Eugénie Grandet - Honoré de Balzac - E-Book

Eugénie Grandet E-Book

Honore de Balzac

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Beschreibung

Eugénie Grandet Honoré de Balzac - Das Buch handelt von der Familie Grandet, die in Saumur an der Loire lebt. Vater Grandet ist einer der reichsten Männer der Umgebung und dabei unmenschlich geizig; sein ganzes Trachten und Streben gilt allein der Wahrung und Mehrung seines Vermögens. Die Mutter, seine Tochter Eugénie und das Hausmädchen führen in seinem Schatten ein stilles, freudloses Dasein.

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Honoré de Balzac
Eugnie Grandet

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Einleitung von Hugo von Hofmannsthal

Man kennt diesen großen Autor nicht, wenn man von ihm nur dies oder jenes kennt. Es gibt nicht den einzelnen Band, der die Essenz seines dichterischen Daseins enthielte, wie »Faust« oder die »Gedichte« die Essenz von Goethes Dasein in sich fassen. Balzac will im breiten gelesen sein, und es bedarf keiner Kunst, ihn zu lesen. Es ist die selbstverständlichste Lektüre für Weltleute, das Wort in seinem weitesten Sinn genommen, vom Advokatenschreiber oder Kaufmannslehrling bis hinauf zum großen Herrn. Eher bedürfte es für Weltleute (ich rede von Männern aller Stände, von Politikern, Soldaten, von Geschäftsreisenden, von vornehmen und einfachen Frauen, von Geistlichen, von allen Menschen, die keine Literaten und keine Schöngeister sind, und von allen denen, die nicht aus Bildungsbedürfnis, sondern zur Belustigung ihrer Einbildungskraft lesen) von Fall zu Fall einer kleinen Anspannung, eines gewissen Übergangs, um Goethe zu lesen. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß sich ihnen Goethe in den beschwerten und den verworrenen Momenten ihrer Existenz versagt; Balzac wird sich immer mit ihnen einlassen. Nicht im literarischen Sinn meine ich dies: denn bei Goethe wird der erste Vers, den sie aufschlagen, immer etwas Wundervolles sein, ein Geisterklang, ein Zauberspruch, und bei Balzac werden sie leicht auf drei oder vier langweilige, ermüdende Seiten stoßen, nicht bloß im Anfang einer Geschichte, sondern möglicherweise wo immer sie aufschlagen. Aber schon indem sie diese gleichgültigen und eher mühsamen Seiten mechanisch durchfliegen, wird etwas auf sie zu wirken beginnen, dem sich der wirkliche Leser, der lebendige menschliche Leser, niemals entzieht: eine große, namenlos substantielle Phantasie, die größte, substantiellste schöpferische Phantasie, die seit Shakespeare da war. Wo immer sie aufschlagen, bei einer Abschweifung über Wechselrecht und die Praktiken der Wucherer, bei einem Exkurs über legitimistische oder liberale Gesellschaft, bei der Schilderung eines Kücheninterieurs, einer ehelichen Szene, eines Gesichtes oder einer Spelunke werden sie Welt fühlen, Substanz, die gleiche Substanz, aus der das Um und Auf ihres Lebens gebildet ist. Sie werden unmittelbar aus ihrem Leben in diese Bücher hinüberkönnen, ganz unvermittelt, aus ihren Sorgen und Widerwärtigkeiten heraus, ihren Lieblingsgeschichten und Geldaffären, ihren trivialen Angelegenheiten und Ambitionen. Ich bin dem Finanzier begegnet, der übergangslos nach seinen Sitzungen und Konferenzen zu seinem Balzac griff, im welchem er die letzten Notierungen der Börse als Lesezeichen liegen hatte, und der Weltdame, die in »Les illusions perdues« oder »La vieille fille« die einzig mögliche Lektüre fand, um sich selbst zurückzufinden, abends, nachdem man unter Menschen war oder Menschen bei sich gesehen hat, die einzige Lektüre, die stark und rein genug ist, um die Phantasie von dem jähen und so zerrüttenden Fieber der Eitelkeit zu heilen und alles Gesellschaftliche auf sein Menschliches zu reduzieren. Diese Funktion, mitten in das Leben des Menschen hineinzugreifen, das Gleiche mit dem Gleichen zu heilen, die Wirklichkeit mit einer erhöhten dämonischen Wirklichkeit zu besiegen – ich frage mich, welcher unter den großen Autoren, mit denen unser geistiges Leben rechnet, hierin mit Balzac rivalisieren könnte – es wäre denn Shakespeare. Aber Shakespeare so zu lesen, wie andere Generationen die Alten gelesen haben, ich meine, ihn so zu lesen, daß man das Ganze des Lebens aus ihm herausliest, ihn vom Standpunkt des Lebens zu lesen und die wahrsten Bedürfnisse seiner Wißbegierde an ihm zu befriedigen, ist nicht jedermanns Sache. Es ist nicht jedermanns Sache, seine Einbildungskraft so anzuspannen, daß sie die Distanz von drei Jahrhunderten überfliegt, alle Verhüllungen einer prachtvollen, aber wildfremden Epoche durchdringt und dahinter nur das ewig wahre Auf und Ab des menschlichen Tuns und Leidens wahrnimmt. Es ist nicht jedermanns Sache, ohne die Hilfe des Schauspielers, ohne eine ganz bestimmte Begabung der nachschaffenden Einbildungskraft, die genialste Verkürzung und Zusammendrängung, die jemals realisiert wurde, wieder in eine solche Breite des Weltbildes auszulösen, daß er in ihr sich selber und die vielfach verschlungenen Fäden des Daseins wiederfindet, deren Durchkreuzung seine Wirklichkeit bedeutet.

Goethe ist in gewissem Sinne leichter zu lesen, und wer liest ihn nicht? Obwohl er eine seiner tiefen und subtilen Einsichten aussprach, als er sagte, seine Schriften seien nicht geschaffen, populär zu werden, und ihr wahrer Gehalt werde immer nur einzelnen aufgehen, die ähnliches in sich durchgemacht hätten, so scheinen dieser Einzelnen heute so viele zu sein, daß die Wahrheit seines Wortes beinahe wieder aufgehoben ist. Aber wer sich eines seiner Werke aufs neue aneignen, wer »Hermann und Dorothea«, den »Wilhelm Meister«, die »Wahlverwandtschaften« genießen will, muß sich mit schon gereinigten Sinnen dem Buche nähern. Er muß viel von sich, von der Atmosphäre seines Lebens, draußen lassen. Er muß die Großstadt vergessen. Er muß zehntausend Fäden seines augenblicklichen Fühlens, Denkens und Wollens durchschneiden. Er muß sich auf seinen »verklärten Leib« besinnen, ich meine: auf sein Ewiges, sein Rein-Menschliches, sein Unbedingtes. Er muß der ewigen Sterne gedenken und sich durch sie heiligen. Dann freilich ist es beinahe gleichgültig, welches von Goethes Werken er aufschlägt: überall umfängt ihn die gleiche gesteigerte und verklärte Wirklichkeit. Ihn umgibt in Wahrheit eine Welt, ein Geist, der eine Welt ist. Die Deutungen und die Gestalten, eine Idee oder die Beschreibung einer Naturerscheinung, ein Vers oder Mignon oder Ottilie, alles ist die gleiche göttliche, strahlende Materie. Hinter jeder Zeile fühlt er den Bezug auf ein Ganzes, auf eine erhabene Ordnung. Die ungeheure Ruhe eines ungeheuren Reichtums legt sich beinahe bedrückend auf seine Seele, um diese Seele dann grenzenlos beglückend emporzuheben. –

Aber dieser Arm, der zu den Sternen heben kann, umschlingt nicht jeden. Auch der lebendige Goethe gab sich nur wenigen und diesen nicht zu jeder Stunde. Wer mit unruhiger Hand danach greift, dem verschließt sich ein Gebilde wie die »Wahlverwandtschaften«, wie eine Muschel sich zuklappt. Solchen erscheint Goethe kühl, fremd, sonderbar. Er imponiert mehr, als er einnimmt. Sie verschieben es, ihn zu lesen – auf ruhigere Tage, oder auf eine Reise. Oder er macht, daß sie sich nach ihrer Jugend sehnen, nach einer höheren Empfänglichkeit. Er scheint ihnen künstlich, er, der die Natur selbst war, und kalt, er, dessen Liebesblick noch das starre Urgestein mit Wärme durchdrang. Sie suchen nach einer Vorbereitung, ihn zu genießen. Sie greifen nach einem Erklärer oder nach den wunderbaren Briefen und Gesprächen, in denen er sich selbst kommentiert, und erst auf diesem Umweg kommen sie wieder zu seinen Werken zurück. Nichts ist undenkbarer als ein Leser, der zu den Werken Balzacs auf einem indirekten Wege käme. Die wenigsten seiner zahllosen Leser wissen irgend etwas von seinem Leben. Die Literaten kennen über ihn einige kleine Anekdoten, die niemanden interessieren würden, wenn sie sich nicht auf den Autor der »Comédie humaine« bezögen, und den Briefwechsel mit einer Person, welcher fast nichts enthält als Bulletins über seine unaufhörliche, gigantische, mit nichts in der literarischen Welt zu vergleichende Arbeitsleistung. Es ist der stärkste Beweis für die ungeheure Kraft seiner Werke, daß wir diese endlosen Bulletins mit einer ähnlichen Gespanntheit zu lesen vermögen wie einen Feldzugsbericht Napoleons, in dem es sich um Austerlitz, Jena und Wagram handelt. Seine Leser kennen seine Werke und nicht ihn. Sie sagen »Peau de chagrin« und erinnern sich eines wachen Traumes, eines abenteuerlichen Erlebnisses, nicht der Leistung eines Dichters; sie denken an den alten Gonot und seine Töchter und besinnen sich nicht, wie der Verfasser heißt. Sie sind einmal in diese Welt hineingeraten, und neunzig auf hundert von ihnen werden immer wieder zu ihr zurückkehren, nach fünf, nach zehn, nach zwanzig Jahren. Walter Scott, den einmal die reifen Menschen mit Entzücken lasen, ist die Lektüre der Knaben geworden. Balzac wird immer (oder sehr lange, denn wer darf von »immer« sprechen) die Lektüre aller Lebensstufen bleiben, und der Männer ebensowohl wie der Frauen. Die Kriegsgeschichten und Abenteuer, die »Chouans«, »L'auberge rouge«, »El verdugo«, sind für die Phantasie eines Sechzehnjährigen die Ablösung der Indianergeschichten und des Kapitän Cook; die Erlebnisse der Rubempré und Rastignac sind die Lektüre des jungen Mannes; »Le lys dans la vallée«, »Savarus«, »Modeste Mignon« der jungen Frau; Männer und Frauen, die um Vierzig sind, die Reifen und noch nicht Verarmten, werden an das Reifste sich halten: an »Cousine Bette«, das grandiose Buch, das ich nicht finster nennen kann, obwohl es fast nur Häßliches, Trauriges und Schreckliches enthält, da es von Feuer, Leben und Weisheit glüht, – an »La vieille fille«, das eine über jedes Lob erhabene Plastik der Gestalten mit der profundesten Lebensweisheit vereinigt und dabei klein, rund, behaglich, heiter ist, in jedem Betracht ein unvergleichliches Buch, ein Buch, das stark genug wäre, für sich allein den Ruhm seines Autors durch die Generationen zu tragen. Ich habe einen alten Herrn die »Contes drôlatiques« preisen hören und habe einen ändern alten Herrn mit Rührung von der Geschichte des Cäsar Birotteau sprechen hören, diesem stetigen Aufstieg eines braven Mannes, von Jahr zu Jahr, von Bilanz zu Bilanz, von Ehre zu Ehre. Und wenn es Menschen gegeben hat, die aus dem »Wilhelm Meister« die »Bekenntnisse der schönen Seele« herausschnitten und das übrige verbrannten, so hat es sicher auch den Menschen gegeben, der aus der »Comedie humaine« »Seraphitus- Seraphita« herausschnitt und sich daraus ein Erbauungsbuch machte, und vielleicht war ein solcher jener Unbekannte, der in Wien in einem Konzertsaal auf Balzac zudrängte, um die Hand zu küssen, die »Seraphita« geschrieben hatte.

Jeder findet hier so viel vom großen Ganzen des Lebens, als ihm homogen ist. Je reichlicher genährt eine Erfahrung, je stärker eine Einbildungskraft ist, desto mehr werden sie sich mit diesen Büchern einlassen. Hier braucht keiner etwas von sich draußen zu lassen. Alle seine Emotionen, ungereinigt wie sie sind, kommen hier ins Spiel. Hier findet er seine eigene innere und äußere Welt, nur gedrängter, seltsamer, von innen heraus durchleuchtet. Hier sind die Mächte, die ihn bestimmen, und die Hemmungen, unter denen er erlahmt. Hier sind die seelischen Krankheiten, die Begierden, die halb sinnlosen Aspirationen, die verzehrenden Eitelkeiten; hier sind alle Dämonen, die in uns wühlen. Hier ist vor allem die große Stadt, die wir gewohnt sind, oder die Provinz, in ihrem bestimmten Verhältnis zur großen Stadt. Hier ist das Geld, die ungeheure Gewalt des Geldes, die Philosophie des Geldes, in Gestalten umgesetzt, der Mythos des Geldes. Hier sind die sozialen Schichtungen, die politischen Gruppierungen, die mehr oder weniger noch die unseren sind, hier ist das Fieber des Emporkommens, das Fieber des Gelderwerbs, die Faszination der Arbeit, die einsamen Mysterien des Künstlers, des Erfinders, alles, bis herab zu den Erbärmlichkeiten des kleinbürgerlichen Lebens, zur kleinen Geldmisere, zum mühsam und oft geputzten Handschuh, zum Dienstbotenklatsch.

Die äußere Wahrheit dieser Dinge ist so groß, daß sie sozusagen getrennt von ihrem Objekt sich zu erhalten und wie eine Atmosphäre zu wandern vermochte, das Paris von Louis Philipp ist weggeschwunden, aber gewissen Konstellationen, der Salon in der Provinz, in dem Rubempré seine ersten Schritte in die Welt tut, oder der Salon der Madame de Bargeton in Paris, sind heute von einer verblüffenden Wahrheit für Österreich, dessen sozialer und politischer Zustand vielleicht dem des Julikönigtums sehr ähnlich ist; und gewisse Züge aus dem Leben von Rastignac und de Marsay sind vielleicht heute für England wahrer als für Frankreich. Aber der Firnis dieser für uns greifbaren, aufregenden »Wahrheit«, – diese ganze erste große Glorie des »Modernen« um dieses Werk wird vergehen: jedoch die innere Wahrheit dieser aus der Phantasie hervorgeschleuderten Welt (die sich nur einen Augenblick lang in tausend nebensächlichen Punkten mit der ephemeren Wirklichkeit berührte) ist heute stärker und lebendiger als je. Diese Welt, die kompletteste und vielgliedrigste Halluzination, die je da war, ist wie geladen mit Wahrheit. Ihre Körperhaftigkeit löst sich dem nachdenklichen Blick in ein Nebeneinander von unzähligen Kraftzentren auf, von Monaden, deren Wesen die intensivste, substantiellste Wahrheit ist. Im Auf und Ab dieser Lebensläufe, dieser Liebesgeschichten, Geld- und Machtintrigen, ländlichen und kleinstädtischen Begebenheiten, Anekdoten, Monographien einer Leidenschaft, einer seelischen Krankheit oder einer sozialen Institution, im Gewirr von etwa dreitausend menschlichen Existenzen, wird ungefähr alles berührt, was in unserem bis zur Verworrenheit komplizierten Kulturleben überhaupt einen Platz einnimmt. Und fast alles, was über diese Myriaden von Dingen, Beziehungen, Phänomenen gesagt ist, strotzt von Wahrheit. Ich weiß nicht, ob man es schon unternommen hat (aber man könnte es jeden Tag unternehmen), ein Lexikon zusammenzustellen, dessen ganzer Inhalt aus Balzac geschöpft wäre. Es würde fast alle materiellen und alle geistigen Realitäten unseres Daseins enthalten. Es würden darin Küchenrezepte ebensowenig fehlen als chemische Theorien; die Details über das Geld- und Warengeschäft, die präzisesten, brauchbarsten Details würden Spalten füllen; man würde über Handel und Verkehr vieles erfahren, was veraltet, und mehreres, was ewig wahr und höchst sachgemäß ist, und daneben wären unter beliebige Schlagworte die kühnsten Ahnungen und Antizipationen von naturwissenschaftlichen Feststellungen späterer Jahrzehnte aufzunehmen; die Artikel, die unter dem Schlagwort »Ehe« oder »Gesellschaft« oder »Politik« zusammenzufassen wären, wären jeder ein Buch für sich und jeder ein Buch, das unter den Publikationen der Weltweisheit des neunzehnten Jahrhunderts seinesgleichen nicht hätte. Das Buch, welches den Artikel »Liebe« enthielte und in einem kühn gespannten Bogen von den unheimlichsten, undurchsichtigsten Mysterien (Une passion dans le désert) durch ein strotzendes Chaos aller Menschlichkeiten zur seelenhaftesten Engelsliebe sich hinüberschwänge, würde das eine berühmte Buch gleichen Namens, das wir besitzen und das von der Hand eines Meisters ist, durch die Größe seiner Konzeption, durch den Umfang seiner Skala in den Schatten stellen. Aber schließlich existiert dieses Lexikon. Es ist in eine Welt von Gestalten, in ein Labyrinth von Begebenheiten versponnen, und man blättert darin, indem man dem Faden einer prachtvoll erfundenen Erzählung folgt. Der Weltmann wird in diesen Bänden die ganze Reihe der so scheinhaften und doch so wirklichen Situationen umgewandelt sehen, aus denen das Soziale besteht. Die tausend Nuancen, wie Männer und Frauen einen anderen gut und schlecht behandeln können; die unmerklichen Übergänge; die unerbittlichen Abstufungen, die ganze Skala des wahrhaft Vornehmen, zum Halbvornehmen, zum Gemeinen: dies alles abgewandelt und in der wundervollsten Weise vom Menschlichen, vom Leidenschaftlichen durchbrochen und für Augenblicke auf sein Nichts reduziert. Der Mensch des Erwerbs (und wer hat nicht zu erwerben oder zu erhalten oder zu entbehren?) hat seine ganze Welt da: alles in allem. Den großen Börsenmann, den verdienenden Arzt, den hungernden und den triumphierenden Erfinder, den großen und kleinen Faiseur, den emporkommenden Geschäftsmann, den Heereslieferanten, den Geschäfte vermittelnden Notar, den Wucherer, den Strohmann, den Pfandleiher, und von jedem nicht einen, sondern fünf, zehn Typen, und was für welche! und mit allen ihren Handwerksgriffen, ihren Geheimnissen ihrer letzten Wahrheit. Die Maler halten unter sich die Legende aufrecht, daß von Delacroix herrühren müsse, was im »Chef d'œuvre inconnu« an letzten Intimitäten über die Modellierung durch das Licht und den Schatten gesagt ist; diese Wahrheiten sind ihnen zu substantiell, als daß jemand sie gefunden haben dürfte, der nicht Maler, und ein großer Maler gewesen wäre. Der Denker, dem man »Louis Lambert« in die Hand gegeben hat, als die Monographie über einen Denker, mag den biographischen Teil schwach finden und an der Realität der Figur zweifeln: aber sobald er zu dem in Briefen und Notizen übermittelten Gedankenmaterial kommt, so wird die Konsistenz dieser Gedanken, die substantielle Kraft dieses Denkers so überzeugend, daß jeder Zweifel an der Figur weggeblasen ist. Dies sind Gedanken eines Wesens, dies Hirn hat funktioniert, – man mag im übrigen die Gedanken, diese Philosophie eines spiritualistischen Träumers ablehnen oder nicht. Und der verheiratete Mann, dem in einer nachdenklichen Stunde die »Physiologie der Ehe« in die Hand fällt, wird in diesem sonderbaren und vielleicht durch einen gewissen halbfrivolen Ton unter den Werken Balzacs ein wenig deklassierten Buch auf einige Seiten stoßen, deren Wahrheiten so zart als tief und beherzigenswert sind, wahrhafte Wahrheiten, Wahrheiten, die sich, wenn man sie in sich aufnimmt, gewissermaßen ausdehnen und mit einer sanften, strahlenden Kraft im Innern fortwirken. Allen diesen Wahrheiten haftet nichts Esoterisches an. Sie sind in einem weltlichen, manchmal in einem fast leichtfertigen Ton vorgetragen. Verflochten unter Begebenheiten und Schilderungen, bilden sie die geistigen Elemente im Körper einer Erzählung, eines Romans. Sie sind uns entgegengebracht, wie das Leben selbst uns seinen Gehalt entgegenbringt: in Begegnungen, in Katastrophen, in den Entfaltungen der Leidenschaften, in plötzlichen Aussichten und Einsichten, blitzhaft sich auftuenden Durchschlägen durch den dichten Wald der Erscheinungen. Hier ist zugleich die leidenschaftlichste und vollständigste Malerei des Lebens und eine höchst überraschende, scharfsinnige Philosophie, die bereit ist, jedes noch so niedrig scheinende Phänomen des Lebens zu ihrem Ausgangspunkt zu machen. So ist durch das ganze große Werk, dessen Weltbild ebenso finster ist als das Shakespeares, und dabei um so viel wuchtender, trüber, schwerer durch seine eigene Masse, dennoch eine geistige Lebendigkeit ergossen, ja eine geistige Heiterkeit, ein tiefes Behagen: wie wäre es anders zu nennen, was uns, wenn einer dieser Bände uns in die Hand gerät, immer wieder nach vorwärts, nach rückwärts blättern macht, nicht lesen, sondern blättern, worin eine subtilere, erinnerungsvolle Liebe liegt, – und was uns die bloße Aufzählung der Titel dieser hundert Bücher oder das Register der Figuren, die in ihnen auftreten, gelegentlich zu einer Art von summarischer Lektüre macht, deren Genuß komplex und heftig ist, wie der eines geliebten Gedichtes?

Die Aufhäufung einer so ungeheuren Masse von substantieller Wahrheit ist nicht möglich ohne Organisation. Die anordnende Kraft ist ebensosehr schöpferische Kraft als die rein hervorbringende. Vielmehr sind sie nur verschiedene Aspekte einer und derselben Kraft. Aus der Wahrheit der Myriaden einzelner Phänomene ergibt sich die Wahrheit der Verhältnisse zwischen ihnen: so ergibt sich eine Welt. Wie bei Goethe fühle ich mich hier in sicherem Bezug zum Gesamten. Ein unsichtbares Koordinatensystem ist da, an dem ich mich orientieren kann. Was immer ich lese, einen der großen Romane, eine der Novellen, eine der phantastisch-philosophischen Rhapsodien, und ob ich mich in die Geheimnisse einer Seele vertiefe, in eine politische Abschweifung, in die Beschreibung einer Kanzlei oder eines Kramladens, niemals falle ich aus diesem Bezug heraus. Ich fühle: um mich ist eine organisierte Welt. Es ist das große Geheimnis, daß diese lückenlos mich umschließende Welt, diese zweite, gedrängtere, eindringlichere Wirklichkeit nicht als eine erdrückende Last wirkt, als ein Alp, atemraubend. Sie wirkt nicht so: sie macht uns nicht stocken und starren, sondern ihr Anblick gießt Feuer in unsere Adern. Denn sie selber stockt nicht, sondern sie ist in Bewegung. Infinitis modis, um das Kunstwort mittelalterlicher Denker zu brauchen, ist sie in Bewegung. Die Welt ist in dieser vollständigsten Vision, die seit Dante in einem Menschenhirn entstand, nicht statisch, sondern dynamisch erfaßt. Alles ist so deutlich gesehen, daß es eine lückenlose Skala ergibt, das ganze Gewebe des Lebens, von Faden zu Faden, ab und auf. Aber alles alles ist in Bewegung gesehen. Nie wurde die uralte Weisheit des Παντα ρει grandioser erfaßt und in Gestalten umgesetzt. Alles ist Übergang. Hier scheint hinter diesen Büchern, deren Gesamtheit neben dem »Don Quixote« die größte epische Konzeption der modernen Welt bildet, die Idee der epischen Kunstform ihre Augen aufzuschlagen. Die Menschen zu schildern, die aufblühen und hinschwinden wie die Blumen der Erde. Nichts anderes tat Homer. Dantes Welt ist starr. Diese Dinge gehen nicht mehr vorüber, aber er selber wandert und geht an ihnen vorüber. Balzac sehen wir nicht. Aber wir sehen mit seinen Augen, wie alles übergeht. Die Reichen werden arm, und die Armen werden reich. Cäsar Birotteau geht nach oben und der Baron Hulot nach unten. Rubemprés Seele war wie eine unberührte Frucht, und vor unseren Augen verwandelt sie sich, und wir sehen ihn nach dem Strick greifen und seinem befleckten Leben ein Ende machen. Seraphita windet sich los und entschwebt zum Himmel. Jeder ist nicht, was er war, und wird, was er nicht ist. Hier sind wir so tief im Kern der epischen Weltanschauung, als wir bei Shakespeare im Kern der dramatischen sind. Alles ist fließend, alles ist auf dem Wege. Das Geld ist nur das genial erfaßte Symbol dieser infinitis modis vor sich gehenden Bewegung und zugleich ihr Vehikel. Durch das Geld kommt alles zu allem. Und es ist das Wesen der Welt, in dieser grandiosen und epischen Weise gesehen, daß alles zu allem kommt. Es sind überall Übergänge, und nichts als Übergänge, in der sittlichen Welt so gut wie in der sozialen. Die Übergänge zwischen Tugend und Laster – zwei mythische Begriffe, die niemand recht zu fassen weiß – sind ebenso fein abgestuft und ebenso kontinuierlich wie die zwischen reich und arm. Es stecken in den auseinanderliegendsten und widerstreitendsten Dingen gewisse geheime Verwandtschaften, wodurch alles mit allem zusammenhängt. Zwischen einem Concierge in seiner Souterrainwohnung und Napoleon in St.-Cloud kann für einen Moment eine geheime Affinität aufblitzen, die unendlich viel mehr als ein bloßer Witz ist. In der Welt wirkt schlechtweg alles auf alles: wie sollte dies nicht durch die geheimnisvollsten Analogien bedingt sein? Alles fließt; nirgends hält sich ein starrer Block, weder im Geistigen, noch im äußeren Dasein. »Liebe« und »Haß« scheinen getrennt genug und fest genug umschrieben: und ich kenne diese und jene Figur bei Balzac, in deren Brust das eine dieser Gefühle in das andere übergeht mit einer Allmählichkeit, wie die Farben des glühenden Eisens. Haßt Philomène den Albert Savarus, oder liebt sie ihn? Am Anfang hat sie ihn geliebt, am Ende scheint sie ihn zu hassen, sie handelt unter einer Besessenheit, die vielleicht Haß und Liebe zugleich ist, und vermöchte man sie zu fragen, sie könnte keine Auskunft geben, welches von beiden Gefühlen sie martert. Hier sind wir durch einen Abgrund getrennt von der Welt des achtzehnten Jahrhunderts mit ihren Begriffen, wie »Tugend«, die fest, rund und dogmatisch sind, wohl geeignet, feste und theologische Begriffe zu ersetzen. Hier ist jede Mythologie, selbst die der Worte, aufgelöst. Und nirgends sind wir Goethe näher. Hier, ganz nahe, ja im gleichen Bette, rauscht der tiefe Strom seiner Anschauung. Aber es war die Grundgebärde seines geistigen Daseins, sich hier nach der entgegengesetzten Seite zu wenden. Die fließenden Kräfte seiner Natur waren so gewaltig, daß sie ihn zu überwältigen drohten. Er mußte ihnen das Beharrende entgegensetzen, die Natur, die Gesetze, die Ideen. Auf das Dauernde im Wechsel heftete er den Blick der Seele. So sehen wir sein Gesicht, so hat sich die Maske des betrachtenden Magiers geformt. Balzacs Gesicht sehen wir nicht als eine olympische Maske, über seinen Werken thronend. Nur in seinen Werken glauben wir es manchmal auftauchen zu sehen, visionär, hervorgestoßen von chaotischen Dunkelheiten, wirbelnden Massen. Aber wir vermögen nicht, es festzuhalten. Jede Generation wird es anders sehen, eine jede wird es als ein titanisches Gesicht sehen und wird auf ihre Weise daraus ein Symbol unaussprechlicher innerer Vorgänge machen. Wir wundern uns, daß wir es nicht von der Hand dessen besitzen, der das »Gemetzel auf Chios« und die »Barke des Dante« schuf. Er hätte den dreißigjährigen Balzac als den Titanen gemalt, der er war, als einen Dämon des Lebens, oder sein Gesicht als ein Schlachtfeld behandelt. Es ist eine überraschende Lücke, daß uns die Maske des Fünfzigjährigen dann nicht von Daumier überliefert ist. Sein wunderbarer Stift und sein gleich wunderbarer Pinsel hätten das grandios Faunische des Mannes aus dem Dunkel springen lassen und es mit der wilden Einsamkeit des Genies geadelt. Aber vielleicht waren ihm diese Generationen zu nahe, und es bedurfte der Distanz, die wir um ihn haben, damit etwas wie das Gebilde Rodins entstehen konnte, dieses völlig symbolgewordene, übermenschliche Gesicht, in welchem eine furchtbare Wucht der Materie sich mit einem namenlosen Etwas paart, einer dumpfen, schweren Dämonie, die nicht von dieser Welt ist, ein Gesicht, in dem die Synthese ganz verschiedener Welten vollzogen ist: das immerhin an einen gefallenen Engel erinnert und zugleich an die maßlos dumpfe Traurigkeit uralt griechischer Erde- und Meeresdämonen.

Jede Generation, die in sich selber aus dem Umgang mit dem Werk Balzacs die Vision dieses Gesichtes hervorbringt, wird darin eine ähnliche Synthese vollziehen zwischen der ganzen Lebensschwere in sich und dem geheimsten Drang nach Bewältigung dieser Schwere, nach Erlösung, nach Aufschwung. Das Dazugehören zur dumpfen, wuchtenden Masse des Lebens, die ewig sich selber befruchtet, und zugleich das Darüberhinauswollen, der tiefste Drang des Geistes nach Geist: das ist die Signatur dieses großen tragischen Gesichtes, das nicht wie Goethes Maske über uns hin ins Ewige zu schauen scheint, sondern durch uns hindurch, mitten durch die Schwere des Lebens. Diese ungeheure Welt, aufgebaut aus unserem Leben, dem Leben der Begierden, der Selbstsucht, der Irrtümer, der Grotesken, erhabenen und lächerlichen Leidenschaften, diese Welt, in deren Gemenge die Begriffe »Komödie« und »Tragödie« ebenso aufgelöst sind wie »Tugend« und »Laster«, diese Welt ist im Tiefsten ganz Bewegung, ganz Drang, ganz Liebe, ganz Mysterium. Dieser scheinbare Materialist ist ein leidenschaftlicher Ahnender, ein Ekstatiker. Die Essenz seiner Figuren ist Aspiration. Alle Dulderkräfte, Liebeskräfte, Künstleranspannungen, Monomanien, diese Titanenkräfte, die großen Motoren seiner Welt, sind Aspiration: alle zielen sie auf ein Höchstes, Unnennbares. Vautrin, das Genie als Verbrecher, und Stenbock, das Genie als Künstler, Goriot der Vater, Eugénie Grandet die Jungfrau, Frenhofer der Schöpfer, alle sind sie eingestellt auf ein Absolutes, das sich offenbaren wird, wie die vom nächtlichen Sturm umhergeworfenen Schiffe eingestellt sind auf das Dasein des Polarsternes, wenngleich Finsternis ihn verhüllt. In den Tiefen ihres Zynismus, in den Wirbeln ihrer Qualen, in den Abgründen der Entsagung suchen und finden sie Gott, ob sie ihn beim Namen nennen oder nicht.

Alle diese so körperhaften Figuren sind doch nichts als vorübergehende Verkörperungen einer namenlosen Kraft. Durch diese unendlichen Relativitäten bricht ein Absolutes; aus diesen Menschen blicken Engel und Dämonen. Jede Mythologie, selbst die letzte, zäheste, die der Worte, ist hier aufgelöst: aber eine neue, geheimnisvolle, höchst persönliche ist an die Stelle dieser anderen getreten. Ihre Konzeption ist großartig und in einer solchen Weise bestimmt und doch vag, daß Hunderttausende sie annehmen und sich aus ihr etwas wie den Mythos des modernen Lebens machen können. Alle diese Gestalten, die sich der Phantasie so sehr als »wirkliche« aufdrängen, erscheinen unter einem gewissen geisterhaften Licht, das von den Gipfeln dieses Werkes herabfällt, als gute und böse Genien, Wesen, in denen die irdischen Triebe vorübergehend inkarniert sind. Aber nichts an dieser Konzeption ist schematisch. Hier sind keine Dogmen statuiert, sondern Visionen. Taine, der genau vor einem halben Jahrhundert seinen großen Essay über Balzac schrieb, legt an diese Intuitionen, diese schwebenden Wahrheiten, die alle nur für einen Augenblick wahr sind und nur an der eine Stelle, wo sie stehen, einen Maßstab, den sie nicht vertragen. Einem Dichter kann man nichts einzelnes entwinden. Alles, was innerhalb einer Welt Wahrheit ist, ja mehr als Wahrheit – schrankenlose Ahnung –, wird eine mißgeborene Phantasmagorie, wenn man es aus dem Zusammenhang herausreißt. Es handelt sich um Formen des Sehens. Der Denker sieht Prinzipien, Abstraktionen, Formeln, wo der Dichter die Gestalt erblickt, den Menschen, den Dämon.

Immerhin ist hier, auch mit kaltem Blick betrachtet, die ungeheuerste Synthese vollzogen. Hier begegnet sich wirklich Novalis, der Magier, mit den titanischen Anfängen eines wahren Naturalismus; hier ist die Verbindung zwischen Swedenborg und Goethe oder Lamarck. Hier ist, in gemessenem Sinn, das letzte Wort des Katholizismus, und zugleich dringt die Ahnung der Entdeckungen Robert Mayers sternenhaft aus dem Nebel. Die Gewalt, die noch mehr als eine Generation unterjochen wird, liegt in der wundervollen Durchdringung dessen, was die Wirklichkeit des Lebens ist, der vraie vérité, bis herab zu den trivialsten Miseren des Lebens, mit Geist. Die Geistigkeit des neunzehnten Jahrhunderts, diese ganz ungeheure synthetische Geistigkeit, ist hier in die Materie des Lebens hineingepreßt wie ein alle Fasern durchdringender, glühender Dampf. Wo die Niederschläge dieses Dampfes sich stark und deutlich kristallisieren, wie in dem »Louis Lambert«, in der »Recherche de l'absolu«, im »Chef d'œuvre inconnu«, dort ergeben sich Ketten von Gedanken, Ahnungen, Aphorismen, die sich mit nichts vergleichen lassen als mit den »Fragmenten« des Novalis. Aber diese Kristallisationen, die bei Novalis fast alles sind, was uns in den Händen geblieben ist, sind hier nur ein Nebenprodukt dieser geistig-organischen Vorgänge. Viel bewundernswerter noch ist das Phänomen, welches sich ergibt, wenn die eingepreßte Gewalt dieser Geistigkeit die lebende Materie vorwärts treibt, wenn Figuren entstehen, deren Getriebenheit uns das Walten des Geistigen mitten im Herzen des Lebens spüren läßt: so ist Claes, der rastlose Sucher des Unbedingten, so ist Louis Lambert, so ist Seraphita. Und so ist, über allem einzelnen, Balzacs Konzeption der Liebe. Seine »Liebe« ist die unvergleichlichste und individuellste Schöpfung. Sie ist ganz Aspiration und zugleich das Medium der geheimnisvollsten Synthese zwischen Geistigem und Sinnlichem. Sie ist ein geheimnisvolles Phänomen, das ich mit Worten nicht auflösen möchte. Sie nimmt keinen meßbar großen Raum ein in diesem wuchtigen Werk. Und dennoch scheint sie mir das, was wärmt und leuchtet, und ich könnte diese schwere Masse, diese dunkle Menschenwelt, ohne sie mir nicht anders als furchtbar denken.

Hier ist eine Welt, wimmelnd von Gestalten. Es ist keine darunter, so gewaltig empfangen, so vollständig in sich selber, daß sie, gelöst von ihrem Hintergrunde, für sich allein zu bestehen vermöchte, in der unvergänglichen Vollständigkeit ihrer Geste, wie Don Quixote, wie der König Lear, wie Odysseus. Die Materie ist brüchiger, die Vision ist nicht von so strahlender Klarheit, daß Gestalten aus ihr hervorgehen könnten, so modelliert im reinsten, stärksten Licht, wie der Homerische Achilles, wie Nausikaa, oder im zartesten Halblicht, wie Mignon und Ottilie. Alles hängt zusammen, alles bedingt sich. Es ist ihm so unmöglich, das einzelne herauszulösen, als aus einem Gemälde von Rembrandt oder von Delacroix. Hier wie dort liegt das Großartige in einem stupenden Reichtum der Tonwerte, der ab und auf, infinitis modis, wie die Natur selber, eine lückenlose Skala ergibt. Jene Gestalten dort scheinen gelöste schreitende Götter; wie sie entstanden sein mögen, ist undurchdringliches Geheimnis; diese hier sind einzelne Noten einer titanischen Symphonie. Ihre Entstehung scheint uns begreiflicher, wir glauben in unserem Blut die Elemente zu tragen, aus denen ihre finsteren Herzen gebildet sind, und mit der Lust der großen Städte sie einzusaugen. Aber auch hier waltet ein Letztes, Höheres. Wie die Skala von Finsternis zur Helligkeit auf einem Rembrandt nur darin dem irdischen Licht und der irdischen Finsternis gleicht, daß sie lückenlos, überzeugend, absolut richtig ist: aber darüber hinaus ein Namenloses in ihr wirksam ist, das Walten einer großen Seele, die in jenen Visionen selber sich einem höchsten Wesen hingibt, so vibriert hier in den Myriaden kleiner Züge, mit denen eine wimmelnde Welt hingemalt ist, ein kaum zu nennendes Letztes: die Plastik dieser Welt geht bis zum Überschweren, ihre Finsternis bis zum Nihilismus, die Weltlichkeit in der Behandlung bis zum Zynischen: aber die Farben, mit denen dies gemalt ist, sind rein. Mit nicht reinerem Pinsel ist ein Engelschor des Fra Angelico gemalt als die Figuren in »Cousine Bette«. Diesen Farben, den eigentlichen Grundelementen des Seelischen, haftet nichts Trübes an, nichts Kränkelndes, nichts Blasphemisches, nichts Niedriges. Sie sind unverweslich, von keinem bösen Hauch zu kränken. Eine absolute Freudigkeit vibriert in ihnen, die unberührter ist von der Finsternis des Themas, wie die göttliche Freudigkeit der Töne in einer Beethovenschen Symphonie in keinem Moment von der Furchtbarkeit des musikalischen Ausdruckes verstört werden kann.

1909

Balzacs Vorrede zur Menschlichen Komödie

Wenn ich einem Werk, das vor nun bald dreizehn Jahren begonnen wurde, den Titel der »Menschlichen Komödie« gebe, so wird es nötig sein, daß ich seine Idee angebe, von seiner Entstehung berichte und in Kürze seinen Plan auseinandersetze; und zwar muß ich versuchen, von diesen Dingen zu sprechen, als sei ich an ihnen ganz unbeteiligt. Das ist nicht so schwierig, wie der Leser vielleicht glaubt. Ein Werk, auf das wenig Arbeit verwandt wurde, leistet oft der Eitelkeit Vorschub, andauernde Arbeit aber macht unendlich bescheiden. Diese Beobachtung erklärt die Durchprüfung, der Corneille, Molière und andere große Autoren ihre Werke unterzogen: wenn es unmöglich ist, ihnen in ihren schönen Eingebungen gleichzukommen, so kann man sich wenigstens in dieser Empfindung mit ihnen berühren.

Die erste Idee der »Menschlichen Komödie« tauchte mir wie ein Traum auf, wie einer jener ungeheuren Pläne, denen man liebevoll nachhängt und die man entfliegen läßt; wie eine Schimäre, die lächelt, die ihr Frauengesicht zeigt, und die alsbald ihre Flügel entfaltet, um in einen phantastischen Himmel zurückzukehren. Aber die Schimäre wandelt sich wie viele Schimären zur Wirklichkeit; sie übt eine Herrschaft und eine Tyrannei aus, der man gehorchen muß. Die vorliegende Idee entsprang einem Vergleich zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen. Es wäre ein Irrtum, wollte man glauben, der große Streit, der sich vor einiger Zeit zwischen Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire entspann, habe auf einer neuen wissenschaftlichen Entdeckung beruht. Der Gedanke der ›Einheit in der Vielheit‹ hatte unter anderen Namen schon die größten Geister der beiden vorhergehenden Jahrhunderte beschäftigt. Wenn man die so außerordentlichen Werke der mystischen Schriftsteller durchliest, die sich mit den Wissenschaften in ihren Beziehungen zum Unendlichen befassen, wie etwa Swedenborg, Saint-Martin und andere, und ferner die Schriften der großen naturwissenschaftlichen Genies, wie die eines Leibniz, eines Buffon, eines Charles Bonnet usw., so findet man in den Monaden des Leibniz, in den organischen Molekülen Buffons, in der vegetativen Kraft Needhams, in der ›Einschachtelung‹ der ähnlichen Teile bei Charles Bonnet, der kühn genug war, schon 1760 zu schreiben: »Das Tier vegetiert wie die Pflanze«: dort, sage ich, findet man die Keime des schönen Gesetzes vom Selbst an und für sich, auf dem die »Einheit in der Vielheit« beruht. Es gibt nur ein Tier. Der Schöpfer hat sich für alle organischen Wesen nur eines einzigen Musters bedient. Das Tier ist ein Grundwesen, das seine äußere Gestalt oder, genauer, die Unterschiede seiner Gestalt in den Umgebungen annimmt, in denen es sich zu entwickeln berufen wird. Aus diesen Unterschieden ergeben sich die zoologischen Arten. Dieses System, das übrigens mit unseren Begriffen von der göttlichen Macht im Einklang steht, verkündet und vertreten zu haben, wird ewig ein Ehrentitel Geoffroy Saint-Hilaires bleiben, der in dieser Streitfrage der Wissenschaft über Cuvier siegte und dessen Triumph durch den letzten Aufsatz begrüßt wurde, den der große Goethe schrieb.

Da ich von diesem System durchdrungen war, längst ehe es zu all den Streitigkeiten Anlaß gab, so erkannte ich, daß die Gesellschaft in dieser Hinsicht der Natur glich. Macht nicht auch die Gesellschaft aus dem Menschen je nach den Umgebungen, in denen sein Handeln sich entfaltet, ebenso viele verschiedene Menschen, wie es in der Zoologie Variationen gibt? Die Unterschiede zwischen einem Soldaten, einem Arbeiter, einem Verwaltungsbeamten, einem Advokaten, einem Müßggänger, einem Gelehrten, einem Staatsmann, einem Kaufmann, einem Seemann, einem Dichter, einem Bettler und einem Priester sind, wenn auch schwieriger zu definieren, so doch nicht minder beträchtlich als jene, die den Wolf, den Löwen, den Esel, die Krähe, den Hai, die Meerkuh, das Schaf und andere unterscheiden. Es hat also ewig soziale Gattungen gegeben und wird ihrer ewig geben, wie es zoologische Gattungen gibt. Wenn Buffon ein prachtvolles Werk schrieb, als er versuchte, das Gesamtbild der Zoologie in einem Buche darzustellen, war da nicht auch ein gleiches Werk über die Gesellschaft zu schaffen? Aber die Natur hat den tierischen Variationen Grenzen gesetzt, in denen sich die Gesellschaft nicht halten sollte. Wenn Buffon den Löwen geschildert hatte, so war er mit der Löwin nach ein paar Sätzen fertig; in der Gesellschaft dagegen zeigt sich die Frau nicht immer als das Weibchen des Männchens. Es können in einer Ehegemeinschaft zwei gründlich verschiedene Wesen zusammenleben. Die Frau eines Händlers verdient bisweilen die eines Fürsten zu sein; und oft ist die eines Fürsten nicht so viel wert wie die eines Künstlers. Die soziale Stellung ist Zufällen unterworfen, wie die Natur sie sich nicht erlaubt, denn sie ergibt sich aus der Natur plus der Gesellschaft. Die Schilderung der sozialen Arten umfaßte also zum mindesten das Doppelte der tierischen Arten, wenn man nämlich auch nur auf die beiden Geschlechter Rücksicht nahm. Schließlich spielen sich zwischen den Tieren wenig Dramen ab; nie gerät Verwirrung unter sie; sie stellen sich gegenseitig nach, das ist alles. Auch die Menschen stellen sich freilich gegenseitig nach, aber ihre mehr oder minder große Intelligenz macht den Kampf ganz bedeutend komplizierter. Wenn einige Gelehrte immer noch nicht zugeben, daß das Tierische in einem ungeheuren Lebensstrom hinüberspielt ins Menschliche, so steht es fest, daß der Krämer manchmal Pair von Frankreich wird, während der Adlige zuweilen in die letzte soziale Reihe zurücksinkt. Dann fand Buffon das Leben bei den Tieren äußerst einfach. Das Tier hat nur wenig Mobiliar, es kennt keine Künste und Wissenschaften; der Mensch dagegen strebt auf Grund eines noch zu erforschenden Gesetzes danach, seinen Sitten, seinem Denken und seinem Leben in all dem Ausdruck zu verschaffen, was er seinen Bedürfnissen anpaßt. Wenn auch Leuwenhoek, Swammerdam, Spalanzani, Réaumur, Charles Bonnet, Müller, Haller und andere geduldige Zoographen nachgewiesen haben, wie interessant die Sitten der Tiere sind, so bleiben doch die Gewohnheiten eines jeden einzelnen Tieres, wenigstens in unseren Augen, stets sich selber gleich, während die Gewohnheiten, die Kleidung, die Worte, die Wohnsitze eines Fürsten, eines Bankiers, eines Bürgers, eines Priesters und eines Bettlers völlig verschieden sind und sich je nach der Zivilisation wandeln müssen.

Daher mußte das Werk, das zu schaffen war, eine dreifache Gestalt haben: je nach den Männern, den Frauen und den Dingen, d.h. den Menschen und der äußeren Form, die sie ihrem Denken geben; kurz, nach dem Menschen und dem Leben.

Wer hat nicht bemerkt, wenn er den trockenen und abstoßenden Wortschatz der sogenannten historischen Berichte las, daß die Geschichtsschreiber zu allen Zeiten, in Ägypten wie in Persien, in Griechenland wie in Rom, vergessen haben, uns die Geschichte der Sitten zu geben? Das Fragment des Petron über das Privatleben der Römer reizt unsere Neugier mehr, als daß es sie befriedigt. Als der Abbé Barthélemy bemerkt hatte, welche ungeheure Lücke hier auf dem Felde der Geschichte klaffte, widmete er sein ganzes Leben dem Wiederaufbau der griechischen Sitten in seinem »Anacharsis«.

Aber wie sollte man das Drama mit drei- bis viertausend handelnden Personen, wie eine Gesellschaft es darstellt, interessant machen? Wie sollte man zugleich dem Dichter, dem Philosophen und der Masse gefallen, die die Poesie und die Philosophie unter packenden Bildern verlangt? Waren mir die Bedeutung und die Poesie einer solchen Geschichte des menschlichen Herzens klar, so sah ich kein Mittel, sie auszuführen; denn bis auf unsere Zeit hatten die berühmtesten Erzähler ihr ganzes Talent darauf verwandt, eine oder zwei typische Gestalten zu schaffen, eine Seite des Lebens darzustellen. Mit diesem Gedanken las ich die Werke Walter Scotts. Walter Scott, dieser moderne »Finder« (Troubadour), verlieh einer Dichtungsgattung, die man zu Unrecht zweitrangig nennt, etwas Riesenhaftes. Ist es nicht in Wahrheit schwieriger, mit der Wirklichkeit durch Schöpfungen zu wetteifern, wie es Daphnis und Chloe, Roland, Amadis, Panurg, Don Quixote, Manon Lescaut, Clarisse, Lovelace, Robinson Crusoe, Gil Blas, Ossian, Julie d'Etanges, Mein Onkel Tobias, Werther, René, Corinna, Adolphe, Paul und Virginie, Jeane Dean, Claverhouse, Ivanhoe, Manfred und Mignon sind, als Tatsachen aufzureihen, die bei fast allen Nationen die gleichen bleiben, nach dem Geist verschollener Gesetze zu forschen, Theorien aufzustellen, die die Völker in die Irreführen, oder wie gewisse Metaphysiker zu erklären, was ist? Zunächst leben all jene handelnden Personen, deren Dasein dauernder, verbürgter wird als das der Generationen, in deren Mitte man sie geboren werden läßt, nur unter der Bedingung, daß sie ein großes Gemälde der Gegenwart sind. Sie sind dem innersten Wesen ihres Jahrhunderts abgelauscht, und also regt sich unter ihrer Hülle das ganze menschliche Herz; es versteckt sich in ihnen oft eine ganze Philosophie. Walter Scott erhob also den Roman zu dem philosophischen Wert der Geschichte; jene Literaturgattung, die von Jahrhundert zu Jahrhundert unsterbliche Diamanten einfügt in die Krone der Dichtung jener Länder, in denen die schönen Künste gepflegt werden. Er führte den Geist der alten Zeiten ein; er vereinigte in ihr das Drama, den Dialog, das Porträt, die Landschaft und die Schilderung; er wies dem Wunderbaren und dem Wahren seine Stellung an, jenen Elementen der Epik, und bei ihm berührte sich die Poesie mit der Vertraulichkeit der niedrigsten Sprache. Aber da er weniger ein System ersonnen, als vielmehr im Feuer der Arbeit oder durch die Logik der Arbeit seine Manier gefunden hatte, so war ihm nie der Gedanke gekommen, seine Dichtungen miteinander zu verknüpfen, so daß durch die Nebeneinanderordnung eine vollständige Geschichte entstand, deren jedes Kapitel ein Roman war und jeder Roman eine Zeitgeschichte. Als ich diesen Mangel der Bindung erkannte, der übrigens die Größe des Schotten nicht schmälert, sah ich zugleich das System, das der Ausführung meines Werkes günstig war, und die Möglichkeit, es auszuführen. Wenn ich auch sozusagen geblendet war durch die überraschende Fruchtbarkeit Walter Scotts, der sich stets gleich und stets originell bleibt, so verzweifelte ich doch nicht, denn ich fand die Wurzel dieses Talentes in der unendlichen Mannigfaltigkeit der Menschennatur. Der Zufall ist der größte Romandichter der Welt: um fruchtbar zu werden, braucht man nur zu studieren. Die französische Gesellschaft sollte der Historiker sein, ich nur ihr Sekretär. Wenn ich die Inventur der Laster und Tugenden aufnahm, wenn ich die hauptsächlichsten Daten der Leidenschaften sammelte, wenn ich die Charaktere schilderte, wenn ich die wichtigsten Ereignisse des sozialen Lebens auswählte, wenn ich durch die Vereinigung der Züge vieler gleichartiger Charaktere Typen schuf, so konnte es mir vielleicht gelingen, die von so vielen Historikern übersehene Geschichte zu schreiben: die der Sitten. Mit viel Geduld und großem Mut konnte ich über das Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts jenes Buch zustande bringen, nach dem wir alle uns sehnen, das uns Rom, Athen, Tyrus, Memphis, Persien und Indien unglücklicherweise über ihre Zivilisationen nicht hinterlassen haben, und das nach dem Beispiel des Abbé Barthélemy der mutige und geduldige Monteil für das Mittelalter zu schreiben unternahm, jedoch in wenig anlockender Form.

Aber diese Arbeit war noch nichts. Der Schriftsteller, der sich an eine solche genaue Wiedergabe hielt, konnte ein mehr oder minder treuer, mehr oder minder glücklicher, geduldiger oder mutiger Schilderer der menschlichen Typen, ein Erzähler der Dramen des Alltagslebens, ein Archäolog des sozialen Apparates, ein Namengeber für die Berufe und ein Registrator des Guten und Bösen werden; um mir aber das Lob zu verdienen, nach dem jeder Künstler streben soll, mußte ich da nicht die Ursachen oder die Ursache für all diese sozialen Wirkungen studieren? Mußte ich nicht den verborgenen Sinn in dieser ungeheuren Häufung von Gestalten, Leidenschaften und Ereignissen erhaschen? Und wenn ich diese Ursache, diese treibende Kraft in der Gesellschaft, gesucht (ich sage nicht: gefunden) hatte, mußte ich da nicht über die natürlichen Prinzipien nachgrübeln und erforschen, worin sich die Gesellschaften von der ewigen Regel, vom Wahren und Schönen entfernen oder sich ihnen nähern? Trotz der Ausdehnung der Prämissen, die für sich allein schon ein Werk sein konnten, verlangte das Ganze, um ein Ganzes zu werden, einen Schluß. So geschildert, mußte die Gesellschaft den Sinn ihrer Bewegung in sich selber tragen.

Das Gesetz des Schriftstellers, das, was ihn zu einem solchen werden läßt, ja, ich scheue mich nicht zu sagen, was ihn dem Staatsmann gleich, wenn nicht gar überlegen macht, das ist eine irgendwie über alle menschlichen Dinge gefällte Entscheidung, eine absolute Hingabe an Prinzipien. Machiavelli, Hobbes, Bossuet, Leibniz, Kant, Montesquieu sind die Wissenschaft, die die Staatsmänner anwenden. »Ein Schriftsteller muß in der Moral und in der Politik feste Anschauungen haben, er muß sich als einen Erzieher der Menschen betrachten; denn um zu zweifeln, bedürfen die Menschen keiner Lehrer«, sagt Bonald. Ich habe mir diese großen Worte, die so gut das Gesetz des monarchischen Schriftstellers sind wie das des demokratischen, früh zur Richtschnur genommen. Und wenn man mich also mir selber entgegenhalten will, so wird es sich finden, daß man irgendeine Ironie falsch gedeutet hat, oder daß man die Worte einer meiner Gestalten unsinnigerweise wider mich wendet: ein Verfahren, das den Verleumdern geläufig ist. Was den verborgenen Sinn, die Seele dieses Werkes angeht, so mögen diese Prinzipien, die ihm als Grundlage dienen, hier folgen.

Der Mensch ist weder gut noch böse; er wird mit Instinkten und Anlagen geboren; die Gesellschaft verdirbt ihn keineswegs, wie Rousseau es behauptet hat, sie vervollkommnet ihn, sie macht ihn besser; aber das Interesse entwickelt auch seine schlimmen Neigungen. Das Christentum, und besonders der Katholizismus, ist als ein vollständiges System der Unterdrückung aller entarteten Neigungen des Menschen, und als solches habe ich ihn im »Landarzt« dargestellt, die größte Kraft der sozialen Ordnung.