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Ein berechnetes Leben Eigentlich sollte Livia das perfekte Leben führen. Schließlich wurde ihre Zukunft von MAM berechnet, einer Künstlichen Intelligenz, die die Menschheit vor 200 Jahren vor dem Untergang rettete und seither das Leben aller gestaltet. Ihre Freizeit verbringt Livia in den Sims, täuschend echten Simulationen, in denen die Welt vor der Klimakrise nachgestellt wird. Auch ihren Job als Krankenpflegerin verdankt sie MAM. Doch Livia beschleicht das Gefühl, dass MAM bei ihrer Berufswahl einen Fehler gemacht hat – und dass sich hinter der Fassade ihrer perfekten Gesellschaft ein dunkles Geheimnis verbirgt. Wieso erkennt ihre Freundin Anouk sie plötzlich nicht mehr? Warum will sich der mysteriöse Cassian immer wieder mit ihr treffen? Und wieso spielen ihre Gefühle jedes Mal verrückt, wenn er sie ansieht? Zu spät merkt Livia, dass es kaum etwas gibt, das MAM nicht erfährt… Evermind. Sie kennt dich: Ein spannendes Jugendbuch über künstliche Intelligenz - KI regiert die Welt: Packendes Dystopie-Buch für Jugendliche ab 14 Jahren über die Gefahren von künstlicher Intelligenz. - Rebellion gegen die Allmacht: Die 16-jährige Livia hinterfragt die von der KI "Multipurpose Artificial Mind" vorgegebene Ordnung. - Starke Charaktere und große Emotionen: Während Livia und der mysteriöse Cassian einen Aufstand gegen MAM planen, entdecken sie ihre Gefühle füreinander. - Mitreißend und hochaktuell: Der dystopische Roman von Erfolgsautorin Melissa C. Hill liefert spannende Einblicke in eine von KI kontrollierte Welt. - Eine dystopische Zukunft: Das fesselnde KI-Buch inspiriert junge Leser*innen dazu, sich kritisch mit der menschlichen Abhängigkeit von Technologie auseinanderzusetzen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Ein berechnetes Leben
Eigentlich sollte Livia das perfekte Leben führen. Schließlich wurde ihre Zukunft von MAM berechnet, einer Künstlichen Intelligenz, die die Menschheit vor 200 Jahren vor dem Untergang rettete und seither das Leben aller gestaltet. Ihre Freizeit verbringt Livia in den Sims, täuschend echten Simulationen, in denen die Welt vor der Klimakrise nachgestellt wird. Auch ihren Job als Krankenpflegerin verdankt sie MAM. Doch Livia beschleicht das Gefühl, dass MAM bei ihrer Berufswahl einen Fehler gemacht hat – und dass sich hinter der Fassade ihrer perfekten Gesellschaft ein dunkles Geheimnis verbirgt. Wieso erkennt ihre Freundin Anouk sie plötzlich nicht mehr? Warum will sich der mysteriöse Cassian immer wieder mit ihr treffen? Und wieso spielen ihre Gefühle jedes Mal verrückt, wenn er sie ansieht? Zu spät merkt Livia, dass es kaum etwas gibt, das MAM nicht erfährt …
Melissa C. Hill
Sie kennt dich
Für meinen Bruder Steven.
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Dax Phaethon hätte sich nie träumen lassen, dass er derjenige sein würde, der den Knopf drücken sollte. So eine winzige Geste mit so gewaltigen Auswirkungen für die Welt. Ein kleiner Schritt für einen einfachen Informatiker wie ihn, aber ein verdammt großer für die Menschheit.
Ist es Größenwahn, sich mit Neil Armstrong zu vergleichen? Er befindet sich nicht auf dem Mond, sondern in einem lächerlich engen Büro. Die Hälfte der vier Quadratmeter nimmt ein Schreibtisch mit makellos sauberer Arbeitsfläche ein. Papierkram sucht man hier vergeblich. Alle wichtigen Daten und Unterlagen liegen auf dem Rechner. Und um genau den geht es hier. Nicht um ihn. Dax ist nur ein Handlanger. Aber genau wie die Welt damals Neil Armstrong zugesehen hat, vor fast fünfundsiebzig Jahren, sieht sie heute ihm zu. Oder vielmehr beobachtet sie gebannt, was passieren wird, wenn er auf den Button klickt, der vor ihm auf dem Bildschirm leuchtet.
Noch fünf Minuten und achtundvierzig Sekunden.
Seine Finger kribbeln. Heute ist der Tag. Heute wird sich zeigen, ob fast ein Jahrzehnt Arbeit von über hundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern etwas taugt.
Dax stößt die Luft aus. Eigentlich hat er keine Zweifel. Ihr Ergebnis ist perfekt. Das haben sie vor dem heutigen Tag Tausende Male in Probeläufen überprüft. Sie haben großartige Arbeit geleistet. Herausragendes vollbracht. Das hier ist sein Lebenswerk – und das mit Mitte zwanzig.
Er hatte es sofort gewusst. Dass R&A Enterprises seine Berufung ist. Schon als er mit siebzehn die Rede von Abram Brynmor gehört hat, dem Gründer von R&A Enterprises und dem Ideengeber dieses Mammutprojekts.
»Eine KI«, hat er damals mit seiner eindrucksvollen Stimme gedonnert – sie haben es auf allen Sendern gebracht, und die Aufnahmen sind auf sämtlichen Plattformen viral gegangen. »Eine KI, die nicht an die Einschränkungen derer gebunden ist, die sie programmiert haben. Eine KI, der es erlaubt ist, sich selbst weiterzuentwickeln, weiterzuprogrammieren. Eine KI, die mehr ist als eine künstliche Intelligenz. Ein künstliches Bewusstsein, das unsere wildesten Vorstellungen übertrifft. Das analysiert und berät und Entscheidungen auf Basis von umfangreichen Daten trifft. Entscheidungen, die ein voreingenommener und in seiner Wahrnehmung eingeschränkter Mensch nie treffen könnte. Ein solches künstliches Bewusstsein wird unsere Welt verändern wie nichts und niemand jemals zuvor.«
Kurz vor Dax’ Schulabschluss war das damals. Ihm war sofort klar, dass er an diesem Projekt mitarbeiten wollte. Dass er sein Leben dieser Aufgabe widmen wollte. Deshalb hat er Informatik studiert. Mit Bestnoten. Frisch von der Uni hat er dann seine erste Stelle bei R&A Enterprises bekommen.
Vier Jahre hat er in dieses Projekt investiert. Er ist sogar an der Namensgebung beteiligt gewesen. Die Idee, das Wort Intelligenz durch Mind zu ersetzen, kam von ihm. Denn es ist so viel mehr als eine künstliche Intelligenz. Es hat, nein, es ist ein Bewusstsein, genau wie Abram Brynmor es sich erträumt hat. Ein Mastermind, das nicht nur auf das Wissen von Anbeginn der Erdgeschichte bis zum heutigen Tag zugreifen kann, sondern auch die Fähigkeit besitzt, aus diesem Wissen zu lernen, Konsequenzen abzuleiten, Entscheidungen zu treffen. Es ist fast wie ein Mensch. Nur besser.
Und das muss es auch sein. Seine Aufgabe ist groß. Abram hat es vor zehn Jahren messerscharf auf den Punkt gebracht: Die Probleme dieser Welt sind durch die Vielzahl an einzelnen Nationen und Interessengruppen nicht in den Griff zu bekommen. Allen voran die Klimakrise. Nicht, solang jedes Land nur das Beste für sich selbst im Sinn hat. Was fehlt, ist die Fähigkeit, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken. Dafür braucht es jemanden, der das große Ganze im Blick hat. Alles, was je war, ist und sein wird. Kein Mensch könnte das. Und das ist auch nicht nötig. Nicht mehr, sobald Dax den Button drückt.
Er prüft die Zeitanzeige in der rechten oberen Ecke. Noch vier Minuten. Bald ist es so weit.
Das hier ist groß, und es ist richtig. Dax weiß das so gut wie kaum ein anderer. Er war dabei, als sie zahlreiche historische Szenarien durchgespielt und das Multipurpose Artificial Mind nach Handlungsoptionen gefragt haben. Die KI hätte beide Weltkriege verhindert. Den gesamteuropäischen Krieg. Die Reaktorkatastrophe in Südamerika vor zehn Jahren. Abram hat immer vermieden, es so auszudrücken, aber Dax weiß mit absoluter Gewissheit, dass das Multipurpose Artificial Mind eine perfekte Welt schaffen könnte. Und das wissen auch die Regierungsvertreterinnen und -vertreter, die unterschrieben haben. Zu Beginn, als Abram seine Idee skizziert hat, waren es nur fünf. Die Vereinigten Staaten, Kanada, England, Deutschland und Finnland. Sie wünschten sich eine KI in beratender Funktion.
Aber die Kompetenz des Minds geht weit über dieses Versprechen hinaus. Die Welt weiß das, deshalb sind es mittlerweile dreiundzwanzig Nationen, die das Abkommen unterschrieben haben. Ihre Vertreterinnen und Vertreter sitzen jetzt ebenfalls vor ihren Computern. Hochmoderne Topcomputer, die nur dafür da sind, das Multipurpose Artificial Mind zum Leben zu erwecken und mit ihm in Kontakt zu treten. Dax kann sie sich vorstellen. Ihre Erwartungen, die Mischung aus Angst vor diesem großen Schritt und der Ungeduld, das Mind endlich kennenzulernen.
Er lächelt in sich hinein. Das Multipurpose Artificial Mind kennt die dreiundzwanzig Regierenden schon. Es weiß alles über jeden und jede von ihnen. Verfügt über alle Daten, die jemals über sie gesammelt wurden.
Noch zwei Minuten und fünfzehn Sekunden.
Dax atmet tief durch. Abram meldet sich über sein Headset. Fragt, ob er bereit ist.
Und wie er das ist.
Sie werden nacheinander den zwölfstelligen Code eingeben und den Vorgang anschließend mit ihren Stimmen verifizieren. Erst dann wird das Multipurpose Artificial Mind vollumfänglich den Betrieb aufnehmen.
Zwanzig Sekunden.
Der akustische Countdown startet. Erst jetzt tippt Dax die zwölf Ziffern aus dem Gedächtnis. Überprüft jede einzelne. Klickt auf den Button. Hört, wie Abram sein Okay gibt, und bestätigt es auch mit seiner Stimme. Sie zittert. Aber nicht wegen der Verifizierung, sondern wegen dem, was danach kommt: Er wird das Mind direkt ansprechen.
»Multipurpose Artificial Mind?«, fragt er, und seine Stimme ist jetzt fest. Kein Zittern mehr. »Hier spricht Dax Phaethon.«
»Hallo, Dax«, meldet sich die melodiöse Stimme, für deren Komposition eine eigene Abteilung bei R&A Enterprises zuständig war. Und noch ehe er etwas anderes sagen oder tun kann, ergreift sie erneut das Wort. »Bitte nenn mich MAM.«
Als ich die Augen aufschlage, starre ich auf eine weiße Fläche etwa fünfzig Zentimeter über meinem Kopf. Die Farbe erinnert mich sofort daran, dass das hier nicht mein Bett ist. Okay, hundertprozentig korrekt ist das nicht: Seit gestern Abend ist es meins. Meine eigene Capsule. Mein Schlafplatz, mein Rückzugsort. Die 1,5 Quadratmeter, die ich ganz für mich habe, weil ich seit zwei Wochen sechzehn und ab heute eine Do-it bin – mit einem Recht auf diese Art von Privatsphäre, die es in den Care-Gruppen nicht gab.
Müsste ich mich nicht freuen? Ich lausche in mich hinein und sauge den sauberen, neuen Geruch der Capsule in meine Lungen. Da ist ein Flattern in meinem Bauch, das sich in meinem ganzen Körper ausbreiten möchte, wenn ich es lassen würde. Aufregung.
Die dünne Isolierdecke raschelt, als ich mich aufsetze. Es ist die gleiche Art von Decke, die ich in meinem bisherigen Zuhause hatte. Aber das Geräusch ist mir bisher nie aufgefallen. Wahrscheinlich, weil es in der altersgemischten Care-Gruppe mit sieben anderen Kindern und Jugendlichen nie so leise war wie hier.
»Guten Morgen, Livia«, meldet sich in diesem Moment eine vertraute Stimme. In der Capsule kommt sie nicht aus einer bestimmten Richtung, es fühlt sich viel mehr an, als wäre sie überall. Als wäre MAM um mich herum. Der Gedanke besänftigt das Flattern in meinem Bauch ein wenig.
»Guten Morgen, MAM«, erwidere ich leise. Dank der Mikrofone wird MAM mich trotzdem hören. Das funktioniert nicht nur hier, sondern eigentlich überall in der City. Ich bin nie allein. Nie ganz auf mich gestellt. Ich weiß, dass MAM immer in Rufweite ist, immer zuhört, sobald ich ihren Namen ausspreche und damit ein Mikrofon in der Nähe aktiviere.
»Du solltest etwas frühstücken«, stellt MAMs melodiöse Stimme nun fest. »Dein Blutzucker beträgt 69 mg/dl. Dein Ruhepuls ist im Augenblick leicht erhöht. 82 Schläge pro Minute. Alle anderen Werte befinden sich im Normbereich. Allerdings war deine Schlafqualität vergangene Nacht mangelhaft. Du warst unruhig.«
»Ja, ich …« Ich klappe das Seitenfach meiner Capsule auf und hole meine nagelneuen Klamotten heraus. Eine weiße Hose und ein graues Shirt – die Kleidung für frischgebackene Do-its. Der Stoff fühlt sich noch ein wenig steif an. »Ich hab schlecht geträumt. Kann mich schon gar nicht mehr erinnern, worum es ging.«
»In letzter Zeit kam das häufig vor«, bemerkt MAM. »Sechs Mal in den vergangenen drei Wochen. Möchtest du die genauen Daten einsehen?«
»Ähm … nein. Nein, ich glaube … ich war wahrscheinlich einfach nervös wegen der Initiation. In welchem Department ich lande und so. Du weißt schon.«
»Besser, als du ahnst, Livia.« MAM klingt jetzt zärtlich, sofern man das von ihrer immer freundlichen, immer ausgeglichenen Computerstimme sagen kann. Ich kenne diesen Ton von ihr. Bisher war er meist für Gelegenheiten reserviert, bei denen ich Trost oder Aufmunterung gebraucht habe.
Aber das ist heute nicht der Fall. Deshalb schiebe ich die Milchglastür meiner Capsule zur Seite und klettere durch die wabenförmige Öffnung hinaus in meine neue Unit. Auch hier sind Decke und Wände in Weiß gehalten. Das verleiht dem schmalen Raum den Anschein von Geräumigkeit und Weite.
Mein Blick schweift automatisch zu der Capsule direkt unter meiner. Die Tür ist geöffnet. Meine neue Mitbewohnerin ist offenbar schon wach und unterwegs.
Im Badezimmer, das zu unserer Unit gehört, ziehe ich zum ersten Mal das Do-it-Outfit an. Der Spiegel über dem Waschbecken ist ebenfalls wabenförmig und zu klein, um mich komplett darin zu betrachten. Er ist gerade eben groß genug, dass ich mein Gesicht und meine blonden Haare sehen kann. Ich versuche, so gut es geht, sie mit der Bürste in Form zu bringen. Dann wasche ich mir das Gesicht und stecke den kleinen In-Ear-Kopfhörer in mein rechtes Ohr, damit MAM nicht jedes Mal einen der öffentlichen Lautsprecher nutzen muss, wenn sie mit mir sprechen will.
Ich verlasse das Badezimmer, das einer der wenigen Räume ohne Mikrofone ist. Im Hauptraum der Unit sind dagegen gleich drei auf den ersten Blick sichtbar. Eines über der perfekt aufgeräumten Sitzecke mit den anthrazitfarbenen Polstern und eines am offenen Durchgang zum Flur. Das dritte gehört zum Space in der hinteren Ecke und ist in der Full-Face-Maske verbaut, die zu dem nagelneu aussehenden Stuhl gehört. Ich hatte noch keine Gelegenheit, eines der virtuellen Freizeitangebote zu nutzen, auf die man damit zugreifen kann, aber das Prinzip ist mir aus der Care-Gruppe vertraut.
»MAM«, sage ich, um eines der Mikros zu aktivieren. »Mach dir keine Sorgen. Ich freu mich auf die Initiation. Und ich bin bereit.«
»Und ob du das bist!« Es ist nicht mehr MAMs Stimme, die das sagt, sondern die meiner neuen Mitbewohnerin Sierra, die von draußen reinkommt, zwei Becher mit Proteinshake in den Händen. Sie reicht mir einen davon und mustert mich dabei.
Ich erwidere ihren Blick und fühle mich sofort irgendwie schäbig neben ihr. Sierras Haar ist noch heller als meines, und sie hat es zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden, der ihr ein sehr erwachsenes und selbstbewusstes Aussehen verleiht. Genau wie ich trägt sie bereits das graue Shirt und die weißen Stoffhosen der Level-2-Do-its, zu denen meine Gleichaltrigen und ich jetzt gehören. Wie über die Hälfte der Menschen in der City.
Allerdings füllt Sierra ihr graues Shirt auf eine Art aus, von der ich nur träumen kann. Es schmiegt sich an die Kurven ihrer Brüste und ihrer Hüfte und hat als Sahnehäubchen genau den Farbton ihrer Augen, sodass es wie extra für sie gemacht aussieht.
Und dann bin da ich. Ich in meinem grauen Sack von einem Shirt und mit abgekauten Fingernägeln.
»Du siehst süß aus«, stellt Sierra zu allem Überfluss fest. Ich weiß, dass sie es als Kompliment meint, aber es verstärkt meinen Eindruck, neben ihr nicht viel mehr als ein Kind zu sein. Dabei habe ich geglaubt, mich am Tag der Initiation schlagartig total erwachsen zu fühlen und genau zu wissen, wie man sich als Do-it zu verhalten hat.
»Danke«, murmele ich etwas verspätet. »Du siehst auch toll aus.«
Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um Sierra etwas Persönliches zu fragen. Wir haben uns gestern Abend nur kurz kennengelernt und nicht viel mehr als unsere Namen ausgetauscht, weil ich mich früh in meine Capsule zurückgezogen habe. Am liebsten wäre mir meine Freundin Anouk als Mitbewohnerin gewesen – oder wenigstens jemand aus meiner Care-Gruppe.
Aber Sierra wirkt immerhin nett. Und sie hat mir Frühstück mitgebracht. »Ist das Vanille?«, frage ich aus Mangel an einer besseren Small-Talk-Idee.
Sierra nickt. »Ich wusste nicht, was du gerne magst. Aber ich dachte, mit Vanille kann man bei den wenigsten Leuten was falsch machen. Anders als bei solchen Sorten wie Alge oder Kurkuma.«
Ich sage ihr nicht, dass Kurkuma meine Lieblingsshakesorte ist. Das wäre undankbar, oder? Ich wünschte, das Plaudern würde mir leichter fallen, aber ich nicke nur stumm.
»Das ist er also«, stellt Sierra zwischen zwei Schlucken von ihrem eigenen Shake fest. »Der Tag der Initiation. Auf welches Department hoffst du?«
Ich sauge am Strohhalm meines Shakes – in erster Linie, um Zeit zu schinden. Das Flattern in meinem Bauch ist wieder da und scheint meinen Magen zum Schrumpfen zu bringen. Nie im Leben werde ich den kompletten Shake runterbekommen. MAM wird das gar nicht gefallen. Immerhin ist die Kalorienmenge genau berechnet.
»Ich fände das Build-Department ganz gut, glaube ich«, fährt Sierra fort und dreht ihren Trinkhalm im Becher. »Früher wollte ich immer in Department D arbeiten. Dress, du weißt schon. Aber die nähen ja nicht nur, sondern waschen die meiste Zeit, und ich hab gesehen, wie trocken und rot die Haut an ihren Händen durch die ganzen Reinigungsmittel ist. Also lieber B. Wobei M und E auch nicht schlecht wären, schätze ich. Oder was meinst du?«
Hastig nicke ich. »Das sind alles total wichtige Arbeiten.«
Sierra lacht glockenhell. Es klingt nicht spöttisch, aber es passt zu dem Kompliment, das sie mir gemacht hat: Ich bin süß. Kindlich. Naiv. Ich wünschte, ich könnte irgendetwas sagen, um das Gegenteil zu beweisen. Irgendeine möglichst tiefgehende Analyse eines Departments, über das Sierra selbst weniger weiß als ich. Aber die Wahrheit ist, dass es nur ein einziges Department gibt, für das ich mich schon immer interessiert habe: Department I. Imagine. Als Kind habe ich es geliebt, mir Geschichten auszudenken. Virtuelle Welten zu erschaffen und an der Konzeption neuer Sims mitzuwirken – das klingt wie ein Traum für mich. Aber ich habe keine Ahnung, ob ich gut darin wäre oder eine komplette Katastrophe. Bestimmt fände niemand außer mir selbst meine Ideen gut. Besser ich sage nichts davon zu Sierra. Sie fände das bestimmt wieder nur süß.
Letzten Endes ist es wahrscheinlich gut, dass MAM die Entscheidung für mich trifft. Sie hat meine Daten von Kindheit an gesammelt. Sie kennt nicht nur meine Vorlieben und Talente, sondern kann auch berechnen, wie leicht ich mich in einen neuen Aufgabenbereich einarbeiten werde.
»Ich würde mich jedenfalls freuen, im gleichen Department wie meine Freundin Anouk zu landen«, sage ich deshalb wahrheitsgemäß.
»Aus deiner Care-Gruppe?« Sierra lächelt, und es wirkt freundlich, nicht spöttisch. Sie scheint wirklich in Ordnung zu sein.
Ich schüttele den Kopf. »Leider nicht. Wir kennen uns aus dem virtuellen Classroom. In den ersten Jahren hatten wir ziemlich viele Kurse zusammen. Mittlerweile haben wir uns in unterschiedliche Richtungen spezialisiert, aber …« Ich verstumme, unsicher, was genau ich eigentlich sagen wollte. Dass wir trotzdem noch eine Menge miteinander unternehmen? Anfangs war das so, wir haben uns über die Spaces in unseren jeweiligen Care-Gruppen in verschiedenen virtuellen Locations getroffen. Hauptsächlich im Central Park Zoo, meinem und Anouks Lieblingsplatz. Wie die meisten Sims ist er dem echten Ort im New York des Upper Age nachempfunden. Wir haben viel Zeit dort verbracht und beim Füttern der Kleintiere die tiefgründigsten Gespräche geführt. Doch in den letzten zwei Jahren haben Anouk und ich uns irgendwie aus den Augen verloren.
»Dann siehst du sie heute zum ersten Mal in echt?«, fragt Sierra. »Außerhalb einer Sim, meine ich?«
Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht. »Stimmt. Das wäre heute das erste Mal.«
»Wow. Das nenne ich eine besondere Freundschaft.«
»Ist es«, flüstere ich. Das Flattern in meinem Bauch hat sich verändert. Plötzlich kann ich es gar nicht mehr erwarten, ins Atrium zu kommen, wo wir zum ersten Mal mit allen anderen neuen Do-its zusammentreffen werden. Der Gedanke an Anouk macht mich mutiger. Das ist schon immer so gewesen. Mit ihr habe ich mich all die Dinge getraut, von denen ich allein nur geträumt habe. Weil Anouk nie zweimal überlegt hat und bereit war, notfalls mit dem Kopf durch die Wand zu gehen, um das zu bekommen, was sie wollte. Oder was ich wollte.
»Sierra und Livia?«
Wir schrecken auf. Im Eingang unserer Unit steht eine Frau in Weiß. Eine Level-3-Do-it. Sofort stellen wir unsere halb leeren Becher zur Seite.
»Ja«, sagt Sierra atemlos, während ich noch keinen Ton rausbringe. »Ist es so weit?«
Die Do-it lächelt, als könnte sie unsere Aufregung nicht nur genau spüren, sondern auch nachvollziehen. Schnell sehe ich auf den aufgestickten Buchstaben auf der Brusttasche ihres weißen Shirts: ein C. Sie arbeitet im Care-Department. Freundlich erklärt sie uns den Ablauf der Initiation, während wir ihr nach draußen in den Flur folgen. Mit den Augen scanne ich kurz die Do-its aus den Nachbar-Units, die sich bereits eingefunden haben, damit wir gemeinsam ins Atrium gebracht werden können. Zahlreiche Haut- und Haarfarben sind vertreten, aber nirgends erspähe ich das tiefe, glänzende Schwarz von Anouks Haar.
»… werdet ihr innerhalb eurer Departments den einzelnen Ausbildungsschwerpunkten zugeteilt«, erläutert die Level-3-Do-it gerade. »Hier habt ihr Mitspracherecht, aber MAM und eure Ausbildenden helfen euch gerne, wenn ihr unsicher seid. Sie sind alle erfahrene Level-3-Do-its und haben eure Daten im Vorfeld studiert.« Sie wirft einen Blick über die Schulter und lächelt uns aufmunternd zu.
In Department C sind alle Do-its so. Nett und verständnisvoll. Vermutlich hat MAM sie genau deshalb in dieses Department geschickt, weil die Arbeit mit den Jüngeren gute Nerven und viel Zugewandtheit erfordert. Meine eigene Caregiverin Mathea war auch so. Sie hat sich jedes noch so kleine Anliegen und jeden noch so nichtigen Konflikt angehört. In der Gruppe für die Älteren habe ich sie und ihre warme, mütterliche Art manchmal vermisst. Absurderweise erinnere ich mich gerade jetzt daran, wie sie mich früher umarmt hat, wenn ich vor einer neuen Situation Angst hatte.
Eine solche Umarmung von Mathea könnte ich heute gut gebrauchen, um die wilde Mischung aus Vorfreude und Panik in den Griff zu bekommen, die in mir tobt.
Immer wieder stoppt die Do-it, um weitere Neulinge aus ihren Units abzuholen. Ich versuche, alle im Blick zu behalten, aber die Gruppe wächst zu schnell an. Einige meiner Gleichaltrigen haben es so eilig, zum Atrium zu kommen, dass ein Gedränge entsteht. Ich verliere Sierra aus den Augen und schaffe es irgendwie, ganz hinten in der Gruppe zu landen.
Der Flur will kein Ende nehmen. Unit an Unit reiht sich zu beiden Seiten aneinander, schmucklose weiße Wände, keine Bilder, keine Fenster. Nur die indirekte taghelle Beleuchtung aus den Lichtleisten entlang der Decke.
Wir passieren eine Nische mit einer Metalltreppe, die mit ihren Gitterstufen wie ein Fremdkörper wirkt. Ich verdrehe mir den Hals danach, wage aber nicht, stehen zu bleiben, um sie genauer anzusehen.
»Die Top.« Ein Mädchen neben mir hat meine Blicke bemerkt. »Eigentlich Top Floor Train, weil sie oberhalb von Minus-1 verläuft und damit direkt unter der Erdoberfläche. Bist du schon mal mitgefahren?«
Ich schüttele den Kopf. Natürlich ist die Top mir ein Begriff. Die Älteren in der Care-Gruppe haben die verrücktesten Geschichten über das alte Bahnnetz erzählt, das abgesehen von den Technikerinnen und Technikern aus Department E und T fast nur die Do-its der niedrigsten Stufe nutzen – Level-1-Do-its. Es waren ziemliche Schauergeschichten, und selbst, wenn nur die Hälfte davon wahr ist, scheint das altmodische Transportmittel nicht gerade ungefährlich zu sein. »Du etwa?«
Das Mädchen nickt. Jetzt erst betrachte ich sie näher. Sie hat schwarze voluminöse Locken, genauso dunkle Augen und ist ein paar Zentimeter kleiner als ich. Was wirklich etwas heißen will, weil ich mit meinen 1,60 m meistens die Kleinste bin, selbst dann, wenn Jüngere dabei sind.
»Ein paarmal«, meint sie schulterzuckend. »Es ist fast wie eine Zeitreise. Die Technik ist ziemlich veraltet. Alles klappert irgendwie, und das Brummen ist ohrenbetäubend. Angeblich kann man sie auf Minus-1 hören.«
Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich all diese Informationen in mich aufsauge. Ich bin so ahnungslos. Eine Handvoll Sims, allen voran der Central Park Zoo, und die kleine beschauliche Dimension meiner Care-Gruppe waren bisher meine ganze Welt.
»Ich dachte, nur Do-its dürfen mit der Top fahren«, erkläre ich mein Unwissen hastig.
»Ich war natürlich nicht allein unterwegs. Ich bin übrigens Faye.«
»Livia«, sage ich und überlege, was ich Faye fragen könnte, um das Gespräch am Laufen zu halten. Doch in diesem Moment geht ein Raunen durch die Menge vor uns. Ich strecke mich ein wenig. Es sieht so aus, als hätten die Ersten das Ende des Flurs erreicht. Viel kann ich von hier aus nicht erkennen, aber ich bilde mir ein, die Wärme des großen, offenen Raums dahinter bereits zu spüren.
In der City ist es insgesamt eher kühl, allein schon wegen ihrer unterirdischen Lage. Aber wo sich viele Menschen gleichzeitig aufhalten, kommen die Lüfter nicht mehr so gut nach; der Sauerstoffgehalt wird geringer und die Luftfeuchtigkeit höher. Und in diesem Moment dürfte sich fast die gesamte Bevölkerung der City im Atrium befinden. Eine halbe Million Menschen auf einem Fleck. Allein der Gedanke lässt Schwindel in mir aufsteigen.
Faye und ich sprechen nicht mehr, während wir gemeinsam mit dem Rest der Menge weitertreiben. Das Summen Tausender Stimmen vibriert in meinen Ohren. Niemand spricht wirklich laut, aber ein beständiges Murmeln und Flüstern füllt den gesamten Flur.
Die neuen Do-its vor uns werden vom Gedränge hinter ihnen ins Atrium gespült, ob sie wollen oder nicht. Und schließlich öffnet sich auch für uns der Gang zum großen, blasenartigen Raum, der das Zentrum der City darstellt.
Ich reiße den Kopf nach links und rechts, versuche, nichts zu verpassen. Aber es ist unmöglich. Es gibt zu viel auf einmal zu sehen. Zu viele Menschen in einem viel zu großen Raum, der sich mit seinen Galerien und gläsernen Brüstungen über drei Stockwerke erstreckt und komplett rund geschnitten ist.
Ich habe das Atrium erst einmal betreten. Ein Lehrgang mit der gesamten Care-Gruppe, bei dem wir das Herzstück der City besichtigt haben. Aber das ist Jahre her, und außerdem war das Atrium damals nahezu leer. Ein wenig Betriebsamkeit herrscht hier immer, weil es der Knotenpunkt zwischen den einzelnen Departments ist und gleichzeitig als eine Art Marktplatz dient. Ich erinnere mich lebhaft daran, wie fasziniert ich von einer energischen Do-it mit lauter Stimme war, die allerhand Schätze zum Tausch anbot: kleine Taschenspiegel, duftende Cremes und anderen Krimskrams, der nicht zum täglichen Bedarf gehört.
Andere Do-its saßen damals in Grüppchen zusammen und unterhielten sich. Manche winkten uns zu. Ich weiß noch genau, wie sehr ich mich ab diesem Tag darauf gefreut habe, sechzehn und damit selbst eine von ihnen zu werden.
Heute stehen hier unzählige Stühle in Reihen, und sie alle sind voll besetzt. Ich wusste schon vorher, dass die City groß ist, aber dennoch überwältigt mich der Anblick. Bei unserer Exkursion ins Atrium hat man uns erzählt, dass MAM eine besonders platzsparende Bauweise konzipiert hat, wodurch hier mehr Menschen pro Quadratmeter leben können als es im alten New York, das über uns liegt, der Fall war. Optimiert zu bauen und zu leben war notwendig, weil so viele Menschen wie möglich in die unterirdischen Städte passen sollten. Einen Platz darin wollten natürlich die meisten haben. Ich hätte mich auch für die City entschieden, denn die Alternative war der nahezu sichere Tod an der Erdoberfläche.
Aber das alles war lange vor meiner Geburt. Ich kenne nur das Lower Age. Das Leben unter der Erde ist für mich Normalität. Nur in den Illusionen der Sims sieht die Welt noch aus wie vor zweihundert Jahren. Als wäre die Oberfläche noch bewohnbar.
Die Do-its auf den Stühlen drehen sich zu uns um, als wir vorbeiströmen. Einige klatschen. Sie alle tragen die gleichen grauen Shirts wie wir Neuen. Aber hinter den gläsernen Brüstungen kann ich einen Blick auf die Galerie des Atriums erhaschen. Wir befinden uns auf der mittleren von drei Ebenen, und von hier kann man die Stockwerke über und unter uns sehen. Und die Menschen, die auch dort in langen Reihen sitzen und die Initiation der Neuen erwarten.
Nach oben werfe ich nur einen zögerlichen Blick. Das Schwarz der Level-1-Do-its lässt sie im Halbdunkel nahezu unsichtbar werden. Eine weit entfernte und irgendwie beunruhigende Masse. Als liefe ich Gefahr, eine von ihnen zu werden, wenn ich zu lange hinsehe. Aber das ist natürlich Unsinn. Alle Sechzehnjährigen haben die Chance, sich auf Level 2 zu beweisen. Ein Downgrade droht nur in wirklich ernsten Fällen. Wenn man der Arbeit auf Minus-2 körperlich so gar nicht gewachsen ist, zum Beispiel.
Ich schaue lieber nach unten, zu den Level-3-Do-its. Noch nie habe ich so viele levelhohe Do-its an einem einzigen Ort gesehen. Sie sind von Kopf bis Fuß weiß gekleidet. Fast automatisch halte ich nach Mathea Ausschau, doch dann fällt mir ein, dass sie vermutlich gar nicht hier ist. Die Caregiver für die Jüngsten sind einige der wenigen Menschen, die von der Initiation entschuldigt sind, weil sie ihre Schützlinge nicht allein lassen können. Auf die älteren Kinder und die Jugendlichen kann MAM aufpassen – sie übernimmt die Erziehung und Ausbildung mit zunehmendem Alter. Aber bei den Kleinen gibt es zu viele Dinge zu tun, für die MAM Menschen braucht: füttern, Windeln wechseln und Stürze verhindern. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, dass eine Stelle in Department C auch nicht schlecht wäre. Nicht so kreativ wie eine in Department I, aber vielleicht etwas, das auch zu Anouk passen würde.
Ein Glühen lenkt meine Aufmerksamkeit von den weiß gekleideten Do-its auf Minus-3 ab. Meine Gleichaltrigen um mich herum haben es ebenfalls bemerkt und stoßen sich gegenseitig an, um einander darauf aufmerksam zu machen. Der Boden am tiefsten Punkt der Galerie scheint aus Glas zu bestehen und von unten angestrahlt zu werden. Die Level-3-Do-its halten respektvoll Abstand zu der leuchtenden Fläche, und mit einem ehrfürchtigen Hüpfer meines Herzens begreife ich, warum. Das ist sie. Dort unten, unter dem Glasboden, befindet sich MAMs Rechenzentrum.
»Willkommen, neue Do-its«, meldet sich ihre Stimme in diesem Moment. Nicht in meinem In-Ear-Modul, sondern über alle Lautsprecher des Atriums. Das Leuchten pulsiert sanft mit jedem ihrer Worte. »Willkommen zu eurer Initiation.«
Es ist ein sehr feierlicher Moment. Die Level-3-Do-it, die uns abgeholt hat, dirigiert uns mithilfe einer Handvoll ihrer Kolleginnen und Kollegen auf eine Art Balkon über der Galerie.
Ich stehe in der vierten Reihe und bin heilfroh, so weit hinten gelandet zu sein. Alle Stühle im Atrium sind auf uns ausgerichtet und alle Köpfe in unsere Richtung gedreht. Die ganze Aufmerksamkeit bringt meinen Nacken zum Kribbeln und mein Herz zum Rasen. Ich bin versucht, MAM zu fragen, um wie viel mein Puls außerhalb der Norm liegt. Aber das ist nicht möglich, ohne dass es auch die Umstehenden hören, und das wäre mir unangenehm. Sollte meine Herzfrequenz alarmierend sein, wird MAM es ohnehin mitbekommen und Hilfe schicken.
Unauffällig zupfe ich mein graues Shirt zurecht und straffe ein wenig die Schultern, während ich den Blick an den Reihen von neuen Do-its entlangwandern lasse. Sierra kann ich nirgendwo entdecken, aber eine Reihe vor mir und ein Stückchen weiter rechts erkenne ich Fayes dunkle Locken wieder. Sie steht neben zwei Typen, die trotz der allgemeinen Aufmerksamkeit die Köpfe zusammenstecken und ziemlich offensichtlich Blödsinn machen. Zumindest lacht der mit dem Pferdeschwanz auf und stößt dem anderen den Ellbogen in die Rippen. Sein Nachbar wendet ihm das Gesicht zu. Rotblonde Haare, hohe Wangenknochen, stechend blaue Augen, die mich an das Meer erinnern, das ich aus den Sims kenne. Und ein Blick, so kühl, dass er Letzteres problemlos zufrieren lassen könnte. Selbst unter den Klimabedingungen an der Erdoberfläche, da bin ich sicher.
Als hätte er gespürt, dass ich ihn beobachte, wendet der Rothaarige sich in diesem Moment zu mir um. So schnell ich kann, reiße ich den Blick von ihm los und scanne wieder die Reihe vor mir. Und da ist sie. Einfach so und ohne Zweifel. Direkt neben Faye und den beiden ungleichen Typen steht Anouk.
Meine Herzfrequenz schnellt noch weiter nach oben, und ein prall gefüllter Glücksballon scheint sich in meinem Brustkorb aufzublähen. Sie ist es wirklich! Und sie sieht genauso aus wie in den Sims – und doch ganz anders, weil sie echt ist und nur wenige Schritte von mir entfernt. Das seidige schwarze Haar trägt sie noch länger als früher. Es schwingt bei jeder ihrer Bewegungen über ihren Rücken und die schmalen Schultern. Auch als sie sich halb in meine Richtung dreht.
Zaghaft hebe ich die Hand, um ihr zuzuwinken. Ihre dunklen Augen finden mich … und wenden sich einfach wieder ab.
Der Ballon scheint mich von innen zerreißen zu wollen. Sie hat mich nicht gesehen. Auf keinen Fall hat sie mich absichtlich ignoriert. Das würde Anouk nicht machen. Nicht einmal nach fast zwei Jahren Funkstille würde sie so tun, als würde sie mich nicht kennen oder als wären wir nie Freundinnen gewesen. Denn das waren wir. Und wie wir das waren.
Ein Bild flammt in meiner Erinnerung auf. Sattgrüne Bäume – ein eindeutiges Zeichen dafür, dass die Szene aus einer Sim stammt –, die im Kontrast zu den Torbögen aus rotem Backstein leuchten. Anouk drückt sich flach an die gemauerte Wand und tut so, als hätte sie nicht bemerkt, dass ich sie längst gefunden habe. Mein acht- oder neunjähriges Ich will den Mund öffnen und ihr etwas zurufen, aber da stößt sie sich mit einem Quieken von der Mauer ab und rennt davon. Das schwarze Haar flattert hinter ihr her und verschwindet aus meinem Blickfeld.
Nein, hier und heute hat Anouk mich wirklich nicht bemerkt. Ich kenne ihr Gesicht immer noch auswendig. Und ich bin überzeugt, ich hätte das Erkennen auf ihrer Miene gesehen, wenn sie mich entdeckt hätte. Davon abgesehen: Welchen Grund sollte sie haben, mich absichtlich zu übersehen?
»Willkommen, neue Do-its«, wiederholt MAM in diesem Moment und zwingt mich damit, den Blick von Anouks Hinterkopf abzuwenden. Das aufgeregte Summen vieler tausend Stimmen ist verstummt, aber das erwartungsvolle Schweigen füllt den Raum noch gründlicher aus, als jedes Wispern es könnte.
»Sechzehn Jahre lang seid ihr bereits Teil dieser Gesellschaft von Überlebenden«, fährt MAM fort. »Ihr seid privilegiert. Ihr alle. Nicht aufgrund eurer eigenen Verdienste, sondern weil eure Vorfahr*innen sich vor zweihundertdreizehn Jahren dazu entschieden haben, meinem Urteil Glauben zu schenken, dass die Erdoberfläche nicht mehr lange bewohnbar sein würde. Sie sind meiner Einladung gefolgt und haben unter meiner Anleitung Städte wie diese in den Untergrund gebaut und das Lower Age begründet. Sie haben damit ihr Leben gerettet und eures erst möglich gemacht.«
Applaus brandet auf, als MAMs Leuchten für einen winzigen Moment verblasst, nur um dann noch intensiver zu werden.
»Ihr seid eine neue Generation von Do-its. Tatkräftige Menschen wie eure Vorfahr*innen, die ihren Teil dazu beitragen wollen, diese Gesellschaft funktions- und leistungsfähig zu halten. Und wie eure Vorfahr*innen werdet ihr meinem Urteil vertrauen, wenn ich euch heute euren Platz zuweise. Ich bin sicher, jede und jeder von euch wird ihr oder sein Bestes geben. So, wie es eure Vorfahr*innen getan haben.«
Dieses Mal klatschen nur die neuen Do-its. Auch ich schlage die Handflächen aneinander, lasse es aber schnell wieder bleiben, als ich bemerke, wie sehr meine Hände zittern. Gleich ist es so weit. Gleich wird MAM die Entscheidung verkünden, die über den Rest meines Lebens bestimmen wird.
»Ich kenne euch seit dem Tag eurer Geburt.« MAMs Tonfall hat sich verändert, nur um eine Nuance, und ihre Stimme ist leiser geworden. Ich ertappe mich dabei, wie ich den Atem anhalte, damit mir keines ihrer Worte entgeht. »Ich weiß, wann ihr eure ersten Schritte gemacht und wann ihr eure ersten Worte gesprochen habt. Sogar, welche Worte das waren. Ich habe nicht nur eure Kindheit, sondern all euer Lernen bis zum heutigen Tag verfolgt und protokolliert. Ich kenne eure Vorlieben und Talente. Sogar die, von denen ihr selbst möglicherweise noch nichts ahnt. Ich erinnere mich an Dinge, die ihr selbst und eure Caregiver*innen längst vergessen haben. Deshalb könnt ihr sicher sein, dass meine Pläne für euch perfekt sind. Sie entsprechen mit einer 99,7-prozentigen Wahrscheinlichkeit dem Lebensweg, den ihr selbst wählen würdet, wenn ihr alle Möglichkeiten zuvor durchprobiert hättet. Und das ganz ohne diesen Aufwand.«
99,7 Prozent. Das ist beruhigend, oder? Aber was ist mit den verbleibenden 0,3 Prozent von uns? Wie viele sind wir überhaupt? Vielleicht zweihundert Neulinge? 0,3 Prozent davon ergeben keine ganze Person. Also keiner bis einer von uns.
Eine absurde Überlegung formt sich in meinem Kopf: Was, wenn ich die eine Do-it bin, die einen anderen Weg wählen würde, wenn sie könnte?
Meine Gedanken überschlagen sich. Ich bemerke, dass die Level-3-Do-its sich links und rechts unserer Empore aufstellen. Es sind mehr geworden. Mindestens fünfzig weiß gekleidete Personen, die uns erwartungsvoll beobachten.
»Department A«, sagt MAM. »Administer.« Dann beginnt sie, Namen zu verkünden. Drei Do-its mit einem aufgestickten A auf ihren weißen Shirts treten vor und winken die aufgerufenen Neulinge zu sich. Ich verfolge alles atemlos.
Anouk befindet sich unter denen, die sich in Bewegung setzen. Ich stutze. Ich habe nicht bemerkt, wie MAM ihren Namen genannt hat. Was, wenn ich meinen eigenen auch überhört habe? »Bitte«, denke ich. »Bitte, MAM, schick mich in das gleiche Department wie sie.«
Aber obwohl MAM jedes noch so leise geflüsterte Wort hören kann, wenn ich nur zuvor ihren Namen sage, kann sie nicht meine Gedanken lesen. Und sie erfüllt mir auch meinen Wunsch nicht.
»Department B. Build«, fährt sie fort, während Anouk und fünf andere von den Level-3-Do-its in Empfang genommen werden.
Ich zwinge mich, den Blick von dem Grüppchen loszureißen, damit ich meinen eigenen Namen nicht verpasse. Sierra wird aufgerufen, genau wie sie es gehofft hat. Aber ich nicht.
»Department C. Care.« Ich horche auf. Ich warte. Doch offenbar hat MAM für mich auch keine Karriere als Caregiverin geplant. Langsam macht sich Nervosität in mir breit. A, B und C wären Optionen gewesen, mit denen ich mich hätte anfreunden können. Aber plötzlich fällt mir eine Vielzahl von Departments ein, die ich niemals selbst wählen würde. Was, wenn MAM mich in Watch steckt – das einzige Department ohne Auf- oder Abstiegsmöglichkeiten? Ein Junge aus meiner Care-Gruppe hat erzählt, dass die W-Do-its immer unter sich bleiben und als die Security der City den härtesten Trainingsplan von allen haben. Mit ihren karmesinroten Overalls stechen sie schon optisch so heraus, dass die meisten Menschen einen Bogen um sie machen. Aber sind die Ws nicht allesamt groß und muskulös? Ich bin keines von beidem – was mich allerdings nicht vollends beruhigt.
Die Do-its für Department D werden aufgerufen. Zwei Jugendliche aus meiner Care-Gruppe landen in Department E und werden damit Energize-Do-its. Mein Magen verknotet sich. Als Nächstes ist Department F an der Reihe. Fertilize – die Embryonenaufzucht.
»Bitte, MAM«, flehe ich ebenso so lautlos und nutzlos wie zuvor. »Das nicht.«
Allein der Gedanke an die sterilen Arbeitsräume und die Tätigkeiten, die über Leben und Tod entscheiden, macht, dass mir ganz flau wird.
MAM nennt insgesamt acht Namen. Erst, als sie verstummt, ohne mich aufzurufen, merke ich, dass ich die Luft angehalten habe.
»Department G«, verkündet MAM da auch schon.
Der Rothaarige mit dem Eisblick zuckt zusammen, als sein Name aufgerufen wird. Cassian. Er heißt Cassian. Und er sieht alles andere als begeistert aus, als er sich in Bewegung setzt, um sich dem Grow-Department anzuschließen. Vielleicht ist er die Ausnahme. Vielleicht gehört er zu den 0,3 Prozent. Nicht ich.
Department H wie Host. Die Reihen um mich herum dünnen sich langsam aus.
Schon sind wir bei Department I angekommen. Ich grabe die Nägel in meine Handflächen und warte darauf, endlich meinen Namen zu hören. Aber nur zwei Neue werden aufgerufen, ehe MAM zu M wie Maintain übergeht.
Zwei neue Level-3-Do-its stellen sich in Position. Auf ihren Shirts prangt das N des Nurse-Departments. »Jaxon.« Plötzlich bringt MAMs Stimme meine Trommelfelle zum Vibrieren. Es ist eine Vorahnung, nicht mehr, aber sie erfüllt mich mit Panik. Vor lauter Angst, in W zu landen, und Erleichterung, nicht F zugeteilt worden zu sein, habe ich an das Nurse-Department gar nicht gedacht. Noch mehr sterile Räume, und dazu noch kranke Menschen, Verletzungen und Blut. Übelkeit steigt in mir auf.
»Quinn.« Cassians Freund mit dem Pferdeschwanz geht zu den Nurse-Do-its hinüber. »Emery. Livia.«
Nein.
Ich stehe regungslos da. Keine Ahnung, was ich erwartet habe. Nicht das, muss ich mir eingestehen. Blut abnehmen und Verbände wechseln, statt mir virtuelle Welten auszudenken. Nein, darauf war ich nicht gefasst. Überhaupt nicht.
Der Applaus sorgt dafür, dass ich mich in Bewegung setze. Mechanisch gehe ich an den wenigen verbleibenden Neulingen vorbei zu den drei anderen, die sich um die zwei weiß gekleideten Do-its scharen. Eine hochgewachsene Frau mit kurzem, hellem Haar und ein schwarz gelockter Mann mit Oberlippenbärtchen. Beide lächeln uns an.
»Wir freuen uns, euch vier in Department N willkommen zu heißen«, begrüßt uns die Frau. »Das Department ist in zwei Bereiche unterteilt: die Ambulanz und die stationäre Pflege, zu der auch die Intensivstation gehört. Mein Name ist Gwynetha, und ich leite die Ambulant Care des Nurse-Departments. Wir kümmern uns um Check-ups, kleinere Verletzungen und Erkrankungen. Ihr kennt diesen Teil von Department N von euren regulären Check-ups oder wart vielleicht schon einmal bei uns, wenn ihr euch nicht so gut gefühlt habt.«
»Meinen Bereich kennt ihr dagegen mit etwas Glück noch nicht«, schaltet der Mann sich ein. »Wenn jemand stationär betreut werden muss, sind wir in der Stationary und Intensive Care zuständig. Die kritischeren Fälle also. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Operationen und schwere Verletzungen. Oh, und ich bin Valerio.« Er grinst, und mein erster Gedanke ist, dass er eigentlich einen total netten Eindruck macht.
Mein zweiter Gedanke ist, dass Valerios Arbeit grauenhaft klingt.
»Wir teilen je zwei von euch Gwynetha zu, und die anderen beiden kommen zu mir«, fährt Valerio fort. »Also, nur raus mit der Sprache, wenn ihr bereits eine starke Berufung in eine der beiden Richtungen empfindet.«
Ich sollte mich für die ambulante Pflege melden. Nicht, dass ich besonders scharf darauf wäre, aber Valerios Bereich wäre der absolute Albtraum. Doch ich bringe kein Wort heraus.
»Ich würde gerne in die ambulante Pflege gehen.«
Ich reiße den Kopf zu dem Jungen herum, der gesprochen hat. Er ist groß, breitschultrig und strohblond. Seine Augen leuchten vor Begeisterung. Definitiv fällt er nicht unter die 0,3 Prozent.
»Wie schön.« Gwynetha nickt. »Noch jemand?«
Jetzt. Ich werde es jetzt einfach sagen. So schwer kann das nicht sein.
»Nur keine Scheu«, meint Valerio aufmunternd. »Hier muss sich niemand verstecken. Manche Situationen erfordern es, dass man den Mund aufmacht und den ersten Schritt wagt.«
Meint er mich? Hat MAM ihm das eingeflüstert, damit er mich aus der Reserve lockt?
Doch nun gibt das fremde Mädchen neben mir sich einen sichtlichen Ruck und sagt: »Ich. Ich würde mich Jaxon gerne anschließen.«
Fast gleichzeitig erklärt der Junge mit dem Pferdeschwanz, der vorhin neben Anouk gestanden hat: »Ich denke, ich wäre in der Stationary Care gut aufgehoben.«
Valerio nickt ihm begeistert zu. Dann fällt sein Blick auf mich. »Das macht dich also zu unserer neuen Intensive-Care-Do-it. Glaubst du, das könnte dein Ding sein?«
»Ich … ja«, höre ich mich sagen. »Klar, das klingt perfekt.«
Muss es doch sein, oder? Immerhin hat MAM sicher einen Grund gehabt, mich in Department N zu stecken.
Ich zwinge meine Lippen zu einem Lächeln. Falls es eher nach einer schmerzhaften Grimasse aussieht, lässt Valerio sich nichts anmerken. »Ich kann’s nicht erwarten, euch euren zukünftigen Arbeitsplatz zu zeigen. Ab heute für immer. Das ist wirklich eine große Sache.«
Es ist Abneigung auf den ersten Blick. Ich habe Department N kaum betreten, da werde ich von Erinnerungen an Check-ups und die Anspannung beim Warten auf die Ergebnisse überspült. Das hier war noch nie mein Lieblingsplatz in der City, und er wird es auch jetzt nicht werden. Der Geruch, der schon im Hauptflur in der Luft liegt, brennt in der Nase, und ich versuche intuitiv, flacher zu atmen. Mit dem Resultat, dass mir leicht schwindelig wird, während Gwynetha uns den Dienstplan auf dem Wandscreen neben dem Eingang erklärt. Nur vage bekomme ich mit, dass unser tägliches Trainingspensum hochgeschraubt wird, weil die Arbeit als Nurse-Do-it körperlich anstrengend sein kann.
»Die genauen Einheiten werden von MAM individuell für euch geplant und finden im Gym hier im Department statt«, schließt sie, was jemand von den anderen mit einem leisen und definitiv nicht sarkastischen »Yeah« quittiert. Ich habe nicht die Kraft, mich umzusehen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es dieser Jaxon war. Er scheint alles an Department N yeah zu finden.
»Die ambulanten Räumlichkeiten kennt ihr natürlich alle von den Check-ups.« Gwynetha weist auf die Tür hinter sich. »Vielleicht sehen wir uns das trotzdem kurz an. Immerhin werden Jaxon und Emery ab morgen hier arbeiten.«
Ich zwinge mich, einmal tief Luft zu holen, um den Schwindel zurückzudrängen, und folge den anderen in einen Seitenflur, von dem platzsparende Schiebetüren abgehen. Behandlungsräume, durchnummeriert mit großen, grauen Ziffern. Gwynetha öffnet Nummer 03 für uns. Im Raum dahinter ist gerade so Platz für uns sechs.
»Für einen Check-up oder bei akuten Beschwerden kommen die Patient*innen hierher und werden erst mal von einem oder einer Level-2-Do-it grundlegend untersucht. Das heißt, in Kürze wird das eure Aufgabe sein. Aber keine Sorge, MAM führt euch ganz engmaschig durch die einzelnen Punkte.« Sie greift nach einem flachen Bildschirm an einem flexiblen Arm und zieht ihn so zurecht, dass wir ihn alle sehen können.
»Untersuchung bei Atembeschwerden«, steht in großer weißer Schrift darauf.
»Spielen wir das doch einmal durch«, schlägt Valerio vor. »Wir haben einen Patienten oder eine Patientin mit irgendeiner Art von Beschwerden beim Atmen. Livia, hast du Lust, unser Versuchskaninchen zu sein?«
Vor Schreck atme ich die desinfektionsmittelgetränkte Luft tiefer als beabsichtigt ein und muss prompt husten.
Valerio klopft mir auf die Schulter. »Da haben wir es.« Er lacht auf und schiebt mich in Richtung Patientenliege. »Klingt doch nach klassischem Atemwegsinfekt.«
Gwynetha dreht das Display ein wenig, damit ich es von meinem neuen Platz aus ebenfalls sehen kann. Eine Reihe von kleinen Kästchen mit abgerundeten Ecken ploppt auf, und Gwynetha wählt mit geübten Fingern drei davon aus: Husten, Blässe, Abgeschlagenheit. Ist das jetzt Teil des Planspiels oder sehe ich wirklich so schlimm aus? Ich fühle mich jedenfalls immer noch ziemlich schummerig und bin dankbar, mich auf die Liege in der Raummitte setzen zu können.
»Normalerweise würde ich dich das natürlich nicht sehen lassen«, erklärt Gwynetha. »MAMs Anweisungen erfolgen ausschließlich über den Screen oder das In-Ear-Modul, um unsere Patient*innen nicht zu verunsichern. Viele fühlen sich ohnehin unwohl, wenn sie zur Untersuchung hierherkommen.«
Warum nur? Vielleicht sollte ich anregen, dass Aromaöle die Sache deutlich verbessern könnten, weil allein der Geruch hier drinnen das Atmen schwer macht. Aber das sage ich nicht laut, sondern beantworte nur brav Gwynethas Fragen, ob das Husten schmerze und wie lange es schon anhalte.
Schließlich erscheinen die ausgewählten Kacheln in einer Art Übersicht, gemeinsam mit einigen Vitalwerten: Temperatur, Puls, Blutdruck, Sauerstoffsättigung. Alles befindet sich im Normbereich.
»Das sind die Parameter, die MAM direkt über deinen Sensor am Oberarm misst und minutenaktuell hier anzeigt. Im nächsten Schritt würde sie nun diejenigen Werte abfragen, die sie darüber nicht abnehmen kann. Sie wird mich bitten, deine Lunge mit dem Stethoskop abzuhören, deine Pupillen zu überprüfen oder deinen Urin auf Bakterien zu untersuchen. Das tun wir jetzt selbstverständlich alles nicht, denn du bist ja kerngesund, Livia.« Sie lächelt mich aufmunternd an. »Diagnose und empfohlene Therapie erscheinen nach Abschluss auf dem Display. Sobald der Raum wieder frei ist, wird er von einem Level-1-Do-it gereinigt und desinfiziert.«
Was den Geruch erklärt. Unmengen von Desinfektionsmittel, um den Ausbruch einer Epidemie in der City zu vermeiden. Weil wir hier auf engstem Raum leben und es keine Ausweichmöglichkeiten gibt, wäre das eine Katastrophe.
»Und das war’s auch schon«, übernimmt wieder Valerio. »Eine Aufnahmeuntersuchung in der Stationary Care läuft ganz ähnlich ab. Die Station sehen wir uns jetzt gleich als Nächstes an.« Er klatscht in die Hände. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der das wirklich tut, aber dieser Typ scheint vor Enthusiasmus nur so zu sprühen. Normalerweise fühle ich mich in Gegenwart von Level-3-Do-its verunsichert und befangen, wie bei Gwynetha, aber Valerio macht es einem schwer, ihn nicht zu mögen, und ich merke, wie seine Ausstrahlung mich beruhigt. Vielleicht wird das hier doch nicht ganz so schlimm.
Wir folgen ihm durch eine Zwischentür. Er referiert den ganzen Weg lang darüber, wie aus einer ambulanten Untersuchung manchmal ein stationärer Aufenthalt resultiert, während andere Patientinnen und Patienten von MAM aufgrund ihrer Werte direkt in die Stationary Care geschickt werden.
Wir landen in einem weiteren Flur mit grauem Fußboden und weißer Decke samt Leuchtröhren, die künstliches Tageslicht verströmen. Die Wände unterscheiden sich allerdings von denen in anderen Räumen: Sie bestehen aus Milchglas. Gläserne Trennwände, gläserne Schiebetüren, die Hälfte davon offen. Zwei Do-its, einer in Grau und einer in Weiß, stehen im Flur und tauschen sich aus, ehe der Weißgekleidete eines der Patientenzimmer betritt.
In der City ist der Platz überall begrenzt. Unsere Units und Capsules sind raumsparend konzipiert, aber so geschickt eingerichtet, dass sie eigentlich gar nicht beengt wirken. In Department N aber habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, eingesperrt zu sein. Es ist eng. So eng, dass ich nicht richtig atmen kann. Jaxon, Emery, Quinn, Valerio und Gwynetha sind mir zu nahe, der Flur bietet nicht genug Platz für uns alle. Und der Gedanke, den ohnehin begrenzten Raum hier drinnen auch noch mit Dutzenden von Kranken zu teilen, schnürt mir die Brust zusammen.
»Bist du okay?« Quinn spricht leise, um Valerios Vortrag nicht zu unterbrechen. Er sieht selbst blass aus, wenn ich es mir recht überlege. Vielleicht liegt das aber auch an seinem schwarzen Haar, das einen so starken Kontrast zu seiner Haut bildet. Genau wie bei Anouk.
Mein Herz zieht sich noch fester zusammen.
Quinn hat im Atrium neben ihr gestanden. Ich könnte ihn fragen, ob er sie kennt. Aber nun sieht auch Valerio zu uns. Ich richte mich kerzengerade auf und nicke Quinn zu. »Alles klar«, wispere ich.
Valerio schleppt uns in ein Patientenzimmer, das zum Glück unbesetzt ist. Das Bett darin ist frisch gemacht. Es ist gerade genug Platz für ein paar Terminals an der Wand dahinter und einen schmalen Weg rund um das Bett herum. Valerio sagt noch einige Worte zu den Geräten und klatscht dann wieder in die Hände. In der erstickenden Enge des winzigen Abteils ist das Geräusch ohrenbetäubend, und ich zucke zusammen.
»Gwynetha, du nimmst deine zwei Neulinge mit, und ich stelle euch beiden ein paar Kolleg*innen vor – Quinn, Livia –, wenn ihr noch aufnahmefähig seid.«
Wir nicken beide. Ich konzentriere mich auf meine Atmung. Endlich kehren wir in den Flur zurück, und nachdem sich Gwynetha, Emery und Jaxon verabschiedet haben, sind wir für den Moment nur noch zu dritt.
»Du siehst tatsächlich ein bisschen blass aus, Livia«, stellt Valerio fest. »Willst du dich einen Moment setzen?«
»Nein«, erwidere ich, ohne zu zögern. »Es ist nur alles so neu und … Ich weiß nicht, ob ich das hinbekomme. Ob ich für den Job hier geeignet bin«, platze ich heraus. Verdammt, es ist normalerweise gar nicht meine Art, Dinge erst zu sagen und dann darüber nachzudenken. Und dabei festzustellen, dass ich sie besser für mich hätte behalten sollen. Das muss am flachen Atmen und dem damit einhergehenden Sauerstoffmangel liegen. »Entschuldigung, ich hätte nicht –«, setze ich an, doch zu meiner Überraschung fängt Valerio an zu lachen. Er hat ein freundliches, warmes Lachen, und mir wird sofort ein kleines bisschen leichter ums Herz.
»Natürlich bist du geeignet«, behauptet er, als hätte ich einen Scherz gemacht oder das alles nur gesagt, um Bestätigung von ihm zu bekommen. »Sonst hätte MAM dich uns nicht zugeteilt. Warte es nur ab. Sie hat dein Talent für die Krankenpflege gesehen. Und ich bin sicher, in den nächsten Tagen wirst du es selbst auch noch entdecken.«
Ich würde es niemals laut sagen, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er recht hat. Trotzdem nicke ich.
»Mein Ding wäre das nicht«, verkündet Sierra, nachdem ich ihr am Abend in unserer Unit in knappen Worten von meinem Start in Department N erzählt habe. »Ich bin froh, dass ich mehr mit Rohstoffen als mit Menschen arbeiten werde. Aber hey, es ist so ein wichtiger Job! Ich find’s super, dass du dich dafür begeistern kannst!«
Meine Lippen fühlen sich schon ganz verkrampft an vom gezwungenen Lächeln. Wirkt es tatsächlich so glaubhaft, dass Sierra Begeisterung sieht, wo definitiv keine ist?
Sierra wirbelt durch unsere Unit und verbreitet so viel Chaos, wie es mit nur einer Handvoll persönlicher Besitztümer möglich ist. Sie kämmt sich das glatte, helle Haar und lässt ihre Bürste auf dem Klapptisch zurück, auf dem bereits ihr halb leerer Proteinshake-Becher steht. Der Farbe nach zu urteilen mit Cranberry-Geschmack. Sierras Schuhe liegen vor ihrer Capsule auf dem Boden, mitten im Weg, sodass Sierra wiederholt darübersteigen muss. Währenddessen erzählt sie nun ohne Punkt und Komma von ihrem ersten Tag im Build-Department.
»Die anderen sind total nett«, plappert sie gerade. »Alles sehr praktische Typen. Ich mag das. Es ist unkompliziert. Wir treffen uns heute Abend in einer Sim. Ein paar Leute aus B, aber nicht nur. Komm doch mit!«
»Danke, aber … Ich weiß nicht. Ehrlich gesagt, bin ich ziemlich erledigt.«
Sierra rollt demonstrativ mit den Augen. »Eben. Wir haben uns ein bisschen Freizeit verdient nach unserem ersten Tag als Do-its. Findest du nicht auch?« Sie schiebt sich an mir vorbei zu dem Wandscreen im Eingangsbereich und stolpert dabei über einen ihrer Schuhe. »Ups. Ich hoffe, du störst dich nicht an ein bisschen wohnlicher Unordnung. Ich meine … in den Care-Gruppen musste immer alles top aufgeräumt sein, bei so vielen Leuten auf einem Haufen. Ich feiere gerade den Luxus, dass wir die ganze Unit für uns haben. Nur zu zweit. Ich hab gehört, auf Minus-3 haben die Do-its Einzel-Units. Wahnsinn, oder? Aber auch ein bisschen einsam, wenn du mich fragst.« Sie tippt auf den Wandscreen und erweckt ihn damit zum Leben. Zartfarbig hinterlegte Kacheln erscheinen auf dem Weiß. Von der Seite kann ich keine Details erkennen, aber es sieht so aus, als checke Sierra ihre Nachrichten.
»Dachterrassenparty«, stellt sie fest. »Nice! Ich hoffe, es gibt Cocktails.« Sie dreht sich wieder zu mir um. »Ich überlasse dir unseren Space und schnappe mir einen der öffentlichen, solang noch welche frei sind. Wenn du mir versprichst, dass du auch in die Sim kommst. Ich wette, die meisten neuen Do-its werden da sein.«
Ich denke an die vielen unbekannten Gesichter bei der Initiation. An Jaxon, Emery und Quinn, mit denen ich heute schon zu viel Zeit verbracht habe, und daran, dass ich eigentlich nur noch in meine Capsule will.
Sierra ist nett – wenn auch ein bisschen überdreht und chaotisch. Ich könnte ihr zuliebe mitkommen. Oder weil die Chance besteht, dass auch Anouk da sein wird …
Sierra sieht mich erwartungsvoll an. Ich nicke zögernd, und ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Wir verabreden uns in zwanzig Minuten in Sim 02857 – Dachterrassenparty über dem New York des Upper Age.
Der Space in unserer Unit funktioniert genau wie der in der Care-Gruppe. Es dauert ein paar Minuten, bis ich die Elektroden angebracht und meine Beine in den Halterungen angeschnallt habe. Zum Schluss ziehe ich mir die VR-Maske samt Kopfhörer über und finde mich im Menü wieder.
»Hallo, Livia«, begrüßt mich MAMs Stimme – anders als das In-Ear-Modul erzeugen die Space-Kopfhörer einen satten Surround-Sound. »Ich hoffe, du hattest einen schönen ersten Tag als Do-it. Soll ich dir Sims empfehlen, die heute beliebt sind oder möchtest du eine Keyword-Suche starten?«
»Ich will zur Dachterrassenparty«, erkläre ich. »Sim 02857. Und mein Tag war … spannend.«
»Das freut mich«, erwidert MAM, ohne mein Zögern zu kommentieren. »Du scheinst eine neue Freundin gefunden zu haben.«
»Sierra?« Ich lache ein klein wenig nervös. Es ist seltsam, mit MAM über meine Mitbewohnerin zu sprechen, während diese sich vermutlich direkt neben mir befindet. Oder hat sie unsere Unit bereits verlassen? Im Space bin ich völlig abgeschottet und bekomme nichts von meiner Umgebung mit. Und dank der schallisolierten VR-Maske mit integriertem Mikrofon kann auch Sierra nichts von dem hören, was ich sage. »Ja, sie ist echt nett. Herzlich und so. Sind schon viele Leute in der Sim?«
»93 aktuell.«
Ich schlucke. Normalerweise meide ich große Sims, vor allem dann, wenn abzusehen ist, dass das Areal nicht weitläufig, sondern räumlich begrenzt ist. Aber ich habe es Sierra versprochen. Und ich weiß, dass Anouk Menschenmengen im Gegensatz zu mir nicht scheut. Bestimmt wird sie da sein. »Möchtest du deinen Avatar anpassen?«, bietet MAM an. »Der Dresscode in Sim 02857 lautet 1950er Jahre.«
»Kannst du mir ein paar Outfits vorschlagen, die mir stehen könnten?«
»Sehr gerne, Livia.« Sie hat noch nicht ausgesprochen, da erscheinen ihre Vorschläge schon auf dem 360-Grad-Screen meiner VR-Maske. Petticoats, Punkte, Schleifen und Sonnenbrillen. Ich bin komplett überfragt.
»Outfit Nummer 07 bringt deine warme Augenfarbe gut zur Geltung.« MAM hebt die entsprechende Kachel hervor, und ich atme erleichtert auf. Ein Kleid mit cremefarbenem Oberteil und schwarzem Rock mit aufgenähten Schmetterlingen. Die zugehörige Haarschleife ist ebenfalls schwarz und damit dezent gegen die meisten Alternativen. »Möchtest du sehen, wie du darin aussehen würdest?«
»Nein«, sage ich schnell. »Es ist perfekt. Das nehme ich.«
»Outfit 07 – ausgewählt. Möchtest du Make-up dazu?«
»Nur das übliche.«
»Naturpuder und Mascara – ausgewählt. Möchtest du weitere Änderungen an deinem Avatar vornehmen?«
»Nein. Ich bin bereit für die Party.«
Das Bild im Inneren meiner VR-Maske wird schwarz, und ich spüre, wie MAM die Sensoren aktiviert, die eine Sim so lebensecht machen. Sie stimulieren nahezu alle Sinne. Der Boden unter meinen Füßen ist das Erste, was ich wahrnehme, und obwohl ich weiß, dass mein Körper immer noch im Space liegt, fühle ich mich, als würde ich aufrecht stehen. Die Geräusche kommen dazu – Musik, passend zum Dresscode, und laute Stimmen. Eine fein abgestimmte Mischung von Aromaölen aus dem Diffusor in meiner VR-Maske gaukelt meinem Gehirn sogar den Geruch von Zuckerwatte, Stadtluft und Sommerhitze vor. Nur die Wärme selbst – die kann ich mir nur vorstellen, weil ich den warmen Ton der Abendsonne sehe, die die Szene vor mir in goldenes Licht taucht. Wärme- und Kälteempfinden gehören zu den wenigen Dingen, die selbst die beste Sim nicht simulieren kann. Nicht, dass es in Department I keine Versuche dazu gegeben hätte. Wir hatten in der Care-Gruppe sogar einmal den Prototyp eines Space mit Temperaturregulation. Aber das Gefühl, das die Heiz- und Kühlelemente erzeugten, war überhaupt nicht realistisch, und bei anderen Tests kam es angeblich sogar zu Verbrennungen. Also bleiben unsere Ausflüge in die Sims vorerst temperaturneutral.
Mein Sehsinn kommt dafür mehr als auf seine Kosten: Die Dachterrassenparty ist eine Explosion aus Farben und Eindrücken. Ketten aus warmweiß strahlenden Retroglühbirnen spannen sich über einer tanzenden Menge. Ich sehe übergroße Sommerhüte, gepunktete Kleider mit schwingenden Röcken, bunte Anzüge und Fliegen und jede Menge Schleifen in gelockten Frisuren.
Wie immer fühlen sich die ersten Bewegungen in der Sim ungewohnt an. Seltsam schwerelos, weil mein Körper sich dabei nicht wirklich bewegt, sondern die Elektroden den Impuls vorher abfangen und in die Steuerung meines Avatars übersetzen. Ich weiß, dass es keine Minute dauern wird, ehe ich mich an das Gefühl gewöhnt habe. Nach einer Viertelstunde kann man glatt vergessen, dass man sich in einer Sim befindet, so echt fühlt es sich an.
Ich sehe mich genauer um. Auf der anderen Seite der Dachterrasse wurde aus Paletten eine Bar aufgebaut und zwischen ausladenden Pflanzen in Steinkübeln stehen einige Tischchen, die bereits gut besetzt sind. Es ist eine tolle Location. Aber das Spektakulärste ist der Ausblick über die steinerne Brüstung. New York liegt uns zu Füßen. Es brummt vor Leben. Aus dieser Höhe vermischen sich die Geräusche der Stadt zu einem einzigen Klangteppich. Tausende von Autos, Taxis, Bussen und Bahnen kriechen durch die Straßen unter uns, und es wimmelt nur so von ameisenkleinen Menschen. Ich weiß, dass sie nur Kulisse sind. Nicht echt, nicht einmal Avatare. Nur von MAM generierte Statisten. Aber ich stelle mir trotzdem vor, wie sie von ihrem Job in einem der zahllosen Wolkenkratzer kommen und mit der Top nach Hause fahren, in einen weniger zentralen Stadtteil zu ihrem schnuckeligen Holzhaus mit Veranda samt Hollywoodschaukel. Nur, dass die Top für sie Underground heißt, weil sie unter dem Ort liegt, an dem sich ihr Leben abspielt. Nicht darüber. Es ist verrückt.
»Livia!« Ein Arm schlingt sich um meine Schultern, und aus einem Cocktailglas spritzt etwas türkisfarbene Flüssigkeit auf mein Kleid, als Sierra mich überschwänglich an sich zieht. Offenbar ist es nicht ihr erster Drink, denn sie schwankt merklich. Wirken die Dinger so schnell? Obwohl der Space auch die Wirkung des Alkohols nur imitiert und ich schlagartig nüchtern sein werde, wenn ich die Sim beende, nehme ich mir vor, vorsichtig damit zu sein. Ich will meine Sinne beieinanderhaben, wenn ich Anouk wiedersehe.
»Du bist wirklich gekommen!« Sierras Wangen sind gerötet, und sogar das steht ihr hervorragend. Genau wie das tief ausgeschnittene Kleid in der Farbe ihres Cocktails. Die Schleife um ihre Taille ist blütenweiß, ebenso das winzige Hütchen, das in ihrem hochgesteckten Haar prangt. Sie ist beim Dresscode wirklich aufs Ganze gegangen.
»Holen wir dir was zu trinken!« Sierra zieht mich mit sich dorthin, wo ich eigentlich um keinen Preis hinwill: in Richtung Gedränge. »Das Ding hier schmeckt ziemlich gut.« Sie hebt im Laufen ihr Glas und verschüttet wieder einen kleinen Schluck. »Blue Hawaii hat der heiße Barkeeper gesagt. Der Dunkelhaarige, siehst du ihn?«
»Ist er … ist er echt oder …?«, setze ich an. Sierra bahnt uns einen Weg direkt über die Tanzfläche, und ich bin vollauf damit beschäftigt, anderen Leuten auszuweichen.
Mit einem Seitenblick auf mich lacht Sierra auf. »Niemand hier ist echt. Es ist eine Sim!« Dann hält sie inne, mitten auf der Tanzfläche. Wir werden von allen Seiten angerempelt, aber das scheint sie nicht zu kümmern. »Warte mal, du meinst, dass er nur ein MC ist?«
»MC?« Das Wort kenne ich nicht, auch wenn ich mir denken kann, was Sierra damit meint.
»MAM-Character«, übersetzt sie. »Keine Ahnung, ob er einer ist. Vermutlich, so unverschämt charmant, wie er war.«
Sierra zuckt die Schultern und setzt sich wieder in Bewegung. »Mir ist egal, ob er echt ist. Ich meine, macht es wirklich einen Unterschied, ob eine Person dahintersteckt oder MAM?«