Evanna Athos und die Zeiten der Macht - Felicitas Sturm - E-Book

Evanna Athos und die Zeiten der Macht E-Book

Felicitas Sturm

4,8

Beschreibung

Evanna Athos war ein durchschnittliches Mädchen. Na gut, sie hatte eine unterdurchschnittliche Anzahl an Freunden und überdurchschnittlich gute Noten. Doch der Rest ihres Lebens war herrlich normal. Bis ihr Vater spurlos verschwindet. Und als sie wenig später auf ein britisches Internat wechselt, stellt sich ihr Leben endgültig auf den Kopf. Dort erfährt sie nicht nur von Freundschaft, sondern auch von Magie und von einem übermächtigen Feind, den nur sie allein besiegen kann.

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Evanna Athos war ein durchschnittliches Mädchen. Na gut, sie hatte eine unterdurchschnittliche Anzahl an Freunden und überdurchschnittlich gute Noten. Doch der Rest ihres Lebens war herrlich normal. Bis ihr Vater spurlos verschwindet. Und als sie wenig später auf ein britisches Internat wechselt, stellt sich ihr Leben endgültig auf den Kopf. Denn dort erfährt sie nicht nur von Freundschaft, sondern auch von Magie und einem übermächtigen Feind. Den nur sie allein besiegen kann.

Autorin

Felicitas Sturm, geboren 1993, begann bereits mit 17 Jahren zu schreiben – das Buch, das schließlich zu „Evanna Athos und die Zeiten der Macht“ wurde. Sie lebt im Allgäu und wenn sie nicht gerade mit einem Buch in der Hand in ihrem Lesefenster sitzt, dann findet man sie wahrscheinlich auf einem Berg. Felicitas findet man auch im Internet unter https://felicitassturm.wordpress.com/ und https://felicitassturm.tumblr.com/

Für M. weil du von Anfang an dabei warst

Für F. weil du bis zum Schluss dabei warst

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Oscar Severin

Kapitel 1: Ein Mädchen ohne Vater

Kapitel 2: Zwischenfälle mit Zwergen

Kapitel 3: Der Brief

Kapitel 4: Einmalig zweimalig

Kapitel 5: Reise nach Wales

Kapitel 6: Festessen und Verbote

Kapitel 7: Der erste Schultag

Kapitel 8: Gerüchte mit wahrem Kern

Kapitel 9: Lehrer und Schüler

Kapitel 10: Gandhi ist Schuld

Kapitel 11: Eine unglaubliche Geschichte

Kapitel 12: Vertraue Austin

Kapitel 13: Die Wahrheit über Severin

Kapitel 14: Das Rätsel des Einhorns

Kapitel 15: Noctua

Kapitel 16: Zaubern mit Austin

Kapitel 17: Vom Suchen

Kapitel 18: Der Weihnachtsball und seine Folgen

Kapitel 19: Eine Geschichte für Nathanael

Kapitel 20: Vom Finden

Kapitel 21: Pläne schmieden

Kapitel 22: Hilfe vom Löwen

Kapitel 23: Die Zeiten der Macht

Kapitel 24: Die Folgen des Risikos

Prolog

Oscar Severin

Mr. Severin sah auf die Uhr. Der Journalist war unpünktlich. Und Severin hasste Unpünktlichkeit.

Ungeduldig ließ er seinen Blick von der Uhr zum Fenster wandern. Draußen fiel der erste Schnee. Vermutlich würde der Journalist das Wetter für sein Zuspätkommen verantwortlich machen. Als könnte man im Januar nicht mit diesem überflüssigen weißen Zeug rechnen.

Oscar Severin wusste genau, warum der Journalist unpünktlich war. Er wollte ihn ungeduldig machen. Tja, das hatte er geschafft. Er erhoffte sich dadurch sicherlich unüberlegte Antworten. Das würde er aber gewiss nicht schaffen.

Noch immer konnte sich Severin nicht erklären, wie dieser neugierige Mann auf die Sache mit Charlie Barrow gestoßen war. Was er noch mehr hasste als Unpünktlichkeit waren neugierige Schnüffler, die nicht wussten wann sie ihre Nase aus Angelegenheiten heraushalten sollten.

Endlich klingelte sein Telefon. Mit einem knappen „Ja?“, hob er ab. Seine Sekretärin, die übereifrige Annie Avery, kiekste in den Hörer: „Mr. Severin, Ihr Besuch ist da. Mr. Hunter von der Welsh Post.“

„Bring ihn herein“, murrte Severin und legte auf.

Wenige Sekunden später wurde seine Bürotür geöffnet und ein kleiner, stämmiger Mann trat an Annie vorbei in das Zimmer.

Severin blieb noch kurz sitzen und musterte seinen Besucher von oben bis unten. Vor ihm stand ein Reporter wie aus dem Bilderbuch: er trug einen alten Wachsmantel über einem blass-karierten Hemd, das vielleicht vor zwanzig Jahren modern gewesen war und sich über dem fülligen Bauch spannte; verwaschene Jeans; eine lächerliche Mütze und ein mindestens ebenso lächerlicher Schnurrbart. Was natürlich nicht fehlen durfte war die obligatorische Tasche. Darin hielt der Mann nicht nur Blöcke und Stifte bereit, sondern sicherlich auch ein Diktiergerät.

Endlich erhob sich Oscar Severin und begrüßte seinen unliebsamen Besucher mit einem kalten Händedruck.

Mr. Hunter setzte ein Lächeln auf, das wohl freundlich sein sollte, für Severin aber verlogen wirkte. Unaufgefordert setzte er sich. Also ließ auch Severin sich wieder in seinen großen Sessel sinken.

„Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung, das Wetter…“, begann der Journalist. Severins wässrige Augen verengten sich.

Hunter kramte einen Notizblock und einen einfachen Kugelschreiber, der nach einem Werbegeschenk einer Versicherung aussah, aus seiner Tasche. Dann blickte er aufmerksam zu Severin. Dem war wohl anzusehen, dass er keine Lust auf Smalltalk hatte, denn Mr. Hunter kam gleich zur Sache: „Sie wissen, weswegen ich hier bin. Der Fall Charlie Barrow… Der Fall des Schülers, der auf ungeklärte Weise spurlos aus ihrer Schule verschwand und…“

Er wurde unwirsch von Severin unterbrochen: „Charlie Barrow kam bei einem tragischen Unfall ums Leben.“

Mr. Hunter lächelte milde. „Bitte verzeihen Sie mir meine Frage, wie es zu diesem Unfall überhaupt kommen konnte?“

Noch immer wusste Severin nicht, wie dieser Hunter erfahren hatte, dass Charlie aus seiner Schule verschwunden war.

Mr. Hunter sah ihm direkt in die Augen. „Wie kann es passieren, dass eine Steinstatue einen Schüler unter sich begräbt?“

Langsam strich sich Oscar Severin über seine weißen Bartstoppeln. Alle Schüler von Angleridge hatten die Geschichte mit der umgestürzten Steinstatue geglaubt. Schließlich hatte er dafür gesorgt, dass es wirklich so ausgesehen hatte, als wäre die große Statue einfach auf den Schüler gekippt.

Dass keiner der Schüler eine Leiche gesehen hatte, kümmerte niemanden. Immerhin hatte Severins treuster Lehrer, John Reed, versichert, den toten Jungen gefunden zu haben. Tatsächlich gab es gar keine Leiche, die jemand hätte finden können. Doch das war ein Detail, das nur Oscar Severin und etwa ein Dutzend seiner Schul- und Parteikollegen kannten.

Woher wusste der Reporter also davon?

Langsam antwortete Severin: „Das Gebäude, in dem meine Schule untergebracht ist, ist alt. Ebenso die meisten Gegenstände, die sich darin befinden. Es ist ein tragischer Zufall, dass diese alte Statue ausgerechnet dann ihrem Alter nachgeben musste, als der kleine Charlie darunter stand.“

Der Reporter zog eine Augenbraue nach oben, wobei sein Schnurrbart wackelte. „Ist es nicht ein seltsamer Zufall, dass es ausgerechnet den Jungen trifft, der erst wenige Wochen zuvor im Unterricht auffällig wurde? Den Jungen, der wenige Wochen zuvor im Unterricht lautstark verkündet hatte…“, Mr. Hunter sah auf seinen Notizblock und las dann vor, „…dass Sie, Mr. Severin, ein Lügner seien; ein verblendeter Patriot, der als Lehrer den Schülern die gleichen Lügen auftische wie Ihre Partei der Bevölkerung.“ Mit einem zufriedenen Grinsen sah Mr. Hunter von seinen Aufzeichnungen hoch in Severins kleine Augen.

Für einen kurzen Augenblick war Severin entsetzt. Wie konnte dieser Schnüffler davon wissen? Die wenigen Schüler, die Charlies Ausbruch während des Unterrichts mitbekommen hatten, waren schon genug von Severins „angepassten Wahrheiten“ überzeugt gewesen. Sie sahen Charlie als Spinner, der mit dem Prüfungsstress und Leistungsdruck kurz vor Schuljahresende nicht zurechtkam.

Vermutlich gab es auf Angleridge keinen einzigen Schüler, der Charlies Unfall mit seinem Ausbruch fünf Wochen zuvor in Verbindung brachte. Außer vielleicht einen… Doch diesen Schüler hatte Severin stets im Blick…

„Alles Zufall?“ Wieder wackelte der Schnurrbart.

Oscar Severin seufzte: „Ja, genau das ist es: ein seltsamer Zufall. Glauben Sie, ich würde einen Schüler umbringen, nur weil er mir widerspricht?“ Er wartete nicht auf eine Antwort: „Dann würden jetzt vielleicht noch fünfzig Jugendliche in Angleridge leben.“

„Ich behaupte nicht, dass der arme Charlie Barrow umgebracht wurde“, antwortete Mr. Hunter ruhig. „Immerhin gab es keine Leiche, die untersucht wurde.“

Der nächste Schlag direkt in Severins Gesicht. Auch davon durfte eigentlich niemand etwas wissen. Langsam wurde die Sache ernst.

Severin beschloss, dass es höchste Zeit wurde seine gewisse Kraft zu gebrauchen. Der Journalist musste eindeutig von einer „angepassten Wahrheit“ überzeugt werden. So zumindest nannte Severin seine Geschichten gerne.

Er beugte sich nach vorn und sah dem Anderen direkt in die Augen: „Mr. Hunter, hören Sie mir gut zu.“

Der Mann zückte begeistert seinen Stift, in Erwartung auf die Story seiner Karriere.

„Mr. Hunter, ich kann Ihnen versichern, dass Charlie Barrow bei einem tragischen Unfall in Angleridge ums Leben kam. Niemand bedauert dies mehr als ich, der ich als langjähriger Rektor dieser bedeutenden Schule verantwortlich bin für die Sicherheit meiner Schützlinge.“

Unverwandt hielt Severin den Blickkontakt. „Charlie Barrow ist tot. Sein Tod war ein tragischer Unfall, der nichts – und ich wiederhole: überhaupt nichts – damit zu tun hat, dass er mir Monate zuvor während des Unterrichts widersprochen hatte. Sie müssen doch selbst zugeben, dass das absurd wäre. Ihr Zitat entspricht übrigens auch nicht der Wahrheit. Das war wohl die journalistische Kreativität, die sie zu solchen Ideen hinreißen ließ.“

Mr. Hunter war wie ausgewechselt. Seine Augen waren nicht mehr zu kritischen Schlitzen verengt. Stattdessen nickte er eifrig: „Ja, ich verstehe.“ Er lächelte zufrieden und legte den Stift beiseite. „Vielen Dank für Ihre Offenheit. Bitte entschuldigen Sie meine Unterstellung. Der Mensch sucht stets nach Erklärungen für das Unerklärliche; und leider ist der Tod etwas, das niemand erklären kann…“

„Verständlich“, sagte Severin betont nachsichtig.

Er erhob sich und wartete ungeduldig bis der Journalist sein Schreibzeug eingepackt hatte. Er begleitete ihn zur Tür und vergewisserte sich noch einmal kurz, obwohl er kaum Zweifel daran hatte: „Sie werden den Vorfall also ruhen lassen?“

„Selbstverständlich“, beteuerte Mr. Hunter. Dann verabschiedete er sich überschwänglich und ließ Oscar Severin allein in seinem Büro.

Der Mann lächelte. Zufrieden sah er auf das alte Foto seines Vaters, das an der Wand direkt neben dem Foto der Queen hing.

John Severin war für sein Vaterland gestorben. Damals war Oscar Severin gerade erst zwölf gewesen. Doch seit diesem verhängnisvollen Tag war ihm klar gewesen, dass er die Arbeit seines Vaters nicht nur fortführen, sondern noch viele, viele Schritte weiterentwickeln musste.

Es war an der Zeit, die Menschheit von der Genialität des Vereinigten Königreichs zu überzeugen.

Und das tat Severin nicht nur mit seiner Partei, British Earth, sondern auch mit seiner Schule.

Und wieder einmal hatte er es zu verhindern gewusst, dass jemand seine Pläne durchkreuzte.

Kapitel 1

Ein Mädchen ohne Vater

Es gibt Worte, welche die Welt verändern können.

Im Fall von Evanna Athos begann die Veränderung mit einem Satz ihrer Mutter: „Dein Vater ist noch nicht daheim.“

Es war der 8. Oktober, knapp einen Monat vor ihrem sechzehnten Geburtstag, als Evanna diese verhängnisvollen Worte hörte.

Wie sehr dieser Satz ihre Zukunft beeinflussen sollte, konnte sie zu diesem Zeitpunkt nicht einmal ansatzweise ahnen.

An jenem Oktobertag wurde Evanna zu einem Mädchen ohne Vater.

Als Evanna morgens verschlafen die Treppe hinunterging, hörte sie schon die gedämpfte Stimme ihrer Mutter, Alice Athos. Zuerst dachte sie, ihre Eltern würden sich miteinander unterhalten. Doch in der Küche angekommen sah sie, dass Alice allein war und telefonierte. „… Ich kann es mir nicht erklären. Er ist immer zuverlässig…“

Während Evanna eine Schüssel und Müsli aus den Küchenschränken holte, hörte sie neugierig zu. Der Tonfall ihrer Mutter machte sie nervös. Beim nächsten Satz hielt sie mitten in der Bewegung inne.

„Meinst du, wir sollten zur Polizei?“

Augenblicklich sah Evanna zu ihrer Mutter, die sich gerade nervös die blonden Haare hinter die Ohren schob, obwohl ihr keine einzige Strähne ins Gesicht fiel.

Sofort überlegte Evanna, was das wohl zu bedeuten hatte. Sie starrte ihre Mutter an, bis diese mit einem „Bis gleich!“ aufgelegt hatte.

Alice blickte beinahe fragend zu ihrer Tochter während sie die Worte sagte, die Evannas Leben so aus den Angeln heben sollten: „Dein Vater ist noch nicht daheim.“

Wie es meist mit solchen weltbewegenden Sätzen ist, wurde auch diesem zunächst nicht genügend Bedeutung beigemessen.

Im ersten Moment fand Evanna die Besorgnis ihrer Mutter übertrieben. Wegen so etwas gleich zur Polizei gehen…

Aber bevor das Mädchen seine Gedanken aussprechen konnte, erzählte die Mutter besorgt weiter: „Er hat – wie so oft – sein Handy nicht dabei. Und die anderen Männer sind auch noch nicht zu Hause. Ich habe gerade mit Katharina telefoniert.“

Auch das brachte Evanna noch nicht aus der Ruhe. Wie immer versuchte sie logisch zu denken. Leander Athos war ein zuverlässiger und vernünftiger Mann. Er blieb nicht einfach über Nacht weg.

Sie hatte schon genug Krimis gelesen, um zu wissen, dass man zunächst die Tatsachen sortieren sollte.

Am Vorabend war ihr Vater – wie schon hunderte Male zuvor – zum Kartenspielen gegangen. Zusammen mit ein paar anderen Männern aus der Nachbarschaft fuhr er regelmäßig in den nächsten größeren Ort, wo es ein Wirtshaus gab. Erlenberg, das 300-Seelen-Dorf in dem die Familie Athos lebte, konnte nämlich kein solches vorweisen.

Im Nachbarort Tolingen saß Leander Athos dann mit seinen Freunden zusammen, spielte mit ihnen Karten, trank das ein oder andere Bier, und fachsimpelte mit ihnen über scheinbar wichtige Themen wie Politik und Wirtschaft. Seiner Frau und seinen beiden Töchtern versuchte er dann am nächsten Tag stets sein neu erworbenes Wissen weiterzugeben. Das tat er mit einem Ernst, dass es einem schon fast Angst werden konnte.

Vermutlich hatten die Männer gestern alle zu viel getrunken, überlegte Evanna. Deswegen hatten sie die Nacht im Wirtshaus verbracht, das praktischerweise auch ein paar Zimmer vermiete. Da brauchte man doch nicht gleich zur Polizei gehen.

Als hätte ihre Mutter Evannas Gedanken erraten, sagte sie: „Im Goldenen Adler habe ich bereits angerufen. Der Wirt hat mir versichert, Leander und die Anderen hätten sich gegen Mitternacht verabschiedet. Und er war der festen Überzeugung, sie würden nach Hause fahren.“

Obwohl Evanna noch immer nicht glaubte, dass etwas Schlimmeres passiert war, bekam auch sie ein mulmiges Gefühl im Magen. Sie wollte nicht in das Gesicht ihrer Mutter sehen und drehte sich schnell weg, um Cornflakes in ihre Schüssel zu schütten. Ihr Gehirn suchte fieberhaft nach möglichen Erklärungen.

Wohin könnten die Männer nachts gefahren sein? Ihr Vater war zu vernünftig, um mitten in der Nacht noch irgendwelche verrückten Dinge anzustellen. Er war auch zu vernünftig, um zu viel zu trinken.

Ein penetranter Gedanke nistete sich in Evannas Kopf ein. Es gab eine relativ einfache, aber hässliche Erklärung…

Was, wenn ihr Vater einen Unfall gehabt hatte?

Während Evanna noch versuchte, diesen Gedanken beiseite zu schieben, wählte ihre Mutter schon die Nummer der Polizei. Dann verschwand sie hinter der Wohnzimmertür, damit sie ungestört telefonieren konnte. Ihre Stimme drang gedämpft durch die Tür (sie klang fest, als hätte sie die Situation unter Kontrolle), Evanna verstand aber nicht, was sie sagte. Ungeduldig stocherte sie in ihren Cornflakes herum.

Schließlich kam Alice zurück in die Küche.

Sie hatte inzwischen aufgelegt und erklärte ihrer älteren Tochter langsam: „Die Polizei meint, wir sollten uns keine Sorgen machen. Erst nach 24 Stunden könnten sie handeln. In der Zwischenzeit tauchen die meisten Vermissten sowieso wieder auf.“ Ihre Stimme klang hoffnungsvoll, doch ein Wort in diesem Satz klang falsch: Vermisster. Als wäre etwas Schreckliches passiert. Dabei war sich Evanna sicher, dass sich das alles sehr schnell aufklären würde.

Ihre Gedanken kreisten immer wieder um die einzige logische Erklärung, doch ihre Hoffnung wollte nichts davon hören.

Alice schien diese Befürchtung zu teilen. Sie ergänzte: „Einen Unfall hat es heute Nacht nicht gegeben. Die Polizei schickt aber einen Streifenwagen los, gezielt zur Strecke zwischen Tolingen und Erlenberg.“ Sie versuchte beruhigt zu wirken, als sie sich schon wieder eine blonde Strähne hinter das Ohr schob.

Evanna wusste nicht, ob sie diese Nachricht wirklich erleichtern sollte. Denn was könnte sonst mit ihrem Vater passiert sein?

Der Tag wollte nicht vergehen. Jede Minute dehnte sich aus, schien mehrere Stunden zu dauern. Die Uhrzeiger wollten sich gar nicht mehr bewegen. Irgendwann gab es Mittagessen. Irgendwann hörte man die Kirchenglocken. Irgendwann stritten die Nachbarn. Die Uhrzeit spielte keine Rolle. Es war irgendwann, während des Wartens.

Dann endlich, nachdem mindestens drei Menschenleben vergangen waren, dämmerte es. Es wurde Abend. Leander Athos hatte vor 24 Stunden das Haus verlassen. Gemeinsam fuhren die Ehefrauen der vermissten Männer zur Polizei um eine Vermisstenmeldung aufzugeben.

Währenddessen saß Evanna neben ihrer kleinen Schwester Aurora im Wohnzimmer. Der Fernseher lief, doch beide Mädchen achteten nicht darauf. Sie waren zu sehr in Gedanken versunken. Sogar Aurora, die sonst nicht einmal zum Essen stillsitzen konnte, saß bewegungslos auf dem Sofa und sagte keinen Ton.

Kaum hörten sie den Schlüssel im Haustürschloss sprangen die Schwestern auf, halb in der Hoffnung, dass ihr Vater kommen würde. Natürlich war es ihre Mutter.

Alice setzte sich zu ihren Töchtern ins Wohnzimmer, wo noch immer der Fernseher vor sich hin plapperte und ignoriert wurde.

„Die Polizei hat bereits mit dem Besitzer vom Goldenen Adler gesprochen“, begann Alice. „Der Wirt hat nochmal gesagt, sie wären alle um etwa zwölf Uhr nachts gegangen. Uwe war gefahren und hatte den ganzen Abend keinen Alkohol getrunken. Das hat der Wirt immer wieder beteuert. Nachdem sie den Adler verlassen hatten, waren sie von niemandem mehr gesehen worden. Auch das Auto ist verschwunden.“ Ihre Stimme versagte beinahe, als sie ergänzte: „Es gibt keine Spuren und keine Hinweise.“

Evanna nahm diese Nachricht schweigend hin. Neben ihr vergoss Aurora einige stumme Tränen.

Das sollten nicht die einzigen bleiben.

Denn die Männer blieben verschwunden. Schon am nächsten Tag suchte die Polizei mit Spürhunden und Hubschraubern nach den Vermissten. Doch sie fanden keine Spur, keinen einzigen Anhaltspunkt. Nicht einmal das Auto von Uwe tauchte auf.

Die Kartenspieler schienen sich einfach in Luft aufgelöst zu haben. Auch Nachbarn und Bekannte wurden befragt, doch niemandem war etwas Ungewöhnliches aufgefallen.

Die Kreditkarten und Bankkonten wurden geprüft.

„Das ist eine ganz normale Vorgehensweise, um einen Raubüberfall auszuschließen“, erklärte ein älterer Polizist, der sich als Oberkommissar vorgestellt hatte, der Familie Athos. Er strahlte eine angenehme Ruhe aus und wirkte, als könnte ihn nichts erschüttern. Insbesondere nicht das Verschwinden von fünf Männern. Er fügte, fast ein wenig entschuldigend, zu Alice gewandt hinzu: „Und immer wieder passiert es, dass Menschen einfach abhauen.“

Doch weder ihre Kredit- noch die anderen Bankkarten waren benutzt worden. Und es gab keinerlei Hinweise, dass die Männer sonst auf irgendeine Weise gereist waren.

Da blieb selbst dem optimistischen Oberkommissar schließlich nur noch der Verdacht auf Entführung.

Nicht nur Evanna, auch die Polizei schaffte es nicht, eine logische Erklärung dafür zu finden.

Wer entführt einfach so fünf ausgewachsene, kräftige Männer? Ohne auch nur eine einzige Spur zu hinterlassen?

Und vor allem: warum?

Das Leben ging weiter. Die Erde interessiert sich nicht für Katastrophen, für Rätsel oder für verschwundene Väter. Die Erde dreht sich immer weiter und zwang damit die Familie Athos weiterzumachen. Ohne Leander.

Evanna brauchte einige Wochen, um realisieren zu können, dass tatsächlich etwas Schlimmes geschehen war. Anfangs war sie einfach der festen Überzeugung gewesen, ihr Vater würde wieder zurückkommen.

Ein Mann verschwindet doch nicht einfach so. So etwas passierte in Büchern und Filmen, in Krimis; aber nicht in ihrem Leben.

Doch irgendwann machte es sich auch in ihrem Kopf der Gedanke gemütlich, dass sie jetzt keinen Vater mehr hatte.

Zu trauern war schwer. Es fühlte sich an, als wäre ein großer Teil aus ihrem Körper herausgerissen worden. Sie hatte konstant und ununterbrochen das Gefühl, dass etwas fehlte.

Zu trauern war wirklich schwer. Doch noch schwerer war es, Menschen, die man liebt, trauern zu sehen.

Für Evanna war es schrecklich, tagtäglich beobachten zu müssen wie sich ihre Mutter quälte. Alice war immer eine energische Frau gewesen, die gern Dinge selbst in die Hand nahm. Sie war nicht leicht aus der Ruhe zu bringen.

Nach Leanders Verschwinden versuchte sie den Anschein zu erwecken, dass alles in Ordnung sei. Obwohl ihre Augen vom ständigen Weinen ganz rot waren. Sie versuchte normal weiterzuleben. Immer in der Hoffnung, dass ihr Mann wiederkommen würde.

Tag für Tag weckte sie die Kinder für die Schule, half ihnen bei den Hausaufgaben, kochte, machte den Haushalt. Ohne sich irgendetwas anmerken zu lassen. Dachte sie zumindest.

Doch wer sie kannte, sah die Veränderung.

Alice war immer schön gewesen mit ihren langen blonden Haaren, die Evanna von ihr geerbt hatte. Sie hatte auch immer jung ausgesehen für ihr Alter. Doch auf einmal wirkte sie alt und kaputt. Ihr Gesicht wurde schmaler, ihre Schultern sanken immer tiefer.

Aber nichts war schlimmer, als Aurora ansehen zu müssen. Früher war sie ein fröhliches Mädchen gewesen, das wie ein Flummi ständig in Bewegung war. Ihre feuerroten Haare hatte man ständig auf und ab hüpfen gesehen, wenn sie von einem Zimmer zum nächsten sprang und ein Spiel spielte, deren Regeln nur sie kannte.

Aurora hatte ihren Vater wirklich geliebt und tat es noch immer. Er hatte ihr Geschichten vorgelesen, mit ihr aus Decken Höhlen gebaut, ihr das Schwimmen beigebracht. Doch nun tat er all das nicht mehr. Er war einfach fort, wie vom Erdboden verschluckt. Aurora konnte und wollte nicht verstehen, warum er nicht mehr kam. Sie weinte mehr, als gut war für eine Neunjährige.

Jeden Morgen hoffte sie aufs Neue, ihr Vater wäre über Nacht nach Hause gekommen. Bei jedem Telefonläuten erwartete sie einen Anruf von ihm; in jedem Auto, das in den Hof fuhr, konnte Leander sitzen. Sie hoffte vergeblich.

Und das Leben ging unerbittlich weiter. Evanna und Aurora mussten sich auf die Schule konzentrieren und Alice musste sich nun allein um den Haushalt und das Geldverdienen kümmern. Da blieb nicht mehr viel Zeit, Leander nachzutrauern.

Und bald schon sollten auch Dinge geschehen, die vor allem Evanna auf andere Gedanken brachten.

Kapitel 2

Zwischenfälle mit Zwergen

Ihr Vater war nun seit über drei Monaten verschwunden und Evannas Alltag hatte fast wieder einen Hauch von Normalität angenommen. Sie hatte es ihrer Mutter gleichgetan und war schweigsamer geworden. Sie verbrachte mehr Zeit in ihrem Zimmer. Noch mehr Zeit als früher. Das kostete sie ihre letzten Freundinnen, doch mit denen wollte sie sowieso nichts mehr zu tun haben.

Ihre Mutter sprach sie genau ein einziges Mal darauf an. Doch Evannas Antwort war wochenlang vorbereitet worden. Schließlich hatte sie damit gerechnet. „Wäre es dir lieber, wenn ich mit meinen Mädels, wie du sie nennst, auf Partys gehe? Mich jedes zweite Wochenende in einen anderen Jungen verliebe, der mir dann das Herz bricht? Wäre es dir lieber, wenn ich betrunken nach Hause komme? Irgendwann mitten in der Nacht. Falls ich überhaupt noch nach Hause kommen werde.“

Der letzte Satz traf Alice wie eine Ohrfeige. Sie wurde blass und setzte hilflos an: „Aber deine Freundinnen… Ich wollte doch nur…“

Evanna unterbrach sie unwirsch: „Möchtest du das?“

Und Alice blieb nichts anderes übrig, als den Kopf zu schütteln und das Thema nicht mehr anzusprechen.

Im Nachhinein tat es Evanna leid, so heftig reagiert zu haben. Doch ihre Mutter hatte einen hässlich wunden Punkt getroffen. Natürlich vermisste Evanna ihre Freundinnen. Zu gerne hätte sie die Zeit zurückgedreht, damit alles wieder war wie früher.

Sie konnte an Aurora sehen, dass es half in Gesellschaft zu sein. Ihre kleine Schwester war ständig von Klassenkameraden umringt, besuchte Freunde oder brachte sie mit nach Hause. Und dabei lachte sie immer öfter.

Doch auf die Gesellschaft, die ihre eigenen Freundinnen ihr boten, konnte Evanna verzichten.

Während sich all ihre Klassenkameradinnen inzwischen in der Hochphase der Pubertät befanden, schien sie selbst diesen Abschnitt einfach übersprungen zu haben. Das Verschwinden ihres Vaters hatte sie innerhalb weniger Tage von einer Jugendlichen zu einem Erwachsenen werden lassen. Sie kümmerte sich nicht um die neueste Ausgabe einer Mädchenzeitschrift oder die nächste samstägliche Ausrede zum Betrinken. Nein, Evanna war die Schule wichtiger.

Um ehrlich zu sein, war ihr die Schule schon seit einiger Zeit wichtiger gewesen, als all die anderen Dinge, die Kinder sonst lieber taten.

Begonnen hatte es eigentlich damit, dass ihre kleine Schwester in diese Phase gekommen war, in der die Kinder ständig „Warum?“ fragten.

„Iss dein Gemüse auf.“ - „Warum?“

„Weil es gesund ist.“ – „Warum?“

„Weil viele Vitamine drin sind.“ – „Warum?“

So ungefähr hatte jede Unterhaltung ausgesehen, die man mit Aurora geführt hatte.

Zuerst hatte sich Evanna, die damals gerade in der vierten Klasse war, nur darüber geärgert, dass ihre Schwester so nervte. Doch irgendwann war ihr aufgefallen, wie wenig sie eigentlich wusste. Und was Evanna noch mehr entsetzt hatte war, dass sogar Alice meist ebenfalls früher oder später Auroras Fragerei mit einem Schulterzucken und „Weil das eben so ist!“ beantwortet hatte. Dabei war es doch die Aufgabe einer Mutter, alles zu wissen. Hatte Evanna zumindest gedacht.

Enttäuscht von dieser Unwissenheit hatte Evanna erkannt, dass sie selbst besser sein wollte. Klüger. Und so hatte sie den Entschluss gefasst, alles kennen und alles verstehen zu werden.

Damit hatte sie ein Jahr später, beim Wechsel auf eine neue Schule, allerdings kaum Freunde gefunden. Es kam erschwerend hinzu, dass Evanna in nahezu allen Tests Klassenbeste war und auf beinahe jede Frage der Lehrer eine Antwort wusste.

Den Ehrgeiz, sich für den Unterricht sogar schon Tage im Voraus vorzubereiten, konnten ihre Klassenkameraden nicht verstehen.

Und dann wagte sie es auch noch, mit den Lehrern zu diskutieren, wenn sie mit ihrer Note nicht zufrieden war. Schnell hatte Evanna herausgefunden, dass die Lehrer sich von ihr unheimlich leicht davon überzeugen ließen, ihr hier und da noch einen Punkt zu geben. Manchmal war sie sogar selbst erstaunt, wie einfach das war. Die anderen Jugendlichen in ihrem Alter aber schüttelten immer nur ungläubig den Kopf über so viel Ehrgeiz und Hartnäckigkeit.

„Als wären ihre Noten nicht sowieso schon gut genug“, sagten ihre Klassenkameraden immer häufiger und immer verächtlicher.

Evanna war klar, dass sie sich mit ihrem Verhalten von Tag zu Tag und von Test zu Test unbeliebter machte. Doch dieses „Warum?“-Fragespiel, das ihre kleine Schwester nach einigen Monaten wieder abgelegt hatte, war ihr selbst im Kopf geblieben.

Selbst die wenigen Mädchen, mit denen Evanna sich in den letzten Jahren noch verstanden hatte, schienen ihr jetzt, da sie ihren Vater verloren hatte, so lächerlich. Irgendwie fühlte sie sich in der Pflicht, für Aurora das fehlende Elternteil zu ersetzen. Obwohl sie die Hoffnung darauf, dass ihr Vater wieder auftauchen würde, nie aufgeben wollte, musste sie sich eingestehen: Wenn man die Sache vernünftig betrachtete – und das versuchte Evanna stets mit aller Inbrunst zu tun – war es unwahrscheinlich, ihn jemals lebend wiederzusehen.

Und als sie sich an diesen Gedanken gewöhnt hatte, war ihr bewusst geworden, wie dringend Aurora sie jetzt brauchte. Stundenlang hatte sie mit ihrer kleinen Schwester geredet. Bis es dieser irgendwann zu viel geworden war. Sie hatte schließlich Freundinnen.

Also war Evanna in ihr Zimmer geflüchtet. Allein mit ihren Büchern. Mehr allein, als eigentlich gut war.

Da war es nicht weiter verwunderlich, dass Evanna auch in der Schule ohne Gesellschaft war.

So saß sie auch an einem kühlen Januartag in der Mittagspause auf dem Schulhof auf einer Bank. Sie aß ihr Brot und starrte gedankenverloren auf einen Punkt zwischen ihren Füßen, die in viel zu dünnen Stoffschuhen steckten. Der erste Schnee des neuen Jahres begann zu fallen. Leise bedeckte er den gepflasterten Hof und ließ alles friedlich wirken. Davon völlig unbeeindruckt liefen einige Fünftklässler aufgeregt an Evanna vorbei. Sie schienen sich wegen etwas zu streiten. Da sie nur wenige Meter neben der Bank stehen blieben, konnte Evanna ihrem Streit zuhören.

„Ich hab den Vogel gefunden! Also darf ich auch entscheiden, was mit ihm passiert“, sagte der größte der Jungen gebieterisch. Er hielt etwas in seinen Händen, was wohl der besagte Vogel sein musste.

„Darf ich ihn mit nach Hause nehmen? Meine Mama kennt sich mit Tieren aus! Wir haben uns schon um Igel und so gekümmert… Bitte!“, bettelte ein blonder Junge. Doch er wurde von einem anderen gestoßen: „Ja, und alle sind gestorben! Du hast doch keine Ahnung von Vögeln! Aber ich hab einen Wellensittich daheim. Ich kann mit denen umgehen. Also nehme ich ihn mit.“

„Du kannst doch nicht einen Spatz mit einem Wellensittich vergleichen. Das…“ Die beiden unterbrachen sich gegenseitig und wurden immer lauter.

Ein dritter Junge redete währenddessen wichtigtuerisch auf den Größten der Gruppe ein: „Ich wäre dafür, wir lassen ihn in Ruhe sterben. Der kann doch kaum noch den Kopf heben, geschweige denn fliegen. Da kannst du doch nichts mehr machen…“

So ging es eine Weile hin und her. Mittlerweile war Evannas Interesse geweckt. Gerne hätte sie einen Blick auf diesen Vogel erhascht. Allerdings standen die Fünftklässler zu dicht um ihn herum.

Dann sprach der große Junge, der den Vogel anscheinend gefunden hatte, ein Machtwort. Er schien nicht nur etwas älter zu sein als die Anderen, er wirkte mit seinen breiten Schultern und dem kräftigen Nacken auch ziemlich bedrohlich. Das war wohl der Grund, weshalb alle augenblicklich verstummten, als er gebieterisch entschied: „Wir sollten ihn von seinem Leiden erlösen. Ich werde ihn töten.“

Bisher hatte Evanna den Kindern regungslos zugehört. Doch jetzt sprang sie sofort empört auf.

Auch den anderen Jungen konnte man das Unbehagen darüber ansehen, aber keiner von ihnen wagte zu widersprechen.

Evanna eilte auf die Gruppe zu um einzugreifen.

Doch dann hielt sie mitten in der Bewegung inne, denn jemand anders war schneller.

Ein erstaunlich kleiner und fürchterlich zerbrechlich wirkender Junge mit braunen Locken, der bisher noch nichts gesagt hatte, redete mit sanfter, aber sehr selbstsicherer Stimme auf die anderen Fünftklässler ein. Er sagte nicht viel. Nur: „Ich werde mich um den armen Vogel kümmern. Und keiner von euch wird ihm etwas antun!“

Das klang lächerlich, da er mit Abstand der Kleinste und Schwächste der Gruppe war. Evanna erwartete, dass er ausgelacht oder schlichtweg ignoriert wurde. Doch erstaunlicherweise schienen die anderen Jungen ihn ernstzunehmen. Ihnen gefiel dieser Vorschlag. Und selbst der Größte schien nichts dagegen zu haben.

Sie alle nahmen die Aussage einfach hin und schienen sogar der Meinung zu sein, dass das die beste Möglichkeit war. Einer sagte noch: „Das ist eine gute Idee, Nathanael!“

Evanna blieb der Mund offen stehen.

Der Kleine mit dem seltsamen Namen schien eine unheimliche Autorität zu besitzen. Obwohl er so schmächtig war und in diesem Alter doch Größe und Stärke am meisten zählten.

Sie bewunderte ihn für seinen Mut den anderen zu widersprechen, war sie doch selbst oft zu feige, um ihre Meinung laut auszusprechen.

Der große, brutal wirkende Junge drückte Nathanael nachlässig den Vogel in die Hand und schlenderte dann zurück ins Schulhaus, als hätte er hier draußen nichts mehr zu erledigen. Die anderen Fünftklässler folgten ihm augenblicklich.

Nur Nathanael blieb zurück. Er stand allein da und schien Evanna gar nicht bemerkt zu haben. Vorsichtig hielt er den Vogel in seinen zierlichen Händen und starrte ihn an, während er langsam von Schneeflocken bedeckt wurde.

Das Mädchen fragte sich, was der Junge jetzt vorhatte. Er konnte den Spatz doch schlecht mit in den Unterricht nehmen. Und weil er das Schulgelände nicht verlassen durfte, konnte er ihn auch nicht nach Hause bringen.

Während Evanna noch darüber nachdachte, ob sie diesem Nathanael vielleicht ihre Hilfe anbieten sollte, beobachtete sie, wie sein Gesicht mittlerweile einen angestrengten und hochkonzentrierten Ausdruck angenommen hatte. Vermutlich überlegte auch er, was er denn jetzt tun sollte.

Da schienen seine Hände heller zu werden, als würden sie zu glühen beginnen. Oder war das nur die Sonne, die gerade hinter den dicken, grauen Schneewolken hervorbrach?

Und dann flatterte plötzlich der Spatz hektisch mit seinen Flügeln. Aufgeregt hüpfte er in den Händen des Jungen herum und flog schließlich mit einigen schnellen Flügelschlägen davon. Er flatterte zu einer der Birken, die am Rand des Schulhofes standen. Dort setzte er sich auf einen der kahlen Äste und zwitscherte so munter, als wäre nie etwas gewesen.

Nathanael sah dem Vogel mit einem zufriedenen Lächeln hinterher.

Überrascht und ungläubig blickte Evanna, die noch immer unschlüssig mitten auf dem Schulhof stand, von diesem sonderbaren Jungen zum quicklebendigen Vogel und wieder zurück.

Was war das bitteschön gewesen? Sie hatte doch gesehen, wie schwach der Spatz gewesen war. Sonst hätte er sich niemals fangen und herumtragen lassen. Selbst verletzte Vögel beginnen aufgeregt zu flattern, wenn man ihnen zu nahe kommt. Also musste dieser dem Tode sehr nahe gewesen sein. Wie konnte er dann mit einem Mal wieder fliegen, als wäre nie etwas geschehen?

Evannas Gedanken suchten fieberhaft nach einer vernünftigen Erklärung.

Vielleicht war der Spatz auch eine Art Haustier von Nathanael. Deswegen hatte er sich für sein Leben so eingesetzt und die anderen überredet, sich selbst um den Vogel kümmern zu dürfen. Und das Ganze war nur wie einstudierte Zauberei: ein Trick, auf den die Zuschauer hereinfallen würden.

Da drehte sich Nathanael um und man konnte erkennen, wie sich seine Überraschung über Evannas Anblick in Schrecken wandelte.

„Das war sicher nicht für Publikum geplant“, erkannte das Mädchen sofort.

Nathanael machte auf dem Absatz kehrt und rannte durch die große Tür ins Innere der Schule, während Evanna allein auf dem Hof stand und ihm vollkommen verwirrt hinterher sah.

An den folgenden Tagen musste Evanna noch ständig an diesen Nathanael denken. Sie beschloss, ihn näher kennenzulernen. Sie wollte dringend wissen, woher er solch eine Autorität besaß. Und noch dringender wollte sie wissen, wie er das mit dem Vogel geschafft hatte. Ihr Kopf versuchte noch immer, das Geschehene logisch zu erklären. Auch wenn das unmöglich schien.

Doch wie es immer so war, wenn man anfing besonders auf jemanden achten zu wollen, sah sie Nathanael kaum noch. Sie hatte den leisen Verdacht, dass er ihr aus dem Weg ging. Andererseits war die Schule ziemlich groß und der Junge ziemlich klein, da war es kein Wunder, wenn sie ihn oft einfach nur übersah.

Hin und wieder erblickte sie ihn inmitten eines Haufens Fünftklässler auf dem Schulhof, doch dann konnte sie ihn schlecht ansprechen. Wie würde das denn vor den Anderen klingen? Ganz davon abgesehen, dass sie durch die bloße Anwesenheit so vieler fremder Menschen eingeschüchtert wurde.

Und falls sie ihn doch irgendwo allein sah, bemerkte er sie immer früh genug und verschwand schnell aus ihrem Blick.

Irgendwann gab Evanna es schließlich auf und versuchte, nicht mehr an dieses außergewöhnliche Ereignis mit diesem außergewöhnlichen Jungen zu denken. Sie versuchte sich einzureden, dass ihre Augen ihr einen Streich gespielt hatten. Schließlich ließ sich das Geschehene nicht erklären. Zumindest nicht logisch.

Das Leben ging weiter. Wie immer.

Es war Ende Februar und der Winter hatte sich noch mal so richtig ins Zeug gelegt. Seit Tagen schneite es ständig und die Temperaturen lagen kaum über dem Gefrierpunkt. Nachts hatte es zweistellige Minusgrade, sodass jeden Morgen hunderte Eisblumen an den Fensterscheiben klebten. Alles war unter einer dicken Schneeschicht begraben und jedes Geräusch hörte sich seltsam gedämpft an. Aurora hatte mit einigen Freundinnen im Garten einen Schneemann gebaut. So richtig mit Karottennase, Besen, Hut und Kohleaugen.

Jeden Morgen kamen die Kinder aus Erlenberg zu spät in die Schule, die wenige Kilometer bergab lag. Der Bus musste wegen der schlechten Straßenverhältnisse den Berg so langsam hinunterfahren, dass er fast doppelt so lange brauchte als üblich.

Die Tiere im Wald fanden kaum Futter unter der dicken Schneedecke, weshalb die Förster mit ihrem Jeeps große Mengen Heu in die Wälder brachten. Auch die Vögel, die den Winter im kalten Deutschland verbrachten, hatten Schwierigkeiten bei der Futtersuche. Deswegen hatte Leander Athos vor einigen Jahren ein kleines Vogelhäuschen gebastelt, um die Vögel im Winter füttern zu können.

Früher hatten er und Evanna immer gemeinsam dafür gesorgt, dass ständig Körner in dem Häuschen waren. Eine der wenigen Dinge, die der Vater ohne Aurora gemacht hatte.

Jetzt kümmerte sich seine ältere Tochter allein darum. Sie brachte täglich Sonnenblumenkerne und andere Vogelleckerbissen in den Garten hinaus.

Auch an diesem Wintertag holte Evanna wieder eine Handvoll Körner aus dem Keller, zog sich ihre warme Winterjacke und ihre Schnürstiefel an und stapfte durch den hartgefrorenen Schnee, der unter ihren Stiefeln knirschte. Die Luft war kalt und klar. Von irgendwoher drang der Duft nach einem Holzofen.

Hinter dem Haus lag der große Garten, um den sich Evannas Eltern den ganzen Sommer lang gekümmert hatten. Als Evanna und Aurora noch kleiner gewesen waren, waren eine Schaukel und ein Sandkasten darin gestanden. Doch als auch Aurora in die Schule gekommen war, hatte man beides abgebaut und stattdessen einige Beete gepflanzt. Nun blühten hier im Sommer Rosen, Hortensien, Tulpen und viele andere Blumen in tausend verschiedenen Farben.

Jetzt im Winter lag alles unter einer dicken Schneedecke. Es sah aus, als hätte jemand massenhaft Puderzucker ausgeschüttet, der jedes Geräusch erstickte.

Evanna ging in Richtung Vogelhäuschen, das jeden Winter an der gleichen Stelle mitten im Garten stand. Sie war darauf bedacht, in die leicht eingeschneiten Spuren der letzten Tage zu treten. Ansonsten wären ihre Hose und ihre Schuhe innerhalb weniger Schritte voller Schnee gewesen.

Als sie näher kam, flogen zwei Spatzen auf. Sie hatten wohl gerade die letzten Futterreste vom Vortag aufgepickt. Unwillkürlich musste Evanna wieder an Nathanael denken, doch schnell schob sie den Gedanken beiseite.

Sie schüttete die mitgebrachten Körner in das überdachte Holzhäuschen. Dann ging sie einige Schritte zurück, weil sie warten wollte, bis die beiden Spatzen wieder angeflogen kamen.

Sie stellte sich ruhig neben die steinerne Bank, die unter einem eisernen Bogen am Rand der Rasenfläche stand. Im Sommer blühten hier vier verschiedene Rosenarten, die stärker rochen als jedes Parfüm.

Auf der Bank stand ein kleiner Gartenzwerg. In der einen Hand hielt er eine Schaufel, die viel zu groß für ihn schien, während er die andere auf seine rote Mütze gelegt hatte, als wolle er sie festhalten. Seine Farben waren schon stark ausgeblichen und an einigen Stellen konnte man sogar den grauen Stein sehen, aus dem der Zwerg gemacht worden war.

Alice liebte Gartenzwerge und stellte sie überall um das Haus herum auf. Leander hingegen fand sie fürchterlich geschmacklos und hatte stets versucht, sie zwischen Blumen oder Sträuchern zu verstecken, damit er nicht zu viele davon sehen musste. Und jedes Mal, wenn seine Frau ihn darauf angesprochen hatte, war seine unschuldige Antwort „Die scheinen sich wohl lieber verstecken zu wollen…“ und ein freches Grinsen gewesen.

Evanna hing ihren Gedanken nach. Früher war sie immer mit ihrem Papa hier gestanden. Trotz der Kälte hatten sie die Vögel ewig beobachtet. In dieser Zeit hatte sie am meisten mit ihm geredet. Er hatte ihr beigebracht, die Vogelarten zu unterscheiden. Und sie hatte ihm von der Schule oder von Büchern erzählt. Den einzigen beiden Themen, bei denen sie mehr vorzuweisen hatte als ihre kleine Schwester.

Ein Seufzer entfuhr ihr und bildete Wolken vor ihrem Mund. Wie sehr sie es vermisste, jemanden zum Reden zu haben.

Ihr Blick fiel auf den kleinen, halb eingeschneiten Zwerg. Er war zwar keine gute Unterhaltung, aber immerhin ein bisschen Gesellschaft. Vorsichtig wischte sie ihm die Schneehaube vom Kopf. „Damit dir dein Kopf nicht einfriert“, sagte sie lächelnd. So sehr ihr Vater die Figuren auch gehasst hatte, er hatte es trotzdem nicht übers Herz gebracht, sie einfach wegzuwerfen.

Plötzliche durchlief sie ein warmer Schauer. Ihre Hand, die sie auf den Gartenzwerg gelegt hatte, fühlte sich trotz des kalten Schnees auf einmal ganz heiß an. Sie spürte ein leichtes Kribbeln in den Fingern.

Erst noch dachte sie, dass sie sich getäuscht hatte, weil der Schnee einfach so kalt war.

Doch ihre Hand schien zu glühen.

„Wie ich es schon einmal bei Nathanael gesehen hatte“, schoss es ihr sofort durch den Kopf.

Außerdem ging ein glitzernder Schein von ihrer Haut aus. Erschrocken zog sie ihre Finger von dem Gartenzwerg weg und schüttelte sie. Es fühlte sich an, als hätte sie ihre Hand ins Feuer gelegt, allerdings hatte es nicht wehgetan. Im Gegenteil, das Kribbeln war sogar fast angenehm gewesen. Doch so schnell wie es gekommen war, verschwand das Gefühl auch wieder.

Evanna sah ihre Hand genauer an. Sie wirkte wieder ganz normal. Nichts tat weh, nichts glühte mehr. Sie war nur ungewöhnlich warm. Es war ein wenig so, wie wenn ihre Hände oder Zehen im Winter fürchterlich kalt waren und dann auf einen Schlag wieder richtig warm wurden.

Doch dabei hatte ihre Haut noch nie so seltsam geschimmert. Sie drehte ihre Hand noch einmal um, konnte aber einfach nichts Außergewöhnliches erkennen.

Da bemerkte sie eine Bewegung neben sich auf der Bank. Sie wandte den Blick von ihrer Hand ab und sah nach rechts: Der Zwerg hatte seinen Kopf gehoben und schaute sie an!

Schnell schloss sie die Augen. Halluzinierte sie etwa? Sie schüttelte den Kopf, während sie langsam bis drei zählte. Dann öffnete sie ihre Augen wieder.

Aber sie hatte sich nicht getäuscht. Der Zwerg sah sie tatsächlich mit seinen kleinen, schwarzen Augen an. Und da! Jetzt schüttelte er sich den restlichen Schnee von seiner grünen Hose und dem roten Oberteil.

„Puh ist das kalt!“, schimpfte er mit tiefer, näselnder Stimme. „Seit Wochen liegt schon dieser eiskalte Schnee auf mir herum! Fürchterlich!“

Er wandte seinen Kopf zu Evanna, die ihn noch immer ungläubig anstarrte. Sein Blick wurde ein wenig freundlicher als er sagte: „Jetzt schau doch nicht so! Das sollte ja kein Vorwurf sein! Mir gefällt die Aussicht hier doch echt gut. Aber dieser Schnee… Dafür hab ich auch einfach nicht die passenden Klamotten an.“ Er deutete auf die verblassten Flecken seiner Hose. „Ich geh jetzt besser irgendwo hin, wo nicht ganz so viel von diesem kalten Zeug liegt.“ Prüfend sah er sich in dem verschneiten Garten um. „Vielleicht unter die Hecke dort…“ Er zeigt auf das blattlose Gestrüpp, das im Sommer eine herrliche grüne Hecke war. „Du hast doch nichts dagegen, oder?“

Evanna starrte den Zwerg mit offenem Mund an.

„Das seh' ich jetzt einfach mal als ja…“, meinte der frech und hüpfte von der Bank. Das erschreckte die beiden Spatzen, die in der Zwischenzeit wieder zum Vogelhäuschen gekommen waren, so sehr, dass sie aufgeregt davonflogen.

Dann stapfte der Zwerg durch den Schnee in Richtung besagter Hecke. Oder eigentlich wühlte er mehr, als dass er ging, denn er war so klein, dass er bis zum Hals im kalten Weiß verschwand. Man konnte nur seine Mütze sehen, wie sie langsam zur anderen Seite des Gartens wackelte. Schließlich tauchte auch der Rest des Zwerges wieder auf, als er die Zweige der Hecke erreicht hatte, wo nur noch wenig Schnee lag.

„Oh – und Danke fürs Aufwecken!“, rief er ihr noch über die Schulter hinweg zu, bevor er im Gestrüpp verschwand.

Minutenlang starrte Evanna auf den Fleck in der Hecke, von welchem ihr gerade eben noch ein Gartenzwerg zugewunken hatte, der davor eindeutig noch nie geredet oder sich bewegt hatte.

Dann blickte sie auf die Bank zurück. Dort, wo der Gartenzwerg gestanden hatte, lag kein Schnee. Ein Beweis dafür, dass sie sich nicht alles eingebildet haben konnte. Aber ein sprechender Gartenzwerg – das war nicht möglich!

„Ich werde verrückt. Langsam aber sicher werde ich verrückt“, war Evannas einzige Erklärung dafür. „Ich halluziniere. Wenn ich nicht aufpasse, muss ich ins Irrenhaus. Ich bin verrückt…“ Doch sie konnte noch immer die Spur sehen, die der kleine Wicht im Schnee hinterlassen hatte.

Wie in Trance wandte sie sich um, ganz langsam, und machte sich auf den Weg zurück ins Haus. Immer wieder warf sie einen Blick über die Schulter, zu der steinernen Bank. Sie hoffte zu sehen, dass der Gartenzwerg darauf stand. Unbewegt wie immer.

Doch da war nur der leere Fleck.

Im Haus angekommen hinterließ sie überall auf dem Boden Pfützen vom Schnee, doch das bemerkte sie gar nicht. Noch immer lief ihr Hirn auf Hochtouren: Wie war das möglich? Ein sprechender Gartenzwerg? So etwas gab es nicht!

Mechanisch ging sie die Treppen hinauf, Stufe für Stufe, in ihr Zimmer. Sie fühlte sich wie ein Schlafwandler.

Als sie sich dann in ihr Bett legte, brach sie schließlich in Tränen aus.

„Ich hab Papas Verschwinden scheinbar doch nicht so gut verkraftet, wie ich immer gedacht hatte. Jetzt werden sie mich wohl bald in die Psychiatrie stecken!“, schluchzte sie verzweifelt. Konnte es sein, dass ihr ihre Sinne solch einen Streich spielen konnten? Und das schon zum zweiten Mal innerhalb so kurzer Zeit?

Evanna ließ das Abendessen ausfallen, so sehr hatte sie Angst, man könnte ihr ihre Verrücktheit ansehen.

Ihr Gehirn suchte immer noch nach plausiblen Erklärungen. Alles ließ sich mit Logik erklären! Doch jetzt kam sie einfach nicht weiter.

Was war das für ein Kribbeln in ihren Händen gewesen? Und das seltsame Glitzern? „Das war der Schnee und die eisige Kälte“, versuchte sie sich einzureden, während sie sich im Bett auf die andere Seite drehte.

Aber wohin war dann der Zwerg verschwunden?

Es machte einfach keinen Sinn!

Wieder kamen ihr die Tränen. Was, wenn sie wirklich verrückt wurde?

Zwischen ihren Schluchzern hörte sie irgendwann, es war schon weit nach Auroras Schlafenszeit, die kleinen Füße ihrer Schwester die enge Treppe zu ihr hinauf tapsen. Die Tür ging auf und Aurora schlich sich leise in das Zimmer. Wortlos legte sie sich zu ihrer großen Schwester unter die Decke und lies sie einfach weinen.

Früher hatten sich die beiden Geschwister häufig gestritten. Evanna hätte Aurora niemals von ihren Probleme erzählt oder gar vor ihr geweint. Da hätte sich Aurora beim nächsten Streit gleich über sie lustig gemacht. Doch seit Leanders Verschwinden hatte auch das sich geändert. Die beiden Mädchen stritten nur noch selten. Evanna hätte nie gedacht, dass eine Lücke den Zusammenhalt stärken konnte.

Als sie sich nun langsam wieder beruhigte und ihre Schluchzer weniger wurden, fragte Aurora: „Was ist denn los mit dir?“

Evanna versuchte zu lächeln, woran sie kläglich scheiterte. „Ach…“, seufzte sie. Am liebsten hätte sie ihrer kleinen Schwester von dem Gartenzwerg erzählt. Manchmal half es Dinge auszusprechen. Doch Aurora hätte es vermutlich für ein Märchen gehalten, das sie nur an Leander erinnern würde. Also schluckte sie die Worte hinunter.

Schweigend lagen die Schwestern nebeneinander.

Aurora war schon bald eingeschlafen, Evanna aber lag noch lange wach. Sie hörte Aurora zu, wie sie leise und ruhig atmete. Doch sie selbst konnte nicht schlafen. Immer und immer wieder musste sie an den Vorfall im Garten denken. Wie der Zwerg nicht nur einfach verschwunden war, sondern sogar mit ihr gesprochen hatte. Auch das seltsame Glühen ihrer Hände ließ ihr keine Ruhe. Was war das gewesen? Hatte sie ihn etwa dadurch zum Leben erweckt? Das hatte der Zwerg schließlich selbst gesagt.

Unwirsch unterbrach sie ihren eigenen Gedanken. Ein Zwerg konnte nicht sprechen!

Konnte es sein, dass ihr ihre Sinne – nach dem Vorfall mit Nathanael und dem Spatz – schon zum zweiten Mal einen Streich gespielt hatten?

Da erinnerte sie sich wieder an die beiden Spatzen, die aufgeregt davongeflattert waren, als der Zwerg zur Hecke gelaufen war. Waren die Vögel einfach ohne Grund weggeflogen? Oder waren sie vielleicht doch vor dem Zwerg erschrocken?

Als sich ihre Gedanken letztlich nur noch immer wieder im Kreis drehten, fiel sie schließlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Am nächsten Morgen erwachte Evanna neben Aurora, mit dem Entschluss, niemandem von dem Zwischenfall mit dem Zwerg zu erzählen. Endlich hatte sich ihre Familie an ein Leben ohne Leander gewöhnt. Endlich hatten sie wieder fast so etwas wie einen Alltag. Da wollte sie nicht mit ihren Halluzinationen alles verderben.

Und jetzt, da sie eine Nacht darüber geschlafen hatte, war sie sich auch gar nicht mehr sicher, ob das wirklich alles so geschehen war… Das Kribbeln in ihren Händen war eindeutig vom Schnee gekommen. Und vielleicht hatte gar kein Gartenzwerg auf der Bank gestanden. Wenn sie genauer darüber nachdachte, war sie sich beinahe sicher, dass sie den Schnee nur von der Bank gewischt hatte und nicht von der Mütze eines Steinzwerges.

Kapitel 3

Der Brief

Mittags kam Evanna nach Hause. Heute war der letzte Schultag vor den Pfingstferien gewesen und ausnahmsweise freute auch sie sich auf die Ferien.

Die viele freie Zeit wollte sie dazu nutzen, einige Bücher zu lesen, die sich schon auf ihrem Nachttisch und dem Boden neben ihrem Bett stapelten. Außerdem versprach der Wetterbericht in den nächsten Tagen viel Sonne; ein perfekter Zeitpunkt, um Ferien zu haben.

Zufrieden lächelnd betrat sie also das Haus und ging durch den Flur zielstrebig in die Küche, um zu sehen was es zum Mittagessen gab. Kaum hatte sie den Raum betreten, drehte sich ihre Mutter, die gerade am Herd stand, zu ihr um: „Heute ist ein Brief für dich gekommen.“

Evanna stutze. Augenblicklich verwandelte sich ihre Fröhlichkeit in Neugierde. Wer sollte ihr einen Brief schreiben?

Das Erste, woran sie denken musste, war, dass es eine Nachricht von ihrem Vater sei. Die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt. Vielleicht war er doch mit seinen Freunden verreist. Ein großes Abenteuer erleben. Und jetzt plagte ihn das schlechte Gewissen, weil er seine Familie im Stich ließ.

Schon im nächsten Moment bemerkte sie, wie absurd dieser Gedanke war. Ihr Vater war zu vernünftig für solche Taten.

Aber vielleicht war er entführt worden und hatte es erst jetzt geschafft, eine Nachricht zu verschicken.

Schnell mischte sich die Logik in Evannas Gedanken ein und zügelte ihre Fantasie. Warum sollte er ausgerechnet ihr schreiben? Sie waren meist gut miteinander ausgekommen, das stimmte schon, aber mit Aurora hatte er sein Zeit immer besonders gerne verbracht. Und eigentlich wäre es nur logisch, wenn er sich bei Alice melden würde.

Doch noch immer wünschte sie sich so sehr, ihren Papa bald wieder zu sehen. Und die Hoffnung wollte nicht logisch denken.

Als sich Evanna den Brief, der auf dem Küchentisch lag, genauer ansah, schwand ihre Zuversicht wieder. Auf dem Umschlag war mit blauer Tinte ein Wappen gedruckt. Es zeigte zwei aufgerichtete Löwen, die sich gegenseitig anbrüllten. Zwischen ihren Beinen befand sich ein großes A. Auch Evannas Adresse war in dunkelblauer Tinte geschrieben. Als Absender entdeckte sie nur ein einziges Wort: „Angleridge“. Ein Wort, das Evanna noch nie gehört hatte.

Was hatte das wohl zu bedeuten? Warum sollte ihr Vater einen Brief schreiben und dann nicht erkenntlich machen, dass er der Absender war?

Plötzlich kam ihr ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn man Leanders Leiche gefunden hatte? Und das war die offizielle Mitteilung an die Familie? Schließlich sah der Umschlag – und vor allem das Wappen – so förmlich, ja geradezu amtlich, aus.

Bevor Evanna bei dem Gedanken aber richtig übel werden konnte, setzte sich ihre Vernunft durch: Solche Nachrichten würden sicher persönlich überbracht werden. Und doch auch nicht einer Jugendlichen, sondern der Ehefrau.

Etwas beruhigt sah sie sich den Brief nochmal an, doch sie konnte keinen anderen Hinweis auf den Absender finden.

Nervös riss sie schließlich den Umschlag auf, während ihre Mutter sich wieder zum Herd gedreht hatte, jedoch immer wieder neugierige Blicke zu ihr warf.

Langsam las sich Evanna Zeile für Zeile durch. Der Brief war nicht von ihrem Vater. Und er hatte auch sonst nichts mit Leander zu tun. In ihm stand Folgendes:

Sehr geehrte Miss Evanna Athos

Es freut mich sehr Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Sie aufgrund Ihrer herausragenden schulischen Leistungen für den Besuch der „Angleridge School“ auserwählt wurden. Ab dem kommenden Schuljahr genießen sie das Privileg in unser ehrwürdigen Institution unterrichtet zu werden.

Die Angleridge School ist ein privates Internat in Wales, welches das Wissen und Können der besten europäischen Schüler fördern und intensivieren möchte. Dabei haben wir uns vor allem auf die Bereiche der englischen Sprache und des wirtschaftlichen und politischen Verständnisses spezialisiert.

Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die begabtesten Kinder und Jugendlichen Europas auszuwählen und dafür zu sorgen, dass sie eine einwandfreie schulische Ausbildung erhalten.

Auch bei ihrem zukünftigen beruflichen Werdegang unterstützen wir unsere Schüler tatkräftig, sodass es für jeden Jugendlichen eine Ehre ist, unsere Schule zu besuchen.

Durch Ihre besonders guten Zensuren im Fach Englisch wurden Sie außerdem für das Stipendium von „English for Europe“ ausgewählt. Diese Stiftung, die sich für das Erlernen der englischen Sprache im europäischen Ausland einsetzt, übernimmt Ihre gesamten Schulgebühren sowie alle weiteren anfallenden Kosten (Anfahrt, Schuluniform, Lehrmittel, usw.).

Bitte geben Sie mir innerhalb der nächsten zwei Wochen Bescheid, dass sie diese Einladung erhalten haben und unsere Schule besuchen werden, damit wir Ihnen rechtzeitig nähere Informationen sowie Ihre Reiseunterlagen zusenden können.

In Erwartung auf Ihre positive Antwort verbleibe ich, mit freundlichen Grüßen

Oscar Severin

Schulleiter

Evanna war so überrascht, dass sie den Brief noch mal von vorn durchlesen musste.

Dann sah sie zu ihrer Mutter, von der sie schon angespannt beobachtet worden war.

„Es ist eine Einladung“, erklärte Evanna, noch immer ganz verwundert. Alice blickte mindestens ebenso verwirrt. Vermutlich hatte auch sie insgeheim auf eine Nachricht von Leander gehofft.

„Eine Einladung? Wofür?“, fragte sie schließlich.

Evanna reichte ihr den Brief.

Während sie selbst die Information nun langsam verdaut hatte und sich jetzt ein Lächeln auf ihr Gesicht schlich, runzelte ihre Mutter beim Lesen die Stirn.

„Was meinst du?“, fragte Evanna vorsichtig.

Alice hatte den Brief zu Ende gelesen und zuckte mit den Schultern, unschlüssig was sie sagen sollte. „Ich freue mich für dich“, begann sie. „Und ich bin unglaublich stolz auf dich.“ Langsam begannen ihre Augen zu strahlen, der Stolz einer Mutter konnte nicht unterdrückt werden. Doch irgendetwas schien sie dennoch unglücklich zu machen.

Ihre Lippen zuckten und verzogen sich zu einem gequälten Lächeln: „Eine der besten Schülerinnen Europas! Und doch, es bedeutet nichts anderes, als dass du uns verlässt.“

Noch überwog Evannas Stolz und Freude über die Einladung. Doch allein beim Blick auf die Besorgnis ihrer Mutter verflog diese anfängliche Euphorie und erste Zweifel belagerten ihre Gedanken. Ihr Herz zog sich zusammen bei der Vorstellung, ganz allein in Wales zu stehen. Auf einer fremden Schule zu sein, während sie Aurora und ihre Mutter allein zurückließ. Schon jetzt sah sie bildlich vor sich wie sie in den Flieger stieg, während Aurora ihr hinterherrief, sie solle dableiben.

Doch andererseits (ihr Herz begann augenblicklich schneller zu schlagen) könnte sie in Wales vielleicht endlich Freunde finden. Etwas, das ihr hier in Deutschland nicht mehr gelingen konnte, zu sehr hatte sie sich selbst ins Abseits gestellt.

Aber war das nicht egoistisch?

Oh, wie Evanna Entscheidungen hasste! Ständig hatte sie Angst, irgendjemanden zu enttäuschen. Sie konnte doch immer nur die falsche Entscheidung treffen.

Meistens umging sie Entscheidungen einfach. Doch jetzt war das natürlich unmöglich. Entweder sie blieb und ignorierte diese einmalige Chance. Oder sie würde ebendiese nutzen, müsste dafür aber ihre Familie verlassen.

In der sonnendurchfluteten Küche herrschte lange Zeit Schweigen. Man hörte nur die Uhr, die über dem Fenster an der Wand hing.

Tick, Tack.

Tick, Tack.

Tick, Tack.

In diesem Augenblick kam Aurora durch die Küchentür. Sie bemerkte sofort die angespannte Stille und fragte panisch: „Was ist denn los?“.

Unglücklich verzog Evanna das Gesicht. Am liebsten hätte sie ihrer kleinen Schwester gar nichts von der Einladung erzählt. Aurora war unglaublich empfindlich wenn es um Veränderungen ging. Vor allem seit Leanders Verschwinden.

Doch Evanna wollte sie nicht anlügen oder ihr halbe Wahrheiten erzählen. „Ich habe einen Brief bekommen“, begann sie also und erklärte ihr anschließend zögernd, was in diesem stand.

Auroras kleine Augen wurden immer weiter. Man konnte sehen, wie ihr Hirn arbeitete, während Evanna erzählte. Als diese geendet hatte, meinte sie schließlich: „Das heißt, du verlässt uns?“ In ihren Augen sammelten sich die ersten Tränen, bildeten kleine Teiche, die nur darauf warteten, dass ein Damm brach.

In diesem Moment wurde Evanna bewusst, dass sie ihre kleine Schwester nicht verlassen konnte. Schlimm genug, dass sie keinen Vater mehr hatte. Und wer weiß, ob sie jemals wieder einen haben würde. Da sollte nicht auch noch die große Schwester verschwinden.

Bevor Evanna das aber sagen konnte, hatte ihre Mutter schon das Wort ergriffen. „Evanna verlässt uns doch nicht für immer“, sagte sie mit belegter Stimme und versuchte sich an einem aufmunternden Lächlen.

Aber Evanna hatte genug gesehen von Auroras entsetzten Gesichtsausdruck. Schnell sagte sie: „Stimmt. Ich werde euch überhaupt nicht verlassen.“

Im ersten Moment reagierte weder Alice noch Aurora, also wiederholte Evanna etwas lauter: „Ich geh nicht hin. Ich werde dieser Schule absagen.“

Jetzt konnte sie erleichtert beobachten, wie sich Auroras Zornesfalten glätteten und sich ein kleines, unsicheres Lächeln auf ihr Gesicht schlich.

Ihre Mutter schien sofort ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Sie hatte immer versucht, ihre Töchter selbst entscheiden zu lassen. Schließlich wollte sie selbständige Mädchen erziehen. So blieb ihr also nichts anderes übrig als schweren Herzens Evannas Entscheidung zu hinterfragen: „Was? Aber… Dir ist klar, was für eine tolle Gelegenheit das ist? Dort wirst du besser gefördert als auf unserem städtischen Gymnasium.“ Ihr Argument klang nur halbherzig, dennoch erntete sie dafür einen wütenden Blick von Aurora.

Das war Evanna nicht entgangen.

Natürlich musste sie ihrer Mutter in dieser Hinsicht recht geben. Vielleicht könnte sie sich in Wales auch etwas von dem mysteriösen Verschwinden ihres Vaters ablenken. Und vielleicht könnte sie versuchen, Freunde zu finden. In Wales würde niemand sie kennen, da könnte sie noch mal ganz von vorn anfangen. (Obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie das überhaupt wollte.)

Doch ein Blick auf Aurora bekräftigte Evanna in ihrer ersten Aussage. Also fragte sie, fast schon herausfordernd: „Und was wenn Papa kommt? Glaubst du, ich will hunderte Kilometer weit weg sein, wenn ich ihn endlich wiedersehen könnte?“

Vorsichtig setzte ihre Mutter an: „Glaubst du denn wirklich, dass…“

Evanna ließ sie nicht ausreden. „Natürlich glaube ich das!“, stieß sie zornig hervor. Niemals würde sie vor Aurora eingestehen, dass auch sie sich nicht mehr sicher war, ob sie ihren Vater jemals wiedersehen würde.

Sie drehte sich zu ihrer kleinen Schwester und sagte feierlich: „Ich werde bei dir bleiben.“

Ein breites Grinsen, das mindestens von einem Ohr zum anderen reichte, erschien auf Auroras Gesicht.