Essentielle Schriften - Ludwig Rubiner - E-Book

Essentielle Schriften E-Book

Ludwig Rubiner

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Beschreibung

Ludwig Rubiner war Dichter, Literaturkritiker und Essayist des Expressionismus. Dieser Band umfasst seine Schriften Politisierung des Theaters Fjodor Sollogub Ferruccio Busonis Musikästhetik Die Anonymen Der Dichter greift in die Politik Aufruf an Literaten Brief an einen Aufrührer Untertan Maler bauen Barrikaden Homer und Monte Christo Die Änderung der Welt Hören Sie! Zur Krise des geistigen Lebens Organ Neuer Inhalt Mitmensch Der Kampf mit dem Engel Neuer Beginn Die Erneuerung Blätter für die Kunst Konjunkturbuben Nach Friedensschluß Aus der Einleitung zu Tolstois Tagebuch 1895-1899 Nachwort zu "Kameraden der Menschheit" Nachwort zu "Die Gemeinschaft" Dichter Voltaire

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Essentielle Schriften

Ludwig Rubiner

Inhalt:

Ludwig Rubiner – Biografie und Bibliografie

Politisierung des Theaters

Fjodor Sollogub

Ferruccio Busonis

Musikästhetik

Die Anonymen

Der Dichter greift in die Politik

Aufruf an Literaten

Brief an einen Aufrührer

Untertan

Maler bauen Barrikaden

Homer und Monte Christo

Die Änderung der Welt

Hören Sie!

Zur Krise des geistigen Lebens

Organ

Neuer Inhalt

Mitmensch

Der Kampf mit dem Engel

Neuer Beginn

Die Erneuerung

Blätter für die Kunst

Konjunkturbuben

Nach Friedensschluß

Aus der Einleitung zu Tolstois Tagebuch

1895–1899

Nachwort zu »Kameraden der Menschheit«

Nachwort zu »Die Gemeinschaft«

Dichter Voltaire

Essentielle Schriften , L. Rubiner

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849634308

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Dieses Werk bzw. Inhalt und Zusammenstellung steht unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz. Die Details der Lizenz und zu der Weiterverwertung dieses Werks finden Sie unter http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/. Der Inhalt und die Zusammenstellung oder Teile davon wurden der TextGrid-Datenbank entnommen, wo der Inhalt und die Zusammenstellung oder Teile davon ebenfalls unter voriger Lizenz verfügbar sind. Eine bereits bestehende Allgemeinfreiheit der Texte bleibt von der Lizensierung unberührt.

Ludwig Rubiner – Biografie und Bibliografie

Deutscher Poet und Schriftsteller, geboren am 12. Juli 1881 in Berlin, verstorben am 27. Februar 1920 ebenda. Sohn eines Journalisten und Unterhaltungsschriftstellers. Von 1902 bis 1906 belegte er verschiedene Studiengänge in Berlin, u.a. Medizin, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie. Ab 1905 erscheinen erste Gedichte und kritische Essays in Zeitschriften wie "Charon", "Die Aktion" oder "Der Demokrat." 1908 und 1909 unternimmt R. Reisen nach Italien und Russland, 1912 zieht er nach Paris. Während des Ersten Weltkriegs muss R. Frankreich verlassen und zieht in die Schweiz, wo er u.a. für die "Neue Zürcher Zeitung" arbeitet. 1918 muss er auch die Schweiz verlassen, da er sich in einigen Arbeiten für die russische Revolution ausgesprochen hat. Er zieht zurück nach Deutschland. In seinen letzten Lebensjahren arbeitet er als Lektor für den Gustav Kiepenheuer-Verlag in Potsdam, wird Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands und gründet das "Proletarische Theater" in Berlin.

Wichtige Werke:

Politisierung des TheatersFjodor SollogubFerruccio Busonis MusikästhetikDie AnonymenDer Dichter greift in die PolitikAufruf an LiteratenBrief an einen AufrührerUntertanMaler bauen BarrikadenHomer und Monte ChristoDie Änderung der WeltHören Sie!Zur Krise des geistigen LebensOrganNeuer InhaltMitmenschDer Kampf mit dem EngelNeuer BeginnDie ErneuerungBlätter für die KunstKonjunkturbubenNach FriedensschlußAus der Einleitung zu Tolstois Tagebuch 1895-1899Nachwort zu »Kameraden der Menschheit«Nachwort zu »Die Gemeinschaft«Dichter Voltaire

Politisierung des Theaters

Es wäre zu denken, daß das Theater in unserer Zeit jene Kategorien der bloßen Zweckmäßigkeit, die bis heute unordentlich mit Angelegenheiten der Kunst vermischt waren, reiner und gesonderter erscheinen läßt.

Wie man sich heute darüber klar ist, daß die Kategorie des Theaters, die nur Spannung des Zuschauers bedeuten will, eine in ihren Grenzen durchaus berechtigte Qualität ist, so sollte man ruhig auch allen anderen Funktionen des Theaters, die außerhalb der Kunst liegen, den gleichen Wert als rein soziologischen Qualitäten zusprechen.

Die Vorgänge auf diesem Zweckmäßigkeitstheater hätten ihren Wert nicht in der Konzentration der allgemeinen Bedeutung und Zeitlosigkeit eines Vorganges, sondern in der Konzentration des Moments. Die Franzosen haben allezeit die besonderen Zweckmäßigkeitskategorien des Theaters zu schätzen gewußt. Es war in Paris nie wunderbar, wenn das Publikum rein menschlich gedachte Situationen momentan politisch ausdeutete und beklatschte. Aber die Teilnahme an Vorgängen des reinen Kunsttheaters war freilich stets geringer. Sie wurde in Frankreich ersetzt durch die Teilnahme an den Erscheinungen der Oper, die ja auch nur eine rein soziologische Funktion des Theaters ist.

Daß in Deutschland der »Faust« von der Menge der Zuschauer politisch ausgelegt wird, ist eine Erscheinung, die seit Generationen nicht mehr zu erwarten war. Dieser neue Sinn für die Politisierung des Theaters deutet auf die starke Symbolik der momentanen Lage.

Es wäre nun eine bestimmte Art von Werken fürs Theater denkbar, die auch die Aktualität symbolisch und allgemein bedeutend machten. So etwas, wie es schon Stücke gibt, die die reine Sondererscheinung des phantastischen Einfalles symbolisch deuten lassen. Der Dichter für das Kunsttheater setzt die Gemeinsamkeit des psychischen Erlebnisses beim Zuschauer voraus, und durch die Konzentration der Zeitlosigkeit individualisiert er den Zuschauer. Der Dichter fürs politische Theater setzt gleichartig eine Voraussetzung, aber die der Gemeinsamkeit des äußeren Erlebnisses. Seine Konzentration der Aktualität ist negativ; sie erfolgt gleichsam durch Aussparen gewisser Stellen, in die der Zuschauer individuelle Nuancen der Tagesvorgänge hineindeutet. Der politische Dichter sozialisiert daher den Zuschauer.

Fjodor Sollogub

Aus Dostojewskis Dichtwerk stiegen zum erstenmal die runden Türme Rußlands auf, rot von altem Gold und Blut, und eine Luft heiß von Geschrei. Als der »Idiot« erschien, hätte Europa den Atem anhalten müssen: hier setzte die Zeit von neuem ein. Die Kultur Europas war im Werke Dostojewskis zerstört worden; denn sie war durchschaut, und die ererbte Hemmungslosigkeit selbstverständlicher Gesellschaftsformen war aufgelöst. Aber im Roman vom Idioten schlossen alle mitschwingenden Töne, die über dieser buntgefleckten Wut der Auflösung bisher geheim schwebten, zu einem neuen, hellen Lichtstrahl zusammen. Dies war die erste Erkenntnis von der ungeheuren Abenteuerlichkeit in den täglichen Erlebnissen des modernen Menschen. Die erste Schilderung von dem Schlachtlärm seiner Entrückungen auf den verborgenen Wegen seiner maßlosen Vereinsamung. Das Buch zeigte den Weg der neuen Jahrhunderte an. Die furchtbare und in letzten Fernen tobende Entrücktheit Dostojewskis warf wie ein harter, greller Scheinwerfer die geheimen Ahnungen der neuen Zeit als Tatsachen von roher, primitiver Nacktheit mit riesigen Dimensionen in den Raum. Dinge, an denen deutsche Romantiker nur zärtlich versteckt unter den Kostümen ihrer Fabeln zu tasten gewagt hatten. –

Seit dem Tode Dostojewskis war die russische Literatur eine sehr private Angelegenheit Rußlands. Man hat Europa ohne Grund und auch vergeblich für die höchst nationalen Eigentümlichkeiten russischer Dichter zu interessieren versucht. Aber es geschah peinlicherweise, daß Nichtrussen sofort jenen bekannten Ton analysierender Erzählung überall wiederfanden, der (seit seiner ersten ursprünglichen Schwingung in Dostojewskis Werken) heute den fatalen Eindruck macht, als schreibe die russische Literatur sich von selbst weiter.

Jener alte Dichter, der jetzt in Rußland durch die Popularisierung selbstverständlicher Gefühlswandlungen der Zeit als Prophet lebt, wird für Europa zum Dichter nur durch eine grenzenlose Energie in der stärksten Konzentration negativer Eigentümlichkeiten. Tolstois Dichtung gibt nicht das, was er sieht, sondern drängt zusammen, was er nicht sehen will. Und man erinnert sich noch sehr einer trübseligen Beschämung, die in den letzten Jahren der Dichtung Rußlands schnell das jäh erwachte Interesse Europas nahm, als man erkannte, daß einige, in kleinsten Formen feurige Dichter zu Ruhm nur durch eine gewisse, erotisch gelaunte Mode gekommen seien.

Unter den kleinen Feuerwerken physiologischer Amüsements konnte kein Mensch im Westen sehen, daß drüben in Rußland in Wahrheit etwas sehr Wesentliches vorging. Plötzlich war – und nie begreiflich für den Westeuropäer – das uralte Byzanz aus der Erde gewachsen, und heilige Kuppeln stehen auf einmal inmitten einer neuen und rohen Zivilisation. Der traditionelle Humanismus Europas wird wie selbstverständlich abgedrängt – das ist das Testament Dostojewskis. Dort drüben steht heute der Anfang einer Kultur ohne italienische Renaissanceformen, eine Kirche ohne die Traditionen des europäischen Christentums, und das Rudiment einer Philosophie ohne Hellenismus.

Dieses neue Rußland hat heute schon einen Dichter.

Fjodor Sollogub schrieb in keinem seiner Werke nur einen einzigen Satz, in dem mit bewußter Abstraktion von diesen viel verschlungenen Relationen Rußlands die Rede wäre. Aber alle Dichtungen Sollogubs sind, wie die Werke eines großen Musikers, aus allen verborgen dahinlaufenden Kontrapunkten gewebt, die plötzlich in einer überraschenden Stimmung ihre innere Bedeutung und ihren Einklang offenbaren. In einem Gedicht:

»Ich erhebe die schlaflosen Blicke

Und hänge den Mond in den Himmel« – –

Solche Worte hat man aus Rußland noch nicht gehört.

Dieser Mann wagt alles Neue, aus einem mächtigen Gefühl jener wilden, neuen, doch schon so ornamental starrenden Kultur, die ihn zu ihrem Dichter machte. Er wagt ein Drama zu schreiben, in dem an verschiedenen Orten und unter verschiedenen Menschen sich jedesmal dieselbe Handlung abspielt. Noch ist sein Roman »Leichenzauber« nicht übersetzt, in dem eine noch nie gewagte Darstellung von unerhörten Unwirklichkeiten nur durch die Schilderung zu einer offenbar längst gekannten und selbstverständlichen Wirklichkeit zu werden scheint.

Sollogubs Roman »Der kleine Dämon«, sein erstes größeres Werk, das deutsch erschien (übersetzt von Reinhold v. Walther. Verlag von Georg Müller, München), leitet erst langsam in diese neue Wirklichkeit der Ornamente des Denkens hinüber. Noch steht die Welt der alten Realität. Hier kämpft das Alte, das Erlernte, Geübte, die Tradition des Ichs noch gegen neue Instinkte. Aber das Schlachtfeld ist das Ich selbst. Ich, der Leser, fühle, wie um mich gefochten wird; aber die Kämpfer kommen aus meinem eigenen Ich, und wer auch siegt, es geht um mich – ich bin verloren!

Ich bin hier der Schulmeister Peredonow. In diesem Buche erkenne ich, der Leser, auf einmal mit großer Furcht, daß ich auch ein Schulmeister bin. Ich weiß alles besser, ich bin voll einer niederträchtigen Pedanterie, spreche in langen Sätzen Dinge aus, die meine Mitmenschen schon längst aus der Privatlektüre ihrer Fibeln kennen, und ich möchte den andern, der mir, Gott weiß, dasselbe sagt, nicht zu Wort kommen lassen. Ich ahne, daß er mich durchschaut, und ich bin mißtrauisch. Ich wittre natürlich Intrige oder Betrug, und darum muß er mich betrügen, wo ich blind bin vor Eitelkeit oder Hoffnung. Ich wende meine ganze Kraft aufs Mißtrauen, und darum habe ich viel Zeit dazu; so bleibt keine Minute mehr zur Besinnung, und man hat nur noch Zeit, die andern ganz mißzuverstehen, ihnen unrecht zu geben, aufzupassen. Am folgenden Tage liegt die Zeit wie ein grauer Schleier da, ich bin darum von Wut voll auf die andern, beobachte scharf die Halluzinationen meines verdorbenen Magens, fühle mich ausspioniert und suche rasch, noch ehe der Tag zu Ende geht, meine Eitelkeit zu stillen. Ich werde ein verzerrter Schöpfer, mein Mißtrauen schafft aus den Menschen geheimnisvoll lauernde Kampfwesen, die feindlich bewegt sind nach den Plänen meines eigenen Gehirns. Aus allen kleinen Dämonen meiner verdorbenen Nerven baue ich mir ein ganzes Leben der Welt. Aber dieses neue und eigene Leben rächt sich für seine Erschaffung, es beginnt wirklich zu sein. Es tritt heraus aus dem Zustande der boshaft Visionären, und die Menschen werden umhüllt von den Trieben, die ich aus ihnen deutete. Jeder hat das, was meine kleine Nebenbei-Schurkenhaftigkeit in ihm ahnte. Aber die Schachbrettpläne meines Gehirns werden durchkreuzt von der neuerwachten Aktivität der andern, die ich doch erst weckte. Ich! Wäre die schmerzhafte und betäubende Wut nicht geringer, wenn sie mich nach meinen eigenen Plänen betrögen? – Jetzt, hier reckt sich das fremde Leben, das ich erst schuf, blitzschnell gegen mich. Es geht genauso, wie ich es wußte, doch anders. Ich werde schamlos betrogen – hatte mein Mißtrauen nicht alles Recht? –, aber der Betrug ist schamloser, weil er in unerwarteten Kreisen geht. Ich fürchte natürlich Intrigen, ich suchte vorzubeugen, doch nun kommen die Intrigen, wo ich sie nie voraussah. Meine Schöpfung, das Leben, das meine verstörte Phantasie in die Wirklichkeit hinauswarf und zur Wirklichkeit macht, biegt ab von meinen Plänen. Diese Wirklichkeit lenkt heraus aus den abgefahrenen Schienen meiner Vorstellung. Das Unerwartete der fremden Lebensaktivität ist mein Feind. Diese ungeahnte Ausbiegung der neuen Wirklichkeit bedeutet Angriff. So stehen die notwendig und ruhig ablaufenden Vorgänge der Realität, die von mir erst ihren Weg getrieben wurden, gegen die krampfhaften Ausschleuderungen meines Denkens. Dies ist der Kampf, in dem mein Denken gegen das Vordringen der Wirklichkeit immer mühsamer und absonderlicher werden muß. In diesem Schädel surrt das Treffen spitzklirrender Waffen, das Summen wird ein großes, reines Getöse, und die Welt wird grauer und schwimmend, mein Blick ist gedunsen. Verruchtheit ist eine Gestalt, und auch Schurkerei ist eine Person; mein Denken ist eine wieselkleine, fix hin und her schießende blasse Pflanze. Es läuft unter die Türen, hinter die Tapeten. Durchdringe ich die Dinge, fühle ich sie, bin ich in ihnen? Es ist keine Zeit mehr, der Kampf raste zu Ende. Hier siegte die Wirklichkeit, der Körper ist zerstört, und die kleinen Dämonen eines Nebenlebens, unbeachteter Nebengedanken schufen den großen Dämon eines neuen toten Lebens, den Wahnsinn. –

Der Schulmeister Peredonow, der in Wahnsinn an sich selbst endet, das ist Ich, der Leser. So groß ist die Dichtkraft Sollogubs, daß man, in diesem Falle scheinbar klinischer Besonderheiten, nur sich findet. Man erkennt, ohne es zu ahnen, entsetzt die Allgemeingültigkeit dieses Lebens der kleinen Dämonen. Man sieht zum ersten Male, wie aus Trieben, die versteckt und mißgeachtet ein geheimes Schnörkelwesen lebten, sich allmählich eine besondere und mächtig wirkende Figur des Lebens formt.

Das ist eine ganz russische Form des Fühlens. Rußland erscheint uns wie eine Erinnerung an unglaubwürdige, phantasmagorische Träume. Man blickt auf eine Bühne der Verwandlungen, erlebt, ehe man noch daran glauben kann, ein Land, in dem die nervösen Schmerzzuckungen der Wirklichkeit in einen schattenhaften Urwald trübflatternder Nebel verhuschen; wo die Abenteuer der Phantasie zu einer erstaunlich selbstverständlichen Realität werden. Hier hat alles ein zweites, verborgenes Leben. Mitten im Rußland der Wirklichkeit herrscht – wer glaubt es? – das scheinbar unwirkliche Reich der Dichter. Die Dichter sind in diesem abenteuerlichen Lande, in dem die Duma als ein spukhaftes Theorem erscheint, Volksführer von fast utopischer Macht. Sie sprechen, und Sekten bilden sich nach ihrem Wort, verborgene Leidenschaften schießen zu Weltanschauungen herauf, vergessene Neigungen werden organisiert. Das geht so telegraphisch schnell über riesenweite Flächen hin, als ob in diesem Lande alle Leute lesen könnten und das Unterrichten von hundertdreißig Millionen Menschen nicht Privatsache wäre! –

Nur Dostojewski hatte diese Gefühlsform Rußlands erfaßt, diese Zwieform des Nebeneinanders von den Leben der Realität und der Phantasie. Bei ihm tauchte die russische Gefühlsform hinab unter die wilden und mächtigen Folterwerkzeuge der Analyse, so daß auf dem Urgrunde aller Auflösung jede Besonderheit eines rein nationalen Lebens schwand und nur das Allgemeingültige des Psychischen blieb.

Aber niemand ist der Tradition Dostojewskis gefolgt. Seit dem Tode Turgenjews haben die russischen Dichter nie mehr jene sonderbare Melodie internationaler Effekte vergessen können, die der Einigung von französischer Form und russischem Stimmungsinstinkt kadenzierte. Das bedeutendste Organ der modernen russischen Literatur, die Monatsschrift »Wjessy«, könnte auch von einem Kreise russophiler Pariser geschrieben sein.

Nun steht Sollogub in der Tradition Dostojewskis. Aber er ist, wie jeder große Erbe in den Künsten, ganz unabhängig vom Vorbilde. Dostojewski ist gar nicht das Vorbild, sondern Sollogub hat plötzlich diese vergessene Form des russischen Fühlens wiedergefunden und erkannt. Es ist alles ganz anders bei Sollogub. Brachte furchtbarer Enthusiasmus in der Entdeckung von unsichtbaren Scheiterhaufen des Psychischen Dostojewski zu den »Dämonen«, so wird bei Sollogub die Abpendelung des Gehirns zum »kleinen Dämon«. Bei Sollogub steht alles in einer sehr kleinen Welt, kommt von kleinen Motiven und geht zu Folgen, die an sich für die Welt wenig bedeuten.

Aber hier tauchte – wie immer ein ewiger Dualismus – die ungeheure Dichtkraft Sollogubs hervor, und diese Dinge, die so wenig für die Welt bedeuten, werden zu bedeutsamen Ereignissen der erschreckten Hirnlichkeit, die Erlebnisse des Körpers werden zu Phantomen der Phantasie, das Russische wird zum Abenteuer des Menschlichen. Dieses Buch legt man am Schlusse der Lektüre als gleichgültige Spukhaftigkeit weg, aber nach Wochen steigt unerwartet der dröhnend schwingende Widerklang eines großen Dichtwerkes auf.

Ferruccio Busonis

Musikästhetik

 Die Berliner Musikkritik ist ein Beispiel ohne Gegenstück in der Welt für die Tatsache, daß an einem Zentralpunkt des geistigen Lebens das Urteil über künstlerische Angelegenheiten einer Horde von rohen Handwerkern zuerteilt ist. Mit einer einzigen Ausnahme fallen die Berliner Musikkritiker durch Abwesenheit jedes Kunstinstinktes auf, aber ebenso auch durch den Mangel irgendeiner weiteren menschlichen Bildung. Sie ersetzen diese primitivsten Grundlagen jeder Kritik durch die gemeinsame Übereinkunft von Cliquen. Wer einmal im Konzertsaal die ängstlichen Mienen dieser Kunstrichter sich haufenweis flüsternd zusammentun sah, der wird nie mehr im Zweifel darüber sein, wie ihre Urteile zustande kommen. Noch unglaublicher steht es mit den Musikzeitschriften, die sklavisch den Urteilen der Zunftgenossen folgen, wenn sie nicht bei persönlicher Bekanntschaft in schamlosester Weise der Reklame zugängig sind. Das Musikleben Berlins ist ein Sumpf, in dem alles miteinander zusammenhockt, Duzbruder und Freund ist oder aber, wo ein bedeutender Künstler Ansprüche an einen persönlichen Verkehr ablehnt, bitterster und gehässigster Feind. Seit etwa fünfzehn Jahren ist eine direkte Bestechung der Musikkritik, dank dem Vorgehen Alfred Kerrs, in Berlin nicht mehr möglich. Wohl aber gibt es eine intellektuelle Bestechlichkeit, und dieser haben sich die Herren seit Jahren   gegen Busoni schuldig gemacht. Wer die Urteile dieser Kritik über – den mir persönlich unbekannten – Busoni beobachtet hat, wird das tiefe Mißtrauen und den dumpfen Haß kennen, mit dem in Berlin das menschlich große Ringen eines Künstlers um unabhängigste Klarheit über seine Kunst seit Jahren verfolgt wird. Es genüge die Andeutung, daß man in groteskester Manier erst den Pianisten, dann den Komponisten »pervers« nannte, später zuungunsten des Dirigenten einen um den anderen pries und über den vorliegenden ästhetischen Entwurf seit seinem Erscheinen die – mit einer Ausnahme – überall befolgte Parole: Totschweigen! herrschen ließ.

Gewöhnlich wird man von den Versuchen der Künstler, über Gegenstände ihrer Kunst etwas allgemein Bestimmendes zu sagen, enttäuscht. Es scheint, als sei von der Energie des Schaffens nicht nur alles Verstandesmäßige aufgesogen und in Form gewandelt, sondern als habe das vollendete Werk auch von den ganz besonderen, persönlichen und oft stark symbolischen Empfindungen des Schaffenden keinen Rest zurückgelassen, der nicht in Stimmung und geheimen Hintergrund umgebildet wäre. So haben die meisten ästhetischen Äußerungen von bedeutenden Künstlern die peinigende Wirkung des rein Allegorischen: man hört Worte, die zu deutlich erkennen lassen, daß sie nur Scheinbegriffe sind und sich auf besondre, eigentümliche und verborgne Ideen beziehen, die der Künstler von seinem Werke hat. Gerade die Ideologie sucht man in jeder Schrift eines Künstlers; aber man ist fast immer gezwungen, auf den Umwegen des Psychologischen, die nichts mit Kunst zu tun haben, die Leerheit der Künstlerworte gestalthaft zu machen und symbolisch auf das ganze Werk des Künstlers zu deuten. Solche Überlegungen von Künstlern über ihre Kunst bekommen daher erst ihre – ganz unverbindliche – allgemeine Bedeutung, wenn man das Werk des Künstlers als bekannt voraussetzt. Aber Busoni nimmt in seiner Ästhetik nicht seine Persönlichkeit und sein Werk als Voraussetzung, sondern – die Musik selbst. (Ferruccio Busoni: »Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst.« 1907 bei C. Schmidt u. Co. in Triest.)

Sofort mit den ersten Worten seines Versuchs entfernt er die Gefahr, die zufälligen und relativen Momente im persönlichen Leben des Künstlers allgemein als Wesensbestandteile des Kunstwerkes zu deuten. Damit opfert er alle Prüfungen und Siege seiner eignen Persönlichkeit als Schaffender dem höheren, allgemeineren und weiter spannenden Sinn des Kunstwerkes zuliebe. Mit rätselhaftem Taumeln des Herzens hält oft jemand plötzlich im Mittelpunkt seines Lebens ein, er atmet nicht und horcht nur in den Raum, um die Gesetze seiner Wege und seines Schaffens zu erkennen. Poe spricht einmal von der – nie erfüllten – Möglichkeit, sich auf dem Gipfel eines hohen Berges blitzschnell herumzudrehen und das ganze Leben im Umkreise mit einem einzigen Blick aufzufangen, als läge alles gradlinig wie eine plane Zeichnung da. So ist der Versuch des Schaffenden, die Ästhetik seiner Kunst zu finden. Aber dieser Versuch, alle Dinge des Umkreises in ein begrenztes Bild zu spannen: voll schmerzhaftester Erkenntnis auch jene Gesetze bloßzulegen, die mit denen des eigenen Schaffens nicht identisch sind –, dieser Versuch muß zu einem ungeheuren Ringen gegen die lebensgierig sich wehrenden Nerven der Persönlichkeit werden und zu einem tödlichen Vernichten des Ich.

Jeder Schaffende glaubt am Ende – und am Anfang –, sein Werk erwirke eine völlig neue Ordnung der Welt. Alles Neue, was er vom Zufall des Tages empfange, sei eine neue Gesetzmäßigkeit. Und nun wirkt bei Busoni am Eingang des Buches die Vernichtung der eignen Persönlichkeit mit einer kleinen menschlichen Erschütterung.

»Der Geist eines Kunstwerkes, das Maß der Empfindung, das Menschliche, das in ihm ist – sie bleiben durch wechselnde Zeiten unverändert an Wert: die Form, die diese aufnahm, die Mittel, die sie ausdrückten, und der Geschmack, den die Epoche ihres Entstehens über sie ausgoß, sie sind vergänglich und rasch alternd.«

Die ersten Worte der Schrift sind auch die letzten, die – auf die unmerkbarste und übertragenste Art – etwas von der eignen Persönlichkeit Busonis aussagen. Diese scheinbar harmlosen Worte geben sofort den Eindruck, als seien sie aus dem schweren und oft labyrinthischen Erleben langer Jahre herausgerungen. Man überschaut: Vor diesem Buche liegen Aufregungen, Nächte, die ohne Schlaf zu Ende gehen müssen: Werke, die ins Feuer geworfen wurden und deren Keimempfindungen doch heimlich weiterleben.

Der Künstler entringt sich den gefälligen und lockenden Genüssen, die Kunst mit dem Leben zu vermischen, und stellt sich endlich auf die harte Einsamkeit einer einzigen Kunst, einer Sonderkunst: »Die Kunstformen sind um so dauernder, je näher sie sich an das Wesen der einzelnen Kunstgattungen halten, je reiner sie sich in ihren natürlichen Mitteln und Zielen bewahren.«

Der ästhetische Entwurf Busonis stellt nun nichts andres dar als den Versuch, alle Gesetze und Bedingungen des einzelnen musikalischen Werkes abzuleiten aus der strengen Sonderstellung der Musik unter den andern Künsten. Es ist der Versuch, an Stelle der grenzverwirrenden Barock-Kunstanschauung, die in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts den persönlichen ästhetischen Axiomen Richard Wagners folgte, die Musik in ihr Land abzugrenzen – wo sie dann freilich grenzenlos wachsen kann. Das Wesen des musikalischen Wirkens wird als das eines in sich sprossenden, treibenden, wachsenden Komplexes enthüllt.

Hier liegt der neue Wert für eine zukünftige Musikästhetik.

Hanslick deutete das Musikwerk als ein Spiel der Formen. Hausegger, Seidl und, popularisierend, Kretzschmar als eine Sprache. Beiden Auffassungen war gemeinsam, daß sie rein vom schaffenden Subjekt und seiner Willkür ausgingen.

Busonis Deutung geht vom Subjekt aus. Er nimmt die Musik als Gegebenes – das ist das Neue. In der Literatur war seit den erstaunlichen Rudimenten der »Hamburgischen Dramaturgie« die Möglichkeit gegeben – wenigstens beim Drama –, das Kunstwerk als etwas unter seinen eigenen Bedingungen des Materials Aufkeimendes zu begreifen. Sie blieb ungenutzt. In der bildenden Kunst macht Adolf Hildebrand vor zwanzig Jahren denselben Versuch mit dem »Problem der Form«.

In der Musik mußte es erst Busoni aufnehmen, überhaupt die Grundprobleme zu skizzieren. Die stets scharf und wach gehaltene Fähigkeit, sich im Kunstwerke einzuführen, ihre Muskelspannungen mitzuerleben, nicht nur sie im Rausch auf sich herabrieseln zu lassen, muß notwendig zu dem klaren Begriff vom Sonderleben des Kunstwerkes kommen.

Hier muß die Frage stehen: Was kann diese besondere Kunst, die Musik – und was kann sie nicht?

Busoni: »Sie kann sich zusammenballen und auseinanderfließen, die regloseste Ruhe und das lebhafteste Stürmen sein; sie hat die höchsten Höhen, die Menschen wahrnehmbar sind – welche andre Kunst hat das? –, und ihre Empfindung trifft die menschliche Brust mit jener Intensität, die vom 'Begriffe' unabhängig ist.

Sie gibt ein Temperament wieder, ohne es zu beschreiben, mit der Beweglichkeit der Seele, mit der Lebendigkeit der aufeinanderfolgenden Momente; dort, wo der Maler oder der Bildhauer nur eine Seite oder einen Augenblick, eine ›Situation‹ darstellen kann und der Dichter ein Temperament und dessen Evolution mühsam durch Worte mitteilt.

Darum sind Darstellung und Beschreibung nicht das Wesen der Tonkunst; somit sprechen wir die Negation der Programm-Musik aus.«

Also, fragt man, die sogenannte »absolute« Musik? Busoni sagt: »Die Musik ist unkörperlich, sie schwebt, ihre Materie ist durchsichtig. Es ist tönende Luft.« »Absolute Musik ist ein Formenspiel ohne dichterisches Programm, wobei die Form die Hauptsache sein soll. Aber gerade die Form steht der absoluten Musik entgegengesetzt, die doch den göttlichen Vorzug erhielt, zu schweben und von den Bedingungen der Materie frei zu sein.« »Absolute Musik ist etwas ganz Nüchternes, das an geordnet aufgestellte Notenpulte erinnert, an Verhältnis von Tonika und Dominante, an Durchführungen und Codas.« »Diese Musik sollte vielmehr die architektonische heißen oder die symmetrische oder die eingeteilte, und sie stammt daher, daß einzelne Tondichter ihren Geist und ihre Empfindung in eine solche Form gossen, weil es ihnen oder der Zeit am nächsten lag.«

»In Wirklichkeit ist die Programm-Musik ebenso einseitig und begrenzt wie die absolut genannte. Anstatt architektonischer und symmetrischer Formeln, anstatt der Tonika-und Dominantverhältnisse hat sie das bindende dichterische, zuweilen gar philosophische Programm, diese Schiene, sich angeschnürt.«

So ist also mit dem Begriff des Organischen dem Musikwerk eine neue Deutung mit unendlichen Folgerungen gegeben: »Jedes Motiv enthält wie ein Samen seinen Trieb in sich. Verschiedene Pflanzensamen treiben verschiedene Pflanzenarten, an Form, Blättern, Blüten, Früchten, Wuchs und Farben voneinander abweichend. Selbst ein und dieselbe Pflanzengattung wächst an Ausdehnung, Gestalt und Kraft in jedem Exemplar selbständig geartet. So liegt in jedem Motiv schon seine vollgereifte Form vorbestimmt. Diese Form bleibt unzerstörbar, doch niemals sich gleich.«

Diese Lehre von der Prädestination des Kunstwerkes trennt das Werk plötzlich los vom Leben des Schöpfers. Sie stellt es uns gegenüber als ein Geschöpf mit seinem eigenen Leben und Schicksal und mit seiner Seele.

Wo bleibt der Schöpfer? Er lebt ewig jenseits der Grenzen, in denen sein Werk sich bewegt. Er ist nichts vor seinem Werk, sein Werk ist alles. Die Biographie des Künstlers ist nur noch eine Sache des Vergnügens. Das Leben des Künstlers, welchen Wert hätte es noch für sich? Es hat nur den Wert: Schaffen zu lassen.

Der Künstler ist jene Gestalt, die aus den letzten Linien der Werke heraussteigt. Der Künstler ist ein Drama oder eine Bildsäule oder eine Sinfonie.

Niemand hat ein stärkeres Persönlichkeitsbewußtsein als der Schaffende. Es ist sein Kleid vor der Welt. Nur das höchste Verantwortungsgefühl vor seiner Zeit kann ihn zwingen, das Kleid abzuwerfen und nackt sich in den Tod zu geben, vor seinem Werke.

Die heutige Generation sieht im Kunstwerk nicht mehr die vom Moment entzündete Trunkenheit eines heftig aufgewirbelten Stimmungsturmes, sondern gleichsam ewig vorbestimmte Notwendigkeiten. Das Kunstwerk hat in sich sein eignes Schicksal. Man darf nichts andres tun, als alle Wege bereitmachen für dieses innere Leben des Kunstwerkes.

Vor seinem Werk muß der Künstler der Lust seines Rausches entsagen. So erscheint es nicht mehr als Überraschung, daß im umkehrenden Gegensatz zu früheren Kulturen heute aus ästhetischen Werten die stärksten ethischen gezogen werden. Die Sachlichkeit zur Ethik erhoben, fordert die vollendetste Opferung der Persönlichkeit.

Man denkt an Gustav Flauberts martervolle Abtötung des Ich vor den stählernen Mauern der Kunst, wenn man in dem ästhetischen Entwurf Busonis nichts Geringeres erkennt als die Hingabe und Selbstvernichtung einer Persönlichkeit – ihrer Zeit ein Werkzeug und Opfer. – Dieses Buch liest man mit überraschtem Mitgefühl über seine zukunfttragenden Werte, die der heutigen Generation soeben selbstverständlich wurden.

Die Anonymen

Seit einigen Wochen dürfen wir wissen, daß Deutschland existiert. In einem Lande, das bevölkert war von industrialisierten Kegelklubs und ihren grad so hochnäsigen Gegnern: schwermütig fettansetzenden Einzelgängern, ist das Wunder da. Menschenstimmen wurden hörbar. Seien Sie irgendwo auf Java in einem fernen runden, einsamen Waldloch; vielleicht kurze Zeit nur allein, aber fühlen Sie sich abgetrennt vom Willen und vom Leben anderer, weit von jeder Hülfe – und finden Sie plötzlich, kaum sichtbar hinter Stämmen und Blättern, ein kleines Haus, in dem Leute leben, die schon sehr lange da wohnen, zu Ihnen sprechen und alles rings kennen. Wenn Sie noch Zeit haben, dann heulen Sie los.

Schleußen Sie die letzte Sentimentalität auf, die heut jeder wirklich anständige Mensch hat. (Sie ist noch das Reservoir der Werte, aber morgen gibt's keine mehr!) Seien Sie gerührt, heulen Sie vor dem Wunder der Menschenstimme in Deutschland.

Seit einigen Wochen erscheint in Leipzig im Demeter-Verlag eine Zeitschrift. Sie heißt »Der lose Vogel«. »Der lose Vogel« hatte die Aufgabe, in ganz Deutschland einen Satz zum Lesen zu geben, dessen aufrüttelnd erarbeitete, durch Schlagen, Zerren, Brennen erarbeitete Geistigkeit seit hundert Jahren nirgends erwartet werden konnte. Im »losen Vogel« stand:

»Eine ganz kleine Gruppe von Schriftstellern, die mit der Anonymität ihrer Beiträge die Sachlichkeit betonen möchte gegenüber der heute so beliebten Betonung des Persönlichen«, schreibt diese Monatsschrift »Der lose Vogel«, »in der vielleicht nicht ganz aussichtslosen Hoffnung, dazu zu helfen, daß dieser sogenannte moderne Mensch auf sein Epitheton verzichten lerne und ein Mensch werde, bestimmt durch seine Art und Begabung, aus der, und sei sie noch so gering und eng, zu wirken, ihm und damit dem Ganzen des Lebens von größerem Nutzen und besserem Glück sein wird, als wenn er sich in eine immer nur oberflächliche Vielseitigkeit und falsche geistige Geschäftigkeit verliert, die ihn zum Toren macht und keinem dient.«

In diesen Worten ist nichts mehr zu spüren von dem Zungenschnalzen über der Materie, das das ganze letzte Jahrhundert geschändet hat. Aber dies wäre nichts.

Ist es denn nicht zu merken? Muß es gesagt werden? Die Revolution ist da. In diesem Satz brach ein Heer hervor. Die Menschlichkeit, das Gestaltende, geht gegen die starre, widerstrebende, viehische Gewohnheit; gegen den Weltbauch.

Es gibt keine Materie mehr.

Niemand hat mehr vor Bildern zu taumeln. Niemand hat mehr betäubt in Symphonien zu sitzen. Auch der Sieg einer Epoche der Plastik wär nur Mode. Vielleicht darf's noch erlaubt sein, den rundgehauenen Klotz der römischen Engelsburg als ein Zeichen zu nehmen (letztes Zeichen, daß die Erde besteht). Man darf aber als erstes Zeichen für den wirklichen und wirklichen Geist, an die Pyramiden glauben.

In der Zeitschrift des Demeter-Verlags herrscht Anonymität. Ist es möglich, ein Wort auszudenken, das nur etwas von dem Umschüttelnden, von aller Seligkeit dieser real erfüllten Utopie mitteilen könnte? Es gilt zu überzeugen, daß ein Jahrhundert, dessen Aufgabe war, uns Eßnäpfe, Einheitsstiefel, Wagnerpartituren herzustellen, nicht mehr als ein Hindernis für den Geist besteht. Wie soll man es mitteilen, wie soll man andere zum Schreck und zum Entzücken bringen? In einer neuen Zeitschrift herrscht die Anonymität: das heißt, es herrscht nach einem Jahrhundert wieder die Verpflichtung und die Beziehung.

Der Tag, an dem einer den Mut wirklich hatte, den Gedanken der Anonymität bis zum Ende zu umfassen, dieser gehört zu den Schöpfungstagen unserer heutigen Geschichte. So ein Moment des Überschwelltseins mit Geist ist nicht auszudenken, er kommt nur einmal vor. Man kann versuchen auf einem Gang durch die Straßen, allein in der späten Nacht, einmal sich jene Schöpfungsstunde unserer deutschen Anonymität vorzustellen, um zu wissen, nach welcher Hyboris aller Sinne, mit welchem Leiden unter dem unaufhaltsamen Druck des akkumulierten Geistes sie zustande kam. Die Zeitschrift der Anonymität ist ein Herz des geistigen Lebens. Hier muß zusammenströmen, was an Kraft ungeleitet und versprengt in der Welt umherirrt. Diese Anonymität macht tausend Selbstmorde zunicht. Kann etwas menschlicher sein? Nun, hier ist ein Horizont aufgebaut, der jeden Menschen plötzlich seine Verantwortung in dieser Welt fühlen läßt. In diesem Moment gibt es keine Empfindung mehr, die Freude fällt von unserem Fleische ab.

Aus uns wachsen Bäume mit breiten Zweigenkreisen, eine Welt ist da. Hier ist nichts allein. Was bleibt uns – vor dieser Anonymität –, als unser Leben beieinanderzuführen! Denn wer innerhalb dieser Anonymität noch in Gleichnissen sprechen würde, wer sich spiegeln und gefallen wollte, wer sich genösse, auf den würden seine in die Welt geschickten Kräfte wieder wirkend zurückprallen. Den würden sie verzerren und verzierlichen, den würden sie vereinzeln. Er wäre Einzelner und ohne Halt in dem rings zusammengeschlossenen Kreis Verantwortungsvoller. Das wäre der selbstverständliche Tod. Dies weiß der Anonyme, und das drängt ihm die Kräfte auf die stärkste Sachlichkeit zusammen.

Alle Menschen waren heute musikalisch. Die Musik ist die Kunst, sich auf die leichteste und bequemste Art seinen Verpflichtungen zu entziehen. Hineinzuschlüpfen in Polyphonien: ist ein Weg außer sich zu geraten, ohne für andere dazusein. (Die Musik – die gute Musik, und je besser, desto schlimmer – ist der Weg des Vereinzelns. Die Deutschen sind musikalisch: isoliert!) Musikalisch ist der Gegensatz zu Moralisch.

Die neue Zeitschrift ist ohne Musik; trocken.

Die Zeitschrift der Anonymen ist das neue Manifest der Moral!

Es wird nötig, noch ein paar Worte historisch zu reden. Üble Tagesschreiber werden die Anonymität für einen Trick halten; Weichgehirne denken an eine funkelnagelneue Originalität (in Wahrheit brach hier endlich einmal der Mut der Verantwortlichkeit hervor, die Originalität zu züchtigen). Der Verleger hat kein Geheimnis daraus gemacht, daß der »Lose Vogel« von Franz Blei herausgegeben wird. Darf eine flüchtige Erinnerung genügen? Wenn man heute die alten Jahrgänge der Insel aufschlägt, so ist gleich sichtbar, daß da nicht die violetten Leberknödel des Gründers Bierbaum wirkten, sondern das Formgebende sind die Beiträge Bleis. Heute sieht es so aus, als sei er der Leiter gewesen. Dann: er hat die großen Moralischen nach Deutschland gebracht, André Gide und Francis Jammes; übrigens zu einer Zeit, in der keiner fähig war, ihre Einwirkung auch nur zu spüren. Nie wird vergessen werden, wie Blei Claudel übersetzt hat. Diese Menschenliebe ist in der Literatur noch nicht gewesen: diese mächtige Überwindung, die Opferung aller persönlichen Genüsse der Sprache. In der Übersetzung Claudels verging kein Satz, der nicht zeigen wollte, da sei nicht »Übertragung«, sondern bedingungslose unamüsable Nachbildung eines Undeutschen: Nachbildung, die im härtesten Deutsch bedeuten sollte, daß nicht der Übersetzer lustvoll dichte, sondern daß der fremde Dichter einen sachlichen Inhalt habe. Nie hat, wie Bleis Claudel-Übersetzung, etwas so drohend und seelenkräftigend gezeigt, daß »Wortkunst« ein genußreicher Selbstbetrug sei.

Wir werden nie vergessen dürfen, daß er uns wieder neu Moral