Ewiges Licht - Paul McAuley - E-Book

Ewiges Licht E-Book

Paul McAuley

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Bedrohung aus der Tiefe des Alls

Nach dem Schrecken eines interstellaren Krieges wird ein geheimnisvoller Stern entdeckt, der aus dem Inneren der Galaxis geradewegs auf unser Sonnensystem zukommt. Der labile Friede ist augenblicklich wieder in Gefahr; politische Gruppierungen und religiöse Eiferer versuchen die sich abzeichnende Katastrophe für ihre Zwecke zu nutzen. Doch wer hat diesen Stern vor einer halben Million Jahre auf die Reise geschickt? Welche Technik steckt dahinter? Und vor allem: weshalb? Eine Gruppe von herausragenden Wissenschaftlern fällt die Aufgabe zu, dieses Rätsel zu lösen, darunter Dorthy Yoshida, die telepathisch begabte Astronomin, Robot, ein revolutionärer Künstler, dessen Gehirn mit der komplexesten Hardware aufgerüstet ist, die die irdische Technologie je hervorgebracht hat, und Talbeck, ein „Goldener“, dessen Organismus so weit verändert wurde, dass er über eine fast unendliche Lebenserwartung verfügt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 744

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Paul J. McAuley

EWIGES LICHT

Roman

Das Buch

Nach dem Schrecken eines interstellaren Krieges wird ein geheimnisvoller Stern entdeckt, der aus dem Inneren der Galaxis geradewegs auf unser Sonnensystem zukommt. Der labile Friede ist augenblicklich wieder in Gefahr; politische Gruppierungen und religiöse Eiferer versuchen die sich abzeichnende Katastrophe für ihre Zwecke zu nutzen. Doch wer hat diesen Stern vor einer halben Million Jahre auf die Reise geschickt? Welche Technik steckt dahinter? Und vor allem: weshalb? Eine Gruppe von herausragenden Wissenschaftlern fällt die Aufgabe zu, dieses Rätsel zu lösen, darunter Dorthy Yoshida, die telepathisch begabte Astronomin, Robot, ein revolutionärer Künstler, dessen Gehirn mit der komplexesten Hardware aufgerüstet ist, die die irdische Technologie je hervorgebracht hat, und Talbeck, ein „Goldener“, dessen Organismus so weit verändert wurde, dass er über eine fast unendliche Lebenserwartung verfügt.

Der Autor

Paul McAuley, 1955 im englischen Stroud geboren, arbeitete mehrere Jahre als Dozent für Botanik an der St. Andrews University, bevor er beschloss, sich ganz dem Schreiben zu widmen. 1988 veröffentlichte er seinen ersten Roman, Vierhundert Milliarden Sterne

Titel der Originalausgabe

ETERNAL LIGHT

Aus dem Englischen von Winfried Petri

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1991 by Paul J. McAuley

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat

O, du rote Rosenknospe!

Des Menschen Schicksal ist so sehr gebunden

An solch bitt’res Leid.

Viel lieber wäre ich im Himmel.

Ich kam auf eine breite Straße,

Wo ein kleiner Engel erschien, um mich

zurückzuschicken.

O nein! Ich wollte nicht zurück!

Ich bin von Gott und will wieder zu ihm hin!

Lieber, gnädiger Gott, gib mir ein wenig Licht,

Zu erhellen meinen Pfad zu ewigem Glück!

- Urzeitliches Licht

(aus Des Knaben Wunderhorn)

Klopstock/Mahler

Im Reiche des Lichts gibt es keine Zeit.

- J. S. Bell

Inhalt

Prolog

URZEITLICHES LICHT

Erster Teil

STRAHLENDE GEFALLENE HELDEN

Zweiter Teil

EISENSTERNE

INTERZONE

Dritter Teil

DIE WIEGE DER SCHÖPFUNG

Vierter Teil

Prolog 

Es begann, als die Stoßwelle einer nahen Supernova die rote Riesensonne des Alea-Heimatsystems zerriss und zehntausend Sippenvölker zwang, ihre Welt aufzugeben und neue Heime unter den dichtgedrängten Sternen des Kerns der Galaxis zu suchen. Oder es begann, lange nachdem eine Alea-Sippe die meisten anderen hingemetzelt und den Rest gezwungen hatte, zum Kern zu entfliehen, als ein Doppelstern dem Schwarzen Loch genau im Zentrum der Galaxis zu nahe kam. Oder vielleicht begann es eine halbe Million Jahre später, als Alea heimsuchende Asteroiden, in einem Gürtel um den roten Zwergstern BD +20° 2465 eine vorbeifliegende Drohne von Großbrasilien zerstörten, während sie das von ihnen ausgesuchte System passierte. So begann es nun zum Beispiel für Dorthy Yoshida, obwohl es ein Dutzend Jahre vor ihrer Geburt geschah: Der erste Akt in einem sinnlosen Krieg von Missverständnissen, der in einem freiwilligen Krampf von Völkermord endete.

Es gibt ja so viele Anfänge des komplexen Geflechts der geheimen Geschichte des Universums. Kausalketten verschmelzen und trennen sich und bilden Schleifen wie die vielschichtige Geodäsie des Kontraraums, welche die vier Dimensionen der normalen Raumzeit untermauert. Zum Beispiel waren vor einer halben Million Jahre, kurz nachdem der Doppelstern dem Schwarzen Loch im Zentrum der Galaxis begegnet war, die Überbleibsel von dem, was vormals ein unbedeutender Mond eines jupiterähnlichen Riesenplaneten gewesen war, fast nahezu auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt worden und hatten den zweiten Planeten des Sterns Epsilon Eridani gestreift. Dies, das Ende vom Anfang der Gestaltung des modernen menschlichen Schicksals, war das letzte Aufflammen eines Sippenzwistes der Alea, bei dessen Beilegung Dorthy Yoshida zu gegebener Zeit Hilfe leisten würde.

Es gibt kein Ende für Anfänge im grenzenlosen Multiversum und keinen bestimmten Anfang für sein Ende.

Ein zufälliger Anfang …?

Diese Welt wurde durch einen Eisbrocken erschüttert. Die Hälfte ihrer Ozeane schwappte infolge zahlreicher Treffer ins All; der Rest geriet ins Kochen und überspülte die Kontinente unter globalen Gewittern. Dunkle Wolken hüllten ihn ein von Pol zu Pol – außer dort, wo sich noch Trümmer des aufgeprallten Mondes befanden. Aus dem Orbit waren bebende Dampfsäulen zu erkennen, wo weißglühendes Magma aus dem Mantel an die Oberfläche quoll. – Nun eine halbe Jahrmillion weiter in die Zukunft!

Jetzt leben Menschen auf dieser Welt, die sie Nowaja Rossija nennen. Ihre Vorfahren, eine Schar Prominenter, die auf der Flucht vor einem islamischen Glaubenskrieg der untergegangenen russischen Nation entstammten, waren in Kühlsärgen in den Frachträumen von Schiffen mit Staustrahlantrieb aufgestapelt gewesen, die interstellare Materie aufsammelten und nicht die Lichtgeschwindigkeit erreichten. Seit fünfhundert Jahren leben jetzt Menschen auf Nowaja Rossija; aber trotzdem ist sie nur ein Wrack gegenüber der Welt, die sie einst war, ehe eine Clique einer abgespaltenen Alea-Sippe die Zivilisation zu Falle brachte, die sie einst geschaffen hatte.

Um den Äquator dieses Planeten windet sich schräg ein kompliziert verschlungenes Ringsystem aus Trümmermaterial, das durch den Aufprall in Umlaufbahnen geschleudert wurde. Es besteht aus Klumpen von gefrorenem Wasser und Schlamm und kleinen Glasperlen, die dem verdampften Mantel entstammen, sowie gefrorenen Gasen. Man erzählt sich, dass manche Eisklumpen vollkommen erhaltene schockgefrorene Fische enthalten. Dieses Gerücht hält sich, trotz einigen spekulativen und erfolglosen Versuchen, solche sagenhaften Überbleibsel zu bergen. Der Planet ist an sich noch thermodynamisch instabil. Sein Klima schwankt zwischen sengender Sommerhitze, die am Äquator die flachen Meere aus Kohlenwasserstoff verdunsten lässt, und einem wölfischen Winter, in dem diese Meere bis auf den Boden gefrieren. Die Reste von Leben beschränken sich auf die Gebirge und Hochebenen des südpolaren Festlandes, wo es trotz verheerenden Schnee- und Gewitterstürmen überlebt, die hundert Tage andauern, und Erdbeben wie Vulkanismus trotzt, die durch Verlagerung zerbrochener Krustentafeln bewirkt werden, welche sich einer neuen Geometrie anpassen.

Die meisten Leute leben in großen Kuppelbauten. Nur die Zithsa-Jäger durchstreifen frei die Klüfte und Canyons der wilden Landschaft, indem sie den ständigen Wanderungen ihrer Beutetiere folgen. Sie gelten bei der übrigen Bevölkerung als verrücktes Volk.

Major Sebastian Artemio Pinheiro saß in seiner klimatisierten unterirdischen Bleibe inmitten der geheimen Aushöhlung an den Hängen von Arrul Terek und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob er ebenso verrückt würde, wie man es von den Zithsa-Jägern behauptete. Pinheiro war ein hochgewachsener, kräftiger Mann. Er hockte auf der Kante seines Bettes, das als ein quadratischer Felsblock den meisten Platz in dem kleinen Raum beanspruchte. Er polierte seine kostspieligen Stiefel aus Zithsa-Fell zu den Klängen des himmlischen Chors aus Beethovens Missa Solemnis; und deshalb dachte er über Zithsa-Jäger nach. Und er putzte seine Stiefel deshalb, weil er sich fragte, was er hier draußen im Flachland machte, wo er ein Dutzend angeheuerter Archäologen beaufsichtigte, von denen kaum einer die Sprache des anderen verstand, eingepfercht durch ständige Kontrollen im Umkreis, solange die Expedition dauern würde. Aber es stand auch der Besuch eines seiner vorgesetzten Beamten bevor.

Pinheiro polierte gründlich und war von seiner Tätigkeit voll beansprucht, bis José Velez die Flügeltür der Hütte aufstieß und ihm meldete, dass die vornehmen Besucher soeben den Wachtposten am Pass erreicht hätten.

Pinheiro stellte die Stiefel ab und langte zu dem kleinen Kühlschrank auf dem Fußboden hinunter. »Ein Drink gefällig?«, fragte er Velez.

»Bist du verrückt?«

»So wie eine Wanze«, sagte Pinheiro, schenkte sich einen Schuss gallertartigen Wodkas ein und kippte ihn hinunter. Dann zog er seine engen schwarz schimmernden Stiefel an, stapfte aus dem Zimmer und durch den anschließenden Speiseraum zur Luftschleuse. José Velez folgte ihm dichtauf.

Der untersetzte Bohringenieur sagte: »Sebastian, was es auch ist, ich hoffe, dass du meinen Protest zur Kenntnis nimmst.«

»José, die Besucher sind die letzten Leute, um die du dir Sorgen machen könntest. Weißt du, es sind bloß hochrangige Touristen, die hergekommen sind, um zu gaffen. Reiche deine Beschwerde schriftlich ein!«

»Das habe ich schon getan, sogar zweimal!« Der üppige Schnurrbart von Velez schien zu funkeln, so heftig war seine offene Empörung. Er zog die Luke der Luftschleuse zu und folgte Pinheiro die Wendeltreppe nach oben. Dabei rief er: »Ich brauche Helfer, um die Kerne aus der Tiefe hochzuschaffen! Ich bin Bohringenieur und kein Schwerarbeiter. Die Arbeit, die sie von mir verlangen, ist unter diesen Bedingungen unmöglich. Wir brauchen mehr Leute auf der Ausgrabungsstelle, nicht mehr Wachpersonal!«

Wenn man aus dem Schatten des Treppenschachts hinaustrat, war es so, als ob man in den Gluthauch eines Hochofens käme. Die polare Sonne, eine zusammengedrückte, weiß strahlende Scheibe, hatte sich in ihrem Tageslauf der stumpfen Kuppe von Arrul Terek genähert. Hitze drang durch den Schlackenboden des nahegelegenen Tales. Die gezackten Berge, die sich nach links und rechts anschlossen, schienen über einem wabernden Dunst dick wie Öl zu erzittern.

Die Wohnräume der Archäologen waren tief in den Boden versenkt und durch flache Erdhügel bedeckt und so isoliert, dass sie bis auf das Bündel borstiger Kurzwellenantennen und die kleine Funkschüssel aussahen wie die Grabtumuli der nordamerikanischen Indianer oder von Königen der Eisenzeit. Hangabwärts war die eigentliche Ausgrabungsstätte; und jenseits davon konnte Pinheiro durch Schleier heißen Dunstes am Horizont eben den silbrigen Kopf des Geländefahrzeugs erkennen, das sich aus dem Gebirgspass in einem Kilometer Entfernung seinen Weg bahnte.

Velez zog die Kapuze seines Schutzanzugs hoch und sagte: »Wie viele Wächter haben wir? Fünfzig? Hundert? Hier ist alles verteufelt rückständig.«

»Es ist die Brutzeit der Zithsa«, sagte Pinheiro. »Sie ziehen durch diese Gegend ins Flachland. Extrawachen wären nötig, um Jäger fernzuhalten, die zu nahe herankommen.«

»Manchmal glaube ich, dass du all diesen Unsinn glaubst.«

Pinheiro zuckte die Achseln, weil er das wirklich mehr oder weniger glaubte. Sicherheit musste sein. Sie sorgte für Distanz; und es gab keine Alternative für eine große Arbeitskraft, weil schon das Dutzend Archäologen hier ein Sicherheitsrisiko darstellte, das Pinheiro wie den Korken auf einer Flasche heißen Nitroglyzerins empfand. Das konnte er Velez nicht sagen. Er fühlte aber, dass er dem Ingenieur etwas schuldig war. Velez machte allerhand Lärm, war aber ein unermüdlicher Arbeiter.

»Hab Geduld!«, sagte Pinheiro. »Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber ich kann nicht versprechen, dass es etwas bringen wird. Die Dinge sollten besser im Boden bleiben, als dass die Leute außerhalb unseres magischen Kreises von ihrer Existenz erfahren.«

»Das weiß ich. Aber wenn ich keine Hilfe bekomme, werden die tiefen Kerne im Boden bleiben müssen, okay?« Velez lächelte wieder. »Sebastian, ich weiß, dass du dich bemühst, dein Bestes zu tun. Es ist ein harter Ort hier. Aber höre: Trink nicht zuviel Wodka! Der tut deiner Leber nicht gut.«

»Ihr Leute meckert bloß, wenn prominente Besucher fällig sind; und wenn sie dann aufkreuzen, könnt ihr euch nicht genug damit tun, eure Arbeit vorzuzeigen. Was mich angeht, so muss ich die ganze Zeit höflich und charmant sein. Darum brauche ich etwas für meine Nerven.«

»Sage ihnen nur, wie schlecht wir hier dran sind ohne ordentliche Unterstützung! Puste sie an, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen!«

Sie gingen zu dem fossilen Ufer hinab, wo das Camp eingesenkt worden war, und um die stufenförmige Ausgrabung herum, die das Team als Amphitheater bezeichnete. Dort unten lag sein Wald aus erstarrten Säulen im Schatten, verwoben durch die flimmernden Linien von Laserschnitten, womit Xu Bing sein Koordinatenschema millimetergenau verfeinerte. Der Boden senkte sich zum Niveau des Amphitheatergrundes ab. Dort befand sich das Bohrgerüst von Velez, ein Labyrinth aus Gräben und ein riesiges Gewirr aus Schnittlinien und Markierungen, sowie aufs Geratewohl abgestelltem Bohrgerät und Abfallhaufen vom Amphitheater. Ausgrabungs- und Bauplätze haben etwas Spiegelbildliches an sich; man kann das gleiche Band vorwärts und rückwärts laufen lassen. Wenn man das Bild anhält, kann man nicht sagen, in welche Richtung der Pfeil der Zeit zeigt.

Die meisten Leute der Mannschaft standen an der Kante des jähen Steilhangs, der einstmals den Absturz vom seichten zum tiefen Wasser gebildet hatte und jetzt halb versunkene Felsblöcke und Verwitterungsschutt aufwies. Das Raupenfahrzeug war inzwischen herangekommen und wirbelte dichte Staubwolken auf, als es den Hang herauffuhr. Seine schmale Windschutzscheibe flimmerte in reflektiertem Sonnenlicht.

Der Paläobiologe Juan Lopez Madrinan trat zu Pinheiro und sagte: »Wie oft soll so ein Zirkus hier noch veranstaltet werden, Sebastian? Ich bin jetzt sechs Monate hier gewesen. Ich habe einen ganzen Berg von Daten. Ich muss dringend publizieren – dringender, als ich ein Weib brauche!«

»Es gibt Leute, die doppelt so lange hier gewesen sind. Nur Geduld, Juan! Es kann nichts veröffentlicht werden, solange nicht alles fertig ist. Das weißt du.«

»Aber du lässt diese Leute wissen, dass wir unglücklich sind, okay?« Madrinan starrte Pinheiro mit dem scharfen Blick eines Falken an. Er hatte als einziger die Kapuze nicht hochgezogen; und auf seinen vorstehenden Backenknochen lag nur ein wenig Creme, die sich auffallend weiß von seiner tiefdunklen Haut abhob. »Du musst ihnen sagen, dass wir alle hier kurz vor einer Rebellion stehen.«

»Das erzähle ich ihnen jedes Mal«, sagte Pinheiro. Er wünschte sich, in seiner Bude noch zwei Injektionen gehabt zu haben. Besucher ließen die Verstimmungen der Archäologen immer scharf hervortreten.

Jagdev Singh sagte: »Alles, was wir möchten, ist ein wenig Anerkennung. Das werden sie verstehen.« Singh war der Leitende Ausgräber, ein sanfter Riese, der sich nicht zu beklagen pflegte. Wenn er so unglücklich war, dass er etwas sagte, liefen die Dinge wirklich schlecht.

Pinheiro erklärte: »Ich werde ihnen sagen, was ich ihnen immer sage.«

»Erzähle ihnen etwas Neues!«, schlug José Velez vor. »Immer das alte Lied haut nicht hin.«

»Ich höre dich. Ich höre euch alle. Geht jetzt an die Arbeit! Wenn sie nicht sehen, dass ihr arbeitet, wird nichts für euch herausspringen. Arbeiten, arbeiten!« Pinheiro schrie die Archäologen in einem halben Dutzend Sprachen an. Nachdem sie dann alle weg waren, hatte das Vehikel den höchsten Punkt des Abhangs erklommen; und die erlauchten Besucher kletterten aus seiner rückwärtigen Luke heraus.

Diesmal waren sie zu dritt: Admiral Orquito, ein gebrechlicher weißhaariger Mann, wackelig auf den Beinen, dessen schwarze Augen aber nichtsdestoweniger mit entschlossener Willenskraft in seinem totenkopfähnlichen Gesicht brannten. Seine Adjutantin, eine hübsche, kühle und strahlende Blondine, das Gesicht zur Hälfte rundum durch grüne Schattierungen maskiert, war stets um die Bedürfnisse des Admirals beflissen. Und eine weitere Frau, klein, schlicht und sanft, hatte ihr rundes, blasses Gesicht fast unter der Kapuze ihres Schutzanzuges verborgen. Ihr Händedruck war kurz und schlaff; und sie wandte sich vor Pinheiros forschendem Blick ab. Ihr Name war Dorthy Yoshida.

»Wir wünschen, dass Sie uns alles zeigen, Major«, sagte der Admiral und fixierte den Rand des Amphitheaters: »Vielleicht fangen wir gleich hier an. Meinen Sie nicht auch, Dorthy?«

»Ganz wie Sie wünschen.« Yoshida blickte in die andere Richtung zu den niedrigen Hügeln ringsum.

Admiral Orquito sagte zu Pinheira: »Sie weiß alles über den FEIND. Sie wird es uns sagen, wenn dies irgendetwas mit ihnen zu tun hat.« Und er lachte krächzend über Pinheiros offene Ungläubigkeit; denn Pinheiro wusste wie die meisten Menschen, dass niemand bisher auch nur einen flüchtigen Blick auf einen der FEINDE erhascht hatte. Es war praktisch nichts über sie bekannt, außer dass sie rote Zwergsterne mochten und dass sie unerbittlich und unsinnig feindlich sein konnten. Die Wohnsiedlungen auf den Asteroiden um BD 20 waren verbrannt worden, ohne dass jemand auch nur auf einen einzigen den Fuß gesetzt hatte. Und obwohl es Gerüchte gab, dass eine Erkundungsgruppe auf die Oberfläche der planetoformten Welt hinabgeschickt worden war, welche die einzige andere bekannte Kolonie des FEINDES bildete, so waren das eben nur Gerüchte. Und diese Welt hatte seit dem Ende der Kriege ständig unter Quarantäne gestanden. Deshalb war Pinheiro sofort sehr neugierig hinsichtlich der kleinen reizlosen Frau; aber erst musste die Zwei-Cruzeira-Tour absolviert werden, ehe er ihr irgendwelche Fragen stellen konnte.

Die Gräben schnitten durch die Schichten von Sedimenten, die von Tsunamis herrührten, die nach dem Bombardement um die Welt gerast waren. Ganz oben waren die Riffelmarken der zurückweichenden Fluten zu erkennen: die Senke, wo man Hunderte von spiralförmig eingekerbten Knochen gefunden hatte, feine Rillen, die vielleicht eine Art Schriftsprache darstellten … aber nur vielleicht, wie Juan Madrinan sagte. Und überall gab es Fossilien, winzige Schneckenhäuser, die unter jedem Schritt zu Staub zermahlen wurden, riesige sternförmig plattgedrückte Rippen, die Gräten von Fischen und so etwas wie Rochenstacheln. Einstmals war dies der schlammige Boden einer üppigen polaren Meeresbucht gewesen.

Der Admiral lächelte und nickte, während die Archäologen ihre Arbeit erklärten. Er wich aber immer plötzlich aus, wenn das Thema der Publikation zur Sprache kam. Juan Madrinan hielt eine kleine vorbereitete Rede darüber, wie wichtig es wäre, anderen Experten zu gestatten, über die Funde nachzudenken; und José Velez äußerte seine üblichen Wünsche hinsichtlich mehr Arbeitskräften. Admiral Orquito sagte: »Sie haben solche Fortschritte erzielt. Es ist wirklich erstaunlich … Jetzt, Major, werden sie mir das Amphitheater zeigen?« Er lächelte Velez flüchtig zu und stapfte am Arm seiner schönen blonden Adjutantin davon. Pinheiro eilte hinter ihm her, um Velez’ Ärger zu entgehen.

Das Amphitheater war mehr als alles andere das, was alle prominenten Besucher sehen wollten.

Fast so breit wie das Tal, handelte es sich um eine halbkreisförmige Senke, die aus dem Urgestein der vorsintflutlichen Küste ausgehoben war. Der weite Boden war übersät mit Säulen, die hier dicht zusammengedrängt waren und dort in exakten sechseckigen Mustern dastanden. Viele waren durch die Kraft der Tsunamis zerbrochen oder zur Seite geneigt worden. Alle verjüngten sich von einer breiten Basis aus, die aus Tausenden verschlungener Bänder zusammengesetzt waren, einer Art Tang aus Holz. Außen saßen daran stets die Schalen eines ortsfesten Organismus. In Größe und Form einer jai alai-Schöpfkelle ähnlich, waren sie in spiraligen Flechtmustern angeordnet, die den Einritzungen der Knochenstangen verblüffend ähnelten.

Xu Bing führte eifrig sein Messgitter vor, um seine Theorien der numerischen Anordnung dem Admiral Orquito zu erklären, der sich als ein Experte für Beobachtungen aus dem Orbit entpuppte. Pinheiro ließ sie damit weitermachen und ging los, um die Frau Yoshida einzuholen, die unter dem kathedralenartigen Wald fossiler Säulen spazierengegangen war.

Sie fuhr mit der Hand über die gerippte Oberfläche einer Säule und betastete die gebogenen Mulden. Pinheiro bemerkte, dass ihre Fingernägel bis aufs Fleisch abgeknabbert waren, fragte sie: »Sie wissen wirklich etwas über den FEIND?«

»Orquito redet zu viel«, sagte sie: »Er darf das tun, ich aber nicht. Das hier ist ein merkwürdiges Zeug. Erinnert mich an die Haftorgane von Seetang.«

»Wahrscheinlich ist es das auch mehr oder weniger: Als es sich unter Wasser befand, kann man sich vorstellen, dass lange Algenbänder wie ein grünes Dach auf der Oberfläche trieben.« Für einen Augenblick sah Pinheiro das vor sich. Sonnenstrahlen brachen durch die schwimmende Welle und erfassten die gewundenen Formen der lebenden Schöpfbecher, deren Schalen wie Seifenblasen in dem klaren und ruhigen grünen Wasser schimmerten.

Dorthy Yoshida hatte sich umgedreht, um ihm ins Gesicht zu sehen. Die silbrige Kapuze ihres Schutzanzuges hatte sie vom Gesicht weggezogen. Ihr schwarzes Haar war unvorteilhaft kurz geschnitten und passte gar nicht zu ihrem runden Gesicht mit den hohen Backenknochen. Die Lippen waren leicht geöffnet und zeigten kleine Zähne, die wie weiße Reiskörner gleichmäßig nebeneinander standen. Ihre Augen waren halb geschlossen. Plötzlich war ihre Miene aufreizend rätselhaft und wirkte verwundbar. Sie sagte träumerisch: »Ja. Ich sehe, wie es hätte gewesen sein können.«

Pinheiro sagte: »Wenn die Kreaturen, die dies erbaut haben, normalerweise in tiefem Wasser lebten, wie ich annehme, dann hätten sie Schatten benötigt, als sie hierherkamen. Leider wissen wir nicht, wie sie ausgesehen haben. Es gibt hier allenthalben viele Fossilien großer Tiere, aber keines davon hatte einen Schädel für ein hinreichend großes Gehirn.«

Dorthy Yoshida lehnte sich an die Säule und passte sich gut den versteinerten Muschelschalen an. Dann barg sie die Stirn in einer Hand, und Pinheiro fragte: »Ist Ihnen auch wohl?«

Sie sagte: »Es ist bloß die Hitze« – und sank ihm ohnmächtig in die Arme.

Admiral Orquitos Adjutantin eilte sofort herbei. Sie veranlasste Pinheiro, Yoshida hinzulegen, kniete sich dann neben der Frau hin und zerbrach unter ihrer Nase eine Kapsel. Yoshida nieste und öffnete plötzlich die Augen. »Da waren Spinnenkrabben«, sagte sie verträumt, »viele Beinpaare, manche wie Paddel, manche mit feinen dreiteiligen Krallen. Und sie waren auch auf irgendeine Weise wie Mantastacheln, die ich nicht verstehe. Sie schwärmten durch die flachen Meere und über die sumpfigen Küsten – alle eine Nation, deren Leben durch die solaren Gezeiten bestimmt war. Sie zähmten riesige Seeschlangen und ritten auf ihnen über die Ozeane, sie kartierten die Sterne und erforschten ihr Sonnensystem in Schiffen, die halb mit Wasser gefüllt waren. Sie träumten davon, andere Ozeane zu finden, um darin zu schwimmen …«

Dann richteten sich Yoshidas Augen auf Pinheiro, und sie fragte in einer ganz anderen, kühlen und sachlichen Stimme: »Was habe ich diesmal gesehen?«

»Ich habe es aufgezeichnet«, sagte die Adjutantin und half ihr aufzustehen. »Major Pinheiro, Sie haben kein Wort hiervon gehört.« Sie blickte auf eine Schar von Archäologen, die vom oberen Rande des Amphitheaters heruntergafften. »Und die haben auch nichts gesehen«, sagte sie und ging zum Admiral hinüber. Ihre langen Beine bewegten sich wie die Klingen von Scheren.

Pinheiro sah ihr verwirrt nach. Es war etwas geschehen, aber er wusste nicht genau, was es bedeutete. Die Adjutantin ergriff Orquito am Arm und führte ihn schnell und dringend sprechend von Xu Bing fort.

Dorthy Yoshida lehnte sich an eine Säule, und Pinheiro fragte, ob sie in Ordnung wäre.

»Es wird vorübergehen«, sagte sie, wieder ganz gefasst. »Machen Sie sich bitte keine Sorgen! Nun, zumindest haben sie bekommen, was sie wollten.«

Pinheiro hätte sie gern gefragt, was das heißen sollte; aber er sah in diesem Augenblick, dass das Geländefahrzeug über die Schutthaufen auf das Amphitheater zukam. Singh lief ihm entgegen und ruderte mit den Armen. Pinheiro folgte ihm. Prominente Besucher oder nicht – sie konnten nicht einfach über alle Arbeitsplätze laufen! Als Pinheiro aus dem Schatten der Schüssel des Amphitheaters herauskam, sah er eine Staubwolke aus dem Pass hervorquellen und dann die Dinge, die sich darin bewegten, Dutzende riesiger Tiere, die über den Schlackenboden des Talbodens polterten.

Pinheiro blieb stehen und starrte ungläubig hin. Das Vehikel war jetzt ganz nahe. Die Dieselmotoren brüllten, als es den ersten Schutthaufen zu erklimmen begann. Singh tanzte auf der Spitze wie ein Matador, der einem Stier entgegentritt. Und dann lief eine rote Flamme wie ein Blitz über das Fahrzeug und die Kuppe des Haufens hin. Irgendetwas stieß Pinheiro um. In seinen Ohren war ein ungeheures Getöse, und eine Seite seines Gesichts war gelähmt: Rings um ihn fielen Dinge auf den Boden – heraus aus siedendem Rauch und Staub. Einige Brocken standen in Flammen.

Jemand packte Pinheiros Arm und half ihm auf. Es war José Velez. Der Ingenieur drückte das Gesicht an seines und schrie: »Bist du okay? Was ist das für ein verrücktes Zeug?«

Pinheiro fühlte, wie ihm Blut den Hals hinabrann. Er konnte nicht recht Luft holen. Das Raupenfahrzeug brannte lichterloh. Sein Gerippe glühte in den Flammen. »Zithsas«, brachte er schließlich heraus.

Die Kreaturen kamen sehr schnell heran. Mindestens Hunderte davon. Das war schwer zu sagen bei all dem Staub, den sie aufwirbelten. Pinheiro sagte: »Ich meine, wir sollten uns besser unter die Erde begeben.«

»Wo, zum Teufel, sind die Wächter, Pinheiro? Wir können diese Monster nicht allein zurückhalten.«

»Ich glaube nicht, dass die Wächter in der Lage sind, jemandem zu helfen«, erwiderte Pinheiro. »Irgendwer hat das Fahrzeug weggenommen: Sie werden auch die Wächter beseitigt haben.« Silbrige Gestalten liefen den Hang neben dem Amphitheater hinauf. Pinheiro rannte hinter ihnen her; und Velez ergriff seinen Arm, als er benommen stolperte, und half ihm weiter.

Gerade, als sie die Erdhügel über den versenkten Wohnräumen erreichten, warf sich der erste Zithsa über die Kuppe der Schutthaufen. Er war doppelt so groß wie das noch brennende Fahrzeug. Seine Flanken schimmerten schwarz. Sein großer, mit unregelmäßigen Stacheln besetzter Kopf senkte sich, als er sich umschaute. Oben auf seinem flachen Schädel reckte sich das Blasloch und entspannte sich wieder – zithsaaaaah! Klauen scharrten über wegrutschende Steine: Das Sonnenlicht goss Regenbogenstrahlen über seine schwarzen Rückenschuppen.

Ein anderer glitt an ihm vorbei, und noch einer. Pinheiro hatte den undeutlichen Eindruck, dass jemand auf einem von ihnen ritte. Dann schob Velez ihn in das Treppenhaus.

In der Messe hinter der Luftschleuse herrschte Tumult. Alle Archäologen redeten auf einmal. Sie schrien Admiral Orquito und sich gegenseitig Fragen zu. Ihre Stimmen hallten von der gewölbten Decke mit ihren stählernen Rippen wider, Yoshida saß abseits in einer Ecke, heiter und beherrscht, die Kapuze ihrer Schutzkleidung aus dem runden, runzligen Gesicht zurückgeschoben.

Pinheiras Kopf pochte schmerzhaft. Sein Mund schien voller Staub zu sein. José Velez kam mit einem Verbandskasten zurück. Im Gürtel seiner orangefarbenen Hosen steckte eine kleine Pistole.

»Das Kinderspielzeug wird nichts nützen«, sagte Pinheiro, als Velez sein Gesicht mit einem kleinen Stab berührte. Sofort wurde seine verwundete Seite gefühllos.

»Sie haben Singh getötet«, berichtet Velez. »Er ist nicht hier und stand direkt vor dem Vehikel … Halt jetzt still!«

Der erste Tupfer aus feuchter Watte, mit dem er Pinheiro die Wange abwischte, rötete sich. Der nächste war nur rosa. Pinheiro erlaubte, dass Velez die Wunde mit Verbandmittel besprühte. Er erinnerte sich daran, was geschehen war. Es wurde real. Das Kettenfahrzeug explodierte, die Rauchschwaden am Rande der Hügel stiegen auf. Die Zithsas. Er brachte sein Gesicht dicht an das von Velez und rief durch das Getöse: »Hat jemand die Wachposten aufgerufen?« Durch den aufgesprühten Verband fühlte sich seine Wange schwammig an.

»Vielleicht diese Adjutantin von Orquito: Sie ist da drüben bemüht, das Kommunikationsnetz in Schuss zu bringen.«

»Ich sollte wohl etwas unternehmen.«

Velez ergriff sein Handgelenk. »Mensch, bleib sitzen! Wir können hier unten nichts tun, außer darauf warten, dass die Wachen kommen. Wir Brasilianer sollten zusammenhalten.«

»Behalte diese Pistole in der Hose!«, sagte Pinheiro zu dem Bohringenieur. Er schüttelte seinen Griff ab und drängte sich durch die Menge, ohne Fragen, die ihm allerseits zugerufen wurden, zu beachten. Die blonde Adjutantin hatte sich in die Nachrichtenkabine in der anderen Ecke der Messe gezwängt. Sie hantierte an den Kontrollen; aber die Bildschirme über ihrem Kopf zeigten nur Rasterlinien von Interferenzen.

Pinheiro trat neben sie und sagte, dass sie ihm seinen Job überlassen könnte.

Sie schaute auf und verzog etwas boshaft und erbarmungslos einen Mundwinkel. »Wenn Sie mit diesem Ding umgehen können, Major, dann möchte ich, dass Sie das Marinehauptquartier anrufen.«

»Überlassen Sie das nur mir, Seyoura, bitte!«

Sie gab den Sitz mit einer ungeduldigen Geste frei. Pinheiro suchte die ganze Kurzwelle ab – nichts von irgendeinem Wachposten. Diese dünnen Rauchfäden waren real. Dann entriegelte er den kleinen Deckel über den Kontrollen der Schüsselantenne, welche die Notverbindung zum Marinehauptquartier in Esnovograd via Satellit herstellte. Aber auch die funktionierte nicht. Er sagte: »Vielleicht haben die Zithsas den Antennenkomplex beseitigt.«

»Sie werden es weiter versuchen«, sagte die Adjutantin. »Vielleicht später. Warum gehen Sie nicht und kümmern sich dort um Ihren Admiral?«

»Oh, der amüsiert sich alleine«, sagte die Frau, stolzierte aber doch fort und drängte sich durch die Leute um den weißhaarigen Admiral Orquito. Sie ergriff seinen Ellbogen und sagte ihm etwas ins Ohr. Er schaute zu Pinheiro herüber und schüttelte leicht den Kopf.

Pinheiro hatte sich von der nutzlosen Kommunikationskonsole abgewandt, als er die summende Vibration hörte. Das Geplapper der Archäologen verstummte, und sogar Yoshida blickte auf.

»Zum Teufel!«, sagte José Velez. »Das ist mein Schlagbohrer.«

Pinheiro erinnerte sich an den Eindruck, der ihm irreal vorgekommen war – das kurze Bild eines Reiters auf einem der Zithsas, hinter der Halskrause von Hörnern des Tieres. Das Geräusch wurde höher, und die gerippte Metalldecke ächzte. Alle hatten sich in die Ecken des Raumes zurückgezogen.

»Die Köpfe herunter!«, rief Velez. Er hatte seine Pistole aus dem Gürtel gezogen: »Wenn das Ding sich hindurchbohrt …«

Das tat es auch.

Pinheiro hielt sich instinktiv mit den Händen die Augen zu, aber das Licht war immer noch schmerzhaft hell. Einen Augenblick lang glaubte er, die Knochen seiner Hand vor der Blendung zu erkennen. Da war ein scharfer Geruch von brennendem Metall und ein kurzer scharfer Luftstoß, als die kühle Überdruckluft in den Wohnräumen sich mit der heißen dünnen Luft draußen ausglich. Pinheiro blinzelte Tränen fort und rappelte sich auf die Füße, als der erste Eindringling durch das rauchende Loch in der Decke hereinkam. Velez hob seine lächerliche kleine Pistole. Der Mann schoss aus der Hüfte. Ein einziger Schuss pustete Velez den halben Kopf weg und stieß seinen Körper auf den Boden.

Jetzt war es ein halbes Dutzend Eindringlinge, die sich leicht von einer Strickleiter herunterschwangen, es aber sorgfältig vermieden, die Seiten des von ihnen gebohrten Loches zu berühren: Es waren schlanke Männer von wölfischem Aussehen. Sie alle trugen silbrige Umhänge über lockeren Hosen und Wämsern, Stiefel aus Zithsa-Leder, lange Haare, die mit roten Halstüchern zusammengebunden waren, Laserstöcke in breiten, feingeflochtenen Gürteln. Falls es sich nicht um Zithsa-Jäger handelte, so hatten sie sich doch mächtig bemüht, so echt wie möglich auszusehen.

Der Erste zog seine Waffe, eine Pistole mit kurzem dicken Lauf und einem Griff aus kreuzweise ziseliertem Knochen. Der kleine Finger seiner linken Hand steckte in einer silbernen Scheide. Das machte ihn entweder zu einem Falkner oder einem Netzfischer; Pinheiro konnte sich nicht genau entsinnen, welches von beidem zutraf. Falls er überhaupt wirklich ein Jäger war. Auf Russisch sagte er: »Wer ist hier der Anführer?«

Pinheiro sagte sich, dass er es war. Die Adjutantin flüsterte dem Admiral Orquito etwas ins Ohr. Der sah sich grinsend um mit eisblauen Augen in seinem faltigen und tief gebräunten Gesicht. Der alte Mann nickte und schien gar nicht beunruhigt zu sein. »Wir sind Forscher, gospodin«, fügte Pinheiro hinzu. »Hier gibt es nichts von Wert.«

»Keine Sorge, wir kommen nicht, um eure Daten oder Relikte der Nebeldämonen zu stehlen.« Der große Mann wandte sich um und ließ seinen silbrigen Mantel mit Absicht theatralisch aufblitzen: Sein silberner Fingerschutz deutete auf Yoshida. »Wir sind Ihretwegen gekommen, Dr. Yoshida.«

Die kleine Orientalin stand auf, selbstbeherrscht wie immer. Sie sagte: »Mussten Sie wirklich so dramatisch sein?«

»Es war wirklich nötig. Wir wünschen, dass die zehn Welten davon erfahren. Sie werden doch kommen, bitte?«

»Ja, natürlich. Es tut mir leid«, sagte sie zu Pinheiro, »wegen ihres Freundes. Ich missbillige entschieden diese Art des Vorgehens.«

»Und die Wächter«, sagte Pinheiro in höchster Wut. »Sie haben auch die Wächter getötet. Mehr als fünfzig Personen, Seyoura!«

»O nein«, sagte der Zithsa-Jäger. »Die meisten sind weggelaufen, als sie Zithsas kommen sahen. Die übrigen sind bloß entwaffnet und zeitweilig außer Gefecht gesetzt, obwohl wir ihren Außenposten verbrannt haben. Zweifellos sind sie jetzt gerade unterwegs ins Tal, um Sie zu erreichen. Deshalb, Dr. Yoshida, müssen wir jetzt gehen.«

Pinheiro erwartete, dass sie wieder durch das Loch zurückklettern würden, das sie gebohrt hatten; aber sie gingen hintereinander durch die Luftschleuse, der Anführer als letzter. Er zielte mit seiner Pistole zum Spaß auf die entsetzten Archäologen. Was aber Major Pinheiro bis ans Ende seiner Tage erschütterte, war nicht das listige und triumphierende Grinsen des Jägers, sondern die Ruhe, mit der Dr. Yoshida ihre Entführung aufnahm. Als ob es für sie überhaupt nichts bedeutete, als ob es für sie nicht realer wäre als die Vision, die sie in den Ruinen gehabt hatte.

Erster Teil 

1

Talbeck, Duke Barlstilkin V., flog in einem gemieteten Unterschallflugzeug von Los Angeles zum Raumhafen Melbourne, dem drittgrößten der Erde, wobei er die Nacht überholte. Dort traf er sich mit seinem Gefolge aus Wartungspersonal, medizinischen Technikern, Entertainern (sogar einem mürrischen ›TALENT‹) und Sekretären. Sie stürmten durch das Labyrinth unterirdischer Hallen und Gänge wie eine kleine Revolte, wobei sie gewöhnliche Passagiere und ausweichendes Sicherheitspersonal auseinandertrieben und sich schließlich bei einem Shuttle zusammenfanden, das nordwärts nach São Paulo ging und jemanden mit an Bord hatte, der Talbeck erstaunlich ähnlich sah: ein stämmiger, dunkelhaariger und blauäugiger Mann, dessen Gesicht zur Hälfte eine rohe Fläche von sonnenverbrannter Haut war. Und auch die Polizei der WVN – der WiederVereinten Nationen ging dorthin, während Talbeck einen Stratokreuzer erwischte, der hoch über der rotierenden Erdkugel kreiste, in einem dreißig Minuten währenden Flug in niedriger Umlaufbahn, die zum Flusshafen von Chongqing führte in der Provinz Sichuan der Demokratischen Chinesischen Union am Ufer des Yangtze Kiang.

In China regnete es.

Der sanfte Sommerregen sank durch das undeutliche Licht einer tropischen Morgendämmerung und verschleierte die Signallichter der Schiffe mit hohen Masten, welche auf dem breiten schlammigen Strom verkehrten. Kleine Marktbuden unter roten und blauen Segeltuchdächern säumten die zum Raumhafen hinausführende Straße, wo beim Licht von Leuchtröhren lächelnde rundbäckige Schulmädchen Orangen, Räucherstäbchen und Bündel von Falschgeld verkauften. Es war einer der Festtage im Mondkalender, eine Zeit zur Verehrung der Myriaden von Nebengöttern, die das tägliche Leben der Bauern regelten. Alte Weiber in säuberlich gebügelten samfoos entzündeten in dem leichten Regen kleine Scheiterhaufen am Straßenrand und verneigten sich vor flackernden Rauchschwaden mit höchst andächtiger Miene, die Finger im Gebet zusammengelegt. Alte Männer knieten auf feuchtem Gras vor glimmendem Weihrauch und Opfern aus Obst und Flaschen mit Reiswein, oder sie entzündeten Banknoten aus hellrotem Papier und schüttelten die Asche von schwieligen Fingern mit langen Nägeln.

Einem plötzlichen Impuls folgend ließ Talbeck Barlstilkin seinen Wagen halten. Er kaufte von einem verblüfften Mädchen einen Packen nachgemachter Banknoten und steckte diese mit einem chemischen Zündholz in Brand. Die alte Frau und der alte Mann sahen ihn von der Seite an, erstaunt über diesen exotischen Fremdling, der aus dem schimmernden weißen Regentropfen des Fahrzeugs gestiegen war. Ein großer Ausländer, ganz in Schwarz gekleidet, das Gesicht halb zerstört, die Augen geschlossen und die Lippen in Bewegung, als seine Opfergabe verbrannte und ihre Asche in die regenfeuchte Luft emporflatterte. Ein grimmiges, unwillkommenes Eindringen in den ewigen unveränderlichen Rhythmus ihres Lebens, eine verkappte Drohung, die wie ein Fleck in der heller werdenden Luft hing – noch lange, nachdem er wieder in seinen Wagen gestiegen und auf der Straße in Richtung Stadt verschwunden war.

Talbeck verbrachte den größten Teil des Tages in Chongqing, eingeschlossen mit dem örtlichen Polizeichef, bis er sicher war, dass man ihn nicht verfolgt hatte. Der Polizeichef, dessen Schwager Manager der Lagerhausgesellschaft war, die völlig zu einem Transportunternehmen Talbecks gehörte, bot vollen Geleitschutz an; aber Talbeck lehnte so höflich wie möglich ab, was mehr als eine Stunde dauerte. Dann flog er den gemieteten Flugwagen selbst zu dem Haus im Gebirge.

Der Himmel war aufgeklart, und die ersten Sterne kamen heraus, als er den Flugwagen auf dem Platz vor dem Haus herunterbrachte. Es war eine ungeschickte Landung, die den Rahmen des Vehikels beschädigte. Er hatte seit Jahren überhaupt nichts mehr geflogen.

Das Haus stand auf einer hohen Klippe über einem Bambuswald, der steil in neblige Schluchten abfiel. Die leibeigene Dienerin, die es betreute, erwartete Talbeck im Schatten der Gruppe von Baumfarnen, die das mächtige Doppeltor des Hauses einrahmte. Sie war fast ebenso groß wie ihr Herr, hässlich und teilnahmslos in lockerer schwarzer Arbeitsbluse und Hosen. Das zurückgekämmte Haar ließ die kleinen Metallplatten erkennen, die in beide Schläfen eingefügt waren. Sie sagte ihm, dass der Gast fortgegangen wäre und zuckte nicht mit der Wimper, als die zurückgehaltene Sorge ihres Besitzers für einen Augenblick durchbrach und er sie kräftig ins Gesicht schlug.

Talbeck war sofort wieder ruhig. »Wo ist sie?«

»Drei Komma acht Kilometer nordwestlich im Walde. Sie macht ein Feuer und glaubt, dass man sie nicht beobachtet.«

Talbeck seufzte. Die Meldung über Dorthy Yoshidas sichere Überbringung war gerade eingetroffen, als sich die Gruppe von Goldenen, mit der er reiste, aufgelöst hatte, nachdem einer von ihnen umgekommen war. Ein Stück, bei dem ein Kurzlebiger und die Stiertänzer von Los Angeles mitspielten, war schiefgegangen. Als Antonios Ärzte seinen Körper abgekühlt und zur Reparatur fortgeschafft hatten, waren die anderen ihre eigenen Wege gegangen. Talbeck wollte gerade zu seinem Haus in São Paulo zurückkehren – zu einem der Häuser, das, wie er wusste, der WVN-Polizei bekannt war. Da hatte er die Nachricht bekommen, dass man Dorthy Yoshida erfolgreich zur Erde geschmuggelt hatte. Jetzt, wo sein Körper noch nach einer ein halbes Dutzend Zeitzonen entfernten Uhr ging und sein Verstand vor einem halben Hundert möglicher Missgeschicke kochte, kam alles auf ihn an.

Er sagte: »Gib mir eine Lampe und einen akustischen Werfer! Ich werde sie selbst aufspüren.«

Als Talbeck Dorthy Yoshida fand, hatte es wieder zu regnen begonnen. Es war eher ein dichter Nebel, der zwischen den schaukelnden Stämmen der riesigen Bambuspflanzen zu hängen schien, auf ihre lanzettförmigen Blätter platschte und auf die feuchte Erde tropfte. Dorthy Yoshida musste gemerkt haben, dass er kam, noch ehe sie das Licht seiner Lampe erblickte. Aber sie war nicht fortgelaufen. Das hatte irgendetwas zu bedeuten.

Sie hatte mitten unter einem felsigen Überhang ein Feuer gemacht. Eine Schüssel, die kunstvoll aus Bambusblättern geflochten war und hoch über den Flammen an drei schrägen Stangen hing, dampfte heftig. Dorthy Yoshida kauerte darüber und wandte Talbeck den Rücken zu, als er über die bemoosten Steine näher kam. Ohne sich umzuwenden sagte sie: »Es ist beinahe fertig, Seyour, wenn es Ihnen nichts ausmacht, mit mir zu teilen.«

Die Schüssel enthielt eine sprudelnde Brühe aus Bambussprossen und Wildpilzen. Talbeck schaltete seine Lampe aus und hockte sich neben sie. »Ich hatte gehofft, dass Sie meine Gastfreundschaft genießen würden.«

»Ich habe nicht gebeten, dass man mich hierherbrachte«, erwiderte sie und zeigte ihm die kleine Pistole, die sie in einem weiten Ärmel versteckt hatte, und deren nadelfeine Bohrung auf sein Gesicht zielte.

Irgendein Klient musste sie nach einem Jagdausflug zurückgelassen haben. Talbeck würgte einen Wutanfall hinunter und dachte: Sei ruhig und vorsichtig …! Er sagte: »Glauben Sie wirklich, dass man Ihnen gestatten würde, mich zu töten?«

Das war eine kaltblütige Lüge; aber er wusste genug über ihr TALENT, um Dinge vor ihrem Scharfblick verbergen zu können. Tatsächlich wusste nur die leibeigene Dienerin, dass er hier war: Und sie wurde von einem Computer betrieben und zählte nur halb. Seine Gefolgschaft war um eine halbe Welt entfernt. Er konnte hier sterben, und sie würden ihn nie rechtzeitig erreichen. Er grinste bei diesem erregenden Gedanken, obwohl er nicht bereit war zu sterben – noch nicht. Dies war gerade erst der Anfang.

Dorthy Yoshida legte die Pistole auf Moos, das durch die Hitze des Feuers bräunlich angesengt war. Ihr Lächeln war kaum zu erkennen. Talbeck sah, dass sie sich sehr still verhielt. Sie sagte: »Sie versuchen, mich zu verwirren, also lügen Sie wahrscheinlich. Aber, zum Teufel, wir sind hier. Wer sind Sie überhaupt?«

»Mein Name ist Talbeck Barlstilkin.«

»Nun, den Namen kenne ich. Warten Sie! Nun ja, Duncan Andrews hat Sie in einem seiner wilden Ausbrüche erwähnt. Sie sind ein Goldener wie er. Ein Agatherinzüchter aus Elysium. Ein Dilettant, hat er gesagt.«

»Vielleicht stimmt das, aber nicht so, wie der arme tote Duncan es gemeint hat.« Sein Lächeln war grässlich verzerrt durch das Stück Narbengewebe, das eine Vertiefung in seiner linken Gesichtshälfte bildete. »Duncan musste tatsächlich losziehen und eine wissenschaftliche Expedition in eine wilde, gefährliche Welt führen, um seinen Wert zu erproben und zu erweisen. Und er wurde für diese Mühe getötet. Ich habe mich damit begnügt, abzuwarten und die Zeit zum Handeln zu wählen. Es macht Ihnen nichts aus, wenn ich esse? Wie ich schon sagte, sind Sie gern dazu eingeladen.«

»Sie wissen, mein Haus enthält alles, was Sie sich wünschen könnten. Ich bin entzückt, dass ich Sie zur Erde schmuggeln konnte, Dr. Yoshida; aber ich bin auch ein wenig gekränkt, dass Sie davonlaufen wollen, ohne auch nur abzuwarten, warum ich das tat.«

»Ich bin jetzt so lange für den einen oder anderen eine Marionette gewesen – es tat richtig wohl, etwas eigenständig zu tun. Zehn Jahre lang von der Marine in die Mangel genommen – so hat man das jedenfalls genannt. Wissen Sie, in meinem Kopf steckt ein Zeug drin. Das haben die Alea hineingetan, als ich auf P’thrsn war. Die Navy hat versucht, es herauszuholen.«

»Ich weiß.«

»Natürlich wissen Sie das.« Ihr Lachen wurde schrill, und sie biss sich auf die Lippe. Nach einem Moment sagte sie: »Andernfalls hätten Sie mich nicht herausgeholt. Aber sehen Sie, ich weiß selbst nicht, was die Alea mit mir gemacht haben. Auf Nowaja Rossija hatte ich dadurch eine Vision der tiefen Vergangenheit, von der Zeit, ehe die Alea eine ganze Zivilisation zerstörten. Aber ich weiß nicht, warum. Als ich auf P’thrsn war, wurde ich unfreiwillig Zeugin beim Selbstmord der Sippenchefin der Alea. Sie war so klug. Ihre kollektive Erinnerung reichte eine Million Jahre zurück – und so voller Schuld. Nicht wegen der Zivilisation, die sie vernichtet hatte, damit ihre Sippe in ihrem Versteck sicher bleiben konnte, sondern wegen der Schwestern, die sie ermorden musste, als sie sich ihr widersetzten. Sie manipulierte den armen Duncan Andrews in eine Position, wo er sie töten musste; und ihr Gefolge fiel über ihn her und riss ihn in Stücke. Aber ich durfte entrinnen. Ich bin noch in ihrem Griff, verstehen Sie! Ich bin immer noch nicht frei! Was in meinem Kopf steckt …«

»Tatsächlich ist das, was in Ihrem Kopf steckt, nur ein Teil des Grundes, weshalb Sie hier sind.«

Dorthy Yoshida war wieder ruhig geworden. »Ja, wirklich? Entschuldigen Sie mich, wenn ich esse. Es ist heute meine erste Mahlzeit, und ich habe darauf gewartet.« Sie benutzte zwei Bambusspäne als Essstäbchen, um dampfende Happen aus der Schüssel zu fischen. Das Licht des Feuers bestrahlte ihr Kinn von unten. Die mandelförmigen Augen lagen im Schatten. Ihr schwarzes Haar war so kurz geschnitten, dass die Rundungen des Kopfes durchschimmerten. Sie kaute und schluckte: »Ich verstehe mich recht gut darauf, in der Wildnis zu leben. Ich habe die Pistole und ein Messer und eine Plastikplane, um darin zu schlafen. Ich habe mich mit viel weniger durchgebracht, an einem weitaus fremdartigerem Orte als diesem.«

»Und was haben Sie gedacht? Dass Weglaufen nützen würde?«

»Die Leute sollten erfahren, was ich auf P’thrsn gelernt habe. Das habe ich mir selbst versprochen, während ich auf Rettung wartete. Nicht bloß einige Politiker und Lamettahengste der Navy. Sondern alle Menschen auf allen Welten. Ich bin aber wohl nicht sehr weit gekommen, wie? Ich denke, dieses Bergland gehört Ihnen, soviel ich weiß.«

»Nur eben das Haus und ein paar tausend Hektar darum herum. Und es gehört mir nicht, jedenfalls nicht direkt. Ein Reis anbauendes Kollektiv benutzt es zur Beherbergung und Bewirtung von Geschäftspartnern. Ich bin zufällig ein bedeutender Anteilseigner in dem Kollektiv über eine Holdinggesellschaft mit Sitz auf Luna.«

»Okay, ich bin beeindruckt. Dies bedeutet, dass der Sicherheitsdienst der Marine oder die WVN-Polizei uns nicht fangen wird?«

»Nicht binnen einiger Tage. Die beste Schätzung lautet tatsächlich sechzig Stunden und die ungünstigste weniger als zwanzig.« Talbeck Barlstilkin rückte etwas näher an das Feuer. Es war kalt hier im Bambuswald auf der dunklen Seite des Berges und in dem leichten Regen der Erde: »Und was wollten Sie den Leuten der zehn Welten erzählen, Dr. Yoshida? Zum Beispiel den Bauern hier in den Tälern: Was könnten Sie Menschen erzählen, die sich nicht einmal um die nächste Provinz kümmern, geschweige denn eine andere Welt? Die haben seit dreitausend Jahren das gleiche Leben geführt. Kaiserliche Dynastien, das Britische Imperium, Kommunismus, nichtzentristische Demokratie sind für sie einerlei. Wichtig ist, drei Reisernten im Jahr zu erzielen. Dachten Sie, die würden auf eine zerlumpte Cassandra hören, die aus der Wildnis herunterkommt und schreit: ›Wehe, wehe, dreimal wehe! Im Zentrum der Galaxis gibt es Dämonen, die zu uns kommen!‹«

Dorthy Yoshida sagte langsam und ernst: »Es sind keine Dämonen, sondern nur eine abtrünnige Sippe des FEINDES. Und vielleicht kommen sie nicht auf uns zu. Sie könnten alle vor einer Million Jahren gestorben sein.«

»Aber sie könnten auch sehr wohl noch am Leben sein.«

»Was wissen Sie?«, fragte sie. Ihr Blick wurde plötzlich scharf. »Sie wissen anscheinend alles über P’thrsn. Sie wissen alles, was ich weiß, oder auf jeden Fall alles, was ich der Navy erzählt habe. Aber Sie haben Zithsa-Jäger angeheuert, um mich auf Nowaja Rossija zu kidnappen, Sie haben mich unterkühlt, in dem Gefriersarg irgendeines Frachters befördert und dann in einem nicht registrierten Flieger mit einem leibeigenen Piloten hierhergeschafft. Nun wohl, ich weiß dies Drama zu würdigen; aber ich möchte gern erfahren, was dahintersteckt. Was wissen Sie sonst noch?«

»Kommen Sie zurück ins Haus! Ich bin nicht mehr so jung wie früher einmal. Ich könnte mich hier draußen erkälten.«

Dorthy Yoshida machte ein trotziges und sehr jugendlich wirkendes Gesicht: »Und wenn ich es nicht tue? Ich kann verdammt schwierig sein, wenn ich will.«

»Oh, Sie haben wirklich keine Chance«, sagte Talbeck und schoss mit dem akustischen Werfer auf sie. Als sie umkippte, sprang er auf, um sie aufzufangen. Die geflochtene Schüssel kippte heftig, und verschüttete Brühe zischte ins Feuer.

2

Suzy Falcon flog als Nachhut hoch über dem schrägen Rhombus der anderen Flieger in ihrer Kampfgruppe. Sie sah den Vorfall vom Anfang bis zum Ende, eine lange Minute, in der ihre Welt zerbrach.

Shelley flog an der Spitze. Die psychedelischen Zeichen auf seinen Flügeln schimmerten lebhaft über dem zerklüfteten roten Gelände von Titan, und das Banner mit dem gelben und schwarzen Zickzackemblem des Team-Eigentümers flatterte hübsch in dem -200° C kalten Rückenwind. Die Luft war klar und ruhig, und die Sonne stand fast vertikal. Thermik stieg von den Bergketten und Ausbissen aus schwarzem Siderit auf, welche die Oberfläche des Weltengletschers durchbrachen. Es war ein idealer Tag für einen Kampf.

Das gegnerische Team war erst vor wenigen Augenblicken von der Plattform gestartet – helle, dicht gedrängte Punkte, die in Spiralen hoch über den Türmen und Kuppeln der Stadt Urbis flogen, welche die steile Kante der Tallman-Böschung bekrönten. Beim Kampf bedeutete Höhe alles: Sie bedeutete überlegene Sicht und konnte durch Abkippen eines Flügels in kinetische Energie umgewandelt werden. Ein Sturzflug im genau richtigen Winkel konnte die Leine des Heckbanners des Gegners durchschneiden und dieses abtrennen. In den ersten Minuten eines Gefechts stiegen alle so schnell und hoch auf, wie sie nur konnten.

Shelley hatte gerade begonnen einzukurven, um den Aufwind der nächsten Thermikblase zu erwischen, als es passierte. Suzy sah, wie sein linker Flügel kurz kippte und die Vorderflügel aufblitzten. Einen Moment dachte sie, er hätte bloß den Einstellwinkel falsch eingeschätzt, um im Übereifer mit dem Hochsteigen anzufangen. Vermutlich ungeduldig, was immer sein Fehler war, hatte er gehofft, sein Gesicht zu wahren, indem er jene trügerische Thermik finden würde, anstatt nach unten zu gleiten und genügend Geschwindigkeit aufzunehmen, um gegen den Wind zu lavieren. Aber Shelley machte keinen Gleitflug. Es war, als ob er seinen linken Flügel nicht nach unten bringen könnte. So überschritt er den kritischen Anstellwinkel und verlor jeden Auftrieb, wodurch er noch langsamer wurde. Er riss ihn scharf nach links und zwang den rechten Flügel nach oben.

In Suzys Bauch zerrte noch mehr als die ätherische Erregung des Fliegens. In ihren mit Lenkhandschuhen ausgerüsteten Fingerspitzen summte leicht der Druck auf die Flügel des Querruders. Wie eine angezupfte Saite fuhr das Gefühl des Steigens durch ihr Rückgrat und entzog sich jäh ihrer Aufmerksamkeit. Sie war nur Auge.

Sie sah Carlos Perez und Ana Lenidov sich nach links und rechts trennen, helle Flügel, die in entgegengesetzter Richtung in der Thermik aufstiegen, während Shelley weit ausscherte und seinen rechten Flügel zurücknahm im Versuch, durch einen Sturzflug Tempo zu gewinnen und wieder Auftrieb zu bekommen. Artemio Gonzales schwebte unter ihm hinterher.

Und dann fühlte Suzy das zunehmende seitliche Weggleiten, als sie den aufsteigenden Kamin wärmerer Atmosphäre erwischte (relativ warm – ohne ihren Schutzanzug würde sie binnen Sekunden bis aufs Mark gefrieren, wie es Fliegern schon passiert war). Die Warnung vor Überziehen piepte kurz in ihrem Helm, und sie bog die Auftriebsflächen ihrer Flügel und betätigte die Spreizklappen, um einen stabilen Vektor zu erzielen. Der Weltengletscher kippte weit unten zur Seite, als sie sich höher schraubte. Als sie Shelley wieder erblickte, versuchte er, aus dem Sturzflug herauszukommen.

Zu spät. Zu schnell. Als Shelley auszugleichen versuchte, blockierten die Klappen seines rechten Flügels, er rollte nach rechts, der Druck auf die gekrümmte Tragfläche stieg enorm an – und etwas zerbrach. Der rechte Flügel wurde zurückgerissen und zog hinterher. Dabei musste Shelley sich unweigerlich den Arm gebrochen haben. Jemand schrie. Das hätte Shelley sein können. Dies schien ewig zu dauern, während sich die Flügel um ihn zusammenfalteten und er nach unten zusammenschrumpfte, bis er schließlich auf das schmutzige Methan-Eis des Gletschers prallte.

Viel später war Suzy schließlich in einem der Übungsräume, der einzigen ruhigen Stelle in der Unterkunft der Flieger. Sie war ausgepumpt durch die langen tränenreichen gegenseitigen Beschuldigungen und Vorwürfe mit dem Rest ihres Teams und musste sich durch resolute Presseleute hindurchkämpfen, als sie schließlich den Schauplatz verließ, nachdem Shelleys Leiche hereingebracht worden war.

Die anderen hatten sich ringsum versammelt und sich bereit erklärt, einen Flug weniger zu machen. Artemio Gonzales schwor, dass das Shelleys Wunsch gewesen wäre. Wahrscheinlich hatte er auch Recht. Aber Suzy wusste, was Duke Bonadventure dazu sagen würde. Er würde nicht das Gesicht verlieren wollen, indem sein Team im nächsten heißen Kampf ausgelöscht würde, so dass er einen Rückzieher machen müsste. Und Suzy wusste auch, dass die anderen das gerade jetzt noch nicht hören mochten. Deshalb unterdrückte sie ihre Ansichten und machte vage Versprechungen, aus der Gruppe ein Solo zu rekrutieren. Das hätte sie ohnehin tun müssen, sei es auch nur, um für das nächste Turnier bereit zu sein, wenn der ewige Karneval der Stadt wieder einmal damit anfangen würde.

Und dann versuchte sie, sich dem ganzen Schlamassel zu entziehen, und geriet mitten in eine Horde gieriger Nachrichtenleute. Sie hatte einem auf den Hintern geschlagen und damit eine der neugierigen ferngesteuerten Wanzen zerquetscht, die aus der Luft auf sie zuschossen, und sie dann über das Treppengeländer geworfen. Dumm, sehr dumm, Suzy! Das Gerät war einen Augenblick auf Sendung gewesen, eine kleine Live-Extraeinlage für die enthusiasmos. Das war eine sehr vielsagende Katastrophe.

Jetzt saß sie mit untergeschlagenen Beinen unter dem Simulator: In ihren Ohren dröhnten Blues, eine Hand war um eine mattierte silberne Karaffe gelegt, während die andere auf öligem Beton Rhythmen trommelte. Eine große schlanke Frau in schwarzen Jeans und einer Jacke aus geschmeidigem schwarzen Leder, den Kopf tiefer gesenkt als bis zu dem implantierten Muskel auf ihrem Rücken, das gebleichte Haar in borstiger Igelfrisur und mit nackten kräftigen Armen. Der linke Arm war von der Schulter bis zum Handgelenk mit einem bunten Drachen in Gold, Scharlach und Grün tätowiert, dessen schuppiger Schwanz sich um ihren Bizeps ringelte, während der weite rote Rachen Flammen über das Handgelenk spie. Sie saß da, lauschte der Musik und trank Pflaumenschnaps. Und versuchte, nicht an Shelleys Absturz zu denken und an alle ihre in Einsitzern bei den Kämpfen verunglückten Fliegerkameraden.

In solchen Zeiten pflegte die Vergangenheit sich an sie heranzuschleichen. Der Geruch des Übungsraums, kalte gefilterte Luft, die nach Öl und altem Gummi stank, war das Aroma der Startfläche auf dem Trägerschiff. Die Beklemmung in ihrem Magen war das Gefühl, mit dem sie morgens immer bei jedem Einsatz aufgewacht war. Der mondgesichtige chinesische Steward rüttelte sie sanft wach und verkündete, dass es genau sechs Uhr sei. Sie zwang das traditionelle Steakfrühstück hinunter und machte gequälte Witze mit den anderen Piloten ihres Geschwaders. Die freundlichen Hände ihrer Flughelfer setzten sie in die Polysilikonhalterung des Kampfeinsitzers. Sie stöpselten sie ein und schnallten sie fest. Öl und warmer Gummi, die Luftanlage summte hinter ihrem Kopf, oben vor sich Bildschirme, die geisterhaft falsche Konstellationen über die Sterndarstellungen legten.

Schließlich war sie die einzige Überlebende des Geschwaders gewesen, als die Marine sich zurückgezogen und das Feld vom FEIND gesäubert hatte. Wenn sie diesem Gedanken nachhing, konzentrierte sich ihre Wut wie eine Linse, die sie als Kind benutzt hatte, um in deren Brennpunkt Ameisen mit einem kleinen, befriedigenden Zischen zu rösten.

Zwölf Einsätze waren schon fast ein Rekord. Und dann die Zeit danach, an die sie nicht denken mochte. Verfluchter Beta Corvi! Keine grüne Welt, kein Vermögen. Eine miese Zeit. Nicht einmal ein nennenswerter wissenschaftlicher Bonus. Angeschmiert wie die meisten Veteranen der Einsitzerschiffe. Man hatte ihr Ruhm und Reichtum vorgegaukelt; und alles, was sie bekam, war ein exklusiver einmaliger flüchtiger Blick auf einen Haufen Felsen und einen Gasriesen, der so weit draußen war, dass er den verdammten Pluto geradezu einladend machte. Und das Kartell, das sie gefördert hatte, war deshalb freundlich gewesen und hatte in Aussicht gestellt, für ihre Schulden aufzukommen. Du brauchst nur einige Zeit für Urbis zu arbeiten in den Kampfstaffeln, wo auf andere Weise geflogen wird. Und das hatte sie auch gemacht, erst als eine der Einzelpiloten des Kartells und dann als Gruppenführerin für Duke Bonadventure. Zehn abscheuliche Jahre lang.

So trank Suzy noch etwas Brandy und ließ sich von der Musik benebeln. Sie grölte die einsame Lyrik hinaus und schlug im Zwölfertakt auf den Querbalken, bis ihre Knöchel zu bluten begannen, ohne das überhaupt zu bemerken.

Und so fand sie Adam X einige Stunden nach dem Unfall in Trance durch Erinnerungen, Musik und hochprozentigen Brandy.

In der Höhe flammten Leuchtröhren auf, als er in den Raum stapfte, und warfen den Schatten des Simulators auf schwitzende Felswände. Dessen hin und her gekrümmte Flügel und die Ketten des ausgebreiteten Harnischs hingen wie Eingeweide herunter. Seine Schritte verursachten ein lautes Echo, aber Suzy schaute nicht auf, bis er über ihr stand.

»Donnerwetter!«, sagte sie. »Wie hast du mich gefunden?« Die Musik klang ihr noch in den Ohren; und seufzend nahm sie den Spieler heraus, schaltete ihn ab und legte ihn neben sich auf fleckigen Beton.

Adam X setzte sich neben ihr auf den Fußboden. Er war ein großer Mann von fast einhundert Kilo Masse, bewegte sich aber so sanft wie eine Katze. Als ob man ein Kartenspiel gemischt hätte, um eine neue Farbe zu zeigen, runzelte er die Stirn und sagte feierlich: »Suzanne, es tut mir so leid.«

»Zum Teufel, wie kann dir etwas leid tun? Und nenne mich nicht Suzanne! Nenne mich Suzy oder sonst wie!«

Ihr Name war wirklich Suzanne, Suzanne Marie Thibodeaux. Aber das war nichts für eine ehrgeizige Fliegerin. Darum hatte sie den Namen vorn und hinten verkürzt und dem Mädchennamen ihrer Mutter vorangestellt. Sie war jetzt Suzy Falcon, die heißeste und schnellste Jagdfliegerin auf Titan, bis sie schließlich das Glück verließ. Es stand ihr gut. Suzanne Marie Thibodeaux war vor einiger Zeit gestorben, in den letzten Tagen des großen Feldzugs nach der Endlösung.

Adam X änderte seine Miene und schenkte ihr ein Lächeln. Im Übrigen war das auch nicht sein wahrer Name. Es war ein kleiner Scherz von Duke Bonadventure. Dieser besaß Adam ebenso, wie er (auf andere Weise) Suzy und die anderen im Team besaß. Als Adam sich vorbeugte, um mit gespielter Besorgnis ihre Hand zu ergreifen, schimmerte Licht auf den kleinen Metallplatten an beiden Schläfen, die durch seine modisch gelockte Ponyfrisur halb verdeckt waren. Suzy unterdrückte einen leichten Schauder bei seiner Berührung. Diese langen, weißen und makellos manikürten Hände hatten mindestens ein Dutzend Kinder in Stücke zerteilt. Seine Hand war glatt und warm.

Er sagte: »Suzy, meine Gefühle sind so, wie es mir gestattet ist. Gegenwärtig bin ich betrübt wegen Shelley.«

Suzy zog ihre Hand weg und hob ihre Schnapsflasche (wobei ihr großes verheddertes Ellbogengelenk knackte), um etwas Besseres damit anzufangen. Sie sagte: »Ich brauche dein Mitgefühl nicht. Ich weiß, dass das alles Simulation ist.« Das Feuer des Branntweins ergoss sich durch ihre Mundhöhle und lief wie ein heißer Draht in die Magengrube.

Aber Adam X konnte man nicht beleidigen. Er nahm den Spieler auf, und die schmerzhafte Musik erfüllte wieder ihre Ohren. Natürlich auch die seinigen. Er war wie Suzy auf Schall verdrahtet. Seine Augen wurden unklar, als er an den Computer in Duka Bonadventures Haus heranging. In diesem Augenblick erkannte Suzy ihn als das, was er wirklich war. Ein Spielzeug. Eine Puppe aus Fleisch. Mikrometerdünne Pseudoneuronen waren durch seine ganze Hirnrinde gewoben und bestimmten jede seiner Bewegungen. Manchmal fragte sie sich, ob noch etwas von dem Massenmörder lebte. Vielleicht in den Muskeln, dicht beim Skelett. Auf diese Weise erinnerte sich ihr Körper an die eingepflanzten Reflexe beim Fliegen eines einsitzigen Schiffes.

Die Musik hörte auf, und Adam X sagte: »Robert Johnson, Country Blues, frühes zwanzigstes Jahrhundert. Warum hörst du dir solche Musik an, Suzy? Sie handelt nur von männlicher Sexualität und Tod.«

»Mir gefällt sie«, sagte sie und nahm ihm den Spieler ab.

»Johnson hat dieses Lied kurz vor seinem Tod aufgezeichnet. Er wurde durch eine Frau vergiftet. Er starb auf den Knien und bellte wie ein Hund. Soviel über Kunst.«

»Manche Leute sagen, er wäre wegen einer Frau vergiftet worden. Man hatte ihm eine Flasche giftigen Whiskeys gegeben auf einer Party, weil er sich an die Frau seines Gastgebers heranmachte. Allerdings würdest du den Unterschied kaum würdigen.«

»Suzy, so vieles von der Musik, die du dir anhörst, handelt vom Tod. Das ist beunruhigend.«

»Ich nehme an, du wirst mir erzählen, dass die Leute über meine … musikalischen Neigungen reden. Lass sie nur schwatzen! Das kümmert mich nicht.« Aber sie wusste recht gut, was die anderen Jagdflieger sagten. Dass sie mit der Idee des Todes flirtete, und zwar schon seit dem Ende der Alea-Feldzüge. Denn weshalb sollte sie noch im Alter von neunundzwanzig Jahren fliegen? In Wahrheit flog sie nicht, um den Tod eines Fliegers zu ehren (das plötzliche Abreißen von Shelleys Flügel und sein Todesgeheul bis hinab zum erbarmungslosen Boden). Nein, keineswegs. Es war nur, weil ihr sonst nichts mehr geblieben war.

Sie sagte: »Hör auf damit, eine Person zu spielen, und sag mir die Botschaft, zu deren Überbringung du hier bist! Okay? Ich bin nämlich gerade jetzt nicht besonders in Stimmung für Gesellschaft.«

»Duke Bonadventure drückt sein Beileid aus, Suzy.«

Sie wusste, was kommen würde. Sie hatte das Gefühl, sich direkt hier auf dem schmutzigen Betonfußboden im freien Fall zu befinden.

»Natürlich bedeutet dies Unglück, dass dein Team aus dem Wettbewerb ausscheiden wird.«

Als ob einem die Eingeweide herausgerissen worden wären und Luft durch den Hohlraum bliese.

Suzy stand mit geballten Fäusten auf und sagte: »Es müssen hundert Salas auf Team-Arbeit warten. Zum Teufel, ich kenne die meisten von ihnen, und ich kenne ein paar, die sofort hineinpassen würden. Ich kann morgen eine Probe veranstalten und sie unsere Manöver durchlaufen lassen. Sie alle werden uns zugeschaut haben und wissen, um was es geht. Das kann ich in einer Woche machen, und wir haben zwei …«

»Und dich und den Rest des Teams auspumpen. Nein.«

»Da spricht dein verdammt kühler Computer, nicht wahr? Der hat keine Ahnung davon. Alles, was er weiß, ist, auf Nummer Sicher zu gehen.«

»Du bist erschöpft. Du bist erregt.«

Suzy war so wütend, dass sie ihm am liebsten die Metallplatten aus dem Kopf gerissen hätte. Stattdessen sprang sie auf und steckte eine Hand in einen der Fingerhandschuhe zum Steuern des Übungsgeräts, ballte sie zur Faust und ließ den Bogen, der sich über dem Kopf von Adam X wölbte, heruntersausen. Sie fühlte den Aufprall mit den Fingerspitzen, als große Brocken gegen Beton donnerten.

Aber Adam X zuckte nicht einmal mit der Wimper. Er sagte mit ruhiger Miene zu ihr, als ob nichts geschehen wäre: »Bitte, ich kenne die Verbindung zwischen euch vier. Ich weiß, du willst Shelleys Gedächtnis ehren, indem du weiter am Wettbewerb teilnimmst. Aber ich weiß auch, dass es nicht möglich ist, in so kurzer Zeit ein neues Mitglied in euer Team zu integrieren.«

»Ich will Bonadventure sprechen. Ich werde es ihm begreiflich machen.«

»Das ist gut. Denn er möchte dich sehr gern sehen, Suzy. Er hat ein Angebot für dich. Er braucht einen Piloten.«

»Fragt doch einen Astronauten! Ich habe mich davon längst zurückgezogen.«

Adam X sagte: »Er braucht jemanden mit Kampferfahrung. Jemanden, der gegen den FEIND fliegen kann.«

3

Dorthy Yoshida erwachte mit trockenem Mund und Kopfschmerzen. Sie war in weiße Leinenhosen gekleidet und eine weiße Tunica mit einer breiten schwarzen Schärpe als Gürtel und lag auf einem Bett, das so groß und weich war wie eine Wolke, welches mitten in einer steinigen Lichtung in einem von der Sonne beschienenen Fichtenwald stand. Eine sehr große Fahne aus roter Seide, bemalt mit gelben Han-Ideogrammen, leuchtete im spätmorgendlichen Glanz der irdischen Sonne.

Eine Quelle sprudelte unter einer schrägen Granitplatte hervor. Dorthy trank aus zusammengelegten Händen und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht.