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Erik ist Ingenieur in einem großen Unternehmen, arbeitet aber fast nur auf Baustellen im Ausland. Gegen seinen Wunsch wird er für Monate nach Zentralindien in eine Gegend versetzt, in der die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Selbst die Inder bezeichnen diesen Ort als "very remote", also, sehr weit von der Zivilisation entfernt. Diese Reise ist für ihn wie ein Sprung in kaltes Wasser. Bücher und Filme konnten Erik nicht auf die intensive und aufdringliche Nähe eines Landes vorbereiten, das ihm alles abverlangt. Der Begriff Überleben, gewinnt für Erik plötzlich die ursprüngliche Bedeutung zurück. Die gewohnte Bequemlichkeit einer Großstadt, in der man alles bekommen kann, ist mindestens eine Tagesreise entfernt, wenn nichts auf der Reise schief geht. Verglichen mit seinem Leben in Deutschland bedeutet dies aber in erster Linie Verzicht zu üben. Wenn er dann aber aus dem Fenster blickt, sieht er die vielen Inder, die auf der Baustelle arbeiten und nur das besitzen, was sie tragen können. Der Aufenthalt an diesem Ort in Indien ist eher mit einer Zeitreise in die Kolonialzeit vergleichbar. Die Erfahrungen mit den unterschiedlichen Menschen, dem Einfluss der Religionen und der tiefen, kulturellen Unterschiede, hinterlassen auf Erik einen bleibenden Eindruck. Erleben Sie, wie Erik in diese fremde Kultur eintaucht und sich nach und nach frei schwimmt, um zu überleben.
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Seitenzahl: 670
Veröffentlichungsjahr: 2020
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1. Auflage 2020
Impressum
Texte: © Copyright Tom Sailor
Umschlag:© Copyright Tom Sailor
Bildnachweis: StockSnap auf pixabay
Verlag:Tom Sailor, Lübeck
Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH,
Berlin
Sie ist ungefähr doppelt so groß geworden. Dafür aber deutlich flacher. Durch den aufgeplatzten Hinterleib hat sich ein fingernagelgroßer, roter Fleck an der Wand gebildet.
»Das hast du davon, wenn Du mir mein Blut klaust!«, zischt Erik mit grimmiger Stimme zwischen den Zähnen hervor und blickt triumphierend auf die blutigen Überreste seines Opfers. Er spürt einen leichten Schmerz in seiner rechten Handfläche, da er voller Wut äußerst heftig auf die Wand geschlagen hat. Die Genugtuung an diesem Mord in aller Frühe verschwindet jedoch augenblicklich, als sich der Gedanke an die mögliche Malariainfektion warnend in den Vordergrund drängt. Die ständige Bedrohung durch die Mücken besteht jetzt seit zehn Monaten, ohne dass Erik sich daran gewöhnt hat. Wenn man zuhause in Deutschland von einer Mücke gestochen wird, ist es ärgerlich. Hier ist es eine gefährliche Bedrohung, die wie ein böser Geist ständig hinter einem steht.
»Hoffentlich funktionieren die Tabletten!«, brummt Erik ernüchtert vor sich hin. Dabei reibt er sich seine schmerzende Handfläche und sucht mit den Augen die Fliegenklatsche, die an einem Nagel an der Wand hängt. Ein äußerst intensives Gefühl der Abscheu, gepaart mit ohnmächtiger Wut, unterlegt mit dem süßlichen Nachhall der Vernichtung wallt in ihm auf.
»Die Fliegenklatsche sieht schon ziemlich schäbig aus, aber das fällt in diesem Land sowieso nicht mehr auf.«, murmelt Erik missmutig vor sich hin.
»Ich habe keine Lust mehr auf diesen Dreck hier!«, ruft Erik daraufhin so laut, dass ein Nachbar es sicher gehört hätte. Erik möchte endlich wieder nach Hause. Trotzdem muss er noch mindestens zwei Monate aushalten. Er dreht sich zur Tür, die ins Wohnzimmer führt und blickt auf die Zahlenkolonne an der Wand neben dem Tisch. Dort sieht er die Ziffer 61 als letzte Zahl einer langen Reihe ansonsten durchgestrichener Zahlen. Irgendwann hat er sich nach einigen Bieren einen dicken, wasserfesten Filzstift geschnappt und die Zahlenkolonne der verbleibenden Tage auf die Wand geschrieben. Direkt auf die lackierte Wand. Tapeten sind in dieser Region der Welt Mangelware und würden in der nassen Monsunzeit vermutlich von der Wand rutschen. Die Wände werden daher glatt verputzt und dann mit einer ockerfarbenen Ölfarbe übermalt. Es entsteht eine glänzende, glatte Oberfläche, die dazu abwaschbar ist. Es ist ein festes Ritual geworden. Jeden Morgen streicht er auf dem Weg ins Bad wieder einen Tag ab. Leicht seufzend nimmt Erik den Filzschreiber und streicht die 61 durch. Im Augenblick ermutigt ihn der Anblick der verbleibenden 60 Tage allerdings nicht wirklich. Die vielen durchgestrichenen Zahlen lassen aber immerhin einen kleinen Fortschritt in Richtung Ende erkennen.
Neben die Zahlenreihe hat Erik das Bild einer blonden Frau mit lockigen Haaren und blauen Augen geklebt. Die Schönheit hat er aus einer Zeitschrift ausgeschnitten. Das Foto seiner damaligen Freundin Gaby, hatte Erik mit einem Klebestift direkt auf die Wand geklebt, so dass er es nicht abnehmen konnte, ohne gleich den Putz mit von der Wand zu reißen. Das neue Bild hat er dann darüber geklebt, so dass ihn Gaby nicht mehr ständig anblickt. Nicht gerade die Art, wie er normalerweise ein Bild aufhängt. So etwas hätte er vor einigen Monaten noch als absolut inakzeptables Verhalten verurteilt. Erik verdient zwar ordentliches Geld, aber die persönlichen Einschränkungen bei der Lebensführung sind enorm. Keine Erzählung kann einem das Gefühl vermitteln, das man empfindet, wenn man tatsächlich in einer Einöde wie dieser festsitzt. Das hier ist ja nicht ein Urlaub in einem schlechten Hotel, bei dem man nach 14 Tagen wieder abreisen kann. Das hier ist so etwas wie ein Lager, bei dem man unter ständiger Bewachung und Bedrohung steht und sich täglich Gedanken um sein Überleben machen muss.
Erik starrt immer noch auf die lange Zahlenkolonne der abgestrichenen Tage. Immerhin ist die verbleibende Zeit deutlich kürzer.
»Ich hab noch viel zu viele Tage vor mir!«, seufzt er und wandert endlich in die Küche. In den letzten zehn Monaten ist viel passiert. Am traurigsten ist er darüber, dass die Beziehung mit Gaby in die Brüche gegangen ist.
»Drei Wochen, hat mein Chef gesagt! Drei verdammte Wochen soll ich als Vertretung aushelfen!«, lamentiert Erik mit einem leidenden Tonfall laut vor sich hin.
»Und jetzt? Jetzt bin ich schon fünfzehn Monate hier in dieser Scheiße!«, wobei er die letzten Worte laut fluchend gegen die Wand schleudert. Von seinem jetzigen Standpunkt, tausende Kilometer entfernt, am Arsch der Welt, wie er es für sich selbst bezeichnet, verblassen die unschönen Erinnerungen. Erinnerungen an Streit und das Aus der Beziehung erscheinen plötzlich sinnlos und eigentlich überwindbar. Stattdessen drängen sich die schöneren Momente in den Vordergrund, vor allem die, die er jetzt am stärksten vermisst.
»Der Sex mit ihr war ziemlich gut. Je länger ich darüber nachdenke, desto besser wird er!«, grinst Erik in sich hinein, als die Bilder vor seinem inneren Auge auch die lustvolleren Gefühle aus der Vergangenheit zum Vorschein holen. Das ist leider auch so ein Problem in diesem Land. Zu kaufen gibt es alles, doch welchen Preis zahlt man langfristig dafür.
»Wenn ich an diese blöde Nacht denke, in der ich diese Nutte geknallt habe, wird mir im Nachhinein noch ganz anders!«, erinnert er sich wieder, wobei ihm ein Schauer aus Scham und Erschrecken über den Rücken läuft, der die erotischen Gedanken schlagartig, wie ein Eimer kaltes Wasser, wegspült.
»Wegen diesem Blödsinn laufe ich jetzt die ganze Zeit mit einem saublöden Gefühl herum. Wenn ich wieder zuhause bin, werde ich als erstes zum Arzt gehen müssen.«, beschließt Erik, und versucht das unangenehme Thema zu verdrängen.
»Zum Glück hat sich noch nichts verfärbt, nichts juckt und ich habe auch keine Läuse oder so was. Die Liste der Mitbringsel kann in diesem Land recht lang sein. Vor allem die fiesen Sachen schlummern erst eine ganze Weile, bis sie sich dann melden.«, bearbeitet Erik das Thema weiter in seinem Kopf, als er nun in der Küche vor der Kaffeemaschine steht.
All das stand jedenfalls nicht im Kleingedruckten, als er den Arbeitsvertrag unterschrieb. Damals tanzten andere Bilder vor seinem inneren Auge. Die schöngefärbte Vorstellung von dem, was ihn hier erwarten würde und die entzauberte, brutale Realität passen irgendwie nicht zusammen. Es ist wie die Theorie vom Fahrradfahren, bei dem man hoheitsvoll und elegant über das Straßenpflaster schwebt, und die Schrammen, die einen nach dem ersten Versuch auf den Boden der Realität zurückholen.
Da der Strom schon wieder ausgefallen ist, funktioniert die Kaffeemaschine auch nicht. Erik öffnet den Kühlschrank und greift nach der letzten Colaflasche. Leider ist die Cola warm, wie auch der Rest im Kühlschrank. Der Strom ist vermutlich schon wieder seit Stunden ausgefallen und die Qualität der Isolierung dieser Kühlschränke ist nicht besonders gut. Eigentlich hätte er jetzt gerne eine Tasse Kaffee, doch ohne Strom läuft die Maschine eben nicht. Irgendwo sind Mitarbeiter der Elektrizitätswerke dabei, das Netz wieder aufzubauen. Allerdings mit nur mäßigem Erfolg. Ab und zu springt die Klimaanlage ratternd an, um dann nach wenigen Sekunden wieder auszufallen. Das Netz ist völlig überlastet. Man kann nicht einfach den großen Schalter am Kraftwerk wieder zuschalten. Alle Menschen und Firmen haben ihre Geräte eingeschaltet gelassen. Wenn das Kraftwerk dann einfach den Strom zuzuschalten würde, wirken diese vielen Verbraucher wie ein Kurzschluss. Also versucht man zunächst die im Land überall aufgestellten Verteiler erst einmal alle abzuschalten, um sie dann nach und nach wieder zuzuschalten. Das geht aber nur, indem ein Mitarbeiter vor Ort die Schalthandlung vornimmt. Also rasen jetzt etliche kleine Mopeds durch das Land, um die vielen Verteiler erst ab- und später wieder zuzuschalten. Bei den Entfernungen und Kommunikationsproblemen in diesem Land dauert es halt eine Ewigkeit, bis die Mitarbeiter das koordiniert hinbekommen.
Erik grübelt etwas missmutig vor sich hin, wobei sein Blick aus dem vergitterten Fenster wandert. Der Ausblick ermutigt ihn allerdings nicht besonders. Gitter sind wichtig. Die europäischen Mitarbeiter gelten hier als die Reichen, was automatisch Diebe anzieht. Auch vor den Affen muss man sich hüten. Die treten als Horde auf und werden dann richtig frech und gefährlich. Erik hatte beobachtet, wie sie einem Inder das Essen klauten. Einer hat sich von vorne genähert, wobei der Inder diesen mit seinem Stock zu verscheuchen suchte. Dabei blieb der Affe aber immer nur knapp außer Reichweite des Stocks und rückte sofort wieder vor, wenn der Inder sich setzen wollte. Irgendwann ist der Inder dann einen Schritt auf den Affen zugegangen. Darauf hatten aber zwei der Rasselbande nur gewartet, stürzten von hinten auf das Essen, ergriffen den ganzen Beutel und rasten in die Bäume in Sicherheit. Dass das ganze einem Masterplan unterlag, konnte Erik daran erkennen, dass der erste Angreifer anschließend seelenruhig neben den zwei Anderen saß und diese die Beute ohne Geschrei und Zank teilten. Die Inder hatten Erik eindringlich davor gewarnt, ein Tier anzufassen oder festzuhalten, auch wenn sie sich bis auf Tuchfühlung einem nähern sollten. Macht man den Fehler und versucht, einen Affen zu berühren, wird dieser sofort zubeißen. Das Gebiss ist so kräftig, dass sie ohne weiteres einen Finger abbeißen können.
Erik lässt sich auf einen Sessel fallen und nimmt einen Schluck aus der Colaflasche. »Mein Gott, ich bin schon fünfzehn Monate hier!« macht sich Erik klar. Vor diesen fünfzehn Monaten hat er sich als durchschnittlich verwöhnter Europäer in ein Flugzeug gesetzt. Aber nicht, um sich an einem Palmenstrand von den Landesschönheiten Cocktails servieren zu lassen, sondern um zu Arbeiten. Okay, er war damit einverstanden, irgendwo in der großen weiten Welt zu arbeiten. Er war damals froh, diesen Job zu haben, der ihn in die ferne, weite Welt führen würde. Außerdem besaß er da noch die Illusion, dass er mitbestimmen darf, wohin die Reise geht. Die Rede war von viel Geld, Abwechslung und Verantwortung. Er kann sich noch genau daran erinnern, wie die Kollegen an seinem ersten Tag ihre Geschichten zum Besten gaben:
»Hey, Mann, Du musst unbedingt in den Sudan. Die Nubierinnen haben so feste Brüste, dass man darauf die Wanzen zerdrücken kann.«, war ein Spruch, der von wissendem Männerlachen aus der Runde begleitet wurde. Welcher Mann kann da verhindern, dass nicht hübsche, begehrliche und willige Mädchen mit kurzem Röckchen und blanken Brüsten vor dem inneren Auge erscheinen. Mein Gott, wie soll man da nicht an Sex denken. Jetzt, wo Erik schon wieder so lange auf dem Trockenen sitzt, erscheinen sexuellen Phantasien sowieso immer häufiger. Die Beschreibungen der Kollegen klangen nach exzessiven Partys mit willfährigen, jungen Frauen und nach viel Spaß ohne negativen Beigeschmack. Irgendwie haben Sie die Monotonie, die Einsamkeit, den Frust, die vielen drohenden Krankheiten und Risiken in Ihren Erzählungen weggelassen. Seufzend lässt sich Erik in dem Sessel zurückfallen und legt die Füße auf den Beistelltisch.
»Mit meinem heutigen Wissen wundere ich mich über diese Sorglosigkeit. Ich glaube, die lieben Kollegen haben einfach nur kräftig übertrieben! Auch früher war das alles nicht so sorgenfrei.«, überlegt sich Erik und nimmt noch einen Schluck warme Cola.
»Vielleicht sollte man dies auch anders sehen. Möglicherweise liegt es auch einfach an der relativen Sichtweise: nach einem monatelangen Entzug wird jede Party für die Sinne zu einer wilden Orgie.«, philosophiert Erik vor sich hin.
»In meiner jetzigen Lage wäre eine normale Kneipe, wie es sie zuhause an jeder Ecke gibt, ein Fest für die Sinne!«
Erik erinnert sich an einen Artikel, den er vor einiger Zeit gelesen hatte, wonach der Mensch in Episoden lebt. Er erinnert sich an die Maxima dieser Episode und an das Ende. Wenn das Ende gut war, so wird auch die ganze Episode, unabhängig von der Dauer, als gut betrachtet.
»Dann hoff ich mal auf ein gutes Ende«, stöhnt Erik, als er aufsteht und ins Bad geht, um sich für den neuen Arbeitstag fertig zu machen.
Erik betritt etwas müde den Flur zu seinem Büro. Mit Gaby hat er gestern Abend auf dem Balkon eine Flasche Wein geleert. Dann sind sie spontan auf die Idee gekommen, im Freibad über den Zaun zu klettern. Zwangsläufig war die Nacht etwas kurz. Langsam schlendert er an den Türen der Arbeitszimmer vorbei, als ihm sein Chef, Andresen, über den Weg läuft. Wie immer ist er etwas hektisch, was den Eindruck vermittelt, dass er fünf Sachen gleichzeitig erledigt. Als er Erik sieht, bleibt er abrupt stehen.
»Hallo, Herr Jacobsen, wie geht’s?«, fragt er in einem Tonfall, bei dem man erkennt, dass er nicht wirklich eine Antwort erwartet: »Können Sie bitte kurz in mein Büro kommen?«
Es geht um einen neuen Auftrag. Das ist klar. Auf dem Weg überlegt sich Erik, welche Projekte denn in Betracht kommen könnten. Da gibt es diesen Staudamm in Sri Lanka oder das Kraftwerk in Malaysia, dann ist da auch noch diese Anlage in Dänemark oder die andere in der Nähe von Athen. Alles Orte, mit denen er sich irgendwie anfreunden könnte. Erik geht also frohen Mutes auf seinen Chef zu und muss sich dann beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Im Büro von Andresen setzt er sich auf den einzigen Stuhl vor dessen Schreibtisch. Es ist das typische Büro eines Workaholics. Terminpläne an der Wand, überall Stapel von Unterlagen und Akten, dazwischen diverse gebrauchte Kaffeetassen, unterschiedlich gefüllte Aschenbecher und am Rand eines Stapels, kurz vor dem Sturz auf den Fußboden, das obligatorische Familienfoto.
»Kaffee?«, fragt Andresen.
»Ist ja nett, dass er mir einen Kaffee anbietet, wo er doch selbst immer keine Zeit hat,«, denkt sich Erik. »Entweder will er etwas von mir oder er braucht selbst einen Kaffee und sieht sich daher gezwungen, mir etwas anzubieten. Egal, ich kann einen gebrauchen!«
»Ja, gerne!«, nickt Erik mit einem Lächeln.
»Frau Berger, sind Sie bitte so gut und bringen uns zwei Tassen Kaffee.«, ruft Andresen in das Nebenzimmer, dessen Tür geöffnet ist.
»Der letzte Job von Ihnen lief ja prächtig.«, wendet sich Andresen lächelnd an Erik.
»Nun, neben Können braucht man manchmal etwas Glück.«, erwidert Erik etwas ausweichend und überlegt, was der Chef von ihm will.
»Ich gehe mal davon aus, dass es etwas mehr Können als Glück war. Aber deshalb wollte ich eigentlich nicht mit Ihnen sprechen. Ich habe ein Problem in Indien. Wir liegen mit der Inbetriebnahme unserer Anlage schon deutlich hinter dem Zeitplan zurück. Und jetzt hatte Herr Bender einen kleinen Unfall und musste kurzfristig zurück nach Deutschland. Ich möchte Sie daher bitten, uns vor Ort für drei Wochen zu unterstützen, bis er wieder auf den Beinen ist.«, kommt Andresen zur Sache.
Indien hatte Erik völlig von seiner Liste gestrichen. Als das Wort Indien fällt, reagiert er innerlich fast reflexartig mit einem lauten »NEIN«.
»Es gibt so schöne Länder auf dieser Erde und ich soll nach Indien?«, schießt ihm ein Protestgedanke fast augenblicklich durch den Kopf. »Das ist jetzt etwas überraschend. Sie erinnern sich sicher, dass ich doch schon bei der Einstellung erklärt habe, dass ich da etwas voreingenommen bin. Das ist nicht gerade mein bevorzugtes Tätigkeitsland.«, erwidert Erik nun mit einem etwas abwehrenden Blick.
Andresen schaut ihn kurz, aber energisch an und schüttelt den Kopf.
»Ich weiß, es ist nicht gerade eine Belohnung, aber wir haben im Augenblick keinen anderen, dem wir zutrauen, dass er den Job hinbekommt. Ich traue ihnen durchaus zu, dass sie in eine Führungsposition hineinwachsen.«, lockt ihn Andresen. »Zum einen kann ich Ihnen anbieten, dass wir etwas mit Ihrem Gehalt machen. Sie sind noch nicht so lange bei uns. Sie haben die Gelegenheit, sich in einer Führungsposition zu behaupten und damit für höhere Aufgaben zu qualifizieren.«, fährt Andresen seine Argumente auf, »und außerdem, es sind doch nur 3 Wochen!«.
Erik überlegt kurz, wie er reagieren soll. Er weiß genau, dass eine Ablehnung nicht gut ankommen wird.
»Nun, was die drei Wochen angeht, so ist das ein überschaubarer Zeitraum. Ich würde da gerne noch mal auf Ihre Eingangs verwendeten Worte zurückkommen. Ich denke, dass ich Beweise geliefert habe, welchen Mehrwert ich der Firma biete. Daher würde ich gerne mit Ihnen über meine zukünftige Gehaltsentwicklung sprechen. Wenn ich dann in Indien bin, geht das ja leider nicht«, erklärt Erik.
Andresen stöhnt zwar, so als ob er eine Gehaltserhöhung aus eigener Tasche zahlen muss, willigt aber schließlich ein und hebt das Grundgehalt von Erik um immerhin 300,-€ an. Der negative Beigeschmack, den die Aussicht auf den Einsatz in Indien hinterlässt, wird somit von einem kleinen Erfolgsgefühl übertönt, so dass Erik mit etwas ambivalenten Gefühlen das Büro verlässt.
»Nach Anta soll es gehen. Mal sehen, wo das denn nun ist. Vielleicht irgendwo in der Nähe von einem Strand? Oder in Kaschmir, oder am Rande des Himalaya? Indien ist groß und das Abenteuer lockt schon ein wenig«, springen die Gedanken durch Eriks Kopf, als er zu seinem Arbeitsplatz geht und sich langsam an den neuen Gedanken gewöhnt. Leider kann ihm in der Firma keiner genau zeigen, wo die Baustelle liegt. Es hängt zwar eine große Weltkarte an der Wand, aber der Versuch diese Ansiedlung auf einer Weltkarte zu finden, ist nicht möglich. Nach einiger Nachforschung findet Erik die ungefähren Angaben: etwa 600 km südöstlich von New Delhi und etwa 200 km nördlich von Bopal. Die nächste größere Ortschaft heißt Kota. An Bopal kann Erik sich noch erinnern. Seine traurige Berühmtheit hat dieser Ort nach einem Chemieunfall erlangt. Dabei traten auf Grund von Fehlbedienung der indischen Betreibermannschaft giftige Stoffe in die Umgebung. Dieser kleine Unfall führte zu mehreren Tausend Toten und forderte an die 100.000 Verletzte. Erik fand es immer sehr irritierend, dass keine genauen Angaben zu den Toten und Verletzten gemacht wurden, sondern die Schätzungen immer um einige tausend Menschen voneinander abwichen. Heute ist ihm allerdings klar, warum die Zahlen in Indien nie genau ermittelt werden können und nur auf groben Schätzungen beruhen. Es gibt einfach keine verlässlichen Unterlagen, wie viele Menschen an einem Ort leben. Neben den Einheimischen gibt es viele Wanderarbeiter, die ständig auf der Reise sind. Um die Zahl der Menschen zu ermitteln, geht man wie bei den Ameisen vor. Man zählt eine überschaubare Fläche aus und rechnet dies dann auf die Gesamtfläche hoch.
»Da wird man von seiner Firma zu einem riesigen Projekt geschickt, bei dem für ein paar hundert Millionen ein Kraftwerk in die Wüste gesetzt wird und keiner weiß genau, wo das Ganze auf der Karte zu finden ist!«, wundert sich Erik, wobei sich ein merkwürdiges Gefühl einschleicht. Erik kann sich noch gut an den schlimmsten Fluch seines Großvaters erinnern, wenn dieser richtig wütend war: »Geh doch dahin, wo der Pfeffer wächst.« In Indien wächst Pfeffer.
»Ich brauch noch Ihren Pass, damit wir ein Arbeitsvisum beantragen können!«, wird Erik in seinen Gedanken von der Sekretärin unterbrochen, die unvermittelt vor seinem Schreibtisch steht.
»O. K., den kann ich morgen mitbringen.«, erwidert Erik.
»Ach ja,« fährt die Sekretärin fort, »gehen Sie am besten auch gleich bei unserem Betriebsarzt vorbei wegen der Impfungen. Der ist noch bis 11:00 Uhr da!«
»Impfen? Spritzen? Oh nein!«, schießen erschreckte Gedanken durch Eriks Kopf. Er hasst es, Spritzen zu bekommen. Als kleiner Junge musste er mehrere Wochen wegen einer Infektion im Krankenhaus verbringen. Jeden Morgen kam die Krankenschwester mit einem Rollwagen, um ihm und den anderen Kindern zum einen schmerzhafte Spritzen gegen irgendetwas zu geben und zum anderen mit einer Rasierklinge das Ohr anzuritzen, um etwas Blut abzunehmen.
Er hat die Worte »Stell Dich nicht so an, das tut überhaupt nicht weh!« der Krankenschwestern noch gut im Ohr. Nach ein paar Tagen war er so weit, dass er aus dem Bett sprang und versuchte, sich irgendwo im Zimmer zu verstecken, wenn er die Krankenschwester mit dem Spritzenwagen auf dem Flur hörte.
Durch die Schmerzen, die er jedes Mal fühlte, hat die Glaubwürdigkeit des medizinischen Personals erheblich gelitten. Vor allem hat er seit dieser Zeit eine regelrechte Angst vor Spritzen manifestiert. Die Aussicht, sich nun auch noch freiwillig Spritzen abzuholen, war alles andere als eine Freude für Erik. Mit einem mulmigen Gefühl und etwas weichen Knien geht er über das Gelände zu dem Sanitätsbereich. Der Arzt sieht auf dem Formular für die Kostenstelle, dass es nach Indien gehen soll. Auf einer Tabelle schaut er dann nach, was denn da so alles fällig wird. Da wäre zum einen die Impfung gegen Hepatitis A, gegen Typhus und gegen Cholera. Zu allem Überfluss erkennt der Arzt auch noch, dass die Tetanusimpfung überfällig ist, was einen weiteren Stich bedeutet. Zu seiner großen Freude ist die Impfung gegen Cholera eine Schluckimpfung, aber für alle anderen muss er jeweils einen Stich akzeptieren. Am Schluss gibt ihm der Arzt auch noch ein kleines Päckchen mit diversen Medikamenten mit. Ein kleiner, selbst erstellter Beipackzettel klärt über die Anwendungsfälle und die Dosierung auf. Erik wird langsam bewusst, dass sich dieser Job deutlich von seinen bisherigen Einsätzen unterscheidet. Für einen Einsatz in Europa hätte er sicher nicht zum Arzt gemusst. Erleichtert, dass er die Prozeduren überstanden hat, verlässt er schließlich nach einer Stunde den Sanitätsbereich.
Gaby und Erik haben sich vor etwas über vier Jahren auf einer Studentenparty kennengelernt. Eine hübsche, junge Frau saß halb auf einem Heizkörper an der Wand gegenüber der Tür, eine Bierflasche in der Hand und mit einem fröhlichen, offenen Blick. Erik hatte sie vorher nie gesehen, aber als er ihr Lachen hörte, war ihm sofort klar, dass er sie unbedingt kennenlernen muss. An dem Abend haben sie sich lange und intensiv unterhalten. Er weiß noch genau, welche Mühen er dabei hatte, am darauffolgenden Sonntag, nach einer nahezu schlaflosen Nacht, drei Rosen aufzutreiben. Mehr gab sein Studentenbudget nicht her. Endlich stand er dann vor ihrer Tür und keiner machte auf. Also hat er die Rosen am Türknauf befestigt. Leider hatte er nicht damit gerechnet, dass sie nicht da sein könnte. Also hatte er auch nichts dabei, auf dem er eine Nachricht hätte hinterlassen können. Verzweifelt sucht er dann im Hausflur und fand einen alten Einkaufszettel. Auf der Vorderseite stand eine Liste an hastig und unordentlich hingekritzelten Dingen, wie Zahnpasta, Petersilie, Omo und Toilettenpapier. Die Rückseite war noch frei, so dass er diese Seite benutzte, um eine Einladung zum Essen darauf zu schreiben. Das Ganze klemmte er dann unter Ihre Türklinke und ging wieder nach Hause. Leider ist die Zeit bis zu einer Antwort die reine Hölle.
»Was, wenn ein Nachbar einfach die Blumen klaut? Was ist, wenn sie gerade im Urlaub ist und dann einen Strauß toter Blumen findet? Was denkt sie sich, wenn sie den Einkaufszettel liest? Wie kann man nur so blöd sein und einen Einkaufszettel nehmen?«, waren die Gedanken, mit denen Erik sich selbst marterte. Als er es nicht mehr aushalten konnte, ist er am Abend noch einmal mit dem Fahrrad vorbeigefahren, um nachzuschauen, ob die Blumen vielleicht noch da sind. Leider war die Eingangstür verschlossen, so dass Erik vor dem Haus stehen musste und versuchte, von dort ihre Wohnung zu finden. Er war sich nun nicht mehr sicher, ob es die rechte oder linke Tür war, das Stockwerk war klar, aber er hatte nicht aus dem Fenster geblickt, ob es nun zum Hof oder zur Straße zeigte. Zu seiner Erleichterung brannte aber in beiden Wohnungen auf der Etage Licht. Trotzdem blieb die bange Frage, ob sie die Nachricht nun erhalten hat oder vielleicht doch ein Nachbar zuvorgekommen war. Mein Gott, was war Erik nervös, ob sie reagieren würde und vor allem wie? Das Gespräch zwischen beiden war toll gelaufen, aber die Unsicherheit, wie ein Mensch dann tatsächlich auf so eine eindeutige Botschaft oder fast eher Frage reagiert, hängt wie ein Mühlstein am seidenen Faden über einem.
Auf ihre Antwort musste Erik dann zwei Tage warten. Der erste Tag war noch hart. Am zweiten Tag beginnt sich dann bereits das Vergessen einzuschleichen, so dass man den theoretischen Verlust einzukalkulieren beginnt und ruhiger wird. Ihre Antwort hat ihn dann aber doch schier umgehauen. Als Erik zwei Tage später nach Hause kam, fand er eine Papierrolle unter seiner Türklinke. Es war mit einer blauen Schleife zusammengebunden. Er rollte das feste Pergament auf und fand ein Aquarell vor. Gaby studierte Kunst und hatte die drei Rosen als Aquarell gemalt. Auf der Rückseite hatte sie dann einen kurzen Text verfasst, in dem sie die Einladung annahm. War das eine herrliche Zeit. Als Student hat man keinen Luxus gebraucht, um glücklich zu sein. Die Endorphine der Verliebtheit reichten völlig, um jeden Tag zu vergolden. Nach einigen Monaten haben beide dann eine gemeinsame Wohnung gesucht. Nachdem Erik mit dem Studium fertig war und eine feste Anstellung hatte, sind sie in eine größere Wohnung gezogen, in der sie nun seit zwei Jahren zusammenleben. Es läuft eigentlich ganz gut. O. K. Es gibt immer ein paar Kleinigkeiten, über die man streiten kann, doch beide betrachteten das eher als Salz in der Suppe. Eine wichtige Regel war, niemals mit bösen Gedanken auf den Anderen ins Bett zu gehen, sondern sich vorher immer wieder zu vertragen. Keine schlechte Regel, fanden beide, wenn sie den Versöhnungssex genossen.
Auch Gaby hat ihre Ausbildung beendet und vor kurzem einen gut bezahlten Job in einer Galerie gefunden. Beide sind also recht erfolgreich aufgestellt und können das Leben gemeinsam genießen. Gerade dann, wenn man als Student sehr auf das Geld schauen musste, ist das Geld, das man anschließend regelmäßig verdient, ein Luxusvermögen. Essen gehen bedeutet nicht mehr, dass man Abstriche an anderer Stelle machen muss. Den Euro braucht man eben nicht mehr zweimal umzudrehen und hat trotzdem noch einen positiven Kontostand am Ende des Monats.
»Wenn ich Gaby heute Abend erzähle, dass ich nächste Woche nach Indien fliege, wird sie nicht begeistert sein.«, überlegt sich Erik auf dem Weg nach Hause.
»Wir haben in drei Wochen unseren ersten gemeinsamen Urlaub geplant. Der fällt jetzt aus!«, kommt es Erik überraschend in den Sinn, da er das ganz vergessen hatte.
»Am besten ich werde erst noch ein paar Blumen besorgen, um die unerfreuliche Neuigkeit etwas zu verschönern! Verdammt, sie wird sich nach der Nachricht sicher nicht mehr über die Blumen freuen. Diese Blumen sind dann das Symbol für eine schlechte Nachricht. Ich habe aber keine bessere Idee. Diese Blumen sind aus meiner Sicht eher das Symbol dafür, dass mir die Beziehung nicht gleichgültig ist!«, versucht sich Erik zu beruhigen.
»Hallo Schatz, wie war Dein Tag?«, wird Erik von Gaby mit einem Kuss begrüßt, als er aufschließt.
»Sie ist sehr attraktiv.«, denkt Erik und blickt auf ihre dunkelblonden, leicht gelockten Haare, die ihr etwas über die Schulter reichen, nicht zu dick und nicht zu dünn, irgendwie genau nach seinem Geschmack. Ihr Busen ist normal entwickelt. Erik versteht die Männer nicht, die sich diese Riesenbomben wünschen. Er findet eher, dass Frauen durch Riesenbrüste verunstaltet werden. Am meisten gefällt ihm aber ihre frische, direkte, fröhliche Art.
»Hi, schön, Dich zu sehen. Ich hab Dir ein paar Blumen besorgt.«, entgegnet er ihr.
»Ooh, die sind schön. Danke. Du siehst aber nicht sehr glücklich aus. Was ist los?«, fragt sie Erik und schaut ihn mit einem besorgten Blick an.
»Andresen hat mich nach Indien versetzt!«, antwortet Erik ohne zu zögern.
»Was? Wieso? Wann? Warum?«, prasseln die Fragen regelrecht auf Erik ein, wobei sich Bestürzung und Entsetzen in ihrem Gesicht abwechseln.
»Die haben ein Problem, weil der Leiter der Inbetriebnahme krank geworden ist. Ich habe lange mit Andresen diskutiert, aber er hat mich dann auf den Arbeitsvertrag verwiesen, in dem ich Einsätzen im Ausland zugestimmt habe. Um aus der Nummer raus zu kommen, müsste ich kündigen!«, erläutert Erik seine Situation.
Beiden war schon irgendwie klar, dass Erik irgendwann mal ins Ausland gehen könnte. Doch irgendwie haben sie den Gedanken daran verdrängt. Nun wurden sie davon überrascht. Vor allem, dass es ohne lange Vorwarnung passiert, so dass es wie ein plötzliches und unvorhersehbares Ereignis erscheint.
Erik erläutert Gaby die Anreise, so wie es die Sekretärin ihm geschildert hat. Zunächst wird er mit dem Flugzeug bis Neu Delhi fliegen und von da aus noch einmal etwa 10 Stunden mit dem Zug unterwegs sein. Am Ziel sollte dann ein Fahrer mit einem Auto auf ihn warten. Leider hat die Sekretärin recht häufig davon gesprochen, dass sie glaubt, dass die Reise so verläuft. Sie kümmert sich nur um das Ticket für das Flugzeug. Genaueres sollte er mit dem Büro in Delhi klären, wenn er da ist.
Erik ist sich bewusst, dass solch eine Versetzung ins Ausland vor allem für die Daheimgebliebenen schlimmer ist als für den Reisenden. Der Reisende ist von vielen neuen Eindrücken umgeben, so dass er nicht viel Zeit zum Grübeln hat. Die Daheimgebliebenen haben das Problem, dass sie sich Sorgen machen und diese Ungewissheit kontinuierlich an der guten Laune nagt. Es ist kein wirklich schöner Abend für Gaby und Erik, da beiden klar ist, dass dies eine Zäsur für ihr bisheriges Leben bedeutet. Sie fingen gerade an, sich einzurichten und müssen sich jetzt schon Gedanken über eine Trennung machen. Der schwache Trost besteht darin, dass der Zeitraum mit drei Wochen überschaubar ist.
»Bist Du sicher, dass es nur drei Wochen sind?« erkundigt sich Gaby mit einem fragenden Blick.
»Was soll ich dazu sagen?«, antwortet Erik, »meinst Du, mein Chef würde das unterschreiben? So lange bin ich nun auch noch nicht im Unternehmen, dass ich unentbehrlich bin und Forderungen stellen kann!«
»Und was machst Du, wenn es länger wird?«, bohrt sie weiter.
»Dann muss ich eben krank werden, krank vor Liebeskummer!«, erwidert Erik und nimmt Gaby zärtlich in den Arm, um das Thema zu beenden. Die Stimmung bleibt den ganzen Abend getrübt. Es ist eine Mischung aus Angst vor der Trennung, einem leichten Entsetzen darüber, dass die Reise ohne Vorbereitung, wie ein Schicksalsschlag über sie hereinbricht und dem stillen Vorwurf, dass Gaby an der Entscheidung nicht mitwirken konnte. Die zusätzliche Unsicherheit, dass Erik keine genauen Angaben dazu machen kann, wie lange der Einsatz dauern wird und wo denn der Ort genau liegt, hat die Stimmung nicht nachhaltig verbessert.
Die letzten gemeinsamen Tage vergehen wie im Flug. Erik war vorher noch nie in Indien. Eigentlich kennt er das Land nur von den Plakaten im Reisebüro. Von den Arbeitskollegen hat er erfahren, dass er möglichst haltbare Lebensmittel mitnehmen soll, da diese wohl nicht leicht zu bekommen sind. Erik und Gaby wird im Laufe der letzten Tage immer mehr bewusst, dass die bisherige Arbeitsteilung nicht funktionieren wird. Gaby muss ihn bei allen offiziellen Sachen vertreten können, so dass es für Erik selbstverständlich ist, dass er ihr für alle wesentlichen Sachen Vollmachten gibt. Sie trösten sich damit, dass sie in der Zeit seiner Abwesenheit möglichst viel telefonieren werden.
»Wir haben noch ein paar Sachen, die Sie unbedingt mitnehmen müssen!«, erklärt ihm die Sekretärin, Frau Berger, als Erik am Morgen des Reisetages in der Firma ankommt.
Mit den Worten, »Holen sie doch am besten den Mietwagen vom Parkplatz und fahren hinten zur Werkstatt.«, übergibt sie Erik einen Autoschlüssel. Zunächst ist Erik etwas verwundert, dass es ein Passat Kombi ist. Als er aber dann an der Rampe zur Werkstatt ankommt, warten dort bereits sieben Koffer auf ihn, die er noch mitnehmen soll. In den Koffern sind Ersatzteile, Elektronikkarten und Werkzeuge. Erik muss die Koffer mehrfach umräumen, bevor sie gerade so in den Mietwagen passen. Einen Koffer muss er sogar auf dem Beifahrersitz anschnallen. Nach einer knappen Stunde Fahrt steht Erik dann in Frankfurt am Flughafen vor dem nächsten Problem. Auf einen Gepäckwagen passen nicht alle Koffer. Da er zwei Gepäckwagen braucht und nur einen zur gleichen Zeit bewegen kann, will er einen Gepäckwagen am Check in abstellen und dann den Zweiten holen. Das ist aber nicht möglich. Da Erik aber darauf besteht und langsam als Sicherheitsproblem erscheint, ruft die Dame am Check-in schließlich den Chef der Security. Ausnahmsweise und nur, weil Erik dem Security-Chef die Firmendokumente zu dem Gepäck zeigen kann und nachdem dieser einen Blick in die Koffer geworfen hat, kann Erik einen Wagen am Gepäckschalter unter Bewachung stehen lassen, um den Zweiten zu holen. Nach dem Check-In muss Erik allerdings noch das Übergepäck bezahlen. Erst dann bekommt er auch das Flugticket ausgehändigt. Zum Glück akzeptiert die Fluggesellschaft, dass die Rechnung direkt an die Firma gesendet wird. Erik hätte das Geld zwar wiederbekommen, doch dazu braucht es eine Reiseabrechnung und die kann er erst dann erstellen, wenn er wieder in Deutschland ist. So lange wäre sein Konto dann mit dem nicht unerheblichen Betrag von fast drei tausend Euro belastet worden.
Nach den Formalitäten schlendert Erik in die Business-Lounge. Schön souverän und langsam eintreten, das Ticket vorweisen und so tun, als wäre man hier schon etliche Male gewesen. Prima ist, wenn man einen Vorgänger hat, den man heimlich beobachten kann. Bloß nicht zeigen, dass man hier noch nie war. Also, erst einmal einen freien Platz suchen, die Bordtasche abstellen und dabei möglichst unauffällig die Einrichtung ausspähen.
»Okay, da ist die Bar, daneben ein Buffet mit kleinen Snacks und da drüben ein Ständer mit Zeitungen und Zeitschriften.«, orientiert sich Erik und versucht dabei möglichst so gelangweilt auszusehen, als ob er schon hundertmal hier war.
»Muss ich die Zeitschriften bezahlen oder gehört das zum Service«, stellt sich Erik die nächste Frage. Alsbald erhält er eine Antwort, da ein anderer Gast zum Ständer schlendert und sich mehrere Zeitungen nimmt, ohne dass die Damen am Empfang davon Notiz nehmen. Also erhebt sich Erik und schlendert ebenfalls in Richtung der Zeitschriften. Dort angekommen findet er ein Hinweisschild für separate Büronischen, die Toiletten und tatsächlich auch noch Duschen.
»Nicht schlecht, was einem so geboten wird, wenn man sich etwas über das normale Volk erhebt!«, denkt Erik und fühlt sich gleich etwas elitärer.
Duschen ist nicht nötig, also ran ans Buffet. »Wie wäre es denn zum Anfang mit etwas Campari und ein paar Erdnüssen. Dann hol ich mir noch eine Zeitung.«, legt er sich seinen Plan zurecht.
Erik überlegt, welche Zeitschrift denn angemessen wäre, wenn man denn so als weltmännischer Geschäftsmann reist?
»Ach ja natürlich ein Wirtschaftsblatt. Lese ich sonst nie, aber hier spiele ich mal den viel reisenden Manager.«, überlegt er sich beim Gang an das Buffet. Erik lässt seinen Blick möglichst unauffällig durch die Lounge kreisen, so als schaue er, ob er ein bekanntes Gesicht entdeckt. Verteilt auf den verschiedenen Sitzgelegenheiten sieht Erik nur Männer zwischen 40 und 60. Entweder sind sie damit beschäftigt, in einer Zeitung zu blättern oder sich mit ihrem Sitznachbarn zu unterhalten. Das erste Glas Campari war schnell leer. Also bewegt sich Erik noch einmal an die Bar, um sich einen Wein und ein paar kleine Snacks zu holen.
»Ein schöner, schwerer Bordeaux. Früher hat uns der Wein vom Discounter gereicht.«, überlegt er, als er das Etikett der Flasche prüft. »Früher kam es wohl eher auf die Wirkung als auf den Genuss an. Es ist wie mit den Frauen. Wenn man richtig gute Frauen kennengelernt hat, dann wird man auch wählerisch. Der Sex mit irgend so einem Discoaufriss bringt keinen Spaß mehr, wenn man einmal an edlen Früchten naschen durfte.«, philosophiert er mit einem wohligen Gefühl, als er langsam zu seinem Platz zurückgeht.
Es ist schon eine kleine Luxuswelt, die die Fluggesellschaft in ihrer Lounge präsentiert. Diese ruhige Atmosphäre, ein Großbildfernseher, der leise die aktuellen Nachrichten präsentiert, die vornehmen Damen am Empfang, die ausgewählten Angebote an der Bar und die Appetithäppchen auf dem Buffet.
»Nicht ganz mein normaler Alltag, aber sehr angenehm.«, denkt Erik, als er sich im Sessel entspannt.
»Ach ja, Zeitungen und Zeitschriften für die Kollegen mitnehmen!«, fällt Erik die Botschaft der Sekretärin wieder ein.
Es hat schon etwas von einem Raubzug, wie er sich mehrfach mit leichtem Zeitversatz an den Zeitungsständer begibt, um unterschiedliche Exemplare zu ergattern und sie dann in seiner Bordtasche zu verstauen. Ein bisschen unangenehm war es ihm schon, aber das Gefühl ließ sich ohne weiteres mit einem zusätzlichen Glas Bordeaux überdecken. Auch wenn der Aufenthalt recht angenehm ist, so ist es doch eine begrenzte Zeit, bis man zu seinem Flieger gehen muss. Erik hat festgestellt, dass in diesem Bereich keine Lautsprecherdurchsagen erfolgen. Man muss sich selbst darum kümmern, rechtzeitig zum Gate aufzubrechen.
»O. K., in fünf Minuten beginnt das Boarding, jetzt also wird es Zeit, zum Gate zu gehen.«, ermuntert sich Erik, als er mit leicht angesäuseltem Kopf seine Habseligkeiten zusammensucht und die Lounge verlässt.
Als Erik am Gate eintrifft, sind die meisten Passagiere bereits eingestiegen, so dass er ohne zu Warten über die Gangway bis zum Flieger gelangt. Zwei Stewardessen stehen am Eingang und begrüßen jeden Passagier mit einem freundlichen Lächeln.
»Was für eine scharfe Braut. Die sieht ja echt heiß aus. Blond, meine Größe und gut proportioniert. Hoffentlich ist sie meinem Bereich zugeteilt.«, schießen Erik durch den Alkohol leicht enthemmte Gedanken durch den Kopf.
Leider war die junge Frau nicht für seinen Bereich zuständig, sondern ein Steward. Somit verlief der weitere Flug ohne entsprechende erotische Gedankenspiele. Nach der ersten Aufregung über die neue Umgebung stellt sich bei Erik aber schnell eine entspannte Langeweile ein, bei der man zurückgelehnt den Service genießt und in verschiedenen Magazinen blättert.
»Irgendwie habe ich den Eindruck, dass er schwul ist, so weich, wie er spricht.«, überlegt sich Erik. Er war lange davon überzeugt, dass er bei Männern sofort erkennt, ob einer schwul ist. Inzwischen ist er aber vorsichtiger geworden. Erik erinnert sich noch gut, wie er nach einer Party bei Freunden mit einem ihm vorher unbekannten Mann im selben Zimmer übernachten musste. Im Verlauf der Party hatten Erik und Wolfgang, so hieß sein damaliger Zimmernachbar, ein recht interessantes Gespräch über Politik geführt. Erik wäre nie auf die Idee gekommen, dass dieser Mann schwul sein könnte. Erst am nächsten Tag, hat ihm sein Freund dann erzählt, dass Dieter schon seit Jahren eine schwule Beziehung führt. Erik selbst hatte nichts davon bemerkt, und wurde daher eine lange Zeit von seinen Freunden aufgezogen: »Hey, du hast doch mit Wolfgang in einem Zimmer übernachtet? Wie war es denn? Habt Ihr Spaß gehabt? Trefft Ihr euch wieder?«, waren die üblichen, flachen Sprüche, die er aushalten musste. Es verwundert Erik immer wieder, wie Homosexualität gesehen wird. Als ob ein Schwuler über jeden Mann herfallen würde, sobald er diesen allein in einem Zimmer antrifft.
»Schade, ich hätte gerne mit der blonden Lady vom Eingang geflirtet. Oder einfach nur zugesehen, wie sie sich durch die Reihen bewegt. Ihre Brüste waren ganz nach meinem Geschmack. Ob sie wohl rasiert ist? Bestimmt. Welcher Mann mit etwas Geschmack mag schon auf einem Bärenfell herumkauen.« wandern Eriks Gedanken wieder in eine erotische Richtung ab.
»Möchten Sie Orangensaft oder ein Gläschen Sekt?«
Der Steward steht mit einem Tablett neben Erik und lächelt ihn an. Durch den Alkohol etwas verlangsamt, braucht Erik ein paar Sekunden, um von seiner Phantasie in die Realität zurückzuschalten und »Den Sekt, bitte.«, antworten kann.
Eigentlich trinkt er nicht gerne Sekt. Aber nach Orangensaft war ihm noch weniger zumute.
»Man soll ja viel trinken, wenn man fliegt!«, versucht Erik eine Rechtfertigung zu finden. Nachdem er nun aus seinen Tagträumen erwacht ist, beginnt er, sich für die Mitreisenden zu interessieren. Alles Männer zwischen 30 und 60 Jahren, stellt er nach einem oberflächlichen Blick in die Runde fest. Sein Sitznachbar ist in etwa in seinem Alter. Er war Erik bereits vorher aufgefallen. Um zum Flieger zu gelangen, muss man durch die Kontrolle für die Bordkarte. Dort war der Kollege mit den Mitarbeitern angestrengt am Diskutieren und führte dabei so ein »Hallo-ich-bin wichtig-Theater« auf. Anlass war seine recht große Tasche, auf der mit großen Lettern »Bundesrepublik Deutschland« und der Bundesadler prangte. Es handelte sich wohl um Diplomatengepäck, dass er partout nicht aus der Hand geben wollte. Da die Tasche aber zu groß für die Kabine war, musste er sie schließlich doch aufgeben. Erik konnte von seinem Sitzplatz beobachten, wie er dann persönlich über eine Treppe auf das Rollfeld gegangen ist und dann überwacht hat, wie seine Tasche dann als letzte verstaut und die Klappe verschlossen wurde. Als Erik herübersieht, fällt ihm eine kleinere Bordtasche des »Hallo-ich-bin-wichtig-Kollegen« auf, die halb offen neben dem Diplomaten liegt. Seltsamerweise schaut aus ihr ein Teil eines Briefes heraus, so dass die Adresse des Absenders zu erkennen ist: »Auswärtiges Amt«, wieder mit Bundesadler.
»Den Aufstand mit der Tasche hat er wohl veranstaltet, weil ihm sein Statussymbol abgenommen wurde.«, denkt sich Erik. Jeder, der feststellt, dass sein Brief so aus einer Tasche herausschaut, würde ihn sofort zurückschieben. Nicht so sein Sitznachbar. Erik lächelt leise in sich hinein, da er Menschen mit solch einem Verhalten einen erheblichen Minderwertigkeitskomplex unterstellt. Er hat nichts für diese Art von Gernegroß übrig und versucht ihnen möglichst aus dem Weg zu gehen. Ihr Selbstwertgefühl ist so gering, dass sie leicht betroffen sind und dann zu streiten anfangen. Auf der anderen Seite macht es Erik manchmal Spaß, mit diesen Menschen zu spielen. In ihrem Bestreben, als Held da zu stehen, müssen sie zwangsläufig eine Geschichte erfinden. Mit etwas Geschick kann man dann versuchen, diese Geschichte durch gezielte Fragen zu dramatisieren. Erik hat schon früh erkannt, dass diese Leute meist sehr fixiert sind und daher sehr anfällig für Manipulationen.
»Mein Briefträgernachbar ist wahrscheinlich nur Hausmeister und wäre gerne Diplomat!«, beendet Erik seine Gedanken an seinen Mitreisenden.
So langsam zeigt der Alkohol seine Wirkung und eine gemütliche Schwere erfasst Erik, so dass er irgendwie ganz zufrieden die Lehne des Sitzes zurückstellt und sich entspannt. Das ist der große Vorteil der Business Class. Die Sitze stehen so weit auseinander, dass man tatsächlich den Sitz zurückstellen kann, ohne den Hintermann in Bedrängnis zu bringen. Entspannt schließt Erik die Augen und überlegt, ob er wohl einschlafen kann.
Mit einem Mal kommt die Stewardess vom Check-in auf ihn zu, und fordert ihn lächelnd auf, ihr zu folgen. Erik blickt zunächst sehr verwundert, folgt ihr dann aber in einen abgeteilten Nebenraum, in dem sie alleine sind. Er hat das Gefühl, als würden sie sich leicht bewegen, nein eher aufeinander zu schweben, von einer Kraft getrieben, die dem Verlangen entspringt und den Verstand aufsaugt. Sie berühren sich schließlich, langsam und sanft. Obwohl sie sich erst wenige Sekunden sehen, empfindet Erik ein Gefühl, als wären sie schon Jahre vertraut. Keine Worte fallen, die das Bild vielleicht verändern könnten. Nur Blicke, unendlich sanft, unendlich tief und unendlich vertraut. Langsam berühren sich die warmen, weichen Körper. Erik spürt ihre Brustwarzen wie die kleinen Knospen einer Rose. Er spürt ein Verlangen in sich erwachsen, dass seine Sinne verschließt und die Gefühle intensiviert. Der betörende Duft ihres Parfums, das leise kitzeln ihrer Haare, die sinnlichen Lippen, die sich ihm nähern. Alles zusammen verschmilzt zu einer einzigen erotischen Wahrnehmung. Sein Mund berührt ihre Wange. Sie legt den Kopf zurück und bietet ihm ihren Hals an. Seine Lippen bewegen sich immer tiefer auf Ihre Brüste zu.
»Würden Sie bitte Ihren Sitz aufrecht stellen?«
»Wie, was …. Oh verflixt. Ich bin eingeschlafen«, stellt Erik irritiert fest und blickt auf die Uhr. Es ist zwei Uhr morgens. Die ersten Sekunden war er etwas orientierungslos, bis er die Umgebung wieder zuordnen kann. Nicht gerade eine Zeit, in der er sich taufrisch fühlt. Die fremdartigen Geräusche im Flieger führen dazu, dass er nicht wirklich tief schlafen konnte. Es reichte aber aus, um wirre, ja geradezu fiebrig erotische Träume zu entwickeln. Es ist kurz vor der Landung in Neu Delhi. Der Steward serviert heiße Tücher. Die Haut ist irgendwie ausgetrocknet und nimmt die Dämpfe begierig auf.
»Wünschen Sie Frühstück?«, fragt der Steward freundlich.
»Ein Kaffee wäre sehr nett.«, erwidert Erik.
»Das angebotene Omelett ist nichts für meinen Magen um diese Uhrzeit. Der schläft noch!«, sinniert Erik. Als er aus dem Fenster schaut, bemerkt er dieses besondere, diffuse Licht am Himmel, das von den Lichtern einer Großstadt erzeugt wird. Das ist also die Millionenstadt Delhi. Von oben sieht jede Stadt magisch aus. Die vielen Lichter ziehen sich wie Perlenketten die Straßen entlang. Es ist ein Anblick, den Erik genießt.
»Für eine Millionenstadt sind es aber irgendwie zu wenig Lichter.«, überlegt Erik. Erst später erfährt er, dass nur einige Teilbereiche über eine Straßenbeleuchtung verfügen. Die Ausdehnung der Stadt lässt sich in der Nacht nur vage an den vielen Lagerfeuern erahnen.
»Bitte füllen Sie das Einreiseformular aus.«, reißt ihn der Steward mit einem freundlichen Lächeln aus seinen Gedanken und legt ihm das Formblatt auf den Klapptisch.
»Mein Gott, wie kann man nur um diese Zeit noch so frisch aussehen?«, überlegt Erik, als er dem Steward dankend zunickt. Der erste Punkt ist die Frage nach der Reisepassnummer.
»Wer hat denn so was im Kopf.«, seufzt Erik, als er den Tisch wieder hochklappt. Er steht mit etlichen anderen Passagieren jetzt im Gang um die Overheadbox über seinem Sitz zu öffnen und die Tasche herauszuholen. Da es sowieso nicht mehr lange mit der Ankunft dauern wird, beschließt Erik, die Tasche anschließend unter seinem Sitz zu verstauen. Nachdem Erik sich wieder gesetzt hat, richtet sich sein Diplomaten-Nachbar an ihn und zeigt auf das Formular: »Passen Sie bloß gut auf den gelben Durchschlag auf. Ich hab meinen mal verloren und dann mächtig Ärger bei der Ausreise gehabt.«
»Na prima, noch nicht mal im Land und schon hat man Probleme mit der Ausreise.«, erwidert Erik mit einem spöttischen Lächeln. Nachdem das Flugzeug am Terminal angedockt ist, hat Erik den Eindruck, als ob die Passagiere langsam, ja fast zögerlich die Gangway hinab ins Terminal gehen. Nicht mit Hast und Freude den wartenden Verwandten entgegeneilend, sondern eher so wie jemand, der etwas unwillig einen angenehmen Ort verlassen muss.
Das erste, was Erik auffällt, als er aus dem Flieger steigt, ist der Geruch. Es riecht muffig, abgestanden, etwas faulig, so als ob vor kurzem ein Mülllaster vorbei gefahren ist. Erik fragt sich auf dem Weg zur Passkontrolle, ob es durch eine mangelhafte Klimaanlage, die vielen Menschen und wenig Lüftung oder einfach durch unhygienische Verhältnisse zu diesem Geruch kommt. Der Zöllner in seiner Kabine sieht müde und gelangweilt aus. Langsam schiebt Erik sich mit den anderen Passagieren an den Schalter heran.
»Verflixt, wo ist jetzt dieses komische Einreiseformular?«, entnervt wühlt Erik in seinem Aktenkoffer, um diesen Zettel wiederzufinden. Die Suche bleibt zunächst ergebnislos, bis er sich erinnert: »Ach ja, ich habe ihn ja in die Innentasche vom Jackett gesteckt. Bin wohl doch etwas müde.«
Stoisch blickt der dunkelhäutige Inder Erik ins Gesicht, als er endlich vor dem Schalter steht. Dann blickt er abwechselnd auf den Pass, die Formulare und seinen Computerbildschirm und tippt irgendwelche Daten ein. Der Zöllner zelebriert anschließend das Stempeln der Dokumente mit jeweils einem lauten Klack, als er den Stempelautomat mit Wucht auf die Papiere sausen lässt. Seine Arbeit leistet er völlig wortlos. Kein Lächeln, kein Ton, nichts. Schließlich ist er mit dem Prozedere fertig, behält das rote Deckblatt und gibt Erik den Ausweis mit dem gelben Schein zurück. Anschließend winkt er ihn mit einer kurzen Handbewegung durch, als würde er eine Fliege wegscheuchen. Hinter den Schaltern für die Zöllner fällt Erik ein einzelner erhöhter Glaskasten auf, in dem wohl der Chef-Aufpasser sitzt, der die anderen Zöllner kontrolliert. Erik findet, dass er wie ein Oberlehrer wirkt, der über seiner Klasse thront. Es ist wohl erforderlich, um sicherzustellen, dass die Zöllner auch wirklich arbeiten und nicht nur Tee trinken. In diesem Land hat auch der Aufpasser mit Sicherheit seinen Aufpasser. »Jetzt bin ich also in Indien.«, denkt Erik, »Nun, nicht ganz. Zuerst muss ich ja noch mein Gepäck abholen.«
Hinter der Passkontrolle muss Erik durch eine weitere Tür, um in den nächsten Raum zu gelangen. Eben war es noch recht ruhig und beschaulich. Auch das diffuse Licht war eher gedämpft. Kaum stößt Erik die Tür auf, steht er in einer anderen Welt. Die Halle ist grell erleuchtet und ihn empfängt ein lautes, quirliges, geschäftiges Treiben, das von den vielen Passagieren der unterschiedlichen Flüge stammt, die hier nach ihrem Gepäck suchen. Erik stellt fest, dass es in der Halle so warm ist, als ob eine Heizung laufen würde. Der muffige Geruch im Bereich der Passkontrolle ist hier um ein vielfaches intensiver und irgendwie mit zusätzlichen, für ihn ungewohnten, exotischen Gerüchen geschwängert. Erik empfindet den Geruch als aufdringlich und penetrant, nicht als angenehmes Parfum, sondern eher wie eine schwüle Wolke, die sich seiner bemächtigt. Zunächst hat Erik etwas Schwierigkeiten, sich in diesem wilden und bunten Konglomerat an fremdartigen Sinneseindrücken zu orientieren. Indien rückt irgendwie immer näher an ihn heran. Es kommt ihm vor, als wenn er Schalen um sich trägt, die von den intensiven Eindrücken nach und nach durchdrungen werden und abfallen. Je tiefer er in die Gepäckausgabehalle eindringt, desto intensiver wird dieses Indien. Es wimmelt überall von dunkelhäutigen Menschen. Die vielen uniformierten Mitarbeiter fallen ins Auge. Es ist im ersten Moment nicht zu erkennen, ob es sich um Polizisten, Zöllner oder einfache Angestellte des Flughafens handelt. Sie unterscheiden sich hauptsächlich durch die Zahl der Streifen und Sterne auf ihren Uniformen. Der größte Teil von ihnen steht einfach nur herum und passt auf, dass kein Reisender in den falschen Bereich läuft. Daneben gibt es noch jede Menge Gepäckträger. Sie tragen einen Ausweis an einem Band um den Hals, so dass für sie keine Grenzen zu gelten scheinen, da sie fast beliebig zwischen den Absperrungen hin und her laufen. Überall sind dunkelhäutige Menschen in bunter Kleidung zu sehen die deutlich machen, dass er nicht mehr in Europa ist. Das Stimmengewirr klingt auch nicht mehr vertraut, so dass die Fremdartigkeit in diesem Raum im ersten Moment auf Erik bedrückend wirkt. Das Gebäude macht einen leicht in die Jahre gekommenen Eindruck. Sauber ja, aber der Lack ist halt ab. Erik hat den Eindruck, dass der Begriff Zeitreise eher zu diesem Flug passen würde. Er steht in einer anderen Welt. »Ich tippe auf 100 Jahre vor unserer Zeitrechnung.«, überlegt er sich, wobei er etwas distanziert, aber interessiert auf das bunte Treiben blickt. Da es wohl noch etwas dauert, bis das Band für das Gepäck gestartet wird, organisiert Erik zwei Trolleys. In dem Moment, als er am Band wieder ankommt, ertönt ein Signal und das Förderband setzt sich in Bewegung. Nach und nach treffen seine Koffer ein. Sieben Gepäckstücke gilt es, wiederzufinden. Leider ist ein Koffer zunächst verschollen. Die Halle leert sich nach und nach, ohne dass der letzte Koffer auftaucht. Erst als Erik sich auf den benachbarten Rollbändern umsieht, findet er den gesuchten Koffer, der einsam im Kreis fährt. Allerdings hat es so lange gedauert, dass Erik mittlerweile der letzte Passagier ist, der dem Ausgang zustrebt. Alle Gepäckträger sind mittlerweile verschwunden, so dass er die zwei Trolleys hintereinanderstellt und so versucht, sie zum Ausgang zu schieben. Der hintere Trolley ächzt, quietscht und schaukelt bedenklich, da wohl eines der Räder unter der Belastung nicht mehr richtig funktioniert. Erik steuert langsam auf die Ausgangstür zu, an der eine gelangweilte Meute von indischen Zöllnern steht, die vermutlich die nächsten Stunden außer herumstehen nichts mehr zu tun haben.
Erik versucht, so unauffällig wie möglich auszusehen, weiß aber, dass die zwei Trolleys da nicht hilfreich sind. Kurz, bevor er den Ausgang erreicht, stellt sich ihm einer der Uniformierte in den Weg und hält seine Hand fordernd in Richtung Erik. Erik kramt seinen Ausweis aus dem Jackett und reicht ihn mit einem Lächeln an den Uniformierten weiter.
»Anything to declare, Sir?«
»No, Sir«
»Please open this suitcase!”
Erst jetzt erkennt Erik, dass einige seiner Koffer ein gelbes Kreidekreuz tragen.
»Na Klasse, das gibt jetzt Diskussionen. Das ist doch ein gefundenes Fressen für diese gelangweilte Meute.«, denkt Erik, wobei er das Gefühl hat, das triumphale Schimmern eines Schatzsuchers in den Augen des Uniformierten zu sehen. Erik muss die Wagen an die Wand neben der Ausgangstür schieben und legt den ersten Koffer auf den Tisch. Als er den ersten Koffer öffnet, strömen plötzlich wie die Geier gleich ein Dutzend Zöllner dazu. Seine Koffer werden jetzt systematisch auseinandergenommen. Erik fühlt sich, als wäre er einer Meute Aasgeier ausgeliefert, vor denen er nun den Inhalt der Koffer verteidigen muss. Die folgenden Diskussionen über Sinn und Zweck der Inhalte nehmen geschlagene drei Stunden in Anspruch. Am Ende wird alles, was irgendwie elektrisch aussieht, erst einmal konfisziert. Das bedeutet, dass Erik die auf den Tischen verstreuten Teile zunächst alle wieder in den Koffern einpacken darf. Anschließend darf er die fraglichen Koffer alle selbst vom Tisch wieder auf einen Kofferwagen hieven. Dann muss er mit den Koffern zwei Zöllnern bis zu einem Zolllager folgen, dass einige Gehminuten entfernt neben dem Empfangsgebäude liegt. Erst später wird ihm klar, dass dies eine Demütigung ist, da manuelle Tätigkeiten in Indien grundsätzlich von einfachen Kräften durchgeführt werden, die in der sozialen Rangordnung ganz unten stehen. Nachdem er die Koffer auch noch selbst im Zolllager deponiert hat und dieses anschließend verschlossen wurde, freut sich Erik darauf, endlich ins Hotel fahren zu dürfen. Als er jedoch das Gebäude verlassen will, stellen sich ihm plötzlich zwei Uniformierte in den Weg. Etwas irritiert wendet er sich an denjenigen, der mehr Streifen auf der Schulter hat.
»I like to leave now.«
»You tried to smuggle goods into India! This is a criminal act!«, antwortet der Streifenträger.
»Ich bin jetzt ein Krimineller? Was passiert denn jetzt? Stecken die mich jetzt in den Knast oder wollen die mich vielleicht als Verbrecher wieder ausweisen?«, schießen die möglichen Szenarien durch Eriks Kopf.
Erik steht unsicher und wortlos vor den Zöllnern und fragt sich, wie er sich nun am besten verhalten soll. Diese neue bedrohliche Situation raubt ihm langsam die letzten Kräfte und er fühlt sich von der Situation überfordert.
Schließlich wendet sich der bestreifte Zöllner an ihn und erklärt: »You may leave, if you pay the fine.”
»I don’t have Indian money.”, erklärt Erik.
»Then you need to go to our prison until somebody pays the fine!”, präsentiert ihm der Zöllner die wenig schöne Aussicht.
»I have only Dollars!«, erklärt Erik.
»How much do I need to pay?«, fragt Erik nach.
»200 Dollars«, kommt es sofort zurück.
In diesem Moment ist Erik äußerst dankbar, dass er dem Rat eines Kollegen gefolgt ist und in Deutschland ausreichend Dollarnoten getauscht hat. Er öffnet seinen Koffer und holt das Geld heraus. Beim Abzählen fällt ihm auf, dass von den 500 Dollar, die er eingetauscht hat, plötzlich nur noch 300 Dollar vorhanden sind.
»Da scheint sich wohl vorhin einer von diesen Arschlöchern bedient zu haben, als ich nicht alle Koffer gleichzeitig im Blick hatte.«, stellt Erik wütend fest. Gleichzeitig wundert er sich aber, dass derjenige nicht alles Geld genommen hat. Der Officer steckt das Geld in die Hosentasche und winkt Erik wieder mit der lässigen Handbewegung durch, die er schon bei der Passkontrolle gesehen hat. Ein kleiner Zorn steigt in Erik auf, doch bevor er noch eine weitere und vermutlich höhere Strafe erhält, die er dann nicht bezahlen kann, hält er lieber den Mund, verzichtet auf die Bescheinigung und schiebt sein verbliebenes Gepäck zum Ausgang.
Etwas benommen von dieser Einreiseprozedur kann er endlich aus dem Flughafen entfliehen. Dieses Indien fängt für ihn äußerst anstrengend an.
»Na gut. Jetzt kann ich erst einmal in Ruhe zum Hotel fahren und am nächsten Morgen mit unserem Büro die Auslösung der beschlagnahmten Sachen klären.«, sinniert Erik, als er den einen Kofferwagen durch die Tür schiebt. Von wegen Ruhe. Kaum ist er über eine imaginäre Linie geschritten, stürzen sich gleich mehrere Träger auf ihn. Erik hat die Qual der Wahl.
»Ja, der mit dem blauen Turban darf meine Koffer schleppen.«, versucht Erik mit Zeichensprache zu klären. Kaum hat sich der Blauturban seines Trolleys bemächtigt, erscheinen die Agenten der Taxifahrer und versuchen, ihn zu einem Vehikel zu lotsen. Der Inder mit dem blauen Turban winkt jedoch ab und fordert Erik auf, ihm zu folgen. Erik ist einerseits dankbar für einen Lotsen, der ihn zielstrebig durch das Gewühl führt, ist sich aber nicht sicher, ob der Inder ihn wirklich zum Taxistand bringt. Was ihm immer stärker auffällt ist, dass der unangenehme Geruch immer intensiver und unangenehmer wird. Vor dem Gebäude hat sich nun zu dem Modrigen Geruch im Inneren des Gebäudes noch ein beißender Gestank von kokelndem Müll gesellt.
»So muss das bei uns im Mittelalter auch gewesen sein«, überlegt Erik. »Hier kann man erfahren, dass Umweltschutz und die vielen Auflagen auch etwas Gutes haben. So einen Gestank würde es bei uns in Deutschland nicht mehr geben! Und wenn, dann wäre er nach kurzer Zeit abgestellt.«
Als sie am Taxistand ankommen, sieht Erik neben dem Parkplatz eine kleine Gruppe von vier Menschen am Boden hocken. Sie sitzen alle auf einer Decke, so dass es wie ein Picknickausflug wirkt. Daneben brennt ein winziges Feuer, das dem Geruch nach wohl aus irgendwelchen Müllresten genährt wird. Es scheint mehr Qualm als Hitze zu erzeugen. Trotzdem hockt eine Frau in einem Rock vor dem Feuer und scheint etwas in einem Topf zu kochen. Fasziniert ist Erik stehen geblieben und schaut auf diese irgendwie unwirklich wirkende Szene. Er überlegt, ob es sich um ein Picknick handelt, oder ob diese Menschen wirklich kein Dach über dem Kopf haben und somit hier leben. Plötzlich springt einer der Inder auf, fasst Erik am Arm und versucht ihn zu einem Dreirad mit Mopedmotor zu ziehen, dass neben der Vierergruppe parkt. Mit einer einladenden Handbewegung fordert er Erik dann zum Einsteigen auf.
»Sorry, I do not accept this vehicle. I want a car!”, erwidert Erik. Der Inder mit dem blauen Turban bleibt stehen und schaut Erik fragend an. Da greift der andere Inder nun einen Koffer und versucht ihn an dem hinteren Teil des Moped-Taxis zu befestigen. Nun schreitet Erik ein und nimmt ihm den Koffer wieder ab. Erik wendet sich direkt an den Kofferträger mit dem blauen Turban und fordert ihn durch heftiges Gestikulieren auf, seine Koffer weiter zu dem Taxistand zu schieben.
»Sir, 50 Rupees please for service, please!«
Der Fahrer des Moped-Taxis lässt nicht locker und läuft neben Erik her. Mit Sicherheit hat er dort schon ein lukratives Geschäft im Sinn gehabt, dass er jetzt platzen sieht.
»Sir, 50 Rupees please for family Sir, please!«
Der Inder mit dem blauen Turban dreht sich um und zischt den Fahrer des Moped-Taxis kurz an, so dass dieser zurückzuckt und von dannen trottet.
»Vermutlich funktioniert dieses System, indem man so lästig wird, bis der andere aufgibt und dafür bezahlt, in Ruhe gelassen zu werden. Hier am Flughafen scheint es wohl so zu sein, dass mit mehr oder weniger findigen Begründungen die ahnungslosen Touristen abkassiert werden.« überlegt Erik.
Danach steuern sie auf ein Taxi zu, an dem ein Inder mit einem weißen Turban lehnt. Mit einer einladenden Geste deutet der Inder mit dem blauen Turban auf das Taxi.
»How much to Hyat Hotel?«, fragt Erik den Taxifahrer, wobei er sich überlegt, dass es merkwürdig ist, wie sich die Sprache reduziert, wenn man den Eindruck hat, dass die Gegenseite nicht richtig Englisch kann.
Der Taxifahrer beginnt etwas zu erklären, wobei Erik kein Wort versteht. Erik vermutet, dass es wohl um Geld geht und nimmt eine Dollarnote in die Hand und gibt sie dem Taxifahrer. Der stutzt kurz, wendet sich an den Kollegen mit dem blauen Turban, der ihm daraufhin etwas indisches Geld gibt. Daraufhin taucht wie aus dem Nichts ein weiterer Inder ohne Turban auf, der wohl irgendein Agent für irgendeinen Service ist und nun auf den Taxifahrer einredet, bis dieser ihm etwas Geld gibt. Erik vermutet, dass dies wohl die Gebühr für den Parkplatz sein könnte. Da er gerade beim Geldausgeben ist, gibt er eine weitere Dollarnote an den Inder mit dem blauen Turban, der sich höflich bedankt und nun einen weiteren kleinen Inder herbeiwinkt. Dieser macht zwar einen recht aufgeweckten Eindruck, ist aber alles andere als ein Muskelprotz. Trotzdem wuchtet der kleine Inder die zwei verbliebenen Koffer zunächst auf seinen Kopf und dann auf den Dachgepäckträger des Taxis. Für Erik eine schwierig zu verstehende Arbeitsteilung. Er hatte erwartet, dass der Inder mit dem Turban die Koffer in das Taxi stellt. Erik hat zunächst auch keine Vorstellung, ob es zu viel oder zu wenig Geld ist, das er verteilt hat. Erst später erfährt er, dass er einen ganzen Tageslohn verteilt hat. Da es also nicht zu wenig ist, holpert er kurz darauf mit einem sich antik anfühlenden Automobil in Richtung Stadtzentrum. Der leichte Fahrtwind ist angenehm warm, weht aber den Geruch von Fäulnis und Lagerfeuern in die halb herabgelassenen Fenster.
»Dieser Geruch wird mich wohl von nun an ständig begleiten.«, überlegt Erik. Er hat den Eindruck, als ob dieser Geruch nicht an der Kleidung haltmacht, sondern bis unter die Haut kriecht. So als würde er alles für sich vereinnahmen und verschlingen. Es ist tatsächlich das intensivste, was er als ersten Eindruck von Indien bisher mitbekommen hat.
»Mein erster Eindruck ist: Dieses Land stinkt!«, resümiert Erik auf dem Rücksitz.
Bei der Fahrt ins Hotel fallen ihm die vielen Menschen auf, die links und rechts entlang der gesamten Strecke auf dem Boden sitzen, hocken oder liegen. Alle in ärmliche, geflickte und teilweise dreckige Lumpen gehüllt. Die, die neben der Straße liegen, scheinen zu schlafen. Einfach so auf dem nackten Boden, etwa einen Meter neben der Straße, auf der immer mehr LKWs, Autos, Rikschas und Fahrradfahrer sich scheinbar rücksichtslos vorwärtsdrängen. Entsetzt malt sich Erik aus, dass ein LKW vielleicht ausschert und über diese Menschen rollt. Vermutlich fährt er dann einfach weiter, ohne sich um das Schicksal der Betroffenen zu kümmern.
Was Erik auch auffällt, ist der fortwährende Lärm. Zum einen von den Motoren, aber erst recht von dem pausenlosen Hupen. Es ist eine bedrückende Fahrt. Nichts erinnert im Augenblick an die Hochglanzmagazine, die das »Magic India« mit hübschen Mädchen an Traumstränden anpreisen. Das Taxi kommt ihm so vor wie ein Kokon, das ihn, eingehüllt in einen Wattebausch, vom Flughafen zum Hotel bringt. Das Taxi ermöglicht es, dass Erik einigermaßen distanziert von dem Elend bleibt, das rechts und links an dem Fahrzeug wie ein schlechter, grausamer Film vorbeizieht. Erik lehnt sich nach den ersten Eindrücken zurück und versucht, die Szenerie zu übersehen. Im Osten zeigt sich mittlerweile eine leichte Dämmerung.
»Mein erster Tag in »Magic India« beginnt!«, fasst Erik den Moment mit einem leicht spöttischen Unterton zusammen. Er vermutet, dass trotz der Betriebsamkeit, im Augenblick eigentlich noch Nachtruhe besteht und dass das Treiben in einigen Stunden noch sehr viel chaotischer sein wird. Nach einer dreiviertel Stunde Fahrt erreichen sie das Hotel. Die Hoteleinfahrt ist mit einer geradezu verschwenderischen Festbeleuchtung illuminiert. Die weißen Säulen, die gepflegte Anlage und die sauber gekleideten Mitarbeiter bilden einen starken Kontrast zu dem Indien, dass ein paar Meter weiter vor der Auffahrt wabert. Es erscheint Erik wie eine Oase in der Wüste. Eher wie ein Zufluchtsort, an dem er sich von den Räubern, Wegelagerern und Gefahren dieser Reise in Sicherheit wähnen kann.
Das Taxi hält genau vor dem Haupteingang und der Hotelportier in seiner Livree reißt mit einer Verbeugung den Wagenschlag auf. Ein weiterer Angestellter in einer eher schlichten Uniform kümmert sich sofort um das Gepäck, ohne das Erik auch nur etwas sagen muss. Dem Taxifahrer gibt er nun ein Entgelt von 5 Dollarnoten, worauf dieser sich überschwänglich bedankt.
»Das war also deutlich zu viel!« überlegt Erik, als er die Hotelhalle betritt.
Das Foyer ist gewaltig. Ein Wasserfall fällt aus etwa zehn Metern Höhe in einen kleinen Teich, alle Wände und Böden sind mit Marmor verkleidet, ein indischer Pianist sitzt an einem Flügel und spielt um 6 Uhr morgens leise, klassische Musik. In dem weitläufigen Raum sind überall kleine Sitzecken verteilt, wobei auf jedem Tischchen prächtige Blumensträuße stehen. Was sofort auffällt, ist der deutlich angenehmere Geruch. Erik folgt dem Kofferträger bis er vor einem bildhübschen Mädchen an der Rezeption steht. Sie trägt wie jede ihrer Kolleginnen neben ihrem ständigen Lächeln einen farbigen Sari, der in ähnlichen Farben gehalten ist, wie die Uniformen aller Bediensteten. Diese Umgebung lässt die elende Armut vor der Tür vergessen.