Etwas, das mich glücklich macht - Tessa Müller - E-Book

Etwas, das mich glücklich macht E-Book

Tessa Müller

4,8

Beschreibung

Die Frauen in diesem Buch machen verrückte Sachen: Sie stecken den Kopf unter den Pullover des Ex oder in ein Aquarium, sie haben Liebeskummer und trösten sich mit dem Klimawandel, sie starren zur Zimmerdecke und überlegen, ob ihre Probleme etwas mit Baustoffen zu tun haben (- oder doch eher mit der Mütze, die sie tragen); sie trauern einem Einbrecher nach, den es nicht gibt, lernen Gott kennen, ohne Unterhose in einer Kirche, und kündigen als Regalbetreuerin im Bereich »Haus halt & Ambiente«; sie übernehmen Verantwortung und zünden Hühnerställe an, sie kriegen keine Luft, aber sie können Madonna sein. Wie gesagt: verrückt! Und doch ist es das Naheliegendste und Selbstverständlichste. Machen das nicht alle so, wenn es ums Glück geht? Um es zu finden, um es nicht zu verlieren, um es wiederzugewinnen, um es nicht loslassen zu müssen. Denn natürlich kann man das Glück zwingen, wenn man nicht ewig warten will, bis es einem zufliegt.Das zeigen diese liebenswert verschrobenen Frauen in diesen wunderbar witzigen Geschichten. Ja, auch erzwungenes Glück kann glücklich machen. Es ist dann sogar noch komisch und traurig und beides zugleich!

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Etwas, das mich glücklich macht

© 2014 Jung und Jung, Salzburg und WienAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: xhoch4, Münchenunter Verwendung eines Videostills aus »Next Big Thing« von Slutmit Dank an Sönke Held & Frau Schröder Eco fashionDruck: CPI Moravia Books, PohořeliceISBN 978-3-99027-056-1

TESSA MÜLLER

Etwas, das mich glücklich macht

STORIES

Für Swenja und Birka

Inhalt

Die Lösung des Problems

Madonna

Der Einbrecher

Die Mütze

Überleben im Meer

Etwas, das mich glücklich macht

Wirklichkeit und Liebe

Der Mann

Prinzessin

Von Gott

happy little things

Die Lösung des Problems

Jens und ich waren glücklich, bis zu dem Tag, als er sich von mir trennte. Er sagte mir, er habe eine andere Frau kennengelernt. Ich dachte, ich müsste sterben. Das lag an meinem Gehirn. Es fing an, in mehrere Richtungen gleichzeitig zu denken, was zu einer vollkommenen Lähmung meines Körpers führte. Ich konnte mich nicht vom Fleck rühren, nicht essen, nicht reden. Ich konnte einfach keine Entscheidung mehr treffen. Das bedeutete Stillstand, und Stillstand bedeutet Tod. Ich lag drei Tage im Bett und tat nichts, außer das Flimmern vor meinen Augen auf eine Wand zu projizieren. Jens setzte sich zu mir. Er sagte, dass wir jetzt nicht mehr zusammen in dieser Wohnung leben könnten, nach einer Trennung sei das nicht möglich. Er hatte eine Idee zur Lösung des Problems: Ich sollte ausziehen.

Ich kaufte mir ein Feng-Shui-Buch und fing an, meine neue Wohnung einzurichten. Bett mit Kopfteil im Westen, im Süden stellte ich eine rote Lampe auf, die Schriftstellern und Schauspielern zu Erfolg verhelfen soll. Ich bin weder Schriftstellerin noch Schauspielerin, aber ich mag diese Leute. Ich verbrannte Salbei und lief in Achten durch die Räume, besonders gefiel mir aber der Satz: Befreien Sie sich von altem Tand und Trödel. Ich hatte nicht gewusst, dass ich im Wegwerfen so gut sein würde.

Das Buch warnte auch davor, im Südwesten Stapel von Papier aufzubewahren, weil dies einen negativen Einfluss auf Partnerschaft und Erotik haben könne. Ich versuchte mich daran zu erinnern, ob im Südwesten der Wohnung von Jens und mir Papier gestapelt war. Es gelang mir nicht. Ich konnte mir keines unserer Zimmer ins Gedächtnis rufen. Hinter mir lag ein schwarzes Loch. Ich habe gehört, dass bei Unfallopfern und Menschen, die einen schweren Schock erlitten haben, Teile ihrer Vergangenheit wie aus dem Gedächtnis gelöscht sind. Mir ging es ähnlich. Nicht einmal Jens konnte ich mir vorstellen – nein, da war nichts, was ich hätte aufrufen können. Würden wir uns jetzt zufällig auf der Straße begegnen, ich würde an ihm vorbeigehen wie an einem Fremden.

Im Klamottenwegwerfen war ich dann doch nicht so gut. Ich stand lange vor dem Spiegel und konnte mich nicht entscheiden. Es klingelte an der Tür. Es war ein Mann. Es war Jens. Ich erkannte ihn, und aus einer alten Gewohnheit heraus freute ich mich, ihn zu sehen. Er musterte mich und fragte, ob er hereinkommen dürfe, und ich sagte Ja. Ich ging hinter ihm her in die Küche, auf dem Kopf eine Norwegermütze. Ich hatte sie anprobiert, weil ich mir unsicher war, ob ich sie in die Altkleidersammlung geben sollte. Wir setzten uns an den Küchentisch, und Jens sagte, er brauche nur eine Unterschrift von mir, eine reine Formsache. Er legte ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber vor mich auf die Tischplatte. Die Mütze fing zu jucken an. Ich wollte sie abnehmen, aber ich befürchtete, dass meine Haare darunter fettig aussehen würden. Ich nahm sie nicht ab. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Es ging darum, dass ich als Zweitmieter aus unserem Wohnungsvertrag austrat. Jens hatte bereits alles vorformuliert. Ich fing unter der Norwegermütze zu schwitzen an. Ich wollte nicht unterschreiben. Ich kroch unter den Tisch und ging dort in die Hocke.

Sophie?

Ich riss mir die Norwegermütze herunter, dann stand ich auf. Mit dem Küchentisch auf dem Kopf verließ ich die Wohnung.

Sophie?

Ja.

Würdest du bitte hier unterschreiben?

Ja.

Die Sache ist die: In naher Zukunft wird unsere Erde von Flutkatastrophen und Wirbelstürmen heimgesucht werden. Der Meeresspiegel wird ansteigen, die Gletscher werden schmelzen. Es kommt zur Ausbreitung von Parasiten und tropischen Krankheiten. Die Medien waren voll von Meldungen dieser Art. Ich hatte mich vorher nie mit dem Klimawandel auseinandergesetzt. Ich hatte früher auch nie zum Frühstück Zeitung gelesen. Und ich erinnere mich genau an den Tag, an dem es mir wie Schuppen von den Augen fiel: Bald würde alles vorbei sein. Da konnten Jens und seine Freundin ruhig von einem neuen gemeinsamen Leben träumen. Bald würde es richtig ungemütlich werden.

Ich saß in meiner Küche und versuchte, ein Brötchen zu essen und Kaffee zu trinken und weiterzumachen. Davor war ich aufgestanden und hatte mich gewaschen. Ein Tag braucht Struktur.

Es war die Phase nach unserer Trennung, in der ich mich betrogen fühlte, doppelt betrogen. Ich war verlassen worden. Und ich war von Jens verlassen worden. Dieses Gefühl kann man nur verstehen, wenn man Jens kennt. Jens ist Dramaturg am Stadttheater. Dramaturgen sind Menschen, die eine Arbeit machen, die keiner sieht, aber ihr Leben dafür hingeben. Jens trägt einen Gürtel und sein Hemd in der Hose. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass Jens mich nie verlassen würde, nie, weil das einfach überhaupt nicht in ihm angelegt ist. Er hatte es getan. Rückblickend hätte ich ebenso gut drei Jahre meines Lebens mit einem Mann verbringen können, der irgendwas mit Acrylfarbe auf Leinwänden macht. Mit dem gleichen Ergebnis.

Ich saß also am Frühstückstisch, und während ich mir Marmelade auf mein Vollkornbrötchen strich, schmolz irgendwo in der Antarktis das letzte Eis. Das war, wie bei Regen im Zelt sitzen. Ein warmer Schauer kroch mir über den Rücken. Bald würde alles vorbei sein. Ich schmierte mir ein zweites Brötchen. Mein Appetit kam zurück.

Ich weiß nicht, wie es so weit kommen konnte. Ich wollte es gar nicht. Plötzlich stand ich vor unserer alten Wohnung. Nach ein paar Minuten kamen Jens und seine neue Freundin aus der Tür. Ich behauptete beim Umzug etwas vergessen zu haben. Was hätte ich tun sollen? Ein Buch. Lyrik. Von Bert Brecht. Gut, sagte Jens, lass uns nachsehen, ob es zwischen meine Bücher gerutscht ist. Ich glaube, sie hieß Aline, und sie sagte, sie müsse los. Natürlich küssten sie einander zum Abschied, und mir winkte sie zu, als würden wir manchmal zusammen Kaffee trinken. Jens und ich gingen in die Wohnung und suchten. Im Bücherregal und unter der Couch, in der Küche auf der Anrichte. Wir sahen hinter den Schränken nach. Wir fanden nichts. Und du bist dir ganz sicher, dass du es nicht mitgenommen hast? Jens ist ein netter Mensch, er glaubt immer an das Gute, und er traut mir zu, dass ich Gedichte lese. Von Bert Brecht! Wer liest heute noch Gedichte von Bert Brecht? Mir stiegen Tränen in die Augen. Ich begann laut zu schluchzen. Jens sah mich an, und ich wischte mir mit dem Handrücken über das Gesicht. Ist es dir so wichtig?, fragte Jens. Ich nickte und schluckte. Ich werde beim Aufräumen noch einmal suchen, und dann bring ich es dir. Ich schluderte Rotz durch die Nase, und Jens stand da und sah mich an. Weiter nichts. Da musste ich erst recht weinen.

Sophie?

Ich steckte meinen Kopf unter seinen Pullover.

Sophie?

Ja.

Ich bring dich noch zur Tür.

Ja.

Was für ein Selbstmordtyp sind Sie? Bevorzugen Sie den Tod durch Strick, Kugel oder Gift? Man sollte sich frühzeitig Gedanken darüber machen. Wenn es so weit ist, ist es lästig, sich um Organisatorisches kümmern zu müssen.

Ich dachte daran, einen entsprechenden Test auszuarbeiten und ins Internet zu stellen. Als Grundlage wollte ich jene Psychotests verwenden, die man in Frauenzeitschriften auf Doppelseiten findet. Das Internet ist voll verzweifelter Menschen. Ich wollte ihnen helfen. Sie sollten nicht in so eine ähnliche Situation geraten wie ich. Tod durch Strick konnte ich aufgrund der Wand- und Deckenbeschaffenheit in meiner neuen Wohnung beispielsweise vergessen. Rigips. War aber erst einmal nicht weiter tragisch. Ich war sowieso kein Stricktyp. Vermutlich gehörte ich eher zum Typ Geisterfahrer: Einer, der noch möglichst viele Menschen mit in den Tod reißt, bevor er selber gegen einen Brückenpfeiler fährt.

Ich brachte mich dann doch nicht um. Es ging ja voran. Ich las von einem Wirbelsturm vor der US-Ostküste, von Waldbränden in Kalifornien, und ich sah Fotos von Allgäuer Kühen, die im Mai auf einer verschneiten Wiese stehen.

Ich fuhr mit dem Fahrrad zum Zeitschriftenkiosk am Bahnhof. Eine breiige Hitze lag über der Stadt. Eine Hitze, die beim Hindurchfahren Widerstand leistete. Mir kam ein lachender Mann entgegen, und es muss Schnaps gewesen sein, was seine Mundwinkel nach oben zog. Sind wir noch zu retten? So lautete der Titel des Magazins, das ich kaufte. Dem Klimawandel war ein ganzes Dossier gewidmet.

Als ich nach Hause kam, war ich übersät mit geflügelten Ameisen. Ich holte mir eine kleine, sehr feingliedrige aus der Nase, mit den anderen legte ich mich ins Bett.

Wie viele Minuten hat ein Tag. Ich meine, wie viele Minuten hat ein Tag wirklich, wenn man jede einzelne spürt, wenn der Tag nach oben hin offen ist wie ein Haus ohne Dach, weil da niemand ist, der abends nach Hause kommt. Ich lag da und horchte. Vielleicht läutete es an der Tür, und Jens käme noch einmal vorbei. Oder es klingelte, und vor der Tür stünde ein Zeuge Jehovas. Ich hätte ihn hereingebeten und Limonade gemacht, und ich hätte Kekse aus dem Schrank geholt und sie auf einen Goldrandteller meiner Großmutter gelegt. Wir wären in der Küche gesessen, hätten an unseren Gläsern genippt. Nach einer Aufwärmphase hätten wir begonnen, über den Weltuntergang zu sprechen. Irgendwann hätten wir die Sätze des anderen beendet, und dann hätte es kein Halten mehr gegeben …

Jens und ich waren glücklich gewesen. Und bestimmt fehlte ich ihm bereits. Wir hatten nie große Überschneidungspunkte. Jens war das zerwühlte Bett, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam. Jens war der Kaffeering auf dem Esstisch und das Aftershave im Bad. Es reichte aus zu wissen, dass der andere da war, daraus konnte das Gefühl von maximaler Freiheit entstehen. Ich war mir sicher, dass diese Freiheit Jens bald fehlen würde, dass diese Aline regelmäßige Anrufe wünschte und gemeinsames Frühstücken und dass sie anfangen würde, am Abend seinen Gesichtsausdruck zu analysieren. Schatz, woran denkst du gerade? Ärger mit Kollegen?

Ich war auf dem Bild eines Wirbelsturms eingeschlafen. Ich wollte ja glauben. Wirklich. Aber manchmal hätte ich mir doch einen Beweis gewünscht. Ich wollte es mit eigenen Augen sehen. Ein kleiner Tornado, der im Vorgarten mit Autos und Dachziegeln spielt. Das hätte ja gereicht. Fürs Erste.

Wie gesagt, ich war auf dem Bild eines Wirbelsturms eingeschlafen. Und ich wachte auf und fühlte diesen durchdringenden Kopfschmerz. Ich ging in die Küche, um mir Tee zu kochen, und entdeckte zufällig diesen Hubbel am Hinterkopf. Mir war klar, dass es sich dabei um eine Zecke handeln musste. Ich klappte den Mund auf, um nach Jens zu rufen. Ich klappte den Mund wieder zu. Je länger ich darüber nachdachte, umso mehr Sinn ergab die Sache. Auf dem Weg zum Bahnhof war ich durch eine Allee mit tief hängenden Ästen gefahren. Hier hatte ich mir die Zecke eingefangen. Die Kopfschmerzen waren Anzeichen einer akuten Hirnhautentzündung. Ich wollte nicht an so etwas Lächerlichem wie an einem Zeckenbiss sterben. Ich musste zum Arzt.

Ein stechender Schmerz, der schubweise auftritt, erklärte ich dem Arzt. Ungefähr alle fünf bis zehn Minuten, sagte ich. Und dann unterbreitete ich ihm meine Zeckentheorie. Bei Ärzten ist es immer gut, wenn man mitdenkt. Der Arzt besah sich meinen Hinterkopf. Er diagnostizierte eine verstopfte Talgdrüse. Allerdings wollte er meine Wirbelsäule sehen. Ich sollte mich ausziehen. Er begann mit den Fingern meinen Rücken abzutasten.

Ich weiß nicht, was das für neurochemische Reaktionen sind, die durch Berührungen ausgelöst werden. Es war jedenfalls unglaublich. Die Hände des Arztes ließen kleine Blitze jubelnd durch meinen Körper schießen. Ich wollte seufzen, stöhnen, mich hin und her winden. Aber auch der Arzt selber geriet beim Anblick meines Rückens in helle Aufregung. Es waren Ausrufe der Begeisterung, mit denen er der Arzthelferin den Befund diktierte. Wundervoll!, rief er.

So soll es sein: eine rechtskonvexe Lumbalskoliose mit thorakalem Gegenschwung, Lendenwulst rechts, Rippenbuckel links. Ein ungleiches Taillendreieck, ein leichter Schulterhochstand links mit Verkürzung des Schulterreliefs. Frau Keller, das ist ordentlich, so steht es im Lehrbuch. Er nickte anerkennend und ließ noch einmal die Hand über meine Wirbelsäule gleiten. Ich schloss die Augen. Er sagte, dass die Kopfschmerzen vermutlich von Verspannungen herrührten. Vielleicht haben Sie sich letzte Nacht ein wenig verlegt, Frau Keller? Und wegen Ihres Rückens empfehle ich Krankengymnastik. Einmal wöchentlich.

Frau Keller?

Ja.

Sie dürfen sich wieder anziehen.

Ja.

Ich war privat versichert. Ich würde das nun regelmäßig machen. Ich würde Ärzte aufsuchen und sie mit meinem Rücken entzücken. Ein Reim. Ich war in bester Laune. Ich ging wie auf Wolken.

Wussten Sie eigentlich, dass man Wolken impfen kann? Nein? Kann man. Kann man. Und es schneit dann oder es regnet. In Peking hat man letzte Woche Chemikalien in eine Wolke gesprüht. Man wollte, dass es regnet, aber es schneite.

Ich versuchte kommunikativ zu sein. Ich unterhielt mich mit der Nachbarin im Hausflur. Sie war alt, und alte Menschen reden gerne, vor allem über das Wetter. Für Singles ist Kommunikation von größter Bedeutung. Sonst verwest man in seiner Wohnung, und dass man gestorben ist, erfährt die Menschheit, weil es im Treppenhaus riecht. Vielleicht konnte man mit Ärzten und alten Nachbarn das Alleinsein kaschieren. So wie man bei Augenringen Abdeckcreme benutzt.

Die Kopfschmerzen waren jedenfalls verflogen, und in der Nacht hatte ich folgenden Traum: Ich war in der Stadt unterwegs, als ich in eine Menschenmasse geriet. Eine Ansammlung von Menschen, die mit schreckensstarren Gesichtern und geöffneten Mündern gen Horizont blickten. Ich blieb stehen und versuchte zu erkennen, was es dort zu sehen gab. Am Ende der Häuserflucht tat sich ein Stück Himmel auf, und dort sah man in all dem Blau einen Tornado, der auf uns zuraste. Natürlich dachte ich als Erstes daran wegzulaufen, aber überall waren Menschen, und ein Durchkommen schien unmöglich. Und dann wurde mir klar, dass er wegen mir gekommen war.

Manchmal passieren unglaubliche Dinge für genau einen Menschen, und dieser Mensch war ich. Lasst mich durch!, rief ich und boxte mich durch die Menge. Und dann lief ich, lief, lief ihm entgegen. Der Tornado und ich rasten aufeinander zu, wir fielen uns an. Er riss mich mit sich und in sich hinein, er fegte mir die Kleider vom Leib, ich hatte das Gefühl, hochgewirbelt und in Stücke gerissen zu werden. Ich schrie auf vor Lust.

Dann erwachte ich. Erschöpft wie nach einem überstandenen Fieber schlug ich die Augen auf. Ich war allein. Aber ich war die, die mit dem Wolf tanzt.

Madonna

Plötzlich konnte ich nicht mehr atmen. Ich saß vor dem Fernseher und bekam keine Luft. Auf dem Bildschirm sah ich einen Mann, er machte irgendwas mit Eiern und Nägeln, während eine Stoppuhr lief. In meiner Hand hielt ich mein Vokabelheft. Die englischen Wörter und der Mann verschwammen vor meinen Augen. Ich konnte nicht sitzen bleiben. Ich sterbe, dachte ich. Ich lief vor das Haus. Ich lief zurück ins Wohnzimmer. Ich rief den Vater im Büro an. Papa, du musst kommen.

Wanda, ich versinke in Arbeit.

Ich kann nicht atmen.

Das ist nicht witzig.

Ich fing zu weinen an.

Ruf einen Arzt.

Gut.

Ich rief keinen Arzt. Ich wartete, bis der Vater ins Wohnzimmer stürmte.

Ich dachte, ich sterbe, sagte ich.

Am nächsten Tag starb ich fünf Mal. Einmal in der großen Pause, einmal im Chemieunterricht. Einmal im Bus, zweimal im Wartezimmer des Hausarztes.