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Das berauschende Finale der abenteuerlich-orientalischen High-Fantasy-Dilogie
Der junge Dieb Ilya kehrt nach Jahren der Abenteuer zurück in seine Heimat Shams. Bei sich hat er Leianna, deren Magie so mächtig ist, dass Ilya lange gezögert hat, ob er das Risiko eingehen kann, sie mit nach Hause zu bringen. Aber sie könnte auch die größte Chance für die Menschen dort sein, deren Land gleich von mehreren Feinden bedroht wird. Und zudem kann Ilya sich inzwischen ein Leben ohne Leianna an seiner Seite nicht mehr vorstellen. Doch als sie seine so schroffe wie schöne Heimatstadt erreichen, ist die Not weit größer, als er vermutet hat, und die Zahl ihrer Feinde ebenso. Gejagt von einem mächtigen Dämon und einem Assassinen der Schattenreiter beginnt für beide ein Wettlauf gegen die Zeit, wollen sie sein Land und ihrer beider Liebe retten ...
Eine Welt, so opulent wie bei Sarah J. Maas, zwei Helden, so schlagfertig und liebenswert wie bei Jonathan Stroud, ein Setting, so exotisch wie bei Tahereh Mafi.
Die Everlasting-Reihe:
Everlasting Fate – Ein Reich aus Silber und Magie (Band 1)
Everlasting Fate – Ein Reich aus Feuer und Wind (Band 2)
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Seitenzahl: 432
Veröffentlichungsjahr: 2025
Amelia Cadan
Ein Reich aus Feuer und Wind
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Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-31653-2V001
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Ein Topf, der seinen Deckel gefunden hat.
Jordanisches Sprichwort
Es ist heiß. So heiß, dass die Sonne ihr Spiegelbild in den sandigen Weiten gefunden hat. – Jedenfalls ist das die Erklärung, die Ilya mir gab, als ich das erste Mal diese vermeintlichen Pfützen inmitten der staubtrockenen Wüstenlandschaft sah. Von Weitem wirkt es wie Wasser. Und doch ist es nichts als ein Bad der Sonnenstrahlen in einem Meer aus Trockenheit. Ilya nennt sie hay an-sham’mi – Sonnenspiegel. Einer der Pilger, die sich uns angeschlossen haben, nannte sie Fata Morgana. Ich hatte beide Bezeichnungen noch nie gehört, ganz zu schweigen davon, dass ich je vermutet hätte, es könnte so etwas überhaupt geben.
Ilyas Land ist voll von Rätseln wie diesen und sie faszinieren mich auf dieselbe Weise, wie er selbst es tut. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht etwas Neues lernen würde. In einer Fülle, die meine Vorstellungskraft sich niemals hätte ausmalen können: Pflanzen, die unter häufigem Regen faulen und in der Sonne erblühen; Tage, die heißer sind als jeder Sommer, gefolgt von Nächten, die kalt sind wie der Winter; Tiere, die unter Sand vergraben darauf lauern, dass Beute sich in ihre Nähe verirrt; Weiten mit nichts als Geröll und Felsen und verdorrten Grasbüscheln bis zum Horizont.
Seit jenem verhängnisvollen Tag in Kalinstad hat der Mond sich ein Mal gefüllt und ist wieder zerronnen. Wir haben die Grenze nach Shams längst hinter uns gelassen und doch scheint diese Reise kein Ende nehmen zu wollen.
»Wie weit ist es noch? Bis Ifrahan-Dína?«, frage ich.
In Ilyas Mundwinkeln lauert ein Lächeln. Denn ich stelle diese Frage jeden Tag aufs Neue. Es ist nicht, dass ich der Reise überdrüssig wäre – dazu entdecke ich zu viel Neues. Aber ich möchte wissen, was genau Ilyas Heimat ist. Wo sie ist. Wie sie aussieht. Ich möchte wissen, ob er auf Bäume geklettert ist, als er ein kleiner Junge war, oder ob es, dort, wo er herkommt, gar keine gibt. Welche Spiele man dort spielt. Was man zu Abend isst und welche Getränke man dazu reicht. Wie die Kleidung seiner Mutter aussieht, und ob die Kampfkunst ihm in die Wiege gelegt wurde. Oder ob es in den Häusern seiner Heimat überhaupt Wiegen gibt, in die man kleine Kinder legt, wenn sie schlafen sollen.
Ich möchte all das wissen. Ich möchte wissen, ob ihn die Erinnerung an diese Zeit lächeln lassen würde.
Ich sehne mich aber auch nach Tagen, an denen ich nicht auf ein Kamel steigen und den aufwirbelnden Staub einatmen muss. Oder drinnen in einer Herberge hocke, weil ich die Kraft nicht mehr finde, abends an den Lagerfeuern zu sitzen und den fremden Geschichten zu lauschen …
Doch Ilyas Antwort lautet immer gleich: »Hab Geduld.« Er sagt es mit diesem Ausdruck im Gesicht, als gäbe es kein Land, das weiter weg wäre, und auch keines, das schöner wäre als das Ziel unserer Reise.
Die Sonne ist schon halb hinter dem Felsmassiv am Horizont verschwunden, als sich endlich ein paar der typischen Sandsteinhäuser davor abzeichnen. Oftmals bestehen die Ortschaften hier aus kaum mehr als einem kleinen Gebetshaus für Reisende und einem Brunnen, gerade tief genug, dass man von seinem Grund etwas Wasser schöpfen kann. Aber hier hat sich ein ganzes Dorf zu Füßen des Felsmassivs angesiedelt. Ich erahne einen Bachlauf und auf den sandigen Berghängen reihen sich Olivenbäume aneinander. An dem großen Gästehaus klettern Weinreben mit feuerroten Blättern hinauf. Menschen strömen zu uns, und ich weiß, dass Ilya damit beschäftigt sein wird, den Preis für Unterkunft und Wasser zu verhandeln und die Tiere zu versorgen. Ich bedeute meinem Kamel, in die Knie zu gehen, damit ich absteigen kann. Es hat gedauert, bis ich diesen riesigen Gefährten vertrauen gelernt habe. Aber inzwischen möchte ich sie nicht mehr missen. Ich wäre in der Wüste vollkommen verloren ohne diese ausdauernden, eleganten Tiere.
Ich krame in den Satteltaschen nach meinem Münzbeutel und laufe damit zu Ilya hinüber. Er lächelt mir knapp zu. Bis er die Börse in meinen Händen sieht und seine Miene sich unwillkürlich verdüstert. Er weiß, was ich von ihm will. Und es gefällt ihm nicht.
Auch unsere Gastgeber beäugen mich skeptisch. Lediglich ihre zwei Kinder grinsen neugierig zu mir hinüber. Eines von ihnen, ein Mädchen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, tappt auf mich zu und zupft an meinem Gewand. Dann deutet sie mit einem Funkeln in ihren Augen auf meine Haare.
Ich runzle die Stirn, gehe in die Hocke, um herauszufinden, was sie von mir möchte. Bis Ilya missbilligend mit der Zunge schnalzt und etwas sagt, das ich nicht verstehe. Das Mädchen zuckt vor mir zurück und hastet ins Haus.
Missmutig drehe ich mich zu Ilya herum, der den Eltern der Kleinen fünf Goldmünzen für unsere Unterkunft und Verpflegung in die Hand drückt und anschließend stumm eine Hand nach mir ausstreckt. Ich greife danach, nicht ohne zu fragen: »Warum warst du so harsch zu ihnen?«
»Weil sie es bei niemand anderem gewagt hätten, ihn einfach zu berühren. Dann sollten sie es bei dir auch nicht tun, nur weil du weiße Haarsträhnen hast.«
»Es ist mir lieber, sie stellen Fragen, als mich zu verurteilen«, murmle ich.
»Warte, bis sie alt genug sind, um zu wissen, wie das geht. Dann werden sie urteilen wie jeder andere.«
»Wieso bist du nur so bitter?«, frage ich leise.
Er hält inne, sieht mich an, lässt Herzschläge stumm dahinziehen, bevor er fragt: »Du bist hier, um mich darum zu bitten, dir neues Gift zu kaufen, oder nicht?«
Ich ziehe die Schultern hoch, bemerke mein stummes Eingeständnis und straffe mich wieder. »Du hast es mir versprochen. Auf dem Marktplatz von Kalinstad hast du mir versprochen, dass du mir helfen würdest, meine Magie zu unterdrücken.«
»Ich habe dir versprochen, dass ich dich um deinetwillen begehre. Nicht um deiner Magie willen. Oder weil ich deinen Körper anziehend finde. Sondern weil du mir etwas bedeutest. Und genau deswegen werde ich dir auch nicht helfen, Leianna.«
Ich schlucke. Alle unglaublichen Kämpfe, die ich ihn jemals mit Waffen habe gewinnen sehen, waren doch immer nur ein Manifest seiner zweitbesten Kunst. Sein bestes Talent liegt wahrlich darin, binnen weniger Sätze völlig beiläufig seinen Gegner niederzustrecken. Bis man nicht einmal mehr den Atem findet, ihm zu antworten.
Denn was sollte ich sagen? Dass er lügt?
Dass es doch in seinem Interesse liegen sollte, dass ich niemals wieder einen einzigen Knochen zum Leben erwecke?
Das kann ich nicht tun.
»Du bist nicht einmal bereit, einem Händler zu übersetzen, was ich von ihm möchte?«, frage ich tonlos.
Er schüttelt den Kopf. »Nein.« Dann wendet er sich ab und geht.
Während ich stumm zurückbleibe und ihm nachsehe, wie er da in seiner weiten Gewandung über den rauen Fels schreitet, als schwebe er darüber hinweg.
Hinter mir ertönt ein leises Kichern. Ich drehe mich jäh herum und sehe die beiden Kinder in der Tür stehen und mich beobachten. »Ihr! Kommt her zu mir«, setze ich an, aber kaum, dass ich den Mund geöffnet habe, laufen sie kreischend davon. Ihr Vater wirft mir vom Brunnen her einen mürrischen Blick zu.
Noch einmal sehe ich zu Ilya hinüber. Aber er beachtet mich nicht. All seine Aufmerksamkeit richtet sich darauf, dass jeder Unterkunft und Verpflegung findet, allen voran die Kamele. Martha hilft Siman aus dem Sattel. Jasin nimmt den Tieren Gepäck und Zaumzeug ab.
Er ist der einzige Fenestrer in unserer kleinen Reisegruppe, dem es nichts auszumachen scheint, dass er kein Wort Shamsi spricht. Jasin nimmt es hin, als hätte er sein Leben lang in Stille gelebt. Wer weiß, womöglich hat er das auf seine Art.
Zweifelnd sehe ich zu dem kleinen Platz vor dem Gebetshaus hinüber. Dort wird gerade ein Handkarren entladen, einige Kinder spielen, zwei junge Frauen schäkern mit einem Schankwirt. Es ist alles so vertraut – und doch so fremd zugleich. Die Handkarren hier sind von Weidengeflecht überdacht, sodass sie selbst an einem steilen Abhang keine Ware verlieren können. Das Kinderspielzeug sieht aus wie ein Kamel mit Rollen aus Ton anstelle von Füßen. Und die beiden jungen Frauen ziehen selbst bei dieser Hitze dampfenden Tee einem kühlen Wein vor.
Wir sind inzwischen so tief in der Wüste, dass ich kaum noch etwas Fenestrisches entdecken kann. Niemand hier führt ein gerades Langschwert mit sich, selbst die Männer sind in lange Roben gekleidet anstelle von Reithosen und kein einziger von ihnen trägt Bart. Anstelle des Pferdewieherns höre ich allenfalls die mürrischen Laute eines Esels.
Womöglich ist Ilya an diesem Ort der einzige Mensch, der meine Sprache übersetzen kann. Der einzige Mensch, der mir dabei helfen kann, etwas zu erhandeln, zu erfragen, zu erfahren. Ohne seine Hilfe bin ich nichts als ein Fisch in den Dünen.
Ich fasse mir dennoch ein Herz, trete auf die zwei jungen Frauen zu und frage: »Sprecht Ihr Fenestrisch?«
Eine von ihnen blickt betreten zu Boden, die anderen lächelt stirnrunzelnd. Letztere sagt etwas, das ich nicht verstehe, und zuckt hilflos mit den Schultern. Ich bedanke mich, auch wenn sie es wohl nicht verstehen.
Vielleicht probiere ich es bei den Männern mit dem Handkarren dort drüben?
Auf halbem Weg dorthin passiert mich der Schankwirt mit einem Tablett voll herrlich duftender Speisen. »Sprecht Ihr vielleicht Fenestrisch?«, rufe ich ihm zu, er blinzelt verwirrt und läuft an mir vorbei, als hätte er sich meine Stimme nur eingebildet. In meinem Rücken höre ich die jungen Frauen tuscheln und unwillkürlich frage ich mich, was sie wohl gerade sagen. Reden sie über mich? Noch bin ich in Hörweite, wenn ich nur ihre Sprache verstehen könnte, wüsste ich es. Aber ich habe keine Ahnung.
Mir kriecht ein Gefühl von Bedrängnis den Nacken hinauf. Diese eiskalte Einsamkeit, wenn man mitten unter Menschen so allein ist wie an keinem noch so abgelegenen Ort.
Ich fasse mir ein Herz und gehe hinüber zum Handkarren. Die Männer werfen mir skeptische Blicke zu, mustern mich und meine Kleidung mit Argwohn. »Sprecht Ihr Fenestrisch?«, frage ich vorsichtig.
Einer von ihnen schüttelt missbilligend den Kopf. Als wäre meine Frage eine Beleidigung.
Da ertönt hinter mir eine altbekannte Stimme. Die Mienen der Männer verdüstern sich weiter, aber sie deuten auf eines der Häuser in zweiter Reihe.
»Komm mit«, sagt Ilya. Ich spüre ein leises Zupfen am Ärmel meiner Kleidung und wende mich zu ihm um. Mit langen Schritten hält er geradewegs auf das Haus zu, auf welches die Männer gewiesen haben, und ich habe Mühe, ihm zu folgen.
»Was hast du zu ihnen gesagt?«, will ich wissen, während ich hastig zu ihm aufschließe.
»Ich habe sie gefragt, ob es hier einen Arzt gibt oder einen Kräuterkundigen.«
»Einen Arzt?«
»Wenn überhaupt in diesem Ort jemand das hat, was du willst, dann ein Arzt.«
»Was … ist ein Arzt, Ilya?«
Er bleibt stehen, reibt sich über die Stirn und sagt: »Ein Heiler. Nur … ohne Magie. Wie ein Bader oder ein Apotheker – allerdings wesentlich kompetenter.«
»Warum sollte er Magiegift besitzen?«
»Weil es in leichten Fällen gegen Dämonenpest helfen kann. Sofern es den Patienten nicht erst recht umbringt.« Er fährt zu mir herum, sieht mich an, voller Wut in den Augen, in der Haltung, in jeder angespannten Muskelfaser. »So, wie es dich umbringt, Leianna.«
Ich presse die Lippen aufeinander, um nichts zu erwidern. Er hat kein Recht dazu, immer und immer wieder mit mir darüber zu streiten. Ich bin es leid. Ich will es nicht.
Stattdessen frage ich: »Wirst du nun für mich übersetzen? Oder nicht?«
»Wenn es dich davon abhält, jeden Ahnungslosen in diesem Dorf zu fragen, ob er Fenestrisch spricht, dann ja!«, sagt er, läuft weiter, ohne mich auch nur anzusehen.
Ich kralle meine Hand in den Stoff über seiner Schulter, will ihn davon abhalten, einen einzigen weiteren Schritt zu tun, ohne mir wenigstens zuzuhören. »Was soll ich denn machen, Ilya? Ich spreche ihre Sprache nicht. Ich verstehe nicht, was sie sagen! Du bist der Einzige, der mir helfen kann, und du hast nichts Besseres zu tun, als mich immer und immer wieder zurückzuweisen!«
Er zuckt vor mir zurück. Starrt auf die Hand, durch die eben noch die kühle Seide seiner Kleidung geronnen ist, als hielte ich eine Waffe darin umschlossen. »Lass das«, sagt er. Und ich weiß selbst nicht recht, was er damit meint.
Seit den Geschehnissen in Kalispell ist er … ein anderer. Nicht immer. Nur manchmal. In den Momenten, in denen die Erlebnisse ihn einholen, als wären sie gerade erst geschehen und er sähe sie noch immer leibhaftig vor sich. Jedenfalls vermute ich das. Aber ich weiß es nicht – weil er nicht darüber spricht. Nicht mit mir. Und auch mit sonst niemandem.
Es verletzt mich, dass er es nicht tut. Dass er glaubt, sich mir nicht anvertrauen zu können. Gleichzeitig habe ich kein Recht, ihm das vorzuwerfen. Immerhin … habe ich selbst Anteil daran. Ich habe ihn zusehen lassen, wie ich Zahllose vor seinen Augen ermordet habe. Also warum sollte er ausgerechnet mit mir darüber sprechen wollen?
Es ist mitten in der Nacht. Ich höre Ilyas gleichmäßige Atemzüge am anderen Ende des Deckenlagers. Er ist eingeschlafen. Nach einem Abend voller Wortlosigkeit hat er mich endgültig der Stille überlassen.
Ich stehe auf, tappe hinüber zu dem Päckchen, das Ilya – mit mir im Schlepptau – gekauft hat. Der Arzt hat das Magiegift vor meinen Augen zubereitet, aber ich habe kaum eine der Zutaten wiedererkannt. Die kleinen Phiolen klingeln unter meinen Fingerspitzen, und ich sehe ertappt zu Ilya hinüber. Aber er schläft tief und fest.
Beherzt ziehe ich eine der Phiolen heraus, nehme den Stopfen ab und zwinge mir den Inhalt die Kehle hinab.
Mein Körper reagiert darauf, wie ein Leib nur auf Gift reagieren kann: mit Abscheu, Ekel und Widerwille. Mein Mund wird trocken, und ich nutze den letzten Speichel, um die Übelkeit hinunterzuschlucken, die mir die Kehle hinaufsteigt. Meine zitternden Finger bekommen den Stopfen kaum mehr in das teure Glas, und es kostet mich alle Willenskraft, den verbliebenen Inhalt nicht zu verschütten, sondern vorsichtig zurück in das Päckchen zu legen. In zwei Tagen werde ich es wieder brauchen. So lange hält die Wirkung des Gifts für gewöhnlich an.
Mir schwindelt so sehr, dass ich Mühe habe, auf wackligen Knien meinen Weg zurück zum Bett zu überwinden. Als ich es endlich geschafft habe, sinke ich erleichtert auf den Decken zusammen und sehe zu, wie die Wände sich im dämmrigen Mondlicht zu drehen beginnen. Erst langsam. Und dann immer, immer schneller. Die Versuchung ist groß, die Augen davor zu verschließen, aber ich weiß, dass es alles nur schlimmer machen würde. Ich muss abwarten, lange, tiefe Atemzüge nehmen. Hoffen, dass es vorübergeht. Dass ich irgendwann unter der Erschöpfung einfach einschlafen werde …
Ich wache auf. Mir ist eiskalt. Und irgendetwas ist in meinem Magen, das dort nicht hingehört. Oder jedenfalls ist mein Magen dieser Auffassung, sonst hätte ich nicht den bitteren Geschmack von Galle auf der Zunge und Würgekrämpfe hätten mich nicht aus dem Schlaf gerissen. Ich schnappe nach Luft, presse die Lippen aufeinander und krabble so schnell ich kann zum Ausgang hinüber. Ich habe das wettergegerbte Leder der Plane schon zwischen den Fingerspitzen, als eine neuerliche Woge sich durch meinen Körper zieht. Ich schließe die Augen und ignoriere das widerliche Gefühl in meinem Mund, robbe ein letztes Stück bis um die Hausecke und spucke endlich die halb verdauten Speisen in den staubigen Dreck. Wieder und wieder.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dort kauere, ausharre, während die Krämpfe immer neu durch meinen Leib ziehen, obwohl längst nichts mehr da ist, das mein Magen hätte preisgeben können. Ich fühle mich leer. Und mir ist noch immer eiskalt. Wo sind die wärmenden Sonnenstrahlen, die tagsüber dieses Land gänzlich auszutrocknen vermögen?
Ich zucke zusammen, als ich eine schwere Hand auf meinem Rücken spüre, die sanften Gesten, die mir in geschickten Bewegungen die Haare zusammenflechten, damit sie mir nicht über die Schulter fallen können.
»Wann hast du genug gelitten, damit du begreifst, dass du die Vergangenheit nicht ändern kannst, nur, weil du deine eigene Magie vergiftest?«, fragt Ilya.
»Ich tue das hier nicht, um die Vergangenheit zu ändern«, sage ich. »Sondern die Zukunft. Ich will nicht schuld daran sein, dass noch eine einzige Seele von meiner Hand stirbt, Ilya. Das weißt du. Es war in Ordnung für dich. Du hast mir versprochen …«
Seine Hand verlässt meinen Rücken. Und sofort zieht die Kälte an jede Stelle, die er bloßlegt. Sie frisst sich in meine Haut, während Ilya weiter von mir abrückt. »Hör auf, mir zu unterstellen, ich hätte das hier gewollt, Leianna! Ich will es nicht. Ich will nicht, dass du dich selbst zugrunde richtest. Das habe ich nie. Nicht einmal, als du noch eine vollkommen Fremde für mich warst, wollte ich das. Ich habe dir dein Leben gerettet. Wie kannst du annehmen, dass ich jetzt tatenlos zusehe, wie du es wegwirfst? Du bringst dich mit diesem Zeug um, Leianna. Und du erwartest von mir, dass ich das akzeptiere.« Ich sage nichts darauf. Und weil Ilya nicht verlieren kann, bohrt er weiter: »Ist es meinetwegen? Bin ich der Grund hierfür? Tust du das, weil du Angst hast, deine Magie könnte mich verletzen?«
»Ich würde es auch nehmen, wenn du nicht bei mir wärst«, flüstere ich.
Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, ob das stimmt. Aber jede andere Erwiderung würde zu einem Streit führen, der noch viel länger andauert als dieser hier.
Ich weiß nicht, was mir mehr Kraft raubt: Die Tatsache, dass mein Körper das Gift mit jedem Mal mehr ablehnt – oder unsere ständigen Streitereien darum. Ich verstehe, dass Ilya wütend ist. Ich verstehe seine Hilflosigkeit. Aber ich sehe keinen Ausweg. Ich sehe keinen Ausweg angesichts des Wissens, dass ich eine Mörderin bin. Und es immer sein werde. Dass ich es jederzeit ein weiteres Mal werden könnte – wenn ich die Magie in meinem Körper nicht ersticke.
Ich würde mich immer und immer wieder dafür entscheiden, sie einzusetzen, wenn es für Ilya wäre. Komme, was da wolle. Denn egal, wie oft ich das schreckliche Szenario im Kerker von Kalispell wieder in meinem Kopf abspiele – vorwärts oder rückwärts, mit jeder Unze Vernunft, die ich aufbringe; egal, wie oft ich versuche, den Kerkerwachen Gesichter zu geben und Namen: Der Moment, in dem sie die Hand gegen Ilya erheben, ist der Moment, in dem ich ihnen das Leben stehle.
»Du erbrichst dich inzwischen jeden Tag, den du dieses Zeug nimmst. Du bist nur noch ein Schatten deiner selbst, Leianna. Und du warst vorher schon niemand, der besonders viel Gewicht gehabt hätte. Aber jetzt …«
Ich drehe den Kopf. Sehe ihn an und zische: »Das war ohnehin immer deine Sorge, nicht wahr? Dass ich dir nicht genug sein würde. Nicht genug Fleisch an den richtigen Stellen.« Ich beiße mir auf die Zunge, im selben Moment, in dem die Worte an meine eigenen Ohren dringen. Auch wenn sie wahr sind.
Er weicht zwei Schritte vor mir zurück und flüstert: »Du weißt genau, dass du mir damit Unrecht tust.«
»Wenn ich das täte, warum … warum weichst du mir in jeder Nacht aus? Warum scheint dich ein einziger Kuss, eine einzige Berührung von mir anzuekeln, als … wäre ich eine widerliche Kreatur? Warum?« Mir rinnen Tränen aus den Augen. Was sie nicht sollten. Ich habe kein Recht auf Trauer. Ich habe nicht einmal ein Recht auf Wut. Er schuldet mir überhaupt nichts. Und ich verstehe, was er fühlt. Ich verstehe, dass seine Gesellschaft alles ist, was er mir geben kann – und dass es mehr ist, als ich je verlangen könnte. Er hat gesehen, was für ein Monster ich bin. Eines, das ihn beinahe getötet hätte.
Er wendet den Blick ab. Aber ob er mich nun ansieht oder nicht – ich erkenne die Scham so oder so, die in seinen Augen lodert. Es tut mir weh, ihn so zu sehen. Es macht mich hilflos. Und ausgerechnet ich bin die Letzte, die ihm helfen kann.
»Es hat nichts miteinander zu tun. Und das weißt du. Vor wenigen Monden noch hattest du Angst, dass ich nur deinen Körper begehre, und jetzt wirfst du mir vor, dass … dass ich –« Er verstummt. Mitten im Satz bricht er ab und sagt stattdessen: »Dieses Gift bringt dich um. Und du erwartest allen Ernstes, dass ich dir noch dabei helfe, es zu besorgen. Dass ich Geld für deinen langsamen, qualvollen Tod ausgebe und dafür, ihn bezeugen zu müssen.«
»Ich zahle dir die Münzen zurück, wenn es das ist, was du willst«, erwidere ich tonlos.
»Was ich will? Was ich will, Leianna? Ich will, dass du es bleiben lässt! Ich würde die Schatzkammern Il-An-Kahs für dich ausräumen, wenn es nur dazu führen würde, dass du dieses Zeug nicht mehr schluckst.«
»Geld kann mir keine reine Seele kaufen, Ilya.«
»Scheiß auf reine Seelen. Was kümmert mich die verdammte Hölle, wenn die Dämonen doch ohnehin längst unter uns sind? Wenn sich das Leben selbst anfühlt wie das Waten durch die Lava im Herzen der Vulkane Solhems? Gar nichts kümmert es mich. Du kannst noch einmal fünf Dutzend Menschen die Herzen vor meinen Augen herausreißen, und ich würde dennoch nicht zulassen, dass irgendjemand dir ein Leid zufügt. Auch du selbst nicht.« Er steht auf. In einer raschen, fließenden Bewegung, bis er über mir aufragt wie einer der Wüstengeister, die es vermögen, Dünen zu bewegen und Felsen zu spalten. »Ich werde dir nie wieder Magiegift von einem der Händler beschaffen. Ich werde nicht für dich übersetzen, wenn du es selbst tun willst. Ich schwöre, ich werde jede Phiole dieses verfluchten Zeugs, das mir unter die Augen kommt, in den Wüstensand sickern lassen, bis die Sonne es verbrannt hat!«, sagt er.
Und ich tue nichts, als ihn anzusehen und mich zu fragen, wie gleichfalls grausam und entbrannt mein Herz für diesen Menschen sein muss, um mich alle Vernunft und alles Mitgefühl vergessen zu lassen, wenn ich ihn in Gefahr sehe.
Er wendet sich ab. Geht. Verschwindet im Inneren der Herberge. Ich höre das charakteristische Geräusch der Krummschwerter, wie sie in ihren Scheiden verschwinden, und kurz darauf huscht sein Schatten an mir vorüber und verschwindet in der Nacht.
Ich weiß nicht, was er tut. Und ich will es auch nicht wissen.
Jasin dreht sich nach mir um, als ich mich dem Feuer nähere. Seine Instinkte sind besser geworden, seit er mich gebeten hat, ihn zu unterweisen. Trotzdem bin ich mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob er jemals das Ziel erreichen wird, das er vor Augen hat.
Er erhebt sich, verabschiedet sich von Martha, Siman und den drei Pilgern, die wir auf dem Weg nach Shams aufgelesen haben, und tritt zu mir in die Schatten der Nacht. Die Pilger werden in den nächsten Tagen auf die Blaue Handelsroute nach Westen abbiegen, während wir immer weiter der Sonne in den Südosten folgen werden.
»Habt ihr wieder gestritten?«, fragt Jasin leise. Sein Tonfall ist gleichermaßen mitleidig wie tadelnd, und das gefällt mir nicht.
Anstelle einer Antwort ziehe ich einen Scimitar aus seinem Halfter und reiche ihm die Waffe.
Er nimmt sie umständlich entgegen und nuschelt: »Können wir nicht wieder Messerwerfen üben?«
»Wozu etwas üben, das du bereits kannst? Außerdem ist es bis auf den Mondschein stockdunkel.«
»Du sagst doch immer, es ist gut, im Mondschein zu üben. Stärkt die Instinkte … oder so.«
»Ja. Mit Hiebwaffen. Wenn man sein Ziel direkt vor der Nase hat. Auf zwanzig Schritt siehst du überhaupt nichts mehr«, knurre ich, mache einen Satz auf ihn zu und sehe befriedigt, wie er sofort den Scimitar hochreißt. Immerhin. Vor einem halben Mond noch wäre er hilflos auf seinen Hintern geplumpst und von mir weggekrabbelt. Jede Belustigung, die ich darüber früher gewiss verspürt hätte, bleibt heute aus. Ich verstehe nicht, warum er so unbedingt von mir lernen will, ein besserer Mörder zu werden. Als ich ihn danach gefragt habe, sagte er, er sei lieber ein Mörder als tot. Aber ich weiß nicht, ob das tatsächlich zutrifft. Wenn er denkt wie Leianna, dann wäre er lieber tot als ein Mörder …
Ich scheuche ihn vor mir her, wie man es mit mir getan hat, als ich ein kleiner Junge war und mit Übungsstöcken gelernt habe. Ich habe es damals gehasst. Und ich kann zusehen, dass Jasin es jetzt hasst. Aber im Gegensatz zu mir beschwert er sich nicht. Er nimmt es stumm hin. Ich wünschte nur, er würde lange genug durchhalten, bis sich selbst bei mir Erschöpfung einstellt. Ich ertrage den Lärm in meinem Kopf nicht mehr. Mit jedem weiteren Tag wird er lauter. Mein Rachedurst. Meine Kampfesmüdigkeit. Mein Unverständnis für Leiannas verfluchtes Gift. Und mein Wunsch, ihr die Schuldgefühle nehmen zu können. Mein Begehren nach ihrer Berührung und meine absolute Panik davor. Mein Sehnen nach der Heimat. Und meine Unrast angesichts der bevorstehenden Heimkehr. Mein Widerwille, meinem Vater noch einmal unter die Augen treten zu müssen. Und meine Furcht davor, seine Lider könnten bereits für immer geschlossen sein, wenn ich eintreffe.
Dann hätten meine Geschwister niemanden mehr. Außer mir. Mir, dem großen Bruder, der beinahe jeden Sommer und zuletzt sogar den Winter in Fenestrea verbracht hat. Ich sollte mich nicht wundern, wenn Q-ammam sich überhaupt nicht mehr an mich erinnert. Andererseits ist die Kleine vermutlich die Klügste von uns allen … Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass sie am Eingang der Schlucht steht, wenn ich ankomme, und mir zur Begrüßung grinsend ein Glas frisch gebrühten schwarzen Tee hinhält.
Jasin mit Kampfübungen zu triezen, hat leider nicht den erhofften Effekt. Vielmehr habe ich das Gefühl, dass er mich mit jedem Mal, das er seinen Scimitar aus dem Wüstensand aufheben muss, mitleidiger ansieht als zuvor. Trotzdem lässt er mich weiter gewähren, bis er kaum noch gerade stehen kann vor Erschöpfung.
»Hören wir auf«, murmle ich, und lasse mich neben ihm in den Staub sinken.
»Sag mir bitte, dass diese Schinderei nicht umsonst war, und du dich jetzt besser fühlst«, sagt er, reibt sich über die schweißbedeckte Stirn, bis sie so schmutzig ist, dass ich es selbst im Mondlicht noch sehen kann.
»Sie war nicht umsonst. Du wirst besser«, erwidere ich.
Er räuspert sich. »Wie weit ist es noch bis Ifrahan-Dína?«
»Sieben Tage. Dank der Kamele vielleicht weniger.«
»Geht es Marthas Hengst wieder besser?«
Ich nicke. »Ich vermute, sie hat ihm zu viel zu fressen gegeben. Das bekommt Kamelen nicht gut, aber sie sind zu große Schleckermäuler, um zu verzichten. Er wird schon wieder.«
»Du kennst dich wirklich gut mit Tieren aus.«
Ich stehe auf, klopfe mir den Sand von der Kleidung und stecke die Scimitare zurück in ihren Halfter. »Ich habe als Kind mehr Zeit mit den Kamelherden verbracht als mit Menschen.«
Ich wende mich ab, will gehen, als ich Jasin murmeln höre: »Merkt man überhaupt nicht.«
Ich bleibe stehen, werfe ihm einen Blick über die Schulter zu. Er fährt sich verlegen durch die Haare. Schätze, seine sarkastische Bemerkung war nicht für meine Ohren bestimmt … Ich zucke jedoch nur die Schultern und schlendere zurück zur Unterkunft. Unrecht hat er nicht.
Bei Leianna entschuldigen werde ich mich trotzdem nicht. Sie kann nicht erwarten, dass ich zusehe, wie sie sich umbringt. Das kann ich nicht. Und sie sollte auch niemanden bei sich dulden, der so etwas könnte.
Ich hoffe fast, dass sie eingeschlafen ist, als ich die Herberge erreiche. Drinnen ist die Luft stickig und es ist stockdunkel. »Leianna?«
Ich seufze, als sie nicht reagiert. Vielleicht schläft sie ja wirklich schon. Ich nehme eine der Fackeln aus ihrer Halterung und leuchte den Raum ab. Aber das Licht offenbart nur Leere. Und meine Rufe nach ihr verhallen in der Dunkelheit. Ich finde sie nicht in der Herberge. Ich finde sie nicht am Feuer oder bei den Tieren. Sie ist nirgendwo.
Leianna ist fort.
Ich sitze noch an demselben Fleck, an dem Ilyas Wut mich zurückgelassen hat, und starre auf den Horizont. Aus dem flachen, sandigen Grund erheben sich riesige Felsformationen, die sich schroff in die karge Landschaft fügen und jetzt unter dem Schatten des Mondlichts eine geradezu mystische Kulisse erzeugen. Als hätte mein aufgewühltes Inneres so seine äußere Entsprechung gefunden.
Ich weiß nicht, wie lange ich schon dorthin starre, als der erste Funke aufglimmt. Ich halte es noch für ein Trugbild – die Wüste, die mir wieder ihre Streiche spielt –, als schon der nächste auflodert. Und der danach. Es sind winzige, rote Lichtpunkte, die inmitten der schwarzen Schatten auftauchen und dann gen Boden segeln. Wie purpurne Glühwürmchen, die wenige Herzschläge lang die Schwärze durchbrechen, bevor sie leblos herabfallen.
Ich sehe dem Schauspiel zu, bis sich aus den vormals zufälligen Funken ein Bild zu ergeben scheint. Stirnrunzelnd stehe ich auf, sehe hinüber zu dem Feuer, um das sich ein paar Einheimische versammelt haben. Von Ilya fehlt noch immer jede Spur.
Also bleibt mir nichts, als dem merkwürdigen Phänomen selbst auf den Grund zu gehen. Begleitet nur vom leisen Knistern des staubtrockenen Bodens setze ich einen Fuß vor den nächsten, gebannt von dem Spektakel inmitten dieser kahlen Landschaft.
Mit jedem Schritt, den ich tue, habe ich das Gefühl, die Funken würden lebhafter tanzen. Als seien sie meiner Anwesenheit gewahr geworden und wünschten sich, dass ich ihnen näher käme. Der Gedanke lässt mich innehalten – denn Ilya hat mich zahllose Male vor den Tücken der Wüste gewarnt. Davor, dass dieses Land in all seiner rauen Schönheit mir jeden Überlebenswillen abverlangen wird. Ein Tag ohne Wasser bedeutet hier einen Fuß in der Hölle.
Aber was soll schon passieren? Unter dem Mondschein habe ich gute Sicht zurück auf das Lager. Und was können ein paar Funken mir antun? Mir, der Todeshexe von Baal.
Ich verwerfe die Gedanken. Und ich verwerfe die Vorsicht, als der erste Funken sich aus der Nacht löst und auf mich zuhält. Es ist nichts als genau das – ein kleiner, tanzender Lichtpunkt, der vor meinen Augen aufglimmt und wieder verschwindet. Ich strecke die Hand aus, um den nächsten aufzufangen, und tatsächlich sehe ich ihn bis auf meine Handflächen fallen und dort verglühen. Viel zu unbedeutend und klein, um Schmerz zu bereiten.
Ich rieche kein Feuer, keinen Schwefel. Die Luft ist kühl und klar, und ehe ich es mich versehe, bin ich umgeben von einem Strudel purpurner Funken, als umspülte die Wüste mich inmitten der Nacht mit rot leuchtendem Schnee. Ich drehe mich im Kreis und strecke die Hände aus nach den glühenden Körnchen. Mir liegt ein Lächeln auf den Lippen, und ich wünsche mir nur noch, dass der Wind mir eine Melodie spielt zu diesem unerwarteten Augenblick des Glücks.
Bis die Funken mit einem Mal verschwinden. Nachtschwärze, von einem Lidschlag auf den nächsten.
Und ich begreife zu spät, dass ich dem leuchtenden Reigen bis tief in die Felsen gefolgt bin, und nur noch in der Ferne das Flackern des Feuerscheins zwischen den Häuserwänden erahnen kann – bis selbst dieses in pechschwarzem Rauch ertränkt wird.
Erschrocken sehe ich mich um. Und habe nun doch den Geruch von Rauch und Schwefel in der Nase – ohne eine einzige Flamme zu erspähen. Ich begreife zu spät – viel, viel zu spät –, was all das bedeutet. Dass es nur eine einzige Antwort gibt, ein einziges Wesen, das für all das verantwortlich sein kann.
Dämon, fällt es mir tonlos von den Lippen, im selben Moment, in dem sich der erste Schemen eines Flügelpaars glühend aus dem Rauch schält. Einer – und dann ein weiterer. Und noch einer. Bis sich schließlich ein viertes Flügelpaar hinter die anderen schiebt, so viel größer und definierter als alle zuvor. In blutrotem Gleißen thront es über den Felsen, monströser als jeder Mensch, jedes Tier, jedes Wesen, das ich jemals gesehen habe. Sein Schatten verdunkelt selbst die Nacht, und die magischen Federn könnten mit ihrem Glühen noch die Sonne das Strahlen lehren.
Mein Herz erkaltet in meiner Brust, während um mich herum eine Hitze anschwillt, als wäre es helllichter Tag in der trockensten Wüste.
»Magierin«, antwortet eine tiefe Stimme und hallt von den Felsen ringsum wider wie ein Choral.
Ich presse die Kiefer aufeinander und zwinge mich zur Ruhe. Ich bin nicht irgendeine Magierin. Und ich werde mich diesem Wesen nicht zum Fraß vorwerfen wie ein williges Opfer. Wenn an seinen vier glühenden Flügelpaaren ein einziger Tropfen Blut klebt, dann werde ich diesen Dämon jede Seele bereuen lassen, die seinetwegen über die Schwelle ins Jenseits treten musste.
»Du hast dir die Falsche ausgesucht, um dich zu nähren«, antworte ich.
Er kichert. Ein so wohlig tiefer Klang, wie eine menschliche Kehle ihn niemals bilden könnte. Er trägt die Leichtigkeit eines kleinen Jungen genauso in sich wie den Todeshauch einer widernatürlichen Kreatur. »Ich habe mir die Einzige ausgesucht. In der Wüste gibt es ja sonst kaum magische Seelen.«
Ich balle die Hände zu Fäusten. »Du wirst mich nicht anrühren!«
»Und warum nicht?«
Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf die Magie in meinem Körper. Sie muss dort noch irgendwo sein. Tief, tief vergraben unter Gift und Ablehnung und Widerwille muss sie sein. Sie darf mich jetzt nicht im Stich lassen! Auch wenn ich sie verneint habe. Wenn ich diesen Teil von mir in Ketten lege und ihn verleugne – ist er doch immer dort. Dann muss er es auch jetzt noch sein!
Aber … nichts passiert.
Nichts, als dass sich all meine Angst und Unruhe mit Schwindel und Übelkeit mischen und ich zu straucheln beginne unter dem Gefühl aus Verzweiflung und Reue.
Wer hätte … wer hätte dann auch ahnen sollen, dass ausgerechnet jetzt und ausgerechnet hier, inmitten dieser Wüste, ein Dämon vor mir stehen würde?
Werde ich jetzt sterben? So? Hier? Ist das mein Ende? Ist das die Lehre, die das Schicksal mir zugedacht hat – dass ich mit dem Wissen hätte leben müssen, ein kaltherziges Scheusal zu sein, als ohne meine Magie wehrlos zu sterben?
Was würde Ilya nur dazu sagen, sollte er es je herausfinden …
Aber das wird er nicht, nicht wahr? Ist es das, wofür ich der List des Dämons dankbar sein muss – dass er mich so weit fortgelockt hat von den anderen, dass sie nie erfahren müssen, welches Ende ich gefunden habe?
Ich taste ein letztes Mal in den Tiefen meiner Seele nach einem einzigen magischen Faden. Irgendetwas. Aber ich habe alles abgetötet. Und das nur, um meine Schuldgefühle zum Verstummen zu bringen.
Als ich die Augen wieder öffne, rinnen mir heiße Tränen der Verzweiflung die Wangen hinab. Ich schäme mich nicht dafür, ich verfluche nur, dass sie dem Dämon meine Schwäche verraten. Meine Nachtsicht ist gut, doch er sieht so klar, als sei es helllichter Tag.
Aber alles, was ich erblicke, als ich die Lider hebe, ist ein junger Mann, der auf einem Felsen hockt, kaum zwei Schritte von mir entfernt. Fort sind die Flügel und der Rauch und all das Schauspiel aus Glut und Asche. Nur seine blutroten Iriden strahlen stählern auf mich hinab, und die Enden seiner aschfahlen Haare wehen in der zarten Brise des nächtlichen Wüstenwinds um sein schlankes Gesicht. Seine Züge sind unmenschlich makellos und ließen ihn aussehen wie einen Jungen, wären sie nicht so definiert geschnitten. – Und ich hatte angenommen, meine Gestalt wäre ein Irrwitz der Natur.
Es kostet mich Kraft, unter der Musterung des Dämons nicht niederzusinken wie ein Hund mit eingezogenem Schwanz. Aber Ilya hat mich durch eine harte Schule geschickt.
»Was ist mit dir?«, fragt er. Ich sehe, wie seine Lippen sich bewegen. Aber es fällt mir schwer, das Bild mit dem Gehörten zu vereinbaren. Denn noch immer scheinen die Felsen seine Worte mitzusprechen, und seine Stimme ist viel zu tief für sein Antlitz.
»Was sollte mit mir sein?«, gebe ich zurück, versuche, beißend zu klingen, und bin verbittert über das Zittern in meiner Stimme.
»Du verströmst den Duft von Magie wie ein Bazaar den Gestank von Gewürz und Kraut. Folge weiter deinem Weg in den Südwesten und du wirst selbst den niedersten Dämon auf deine Fährte locken, noch bevor er dich am Horizont gesehen hat.« Er legt den Kopf schief und mustert mich. »Aber irgendetwas … stimmt nicht mit dir. Ich rätsle seit sieben Sonnenuntergängen, was es ist. Und dann findest du ausgerechnet so viel Gefallen an meinem kleinen Zaubertrick.« Er schnippt mit dem Finger, die Funken wirbeln auf, für den Bruchteil eines Herzschlags malen sie den Schemen seiner übermächtig dämonischen Gestalt in den Nachthimmel, bevor sie endgültig verschwinden. Wieder kichert er, und dieses Mal jagt mir das Geräusch eine Gänsehaut den Nacken hinab bis zu meinen Fersen.
»Was willst du?«
»Das habe ich dir doch schon verraten. Ich möchte dich töten. Ich möchte den letzten Tropfen magischen Bluts aus deinem Herzen trinken, bis es nichts ist als Fleisch und regloser Muskel, den die Geier vom Sandboden picken. Aber …« Er hält inne, beginnt zu lächeln, dass die Spitzen seiner Eckzähne im Mondlicht aufblitzen. Dann beugt er sich vor, streckt eine Hand nach mir aus, bis sie kaum eine Elle von mir entfernt ist. »Du hast dich vergiftet, oder nicht? – Was kostet dich das, kleiner Mensch? Wie lange wirst du das noch tun können, bis es dich dahinrafft? Glaubst du wirklich, du hättest einen längeren Atem als ich?«
»Als … du?«, frage ich, und spüre nun meinerseits ein verzerrtes Lächeln auf meinen Lippen. »Du glaubst, ich täte das, damit sich kein Dämon von mir nährt?«, frage ich, und das Lächeln verwandelt sich in ein Lachen, das selbst in meinen Ohren klingelt vor Irrsinn.
Die Stimme des Dämons dagegen ist mit einem Mal eiskalt. »Warum solltest du es sonst tun?«
»Weil der größte Unterschied zwischen uns beiden nicht deine Macht ist, Dämon, sondern meine Menschlichkeit. Etwas, das du niemals erlangen wirst, egal, wie viel Magie du aus meinem Leib saugst, bevor ich sterbe. Das Wertvollste wirst du niemals bekommen.«
Er springt von seinem Felsen hinab. Nein, er … fliegt? Sein Körper gleitet durch die Luft wie ein Fisch durch Wasser, und seine nackten Füße erzeugen kein Geräusch, als sie auf dem Boden aufkommen. Dabei überragt mich seine Gestalt erheblich. Ich reiche ihm kaum bis an die Brust, weil selbst seine menschenhafte Erscheinung so viel größer ist, als ich es bin. Er beugt sich zu mir hinab, wie man es bei einem Kind täte, und sein Geruch aus verbrannter Holzkohle, gepaart mit der Wärme eines Lagerfeuers, umhüllt mich. »Wie viele Sommer zählst du, kleiner Mensch? Keine vierzig? Nein, nicht einmal zwanzig? Und nimmst den Mund so voll? Was weißt du über Wert? Was weißt du über Magie?« Er schnippt mit dem Finger, sagt: »Nichts. Sonst würdest du sie nicht wegwerfen. Du würdest sie achten. Es ist das Einzige, das ich an dir achte, Mensch. Es ist der einzige Grund, warum dein wertloses Herz noch in deiner Brust schlägt und nicht bereits zwischen meinen Fingern fault. Also gib auf deine Worte acht, hörst du? Wir möchten nicht, dass ich ungeduldig werde …«
Ich verstehe nicht, was er meint. Bis die Funken mit einem Mal wieder aufstieben, mir der Rauch in die Kehle dringt. Ich huste, verliere das Gleichgewicht und schwanke, wanke, falle – auf samtweiche Asche, die mich in die Höhe trägt. Wie ihn. Ich … fliege. Schwebe. Auf einem Bett aus verbrannter Glut. Und der Dämon mit mir. Er lächelt mich noch immer an, während er das tut. Nur, dass die Flügel, die vorher noch schattenhaft hinter ihm aufglimmten, jetzt in voller Glut vor dem Nachthimmel stehen. Sie strahlen heller als die Sterne. Als blickte ich dem Höllenfeuer entgegen. Als hätte ich den Teufel höchstpersönlich vor Augen und würde von seinen Flügeln fortgetragen. Auf einem seiner Flügelpaare, während die anderen drei sich lautlos durch die Nacht schwingen.
»Was tust du?«, krächze ich, strample instinktiv, auch wenn mir bewusst ist, dass wohl alles, was ich erreichen könnte, ein tiefer Fall auf harten Fels wäre. Aber womöglich wäre dies Gnade – Gnade im Vergleich zu dem Schicksal, das ein wahnsinniger Dämon für mich vorsieht.
»Warten, Menschenkind. Warten, bis dein Körper das letzte bisschen Gift ausgesondert hat. Dann kannst du mir endlich zeigen, was du für wundervolle Magie beherbergst. Ich liebe ein kleines Spiel vor meiner Mahlzeit, weißt du? Und im Gegensatz zu dir habe ich tiefsten Respekt für die Macht in einer so völlig wertlosen Hülle wie deiner. Was gäbe es Reizvolleres, als dass du mir zeigst, wozu du fähig bist, bevor ich mir all deine Magie einverleibe?«
Ich strecke die Hände nach diesem schrecklich schönen Gesicht aus. Ich will es zerkratzen. Ich will ihm dieses zynische Lächeln von den Lippen schlagen. Ich werde ihm zeigen, wozu eine wertlose Hülle wie meine fähig ist. »Ich werde dich töten, Dämon. Du wirst sterben.«
Der Zynismus verschwindet tatsächlich aus seiner Miene. Als hätten meine Worte ihn vertrieben. Aber das Lächeln bleibt zurück, beinahe mitleidig mustert er mich. »Glaub mir, ich wäre dir dankbar, wenn du das könntest. Aber du bist wertlos, Menschenkind. Du lebst nur, damit ich dich töten kann. Es ist deine Bestimmung, ein mächtigeres Wesen zu nähren, wie es die Bestimmung eines Hasen ist, von einem Wolf gerissen zu werden. Und was möchtest du tun, hm? Du schwebst gerade zwei Dutzend Schritt über dem Erdboden. Ich müsste mich nicht einmal anstrengen, um dich zu töten. Weil du nichts bist. Und ich alles bin.«
»Wäre ich eine Heilerin, wärst du längst tot.«
Er lacht. »Oh, aber Heiler gibt es hier nicht mehr. Dafür hat dein Kaiser gesorgt, oder nicht?«
Mir kommt Welynn in den Sinn. So selten ist ihre Magie, dass selbst ein Dämon glaubt, hier in der Wüste vor ihr sicher zu sein.
Er verengt die Brauen und mustert neugierig mein Gesicht. »Du kennst einen?« Seine Augen leuchten auf. Wahrlich, seine blutrot glühenden Iriden erstrahlen wie ein aufloderndes Feuers, und mein Herz macht einen Satz in meiner Brust, weil der Anblick mich so sehr verstört. Einen Lidschlag lang verkrampft mein ganzer Körper sich unter der Gewissheit, dass er recht hat. Er ist alles. Und ich bin nichts.
Aber ich kämpfe gegen das Gefühl an. Ich darf es nicht haben. Ich kann es mir nicht leisten. Ich muss hoffen – wissen –, dass ich ihn besiegen kann.
»Erzähl es mir.«
Ich blinzle. »W-woher…?«
»Scht«, flüstert er. »Keine Fragen. Erzähl mir, was du weißt, Menschenkind.«
Es ist ein Trick. Seine Stimme – ist ein Trick. Wie der Funkenregen. Wie der Rauch und die Asche und das Glühen seiner Flügel. Sie echot über die leere Wüste, bis sie wie ein Trommeln in meinem Herzen widerhallt. Und so sehr ich mir vorstellen möchte, er wäre nur ein Schausteller und ich seine Zuschauerin – verfehlt sein Spiel doch nicht seine Wirkung. Ich habe Angst. Ich habe fürchterliche Angst.
Aber ich schüttle den Kopf.
»Menschenkind …«, sagt er tadelnd. »Wir können das hier sehr angenehm gestalten, weißt du? Ich muss keine schlechte Gesellschaft sein. Du kannst über dem schönsten Flecken Erde sterben, wenn du dir das wünschst. Dein Tod wäre schmerzlos und schnell. – Oder du spielst das sture, blöde Tier, und ich breche dir die Worte einzeln aus der Kehle.«
»Eine Heilerin würde dich umbringen, ohne mit der Wimper zu zucken!«, sage ich. Nein, lüge ich. Denn tatsächlich weiß ich nicht, ob Welynn es könnte. Ich weiß, dass sie dazu befähigt ist. Heiler sind die einzigen natürlichen Gegner der Dämonen. Ihre Magie ist so reich, dass sie einem Dämon im Handumdrehen das höllenhafte Elixier aus dem Herzen treiben können – und Welynn ist eine mächtige Heilerin. Aber sie ist auch … gütig. Ich weiß nicht, ob sie es übers Herz brächte, selbst so ein derart niederträchtiges Monster wie einen Dämon einfach … zu töten.
Im Gegensatz zu mir. Wenn ich es könnte – er wäre längst zu Staub zerfallen.
»Würde sie das?«, fragt er. Er und das Echo seiner tausend Stimmen um mich herum.
»Mit Sicherheit«, flüstere ich.
»Du glaubst wahrhaftig, dass du fähig bist, mir die Stirn zu bieten. – Aber jetzt lügst du«, sagt er. »Schlechte Lügnerin, Menschenkind.«
Er ist nicht der Erste, der mich immer wieder daran erinnert, dass Lügen mir nicht gegeben ist …
»Glaub, was du glauben willst, Dämon. Ich werde nicht das Haupt vor dir neigen.«
»Jasin!« Ich rüttle an seiner Schulter. Wie kann jemand so verdammt tief schlafen? Gerade eben noch hielt er eine Waffe in der Hand und jetzt schläft er den Schlaf der Seeligen. »Jasin!«
Als er endlich begreift, schreckt er hoch, krabbelt von mir weg und starrt mich an wie den leibhaftigen Teufel. Bis seine Augen ihm klarzumachen scheinen, was Sache ist. »Ilya? Was … tust du hier? Ist etwas passiert? Müssen wir weg?«
Er ist schon dabei, aus seinen sieben Sachen – so viele mögen es nicht mal sein – ein Bündel zu wickeln. Aber ich schüttle den Kopf. »Nein. Beziehungsweise: Ich bin nicht sicher. Wo ist Leianna?«
»I-ich weiß nicht. In der Herberge?«
»Stell dir vor, dort habe ich nachgesehen …«
»Ich habe keine Ahnung, Ilya, ich habe geschlafen. Du warst doch bei mir!«
»Ist mir gar nicht aufgefallen.«
Er übergeht meinen Sarkasmus. »Hast du die Wachen gefragt?«
Noch eine dumme Frage, und ich platze. »Ja. Leg dich wieder hin«, sage ich. »Und sag Siman und Martha, wir bleiben hier, bis ich zurück bin, verstanden? Auch wenn die Pilger weiterziehen.«
Er nickt und will noch etwas hinzufügen, aber ich habe mich schon umgedreht.
Im Licht der aufgehenden Sonne erahne ich Leiannas Fußstapfen, dort, wo eines der Bewässerungsrinnsale nahe genug am Straßenrand vorbeiführt. Sie weisen in Richtung des Felsmassivs und sind auf dem zunehmend steinigen Untergrund kaum noch auszumachen, aber ich kann ihnen bis zu einem sandigen Platz zwischen den Felsvorsprüngen folgen. Sie heben sich dort deutlich genug ab – und verschwinden dann. Im Nichts.
Ich sitze stirnrunzelnd davor, zu viele Augenblicke lang, in der die Erinnerung quälend in mein Gehirn sickert. Denn ich habe dieses Abbild schon einmal gesehen. Ich hatte gerade meinen siebzehnten Winter vollendet. Und mich gefühlt, wie jeder sich fühlt, der kurz zuvor den Vollendungsritus des Clans erfolgreich durchlaufen hat – absolut unbesiegbar.
In Ifrahan gilt als anerkanntes Clanmitglied, wer für die Dauer einer ganzen Mondphase auf sich allein gestellt in der Wüste überleben kann. Es gelang mir mühelos. Ich habe nicht einmal gehungert. Ich habe vielmehr aus lauter Arroganz am vorletzten Tag einen Schakal gejagt, um das Fell als Trophäe mit in die Stadt zu bringen. Das Volk lag mir jubelnd zu Füßen, der Ältestenrat hat milde gelächelt, mein Vater hat mir einen Fausthieb mitten ins Gesicht verpasst, weil ein Ifrahan nicht aus niederen Motiven tötet. Auch Tiere nicht.
Unbesiegbar gefühlt habe ich mich trotzdem.
Der Erkundungsritt nach den übrigen Teilnehmern des Ritus, die es nicht – wie ich und die meisten anderen – heil zurück in die Stadt geschafft hatten, schien angesichts dessen eine Nichtigkeit. Wir waren nur ein gutes Dutzend unerfahrener Kämpfer, und niemand hat meine kleine, übermütige Cousine Malikay gehindert, mit uns zu kommen – weil niemand erwartet hat, dass uns ernsthaft etwas passieren könnte.
Wir sind der Spur eines Händlersohnes bis fast zur nördlichen Grenze gefolgt. Bis sie sich mitten auf einem Hügelkamm verlor. Sie war mühelos zu erkennen. Nur eine Spur hinauf. Und keine hinunter. Keine Leiche. Keinerlei Anzeichen eines Kampfes. Keine Pferdehufe. Nichts. Nur Fußabdrücke, welche die Wüste mehrere Tage lang bewahrt hatte.
Es war spät. Wir entschieden zu rasten, in der Hoffnung, er würde womöglich aus dem Nichts wieder auftauchen, in das er verschwunden war. Im Feuerschein munkelten die Abergläubischen unter uns von Ifrits, die das diesjährige Ritual verflucht hätten. Ich habe sie ausgelacht.
In dieser Nacht habe ich meinen ersten Dämon gesehen. Seine Flügel spannten sich auf die doppelte Weite eines Adlers und schienen zu glühen wie die Kohlen unseres Lagerfeuers. Ich habe in diesem Moment begriffen, warum wir nie Fußspuren gefunden haben. Und warum wir den Sohn des Händlers nie lebend finden würden.
Er war tot. Und in dieser Nacht sind ihm weitere gefolgt. Fast ein ganzes Dutzend Clanmitglieder, die gerade erst den Ritus absolviert hatten, sind ihm gefolgt.
Ich wäre ihm beinahe gefolgt. Ich musste um mein Leben kämpfen, bis ich die Scimitare kaum mehr halten konnte. Die heraufbeschworenen Feuerfunken, mit der das Ungetüm die Luft erfüllte, hinterließen schwerste Verbrennungen auf meiner Haut. Die Erinnerungen an den Schmerz sind verhallt, aber niemals verschwinden wird die Erinnerung an den Anblick meiner sterbenden Weggefährten.
Im Morgengrauen waren wir nur noch zu viert gewesen. Vier vollkommen erschöpfte Menschen und ein Dämon, der so ausgehungert war, dass seine Augen beinahe menschlich wirkten und der anstelle einer Feuerbrunst nur noch glühende Asche verbreiten konnte.
Ich wollte, dass es endlich endet. Meinethalben hätte ich sterben können. Wenn es dann nur vorbei gewesen wäre. Ich hatte aufgegeben, im selben Moment, in dem meine Knie unter mir nachgaben und ich nur noch Rauch und Asche aus meinen brennenden Lungen hustete. Der Dämon hatte die Hand nach meinem Herzen schon ausgestreckt. Seine vor Hunger zitternden Fingerspitzen hatten sich in meinen Brustkorb gebrannt.
Im selben Augenblick bohrte sich mein Dolch in seinen Rücken.
Ich habe keine Ahnung, was es war, das mich das tun ließ. Ein erzwungenes Aufbäumen vielleicht. Oder ein letztes Wegen diesem dämonischen Arsch sterbe ich nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass seine Magie ihn verlassen hat. Ausgerechnet Malikay mit ihren kaum fünfzehn Sommern hat ihn von mir gezerrt. Benommen vom Rausch einer Überlebenden hat sie ihm mit ungeübten Schnitten das Herz aus der Brust getrennt. Es war ein Blutbad, nur begleitet von ihren verzweifelten Schreien. Die Sonne kroch vollends über den Horizont und ließ das farblose Haar des Dämons silbern schimmern, wie Leiannas es tut. Bis seine Asche in alle Winde verwehte.
Er war bereits erschöpft, als er uns auf diesem Hügel bemerkte. Wir waren seine letzte Hoffnung auf Nahrung. Aber er hat keine gefunden. Niemand von uns war magisch. Der einzige Grund, warum ein simpler Stich ins Herz ihn kurzzeitig außer Gefecht gesetzt hat, war die Tatsache, dass er bereits am Ende seiner Kräfte war, bevor der Kampf überhaupt angefangen hatte. Und trotzdem hat ein einziger Dämon uns alles gekostet. Von ehemals über einem Dutzend Menschen kehrten nur noch vier nach Ifrahan zurück.
Der Fausthieb meines Vaters hatte mich nichts gelehrt. Aber diese Nacht – diese Nacht war die bitterste Lehre meines ganzen Lebens.
Und während ich jetzt vor Leiannas Fußspuren sitze, die ins Nichts verschwinden, frage ich mich, ob mir eine weitere Nacht wie diese bevorsteht. Ein weiterer Kampf gegen das Unbezwingbare.
Ich liege zu Füßen eines riesigen Felsmassivs. Wir sind beinahe vollkommen umschlossen von rauem Sandstein, und die Mittagssonne brennt den Schweiß von meiner Haut. Meine Fingerspitzen zucken zu der Feldflasche hinüber, die der Dämon in verlockender Nähe abgelegt hat. Aber ich widerstehe dem Drang. Das Wasser würde das Magiegift nur schneller aus meinem Körper spülen. Schneller noch, als die Hitze es mir aus den Poren treibt. Und wenn kein Gift zurückbleibt, das die Magie in meinem Blut dämpft, bin ich ein Festmahl für den Dämon. Jeder Tropfen Blut in meinem Leib ist getränkt von Magie. Um das zu wissen, muss ich nicht in seine hungrigen Augen sehen. Ich kann es spüren. Wenn ich es nur zulasse, tost das Verderben meiner Magie in mir wie ein zweiter Herzschlag.
Der Dämon wartet bloß darauf, dass es passiert. Dass ich meine Magie gegen das Gift ankämpfen und gewinnen lasse. Dort drüben sitzt er und sieht mir zu, den Kopf schief gelegt wie ein Raubtier, welches das merkwürdige Verhalten seiner Beute aus purer Faszination an der Jagd beobachtet.
»Wie heißt du?«, fragt er.
»Warum interessiert dich das?«
»Wieso sollte es das nicht tun?«
»Du wirst mich umbringen.«
Er lächelt. »Also bist du dir deines Schicksals doch bewusst. Du bist nur stur. Nicht dumm.«
»Du hast die Absicht, mich umzubringen«, korrigiere ich.
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