche Baileys und längst vergessene Eiswürfel in den Tiefen des Gefrierfachs.

»›Das Geheimnis um einen der erfolgreichsten Schriftsteller der letzten Dekade …‹«, las Betty nach dem dritten Likör zum zweiten Mal, »›ist gelüftet. Seine Identität preisgegeben. Und viele scheinen enttäuscht, dass sich kein Thomas-Mann-Enkel und kein Peter Handke hinter dem Pseudonym verbirgt, der sein verborgenes Talent zur massentauglichen Unterhaltung auslebte. Noch nicht einmal Bernhard Schlink, der schon die Vermutung als Frechheit bezeichnete, oder Franz Xaver Kroetz, der gar nicht genau wusste, worum es ging. Nein, dieser unverschämt erfolgreiche Wallner …‹«, hier ließ Vera noch einen angetauten Eiswürfel in den Baileys plumpsen, »›… war nun wahrlich nicht der Mann, für den wir ihn hielten. Es war überhaupt kein Mann – aber eine bessere Geschichtenerfinderin, als die schärfsten Kritiker je gedacht hätten.‹ –Ha! Prost!«

»Zum Wohl, die Damen«, stimmte Leo damals ein. »Schön, dass ihr da seid.« Und ein bisschen wehmütig: »Jetzt ist es fast wie früher, wenn ihr nach der Schule immer bei uns zum Essen wart, hm?«

Annabel hob den Zeigefinger zum Einspruch. »Früher, Onkel Leo, haben wir an diesem Tisch unsere Hausaufgaben gemacht und Verrücktes Labyrinth gespielt, aber an süßen Alkohol kann ich mich nicht erinnern.«

»Ich auch nicht«, pflichtete Betty ihr bei, »dabei war ich schon viel älter als du.« 

»Nee«, korrigierte Vera, »als du klein warst, da warst du auch nicht älter. Wollt ihr Schokosalzstangen oder richtige?«

So schön, dass ihr hier seid, dachte Vera, wann seid ihr nur so groß geworden? Und stand auf, um den Küchenschrank nach Süßem und Salzigem zu durchsuchen.

»Gibt’s auch Mon Chéri, Tante Vera?«, fragte Annabel.

»Nicht, wenn du mich Tante nennst.«

»Ich glaub, bei mir war’s Rummikub«, sagte Betty. »Und im Sommer draußen Krocket.«

»Oh ja, stimmt, Krocket!« Lachend sah Vera zu ihrem Mann. »Und du hast immer nach oben gezeigt – ›Guck mal, Betty, ein Mäusebussard!‹ – und dann deine Kugel mit dem Fuß durch die Stange bugsiert.«

»Was, ich?«, entrüstete sich Leo. »Nein!«, doch seine Augen unter den buschigen Brauen blitzten.

»Aber«, wandte Annabel sich an ihre Tante, »was wird denn jetzt mit deinen Büchern und so? Das wird doch sicher nicht einfach. Willst du noch … ich meine: Schreibst du weiter, also … wie bisher?«

»Ah, Gummibärchen!«

Endlich zog Vera den Arm aus dem Schrank, präsentierte eine bunte Verpackung und sah, dass ihre kleine Ersatzfamilie mehr noch als Süßigkeiten eine Antwort erwartete. Für einen Augenblick herrschte Stille in der Küche der Albachs.

Sie riss die Tüte auf und schüttete das ganze klebrige Zuckerzeug mitten auf den Tisch.

»Jetzt erst recht, Mädchen«, sagte sie schließlich zu Annabel, und vor allem zu sich selbst. »Jetzt geht’s erst recht weiter.«

»Mit deinem Namen auf deinen Büchern?«, hakte Betty nach.

»Klar. Mit meinem Namen.« Vera wunderte sich, dass ihre Stimme so fest und selbstsicher klang. Denn es war noch gar nicht klar, wie es weitergehen würde. Ihr Verlag hatte jedenfalls nicht erfreut reagiert. Aber darüber wollte sie heute nicht nachdenken. Dafür blieb noch genügend Zeit. Heute wollte sie gemeinsam mit ihren Lieblingsmenschen feiern.

»Affengeil!«, jubelte jetzt Annabel, »darauf müssen wir trinken!«

Als alle zum fünften Mal die kleinen, bauchigen Kristallgläser leerten, den geteilten Erinnerungen freien Lauf ließen und herzhaft lachten über die Diktathefte und Matheaufgaben der 70er- und 80er-Jahre, da benannte Annabel den Baileys in »Wallner-Gedächtnis-Tropfen« um, zur Feier des Tages, und verschluckte sich gleich darauf an einem Eiswürfelsplitter.

Vera klopfte ihr auf den Rücken und fragte plötzlich: »Weiß eigentlich deine Mutter, dass du hier bist?«

Mit Tränen in den Augen antwortete Annabel: »Ich bin jetzt volljährig!«

»… jährig vielleicht …«, Betty klopfte ihr auf den Rücken, »… voll definitiv.«

An die Kopfschmerzen vom Morgen nach dem Baileys kann Vera sich jetzt, zwölf Jahre später, gut erinnern. Und daran, dass sie seinerzeit ins Bett ging, ohne die klebrigen Zähne zu putzen, ausnahmsweise. Und dass etwas an diesem ausgelassenen Abend sie traurig gemacht hatte, weil sie bei jedem Zuprosten an die achttausend Seiten denken musste, die Hagen C. Wallner geschrieben hatte – oder eben nicht. Den Tränen, die sich dabei gesammelt hatten, ließ sie erst im Bett ihren Lauf. Denn weil sie sich mit Traurigkeit auskennt, wollte sie deren bittere Rückseite nicht vor ihren Nichten zeigen: die Wut wegen jahrelanger Ignoranz. Eine Jetzt-erst-recht-Wut, die noch für viele tausend Seiten reichen würde. Warum eigentlich? Warum hatte sie ihren Nichten ihre Gefühle nicht zeigen können, zeigen wollen?

Der Name Hagen C. Wallner war auch eine Art Schutz gewesen. Ja, sie hat mit ihm auf Kriegsfuß gestanden, viele Jahre lang. Aber er hat sie durch Höhen und Tiefen begleitet, die erste Nummer 1 der Bestsellerliste gefeiert und die schlimmsten Verrisse klaglos ertragen. Von nun an musste sie mit offenem Visier in den Kampf gegen die Grishams, Simmels und Konsaliks ziehen. Mit diesem Bild vor Augen hat sie sich damals im Bett so plötzlich aufgerichtet, dass sich der schlafende Leo neben ihr mit einem Grummeln umdrehte. Vera hingegen stand auf, nahm leise ihren gefütterten Morgenmantel vom Haken an der Tür, setzte sich an ihren Schreibtisch und schrieb die ganze Nacht hindurch.