Europa unter Spannung - Susanna Brüning - E-Book

Europa unter Spannung E-Book

Susanna Brüning

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Beschreibung

Vor dem Hintergrund hochbrisanter energiepolitischer Entwicklungen werden die spannenden Ereignisse der Erdgeschichte verpackt in einen Thriller, der den Leser auf unterhaltsame Art in die Entstehung Deutschlands und Europas eintauchen lässt. Wer steckt hinter den Entführungen, die die Stadt Freiburg in Atem halten? Hauptkommissarin Kerstin Darius ermittelt in einem Fall, der sie zu der Firma Messger führt, die geothermische Anlagen baut. Mit Hilfe des Geologen Karl Steiner entdeckt sie, dass das Verschwinden der Menschen auf unheilvolle Art mit der Erdgeschichte verwoben ist. Aber auch Karl Steiner gerät in den Kreis der Verdächtigen und Kerstins wachsende Verbundenheit mit ihm überschatten die Ermittlungen. Schließlich wird sie selbst Opfer eines Netzes aus Täuschungen, Hinterhältigkeiten und einer drohenden schrecklichen Katastrophe...

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Seitenzahl: 268

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Europa unter Spannung

Über die AutorinPräkambrium, Anfang NovemberKambrium, 14. NovemberOrdovizium, 18. NovemberSilur, 25. NovemberDevon, 28. NovemberKarbon, 2. DezemberPerm, 8. DezemberTrias, 12. DezemberJura, 15. DezemberKreide, 20. DezemberTertiär, 26. DezemberQuartär, 31. Dezember, 20:00 UhrDie vereinigten Platten von Deutschland und die Herkunft der Steine im RomanImpressum

Über die Autorin

Susanna Brüning ist Diplom-Geologin und seit vielen Jahren im Bereich Geotourismus und Geodidaktik tätig. In der Region führt sie  Geo-Veranstaltungen wie workshops, geführte Wanderungen, Ferienprogramme und Vorträge durch. Sie liefert redaktionelle Beiträge für diverse Medien.2003 erhielt sie den regionalen Preis für innovativen Tourismus."Europa unter Spannung" ist ihr erstes Buch.Susanna Brüning wohnt und arbeitet im Rheintal.

Präkambrium, Anfang November

Die Erde kühlt sich langsam ab. Die heißen Laven aus den Vulkanen erstarren zu Kontinenten, die sich immer wieder verschieben. Auf der ungemütlichen Erde entwickeln sich die Algen. Diese Einzeller sind die ersten Lebewesen, die das Meer bevölkern. Sie betreiben die Photosynthese und produzieren Sauerstoff. Das Leben beginnt.

Erste Spuren sind da.

1

Der graue Komplex des Schulgebäudes löste bei Professor Karl Steiner Erinnerungen an seine eigene Schulzeit aus. Trotz moderner Ausstattung war die Atmosphäre im Innern immer noch wie zu seiner Zeit. Hektisch und aufgeregt liefen die Schüler in alle möglichen Richtungen.

Die Pause war eben zu Ende gegangen und Karl suchte den Raum der Klasse 6a auf, in dem er die nächsten Stunden eine Veranstaltung über die Erdgeschichte Deutschlands abhalten sollte. Die Lehrerin hatte ihn vor einigen Wochen gebeten, eine Art Blockunterricht zu erteilen, da sie mit ihrer Klasse gerade die Evolution besprach. In Erdkunde hatten sie etwas über die Entstehung des Schwarzwaldes erfahren.

Karl war gespannt, wie die Stimmung in der Klasse war. Bei früheren Veranstaltungen hatte er bereits die ganze Palette von absolutem Desinteresse bis hin zu enthusiastischer Neugierde erfahren.

Als Professor für Regionale und Historische Geologie an der Universität Freiburg war es ihm ein großes Anliegen, seine Erkenntnisse auch unter die geologisch unbeleckten Leute zu bringen.

Trotz seiner wissenschaftlich ausgerichteten Denkstruktur schaffte es der Professor doch immer irgendwie, Kinderaugen zum Leuchten zu bringen, wenn er ihnen die Geschichte seiner Schützlinge, den Steinen, erzählte. 

Als er an die Tür klopfte, erklang von drinnen ein kräftiges HEREIN. Sie erwarteten ihn bereits.

Die Lehrerin war eine schmächtige Person, die körperlich den Ansprüchen des Unterrichtens mit all seinen negativen Begleiterscheinungen nicht gewachsen zu sein schien. Doch ihre Stimme klang resolut, als sie ihn begrüßte.

„Hallo Herr Professor Steiner. Schön, dass Sie da sind. Wir freuen uns und sind schon ganz gespannt, was wir heute alles erfahren werden. Ihre Mitbringsel liegen hier auf dem Tisch.“

Einer seiner Assistenten hatte seine Hilfsmittel für das Spiel bereits vorbeigebracht – Steine und Fossilien aus allen Erdzeitaltern, Spielbretter, Spielkarten.

Karl hatte das Spiel vor Jahren entworfen und es immer wieder in Schulen durchgeführt. Durch das Spiel erhielten die Schüler einen guten Überblick über die Erdgeschichte und die meisten hatten viel Spaß dabei. 

Das Spiel entwickelte sich lebhaft und die Schüler waren ganz bei der Sache.

In nicht einmal drei Stunden reisten sie durch die gesamte Erdgeschichte. Millionen Jahre flogen an ihnen im Zeitraffer vorbei. Gneise, Granite, Sandsteine, Tonschiefer und Fossilien wanderten von einer Hand zur nächsten.

Am Schluss verteilte Karl an alle ein Blatt Papier, auf dem mehrere Fragen standen. Es war ein Quiz. Darin stand jeweils eine Frage über jedes Erdzeitalter. „Ich gebe euch eine kleine Hausaufgabe auf. An eurem Erfolg könnt ihr sehen, ob ihr richtig aufgepasst habt. Morgen schaut Eure Lehrerin nach, ob ihr die Fragen richtig beantwortet habt, dann bekommt ihr einen kleinen Preis. Aber nicht schummeln! Versucht bitte, die Fragen alleine zu lösen.“  Karl hob schmunzelnd den Zeigefinger: „... jeder arbeitet alleine. Ihr sollt euch euren Preis verdienen!“

„Herr Prof. Steiner, hoffentlich bekommen Sie in acht Jahren nicht einen Pulk von Geologie-Studenten, die Sie nachher gar nicht aufnehmen können. Wenn Sie solche interessanten Dinge mit den Kindern tun, garantiere ich für nichts mehr …“

2

Wie springende Kinder purzeln sie herum, dachte Karl Steiner und musste lachen. Er saß in seinem Labor im Geologischen Institut und sortierte winzige Einzeller. Unter dem Mikroskop in einer Schale wimmelte es von Foraminiferen-Schalen. Wenn er zu stark atmete oder sogar nieste, war es mit den kleinen Dingern vorbei. Sie wurden ihm regelrecht um die Ohren geschleudert. 

Die Schalen dieser Einzeller erinnerten entfernt an runde Schneckengehäuse. Sie waren nicht einmal einen Millimeter groß. Ohne eine entsprechende Vergrößerung konnte Karl nicht erkennen, ob die Schalen linksdrehend oder rechtsdrehend waren. Und das war wichtig. Er trennte die linksschalig verlaufenden von den rechtsschalig verlaufenden Exemplaren, wobei er sie in entsprechend ausgewiesene Löcher, die sich in der Objektschale befanden, warf. Dies ging nur mit einer Pinzette.

Eigentlich war das eine Arbeit für die Hilfswissenschaftler der Universität Freiburg. Doch seit Wochen war der Platz unbesetzt und er als ordentlicher Professor musste nun die Arbeit selbst tun, um endlich sein altes Projekt abzuschließen, das offenbar sonst nie ein Ende finden würde.

Letzten Endes ging es wieder nur ums Geld, das die Forschungsgemeinschaft für Folgeprojekte nicht weiter fließen lassen wollte, wenn nicht endlich brauchbare Ergebnisse über die Klimaentwicklung in der Tertiärzeit vorliegen würden. Mithilfe dieser winzigen Einzeller sollte der Professor schließlich die zukünftigen Klimaverhältnisse rekonstruieren. Die Foraminiferen stammten aus tiefen Schichten unter der Nordsee. Wenn er dieses Projekt abgeschlossen hatte, konnte er sich endlich seinem Steckenpferd widmen: den Erdkrusten-Brüchen der Mittelmeer-Myösen-Zone, einer sehr instabilen Gegend, die sich schlauchförmig von Nordeuropa bis zum Mittelmeer zieht.

3

Sie schauten gebannt auf den Monitor. Es war verheerend. Häuser stürzten ein, die Landschaft wurde verwüstet. Die Katastrophe war da - im Computer.

Diese CD war das Einzige, das er noch hatte retten können, bevor der Brand in seinem Büro fast alles zerstörte, vor allem die Beweismittel.

Er erzählte ihnen aus dem Tertiär, jener Zeit, in der die Alpen entstanden und das nördliche Mitteleuropa in viele Bruchschollen zerfiel.

In der Computersimulation traf es besonders stark die Region zwischen Basel und Mainz, in der heute der Rhein fließt. Kein Wunder, sank hier doch seit dem Tertiär vor 40 Millionen Jahren ein Graben ein, teilweise bis zu 5 km tief. Der Graben wurde während der Absenkung mit Tonen, Sanden und Kiesen aufgefüllt, sodass er heute zwar weniger wie ein Graben erscheint, aber noch sehr aktiv ist. Heute verläuft die Autobahn 5 dort hindurch, zwischen Schwarzwald und Vogesen.

Die Bewegungen dauern bis heute an. Noch immer senkt sich der Graben mit bis zu einem Millimeter pro Jahr, und noch immer rucken die Ränder des Grabens gegen die benachbarten Gebirge wie dem Schwarzwald und den Vogesen. Leise, aber beständig – bis es wieder einmal stark ruckt.

Ihre Blicke fielen auf die historisch datierten Erdbeben, die immer wieder in dieser Region stattfanden. Basel 1356. Das war bisher das Schlimmste von allen.

Eindringlich sprach er über die neueste Tiefbohrung, die gerade ausgewertet worden war. Sie hatte gezeigt, dass eine Grabengrenze in der Nähe von Basel unter großer Spannung stand. Wenn die Spannung sich entladen würde, dann würde es nicht bei einem kleinen Erdbeben bleiben. Eine Entladung wäre sehr wahrscheinlich, wenn der Mensch eingreifen würde, das zeigten die Daten eindeutig. Und sie würde einen Dominoeffekt hervorrufen, denn überall in dieser Zone standen Erdschollen unter Spannung.

Da der Erdmantel unter dem Oberrheingraben an manchen Stellen nur ca. 25 Kilometer tief liegt, ist das Gestein dort wärmer als in anderen Regionen. Und sie wussten, dass der Mensch sich diese Wärme demnächst zunutze machen würde.

 Es war doch immer wieder dasselbe: Wo der Mensch meinte, ein Übel beseitigen zu müssen, da schuf er ein Neues. Wahrscheinlich kam man nie aus diesem Paradoxon heraus.

Sie diskutierten den ganzen Vormittag. Es musste etwas geschehen.

4

Julian war begeistert nach Hause gekommen. Dieses Spiel in der Schule mit dem lustigen Professor hatte ihm viel Spaß gemacht. Seine Eltern würden in Zukunft jetzt bei jeder Gelegenheit mit ihm einen Ausflug in die Umgebung machen, wo er ihnen stolz die Steine erklären würde. Doch das Quiz war auch für ihn ein wenig schwierig, alles fiel ihm nicht mehr ein. Aber er hatte ja einen netten Nachbarn, den man fragen konnte. Schließlich war er Geologe.

Sogleich ging Julian zum Nachbarhaus und drückte den Klingelknopf mit dem Namen ADAM. Vielleicht war er ja zu Hause. Julian wusste, dass sein Nachbar oft zu Hause arbeitete.

Hubertus Adam stellte sich als ein großer Kenner der uralten Verhältnisse dar und beantwortete die Fragen ohne großes Nachdenken.

„Julian, kann ich mir das Quiz gerade einmal kopieren? Es ist sehr interessant. Ich werde es meinen Kollegen vorlegen. Mal schauen, ob sie noch alles wissen. Weißt du, als Geologe hat man damit in der Regel nichts mehr zu tun.“ „Nein?“

„Nein, im Normalfall sieht es so aus: Entweder arbeitet der Geologe auf verdreckten Industriestandorten und schaut nach, was für giftige Stoffe sich da im Boden und Grundwasser befinden oder er arbeitet im Taxigewerbe.“

Da Adam befürchtete, einen zukünftigen Geologiestudenten vor sich zu haben, fühlte er sich geradewegs zu dieser dezenten Abwerbung verpflichtet.

„Überlege dir also gut, ob du dies später einmal studieren möchtest.“

„Aber Sie machen doch was Anderes, Herr Adam“, wendete Julian ein. „Sie forschen doch, Herr Adam, und fahren nicht Taxi“, bemerkte der Knirps aufgeweckt.

„Richtig, ich erkunde den Untergrund nach irgendwelchen unliebsamen Bewegungen oder schaue nach, wie magnetisch er ist.“

„Beispiel!“ Die Neugierde dieses kleinen Burschen schien grenzenlos zu sein. Offenbar hatte Professor Steiner ganze Arbeit geleistet.

Adam hatte keine Lust, dem Jungen von seiner Tätigkeit zu erzählen, doch bemühte er sich dann doch, es ihm kurz zu erklären.

„Zurzeit erkunde ich, wie der Untergrund hier unter uns aussieht. Das kann man aus Bohrungen erkennen, also was Bohrgestänge aus der Tiefe der Erde zutage fördern. Die Bohrkerne zeigen uns zum Beispiel, wie das Klima der Vorzeit war, oder ob hier mal ein Meer gewesen ist oder Vulkane ausgebrochen sind.“ „Oh, das ist spannend! Ich werde auch Geologe!“ rief Julian begeistert aus.

„Nein, du weißt doch gar nicht ...“, doch Adam unterbrach sich. Es hatte keinen Sinn. Der Junge war schon aus der Tür verschwunden.

Adam schaute sich das Quiz an. Langsam reifte in ihm ein Plan.

5

Silvia Hasenkamp genoss den Abend ohne ihren Mann. Vor einer Stunde hatte er das Haus verlassen, um zu einer Besprechung in die Klinik zu gehen. Als Leiter der Fruchtbarkeitsklinik war er oft unterwegs. Den Gedanken daran, dass es sich hin und wieder auch einmal um etwas anderes als um eine seiner Besprechungen handeln könnte, verdrängte sie.

Sie machte es sich auf dem Sofa bequem und begann das 3. Kapitel ihres spannenden Buches über die Erdgeschichte Europas zu lesen: Das Ordovizium.

Das unfreundliche Klingeln des Telefons riss sie aus dem Beitrag über die Tiere, die sich gerade im ordovizischen Flachmeer tummelten.

„Hier Müller, Frau Hasenkamp, wir vermissen Ihren Mann. Heute Abend sollte er auf jeden Fall anwesend sein. Ist er noch zu Hause?“

Frau Hasenkamp spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Also doch! Ihr Körper hatte reagiert, bevor sie darüber nachdachte. Da war doch eine andere! „Nein, Herr Müller, hier ist er nicht ...“, sprach sie in das Telefon. Ihre Hand verkrampfte sich um den Hörer.

„Komisch, na vielleicht ist er aufgehalten worden. Einen schönen Abend noch.“

Trotz des heftigen Vulkanismus, der sich gerade im Ordovizium vor ca. 450 Millionen Jahren abspielte, konnte sie sich nicht konzentrieren. Was sind schon diese Millionen und dieser Vulkan gegen das, was sie gerade durchmachte! Die Wut schlich sich in ihre Gedanken und schien alles andere zu verdrängen. „Dieser Mistkerl! Ich wusste es doch schon die ganze Zeit!“

Heute Abend hatte er sich entlarvt. Offenbar hatte er tatsächlich die Besprechung vergessen und war zu dieser Frau gefahren.

Doch da fiel ihr noch etwas anderes ein. Jedoch verdrängte sie den Gedanken daran.

6

Sie lief und lief, um ihrem Verfolger zu entkommen. Er jagte sie quer durch den dunklen Wald. Mehrmals stolperte sie. Dann war er über ihr ... ein Klingeln drang in ihr Bewusstsein.

Silvia Hasenkamp erwachte. Ihr schauderte. Hatte sie etwas aus der Zukunft geträumt?

Sie richtete sie sich im Bett auf und schaute auf die Uhr – es war fast 8:00 Uhr. Da war es wieder, das Klingeln, das sie im Traum gehört hatte. Tatsächlich, das Klingeln der Türglocke hatte sie geweckt. Sie zog den roten, seidenen Morgenmantel über, den Michael ihr zum 20. Hochzeitstag gekauft hatte, und ging nach unten zur Tür. Wer konnte das nur sein, um diese Uhrzeit? Wahrscheinlich sind die von der Post heute mal früher aufgestanden.

Schlaftrunken öffnete sie die Haustüre. Es war ein komisches Bild, das sich ihr bot: Ein großer Mann mit einem kleinen Paket stand da und schaute sie ausdruckslos an. 

„Frau Hasenkamp?“, fragte er mürrisch. „Dieses Paket ist für Sie.“

Sie nahm es entgegen und schloss die Tür. Das kleine Paket wog schwer in ihren Händen. Was soll da drin sein? Sie erinnerte sich nicht, etwas bestellt zu haben. Plötzlich überkam sie Angst. War Michael überhaupt heute Nacht nach Hause gekommen? Sie lief nach oben in das Schlafzimmer, das sich rechts neben ihrem befand. Seit einem Jahr schliefen sie getrennt. Sein Bett war nicht benutzt.

Das hat er doch noch nie gemacht, dachte sie und erschrak. Plötzlich war alles durcheinander. Ihr Mann war noch nicht da, unten lag das seltsame Paket. Sie konnte sich nicht daran erinnern, etwas bestellt zu haben. 

Ihr wurde schwindelig. Die Angst hatte die gestrige Wut ersetzt und schien sie völlig in Beschlag zu nehmen. Sie setzte sich an den Küchentisch, stützte das Gesicht in die Hände und betrachtete minutenlang das Paket vor ihr. Es war mit grauem Packpapier und Kordel verpackt und kleiner als ein Schuhkarton. Auf dem Paket stand in Druckbuchstaben ihr Name und Adresse.

Sie konnte sich ihre Angst vor dem Paket nicht erklären. Blödsinn, dachte sie und begann mit leicht zitternden Fingern das Paket zu öffnen. Als sie das Papier entfernte, kam ein Karton zum Vorschein. Sie öffnete ihn und hielt den Atem an. Zwischen vielen Papierschnipseln holte sie einen faustgroßen Stein hervor. Sie wog ihn in den Händen. Schwer war er und seltsam sah er aus. Streifenartig waren mehrere dunkle Minerale darin angeordnet. Sie erkannte den Stein sofort. Dann hatte sie ein weißblondes Haarbüschel in der Hand – von Michael. Was ist mit Michael geschehen?

7

Kerstin Darius staunte nicht schlecht, als sie das Geologische Institut der Freiburger Universität betrat.

Hierhin führte sie ihr erster Fall als Hauptkommissarin.

Schnuckelig und heimelig kam es ihr vor, als sie die Stufen zum ersten Stockwerk nach oben ging. Und hier wird geforscht? Fehlte nur noch das Hirschgeweih an der Wand und sie hätte sich in einem Jagdschlösschen befinden können. Zumindest das Treppenhaus kam ihr so vor.

Ihr Weg führte sie zu Professor Klein, den Leiter des Instituts.

Sie hatte heute Morgen den Anruf erhalten, dass eine Frau ihren Mann seit gestern vermisste und ein seltsames Paket erhalten hatte. Darin befand sich ein komischer Stein, dessen Herkunft sie im Geologischen Institut zu ergründen suchte. 

Die Haare stammten offenbar vom Kopf des Verschwundenen. Die genaue DNA-Analyse stand jedoch noch aus.

Irgendetwas schien der Stein mit dem Verschwinden des Mannes zu tun zu haben. Die Frau des Entführten, Silvia Hasenkamp, hatte zwar von einem uralten Gestein geredet und wies sich als Kennerin von Gesteinen aus, doch das genügte Kerstin Darius nicht. Diese Hobbygeologen! Die sind mir ein wenig zu eifrig, dachte sie. Sie wollte fachliche Hilfe, mit mehr Sachlichkeit.

Auf den Stufen nach oben begegnete ihr ein großer stattlicher Mann, der etwas verwegen aussah. Doch seine klaren, hellen Augen schauten sie durchdringend an. Sie schienen zu lächeln. 

„Sie sehen nicht so aus, als wenn Sie schon öfter hier gewesen wären, kann ich Ihnen helfen?“, fragte er mit überraschend sanfter Stimme.

Wie sehen denn die Leute aus, die hier öfter rumlaufen, wollte sie entgegnen, doch stattdessen nickte sie und fragte, wie sie Prof. Klein finden könne.

„Ach, unser Chefgeologe! Der Hüter von Millionen und Abermillionen von Jahren, seltsamen Steinen und eines spärlichen Budgets!“, bemerkte er fröhlich und ließ seine Worte in einer bedeutungsvollen Pause nachklingen.

Was ist das für ein Kauz, dachte Kerstin und musste unwillkürlich lächeln. Doch seine Art gefiel ihr.

„Sie finden ihn oben in der Dachkammer – nein, im Ernst – es ist ganz oben, wir nennen es immer nur Dachstübchen. Passt doch zum Obersten oder?“

Die Ironie blitzte nur so aus seinen Augen.

„Also, ... Sie gehen ganz nach oben, den Gang rechts und dann ist es die zweite Tür links. Viel Erfolg.“

Und schon war er an ihr vorbei und verschwand im Gang unter ihr.

Lächelnd erklomm sie die zwei Stockwerke weiter nach oben. Seine Worte hallten noch wie ein Echo in ihrem Bewusstsein nach und sie musste plötzlich stark lachen.

8

Professor Klein war ein Mann mit kleinen, wachen Augen, die sie hinter seiner dickrandigen Brille betrachteten. So ganz anders als der Mann auf der Treppe.

Und trotzdem umgab   auch   ihn   eine    lockere Atmosphäre. Auf Kleidung legte er offenbar keinen Wert. Die Hose saß schlecht und das Hemd war kariert. Kerstin hasste karierte Hemden, vor allem kleinkarierte, wie der Professor eines trug. Hoffentlich färbte das nicht auf seinen Charakter ab. Oder färbte sein Charakter auf das Hemd ab?

Den Stein aus dem Paket hatte sie vor ihm auf den Schreibtisch gelegt – inmitten eines seltsamen Gemisches aus Fossilien, losen Blättern, Mikroskopschälchen und DVDs. Dort schien er eher hinzupassen als in dieses komische Paket, aus dem er stammte. 

„Frau Darius, das ist wirklich seltsam, was Sie mir schildern. Das Gestein ist ein Gneis und sehr alt, das ist richtig. Doch um das genaue Alter zu bestimmen, müssen wir es radiometrisch untersuchen lassen. Dann können wir auch sagen, wo es herkommt. Das wollen Sie doch sicher wissen?“ Er nahm den Stein in die Hand und drehte ihn nach allen Seiten. Dann legte er ihn wieder zurück.

„Obwohl ... er kommt mir bekannt vor.“

Professor Klein ruckelte an seiner Brille und räusperte sich.

„Es könnte hier aus der Gegend sein. Ich werde es überprüfen.“

„Ihre Erkenntnisse könnten uns vielleicht weiterbringen. Wir müssen jede Spur verfolgen. Und zurzeit haben wir keine andere.“

Normalerweise würde es sie gar nicht interessieren, was für ein Gestein das ist. Es erinnerte sie irgendwie an diese gemaserten, oft rosafarbenen Friedhofssteine, die so schön poliert wie ein Wächter des Todes das Ende eines Grabes zieren. Diese Assoziation löste in ihr ein leichtes Unbehagen aus. 

„Ich werde Prof. Steiner damit betrauen. Er ist Experte für die regionale und historische Geologie und ihr Ansprechpartner. Er wird Sie anrufen, wenn das Ergebnis vorliegt.“

Kerstin verabschiedete sich und verließ das Institut. Sie fühlte sich leichter – ohne diesen Stein.

9

Gerald Köppen war stolz auf seine gut laufende Firma Messger. Eigentlich war es nicht seine Firma, auch wenn sein Verhalten etwas anderes ausdrückte. Als Chef der Tochter eines weltweit agierenden Unternehmens, das sich auf die Förderung alternativer Energien spezialisiert hatte, hatte er über Jahre die Entwicklung von geowissenschaftlichen Mess- und Einsatzgeräten vorangetrieben und mittlerweile weltweit Erfolg.

Auf sein neuestes Projekt war Gerald besonders stolz. Zusammen mit seinem Chefgeologen, Hubertus Adam, und mehreren Ingenieuren hatten sie eine Bohranlage entwickelt, mittels derer es möglich war, Grundwasser viele Kilometer tief in den Untergrund zu führen. Dort konnte es sich in den tiefen Gesteinsklüften erwärmen, sodass man das erwärmte Wasser zur Stromerzeugung nutzen konnte. Das Neue daran war, dass er mit diesem Verfahren Grundwasser so tief in den Untergrund einleiten konnte wie niemals zuvor. Seine Anlage sollte das Herz zukünftiger Geothermie-Kraftwerke werden. Damit würde er einen neuen Meilenstein in der Geschichte der regenerativen Energien setzen.

Gerald hatte gute Kontakte zu Politikern und Stromerzeugern.

Anfang des Jahres sollte die erste Geothermie-Anlage mit seinem Verfahren in der Nähe von Freiburg gestartet werden – erst einmal als Testlauf. Hier war der Untergrund von Natur aus schon in relativ geringen Tiefen stark erwärmt, sodass der Ort optimal geeignet war.

Das Genehmigungsverfahren für die nächste Anlage in Norddeutschland lief bereits. Doch letztendlich hing alles vom Erfolg der süddeutschen Anlage ab.

Gerald rieb sich wie so oft in letzter Zeit die Hände. Er hatte es geschafft. Fast ganz oben war er angelangt. Sein Bad in der Sonne seiner Errungenschaften wurde jäh unterbrochen durch eine helle resolute Stimme, die aus dem Vorzimmer drang.

„Herr Köppen, Herr Adam ist unterwegs zu Ihnen“, rief seine Sekretärin. Ihre Stimmlage ließ keinen Zweifel daran, wer der eigentliche Chef war.

Gerald setzte sich im Schreibtischstuhl auf. Sein Blick wanderte zur leicht geöffneten Bürotür, wo nach kurzer Zeit ein mittelgroßer, kräftiger, nicht mehr ganz junger Mann mit spärlichem Haarwuchs eintrat. „Sein Geologe“, wie ihn Gerald im Mitarbeiterstab bezeichnete.

Adam lieferte ihm wichtige Daten über Vulkane, Erdbeben und Tsunamis. Dafür reiste er zu den Orten großer Umweltkatastrophen und ermittelte die Daten vor Ort. Und diese wurden dank seiner ausgezeichneten Forschungseinrichtung immer detaillierter. Eines Tages würde es mittels seiner Geräte möglich sein, Erdbeben und andere Naturkatastrophen genauestens vorherzusagen.

Adam hatte nicht nur die geologischen Vorarbeiten für die Geothermie-Anlage in Freiburg durchgeführt, er war nun auch für den reibungslosen Ablauf verantwortlich. Ab Januar sollte es ernst werden.

„Mach die Türe zu, Hubertus.“ Gerald legte den Finger auf die Telefonanlage und bedeutete seiner Sekretärin, er wolle in nächster Zeit nicht gestört werden. „Na, wie sieht es aus?“

Dabei schaute er Adam mit einer seltsamen Mischung aus Übermut und Kälte an.

„Mit der Anlage ist alles klar, der Probelauf erfolgte einwandfrei.“ Adam hatte noch mehr sagen wollen, doch er schwieg plötzlich und drehte den Kopf in Richtung Fenster. 

Gerald schien seine Gedanken zu erraten.

„Hubertus, du sollst dich um unser Projekt kümmern und dir keine Sorgen machen. Diese neuartige Bohranlage, die bald hier in der Nähe ihre Arbeit aufnehmen wird, bringt uns groß heraus, und das ist jetzt das Wichtigste für meine – äh – unsere Firma!“

Halb flüsternd sprach Gerald die Worte aus, was so gar nicht zu ihm passte.

„Du weißt, wir wollen sie später an verschiedenen Stellen in Deutschland einsetzen. Politiker und Stromerzeuger sind geradezu begeistert von der Bohranlage. Alles wird klappen.“

Geralds Augen leuchteten. Es waren die Augen eines Fanatikers, der keinen Widerspruch dulden würde.

„Und du hast doch auch ein Interesse daran, dass die Anlage ans Netz geht. Schließlich hast du maßgebend daran gearbeitet.“ Gerald lächelte. Gleichzeitig ärgerte er sich, dass er seinem Geologen eine Rechtfertigung liefern musste.

Ein langes Schweigen setzte ein. Gerald beobachtete seinen Mitarbeiter. Das kantige Gesicht war regungslos. Doch plötzlich bog sich sein etwas krampfhaft geschlossener Mund zu einem leichten Lächeln.

Auf dieses Signal schien sein Chef gewartet zu haben. „Dann kann es ja losgehen!“ rief er aus und beugte sich zu ihm. In dem Moment war er ganz das kleine Kind, das unbedingt etwas ausprobieren möchte. Ein kleines Kind mit der natürlichen Neigung zur Grausamkeit ...

10

Kerstin Darius grübelte. Vor ihr auf dem Schreibtisch lag das leere Paket. Man hatte nur die Fingerabdrücke von Silvia Hasenkamp daran gefunden. Haare und Stein mußten von jemandem geschickt worden sein, der Michael entführt hatte oder ... vielleicht ... sogar getötet? Was zum Donnerwetter hatte dies alles mit dem seltsamen Stein zu tun? Es musste sich um einen Verrückten handeln, der da am Werke war.

Sie spürte ihre Unlust. Eine Unlust, die sich in der letzten Zeit immer mehr in ihr Leben geschlichen hatte wie ein gefährliches Tier, das in ihrem Innern lauert und irgendwann zubeißt. Ob es mit der gescheiterten Beziehung zu tun hatte, die sie gerade hinter sich hatte?

Ihre Gedanken schweiften trotzdem hinüber zu den Zeiten ihrer Beziehung und ließen die schönen Erlebnisse wieder aufblitzen.

Das laute Klingeln des Telefons brachte sie in die Realität zurück.

„Ich habe so einige Millionen für Sie", hörte sie auf der anderen Seite der Leitung eine angenehme Stimme sagen. „Hier spricht Professor Karl Steiner vom Geologischen Institut der Uni Freiburg – Frau Darius?“

„Ja“, erwiderte sie und überlegte, wo sie die Stimme schon mal gehört hatte. Es war eine tiefe Bassstimme, angenehm und mit leicht spöttischem Unterton. Doch das Gesicht dazu rief sich ihr nicht in Erinnerung.

„Was meinen Sie mit Millionen?“, fragte sie irritiert.

„Ach entschuldigen Sie, ich war wieder zu schnell“, kam es von der anderen Seite zurück. „Professor Klein, mein Chef, bat mich, sich Ihres Steines anzunehmen und das Alter zu bestimmen – für Ihren Fall.“

„Ach ja, da bin ich ja mal gespannt. Kommen Sie am besten mit dem Stein gleich vorbei“, sprach sie in den Hörer und spürte zugleich eine leichte Spannung in ihrem Bauch. Seine Stimme hatte etwas in ihr berührt.

Den großen stattlichen Mann mit dem klaren Blick und den etwas wilden dunklen Haaren, der eine Stunde später ihr Büro betrat, erkannte sie gleich wieder.

„Ach, Sie sind es! Sie sind Herr Steiner? Wir kennen uns doch von der Treppe des Instituts!“ sagte sie und spürte, wie ihr Gesicht heißer wurde.

Karl Steiner war weniger überrascht. Er freute sich offensichtlich, sie wiederzusehen.

„Setzen Sie sich, Herr Steiner“, sagte sie und spürte sogleich, wie ihre Röte aus dem Gesicht wich.

„Ihr Stein wird radiometrisch untersucht“, erklärte Karl Steiner, während er sich langsam auf den etwas klapprigen Stuhl setzte, der vor ihrem Schreibtisch stand.

„Was heißt radiometrisch?“, wollte Kerstin wissen und fragte sich im Stillen, ob der Stuhl nicht doch besser gegen einen stabileren ausgetauscht werden sollte.

„Mithilfe eines Gerätes, dem sogenannten Massenspektrometer, werden wir ungefähr wissen, ob das Gestein das ist, wofür wir es halten.“

„Nämlich?“

„Das Gestein ist ca. 600 Millionen Jahre alt und stammt aus dem Südschwarzwald.“ Karl Steiner schien sich sehr sicher zu sein. „Dort besteht ein Großteil des Gebirges aus diesen Gesteinen – Gneise genannt. Sie kennen Sie auch von Grabsteinen mit ihrer wunderbaren Maserung.“ „Ja, das stimmt, aber was sind denn Gneise?“, bemerkte Kerstin und schaute ihn unverwandt an.

„Diese Gneise waren ehemals Tone und Sande, die in einem urzeitlichen Meer abgelagert wurden und später, während der langen Erdgeschichte und mehrerer Gebirgsbildungen, in die Tiefe gelangten. Dort taten hohe Temperaturen und großer Druck ihr Übriges und sorgten dafür, dass neue Minerale entstanden. Durch den einseitigen Druck sortierten sie sich ordentlich zu Bändern ein, so dass heute darin eine Art Maserung zu erkennen ist. Später kam er durch Abtragung des überlagernden Gebirges wieder an die Oberfläche. Er ähnelt roten Graniten – nur, dass er eben so gemasert ist.“

„Ah ja.“ Sie hatte ihm neugierig zugehört und spürte einen wohltuenden Schauer über ihren Rücken laufen. Interessant, dass ein Mensch über so eine trockene Materie so mitreißend erzählen kann, dachte sie. Sie hatte seiner wohlklingenden, betonenden Stimme eher gelauscht als dem Inhalt, und doch wusste sie nun vage, was ein Gneis war.

„Was bedeutet das jetzt?“, fragte sie eher sich selbst als ihn.

„Sie sind da der Spezialist. Ich beschäftige mich mit dem alten Zeug.“

„Doch was kann das nur bedeuten?", wiederholte sie stur ihre Frage. Dabei versuchte sie, einen Zusammenhang zwischen dem Stein und dem Verschwinden dieses Mannes herzustellen. Es wollte ihr nicht gelingen.

„Das bedeutet zunächst einmal, dass Sie heute Abend mit mir essen gehen und wir beide einmal näher darüber nachdenken“, erwiderte er und legte dabei eine Miene auf, die Kerstin nicht zu deuten wusste.

Puh, der ist aber schnell, dachte sie und fühlte sich überrumpelt. Doch dann musste sie lächeln.

„Über das alte Zeug“, zitierte sie ihn.

„... und über die Beziehung altes Zeug und neue Erkenntnisse ...“, ergänzte er und verließ mit einem kurzen Gruß das Büro. Sein Weggang hinterließ einen angenehmen Nachhall in ihrem Innern und sie spürte, wie ihre Unlust mehr und mehr einer Vorfreude wich, die sich zweifellos auf den heutigen Abend bezog.

11

Silvia befand sich in einem aufgewühlten Zustand. Einerseits hoffte sie auf die dauerhafte Abwesenheit ihres Mannes, der sich vielleicht doch mit einer Geliebten aus dem Staub gemacht hatte. Andererseits lebte sie in ständiger Angst, dass etwas fürchterlich in Unordnung war und sich eine menschliche Tragödie vor ihren Augen zusammenbrauen würde. Zu der Tragödie trug bei, dass ihr plötzlich auffiel, dass sie ihn doch noch liebte.

Dieser Stein ... was hatte das alles mit dem Stein zu tun? Irgendwie war er ihr seltsam bekannt vorgekommen.

Sie ging in den Keller ihres geräumigen Hauses, wo sie eine kleine Gesteinssammlung eingerichtet hatte. Zu jedem Stein hatte sie eine Notiz gemacht, auf der stand, wann und wo sie ihn gefunden hatte. Den Gesteinsnamen hatte sie aus einem Bestimmungsbuch selbst ermittelt.

Bald fand sie, was sie suchte. Da lag ein Stein, der genauso aussah wie der, der bei der Kommissarin geblieben war. Mein Gott, der ist ja aus dem Steinbruch Wickartsmühle! Dort hatte sie vor vielen Jahren einmal mit einer Freundin schöne Minerale gesucht. Auch später hatte sie sich hin und wieder dort aufgehalten. Sie liebte diesen Ort.

Es war wie ein Schock. Dies konnte kein Zufall sein. Sollte sie Frau Darius unterrichten?

Oder hatte Michael bloß einen Scherz mit ihr getrieben? War dies ein spöttischer Hinweis auf die Gesteine, die auf sie so seltsam anziehend wirkten? War er vielleicht eifersüchtig und wollte ihr eins auswischen?

Immer wieder schweiften ihre Gedanken zum Präkambrium zurück, als suche sie dort irgendeinen Hinweis auf das Verschwinden ihres Mannes. Warum schickt mir jemand diesen Stein? Was soll das?

Vor vielen Jahren hatte er die geschäftsführende Leitung einer gut besuchten und renommierten Fortpflanzungsklinik übernommen. Silvia Hasenkamp half seit dieser Zeit im Sekretariat.

Vielleicht war der Schlüssel für sein Verschwinden in der Klinik zu finden. Vielleicht eine frustrierte Patientin, der er nicht helfen konnte?

Womit beginnt das Glück bei diesen Frauen? Mit einer Zelle, die dann vervielfältigt wird? Grübelnd schaute sie auf ihr Buch. Ach ja, so begann ja auch das Leben im Präkambrium. Aus den einzelligen Algen wurden mehrzellige Lebewesen. Das hatte sie in ihrem Buch gelesen. War das alles ein Zufall? Oder hing das Verschwinden von Michael mit einem Ereignis zusammen, das vor einigen Jahren passierte?

Sie staunte immer wieder über ihre detektivischen Neigungen, die sie schon als Kind oft einsetzte. Überall meinte sie Zusammenhänge zu sehen und verknüpfte alles mit allem. Natürlich fiel sie damit auch oft auf die Nase. Doch dies hatte nie ihren schon fast fanatischen Spürsinn, mit denen sie unverständlichen Dingen auf den Grund zu gehen versuchte, geschmälert. Sie schwankte zwischen dem Wunsch, Michael zu finden und der Angst vor unangenehmen Enthüllungen. Der Wunsch überwog. Sie rief im Polizeipräsidium an. Den Steinbruch Wickartsmühle würde sie vorsichtshalber nicht erwähnen.

12

 „Was gibt es so Dringendes, Frau Hasenkamp, dass sie mich jetzt sprechen möchten?“ Kerstin schaute die großgewachsene Frau mit den leicht ergrauten Haaren neugierig an.

Silvia erzählte Kerstin von ihren Erkenntnissen. Dabei schweiften ihre Gedanken zu ihrer Freundin, Sabine Drechsel, die ihre Kinder der Fruchtbarkeitsklinik zu verdanken hatte.

„Es ist interessant, was Sie da erzählen über den Zusammenhang zwischen dem Erdzeitalter des Präkambriums und der Tätigkeit ihres Mannes. Dies kann jedoch auch ein Zufall sein. Wir werden die Klinik Ihres Mannes jedenfalls einmal stärker in Augenschein nehmen. Ich werde Listen mit Patientinnen, bei denen die Behandlung nicht angeschlagen hat, anfordern. Vielleicht finden wir dort eine Spur.“

Frau Hasenkamp hatte eine neue Dimension in den Fall gebracht. Kerstin musste mit Karl über diese Sache reden.

Das gestrige Abendessen mit Karl Steiner hatte Kerstin gut getan. Sie hatten sich angeregt unterhalten und viel gelacht über das alte Zeug.

Wesentliche Erkenntnisse für ihren Fall hatten sich nicht ergeben, dafür aber über sie selbst.

Karl Steiner hatte sich bereit erklärt, sie in dem Fall weiter zu unterstützen – ob mit oder ohne das alte Zeug. Wie auch immer er das gemeint hatte. Sie waren zunächst einmal Freunde geworden.

Kambrium, 14. November

Eine neue Zeit ist angebrochen. Nachdem eine große Vereisung ihr Ende gefunden hat und sich der Sauerstoffgehalt in der Atmosphäre vergrößert hat, entwickelt sich auch die Tierwelt im Meer rasant. Tiere mit harten Schalen und Skeletten tauchen auf.

Es sind die ersten Mehrzeller.

Die Kontinente Laurentia, Baltica und Gondwana bestimmen das Gesicht der Erde. Sie sind noch unbewohnt und kahl. Das Meer überflutet immer wieder die Kontinente.

In den tiefen Meeren setzt sich ein dunkler Schlamm ab. Er ist reich an abgestorbenen Algen.

Spuren des Lebens verrotten. 

1

Sabine Drechsel war eine emsige Frau. Mit viel Fleiß und Durchsetzungswillen hatte sie es vor einigen Monaten endlich geschafft und ihren kleinen Laden in der Innenstadt von Freiburg eröffnet. Ein Laden voller Minerale, Schmucksteine und Fossilien. Der Besucher ihres Ladens würde gleich erkennen, was sie besonders liebte. Fossilien aus allen Erdzeitaltern lagerten in gläsernen Vitrinen und warteten auf neue Besitzer.

Nun war sie damit beschäftigt, eine neue Lieferung in das Regal am Fenster einzusortieren – kambrische Fossilien.

Ihr Laden lief gut, sie konnte sich nicht beklagen. Und gegen den Widerstand ihres Mannes und die spöttelnden Bemerkungen ihrer beiden heranwachsenden Töchter hatte sie sich durchgesetzt. Darauf war sie stolz und kokettierte auch damit. Jeder, der sie auf ihren Laden ansprach, wurde überhäuft mit einem Wortschwall über ihren schwierigen Stand in der Familie aufgrund ihres ausgefallenen Interesses. Die Türklingel bimmelte, und sie erkannte gleich die großgewachsene Frau, die herein trat.

„Hallo Silvia, du – es tut mir unendlich leid mit deinem Mann. Hoffentlich taucht er bald wieder auf!“

„Ach Sabine, ich mache mir so große Sorgen um

Michael. Da ist irgendetwas Fürchterliches passiert. Er ist nun schon über eine Woche verschwunden.“

„Setz Dich erst mal, Silvia, ich mache uns eine Tasse Tee. Es ist bis jetzt sehr ruhig im Laden und wir können uns ein wenig unterhalten.“

Silvia schaute ihre Freundin mit traurigen Augen an.

„Sie gehen jetzt davon aus, dass ein Verbrechen vorliegt. Und sie tappen noch völlig im Dunkeln.“

„Beruhige dich, Silvia und schau dich ein wenig im Laden um, du solltest dich ablenken. Such dir einen Stein oder ein Fossil aus.“

Silvia schaute sich im Laden um und staunte nicht schlecht. Die besonders schönen urzeitlichen Zeugen lagerten in gläsernen Regalen und waren fein herausgeputzt. Sie spürte, wie sie von einem Glücksgefühl übermannt wurde, als sie die herrlichen Kristalle anschaute. Dass die Natur etwas so Schönes herstellt, war für sie immer ein großes Wunder.

Silvia wollte etwas Anderes mit der Freundin besprechen, doch sie wusste nicht, wie sie das Thema anschneiden sollte. Konnte ihre Freundin etwas mit dem Verschwinden von Michael zu tun haben?

Sie tranken Tee und unterhielten sich über ihren Laden. Dies beruhigte Silvia und lenkte sie von ihren Sorgen ab.

Als Silvia den Laden verließ, hatte sie einen wunderschönen Bergkristall in der Tasche, den Sabine ihr geschenkt hatte. Sie freute sich darüber wie ein kleines Kind, doch auch dieses wundersame Kunstwerk der Natur lenkte ihre Gedanken nicht von Michael ab. Die Ungewissheit bedrückte sie.

2

„Reinhold, bitte komme heute Abend bei mir vorbei. Ich brauche deine Hilfe!“ Die Mail, die im oberen Stock des Polizeipräsidiums ankam, war offenbar in Eile geschrieben worden. Das jedenfalls glaubte der kräftige Polizist, als er auf seinen Bildschirm schaute.

Reinhold Bergmann war seit 20 Jahren bei der Kripo und hatte sich vom Streifenpolizisten bis in die bedrohliche Nähe seines obersten Chefs hinaufgearbeitet. Dieser rasante Aufstieg war natürlich mit der Hoffnung verbunden, eines Tages dessen Posten zu übernehmen.