Extinction. Wenn das Böse erwacht - Douglas Preston - E-Book

Extinction. Wenn das Böse erwacht E-Book

Douglas Preston

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Beschreibung

Sie haben etwas Böses erweckt. Und nun wird es sie jagen … Im Thriller »Extinction« trifft »Relic« auf »Jurassic Park« – Bestseller-Autor Douglas Preston sorgt für filmreifen Nervenkitzel der Extraklasse! Tief in den Rocky Mountains liegt das gigantische Ferienresort Erebus. Dank modernster Gentechnik können die betuchten Gäste wie vor Jahrtausenden wollige Mammuts, gewaltige Riesenhirsche und meterhohe Riesenfaultiere in ihrem natürlichen Habitat erleben. Als ein Millionärssohn und seine Frau entführt und im Hinterland tot aufgefunden werden, gerät eine Gruppe von gewaltbereiten Öko-Terroristen in Verdacht. FBI-Agentin Frances Cash und Sheriff James Colcord sollen den Fall schleunigst aufklären. Doch dann häufen sich die Morde, und der 400 Quadratkilometer umfassende Ferienort muss evakuiert werden. Inmitten der prähistorischen Flora und Fauna werden Cash und Colcord mit etwas Bösem konfrontiert, dem es nicht ums Neubeleben, sondern ums Auslöschen geht … Douglas Prestons actionreicher Thriller in der Tradition von Michael Crichton beruht auf wissenschaftlichen Experimenten zur Wiedereinführung ausgestorbener Tier- und Pflanzenarten – wie der Woll-Mammuts und der Riesenblumen aus dem Pleistozän, 2,5 Millionen Jahre vor unserer Zeit. Entdecke auch den neuesten spannenden Thriller rund um Agent Pendergast vom Autorenduo Douglas Preston und Lincoln Child Death - Das Kabinett des Dr. Leng.

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Seitenzahl: 562

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Douglas Preston

Extinction Wenn das Böse erwacht

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Kerstin Fricke

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Sie haben etwas Böses erweckt. Und nun wird es sie jagen ...

 

Tief in den Rocky Mountains liegt das gigantische Ferienresort Erebus. Dank modernster Gentechnik können die betuchten Gäste wie vor Jahrtausenden wollige Mammuts, gewaltige Riesenhirsche und meterhohe Riesenfaultiere in ihrem natürlichen Habitat erleben.

Als ein Millionärssohn und seine Frau entführt und im Hinterland tot aufgefunden werden, gerät eine Gruppe von gewaltbereiten Öko-Terroristen in Verdacht. FBI-Agentin Frances Cash und Sheriff James Colcord sollen den Fall schleunigst aufklären. Doch dann häufen sich die Morde, und der 400 Quadratkilometer umfassende Ferienort muss evakuiert werden.

Inmitten der prähistorischen Flora und Fauna werden Cash und Colcord mit etwas Bösem konfrontiert, dem es nicht ums Neubeleben, sondern ums Auslöschen geht …

 

»Ein Thriller, der nicht nur atemlos und fesselnd ist, sondern der uns darüber hinaus zum Nachdenken anregt. Er erzählt viel über unsere ferne Vergangenheit – und unsere unmittelbare Zukunft. Spektakulär!«

Lee Child, SPIEGEL- und New York Times-Bestsellerautor

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Zitat

Zitat

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

Nachwort

Willkommen auf der Insel des Dr. Moreau

Für meinen Freund und Schreibpartner Lincoln Child

Das tatsächliche Problem der Menschheit ist folgendes: Wir haben steinzeitliche Gefühle, mittelalterliche Institutionen und eine gottgleiche Technik.

Edward O. Wilson

Aussterben ist die Regel. Überleben ist die Ausnahme.

Carl Sagan

1

Sehen Sie mal – da drüben«, sagte der Guide leise und reichte Olivia das Fernglas. »Auf der anderen Seeseite.«

Olivia Gunnerson nahm das Fernglas entgegen und blickte auf den türkisfarbenen See im Gebirgskessel unterhalb ihres Aussichtspunkts hinab. Es dauerte einen Moment, bis sie die Wollhaarmammuts, vier große und zwei kleinere, am gegenüberliegenden Ufer entdeckt hatte. Sie drehte am Schärfenrad und konnte die Tiere nun klar und deutlich erkennen. Der Anblick raubte ihr den Atem. Die Mammuts waren so riesig, dass sie fast schon unecht wirkten, und viel größer als die Elefanten, die sie im Safariurlaub in Afrika bestaunt hatte. Der Bulle trank am See. Er musste eine Schulterhöhe von viereinhalb Metern haben, und seine Stoßzähne glichen gewaltigen Krummsäbeln aus Elfenbein, waren so lang wie sein Körper und schwangen sich von seinem zotteligen, kuppelförmigen Kopf nach außen. Die Matriarchin der Familie hielt Wache, reckte den Rüssel in die Luft und bewegte ihn hin und her, um Veränderungen wahrzunehmen, während ihr Kalb unter ihr Deckung gesucht hatte und den Kopf reckte, um bei ihr zu trinken. Es war Anfang Herbst, doch hier in den Bergen wuchs den Mammuts bereits das Winterfell, und ihr langes braunes Haar war weit über einen Meter lang.

Olivia war begeistert. Diese Szene mit der auf der üppigen Wiese jenseits des Sees fressenden Mammutfamilie schien dem Film Ice Age entsprungen zu sein, und die Colorado-Gebirgskette Erebus bildete mit ihren glitzernden, schneebedeckten Gipfeln den passenden Hintergrund. Auf einer Seite der Gruppe stand ein Hain aus Espen mit herbstlich verfärbten Blättern, die bei jedem Windstoß eine Wolke aus schimmerndem Gold zu Boden gehen ließen.

»Mammuthus columbi«, flüsterte der Guide. »Die nördliche Unterart zählt zu den größten Mammuts. Dieser Bulle wiegt gut und gerne zehn Tonnen.«

Olivia blickte weiter durchs Fernglas. Der Bulle hatte genug getrunken und bespritzte mit einem Rüssel voll Wasser das Junge, dessen freudiges Kreischen leise zu ihnen herüberhallte.

»Unglaublich«, hauchte sie. Während ihrer Kindheit in Salt Lake City war Olivia verrückt nach Dinosauriern gewesen und hatte sogar Paläontologin werden wollen, bis sie das Skifahren entdeckte und zu ihrem Lebensinhalt machte.

»Hast du das Fernglas gepachtet?«, spottete Mark, Olivias Mann.

»Entschuldige«, erwiderte sie lachend, reichte es ihm und drückte ihm zuneigungsvoll die Schulter. In ihrer Faszination hatte sie den Rest der Welt einfach ausgeblendet. Nun wandte sie sich an ihren Guide Stefan. »Was machen sie, wenn der Schnee kommt?«

»Dann wandern sie nach unten ins Tal und suchen Schutz im Wald«, antwortete er.

Olivia bemerkte, dass ihr Guide einer dieser sehr fitten älteren Männer war, die nur aus Sehnen und Muskeln zu bestehen schienen. Er hatte einen ergrauenden Bart und ledrige Haut und strahlte ungemeinen Elan aus. Unwillkürlich fragte sie sich, ob Mark mit Mitte fünfzig ebenso aussehen würde. Vermutlich. Er würde seinen Fitnessplan nie vernachlässigen, genauso wenig wie sie.

»Und was fressen sie im Winter?«, erkundigte sich Mark.

»Dann werfen sie Espen und Pappeln um und fressen die Zweige und Knospen, und sie schieben den Schnee zur Seite, um an die Moose und Büsche entlang der Sümpfe heranzukommen. Seitdem sie ausgewildert wurden, haben sie die Ökologie des Tals verändert, Auen geschaffen und den Boden aufgewühlt – und die Kohlenstoffabsorptionsrate dadurch um etwa fünfzig Prozent erhöht.«

»Es macht den Anschein, als würden sie den See umrunden«, stellte Olivia fest. Selbst ohne Fernglas war zu erkennen, dass sich die Gruppe bewegte und sich, angeführt von der Matriarchin, am Ufer entlangbewegte. »Sie kommen auf uns zu.«

»Sie müssen sich keine Sorgen machen«, sagte der Guide. »Die Mammuts sind so friedlich wie Schoßhunde.«

Beim zweiundzwanzig Kilometer langen Trek zum Lager hatten sie knapp tausend Höhenmeter überbrücken müssen, und das mit über zwanzig Kilo schweren Rucksäcken. Sie hatten auf einer Wiese in dreitausend Metern Höhe nicht weit entfernt von der Baumlinie inmitten eines wunderschönen Bergkreises, der als Barbicans bekannt war, ihr Lager aufgeschlagen. Obwohl Olivia den Großteil ihrer dreißig Jahre dank des Skifahrens und Wanderns im Freien verbracht hatte, war ihr noch kein atemberaubenderer Anblick untergekommen als diese hoch aufragenden, schneebedeckten Gipfel mit den von goldenen Blättern gezierten Espen, dem aquamarinblauen See, in dem sich die Abendwolken spiegelten – und der Krönung des Ganzen: der Familie von Wollhaarmammuts, die mit schwankenden Rüsseln um den See stapften und zu der zwei Jungtiere gehörten.

An diesem Morgen hatten sie die Lodge noch vor Morgengrauen mit einem Jeep verlassen: ihr Mann, Stefan und sie. Es war eine holprige Fahrt zum siebzehn Kilometer entfernten Anfangspunkt des Wanderwegs. Bei Sonnenaufgang waren sie losgelaufen und durch einen dichten Douglastannen-Wald zu einem Felsvorsprung gelangt, von dem aus man auf das Erebus-Tal und die jetzt in der Ferne liegende Lodge mit dem angrenzenden See blicken konnte. Das Tal war entlang des Erebus-Flusses entstanden, hauptsächlich durch das Nagen und Baumfällen der Riesenbiber namens Castoroides, einer weiteren Tierart, die nun »de-extinkt« war, wie man im Erebus-Resort so schön sagte.

In der Lodge hatten sie jeden Abend zusehen können, wie die Wollhaarmammuts und andere Megafauna aus dem Pleistozän zum Trinken an den See kamen, wo sie stets pünktlich auftauchten. Die Gäste versammelten sich vor der Glaswand und beobachteten sie. Es war wie in Disneyland, wo sich alle aneinanderdrängten und »Oooh« und »Aaaah« murmelten, ihre Drinks umklammerten und versuchten, Handy-Selfies zu machen. Aber hier in den Bergen, wo die Mammuts frei und inmitten der Natur lebten, war das eine völlig andere Erfahrung. Man konnte es in etwa damit vergleichen, ob man Elefanten in einem Zoo oder auf einer Safari im afrikanischen Busch sah.

Mark gab ihr das Fernglas zurück, und sie schaute erneut hindurch. Die Mammuts befanden sich nun an der Nordseite des Tümpels und verharrten an einem Dickicht, wo sie Zweige und Äste von den Büschen abrissen und sich in die Mäuler stopften. Eines der Mammuts kotete und gab eine fast schon unfassbare Menge von sich, sodass ein riesiger Haufen zurückblieb. Auf dem Weg hierher wäre Olivia beinahe in einen ähnlichen Haufen getreten, der so groß war, dass sie ihn beinahe mit einem braunen Felsen verwechselt hätte. Ohne die Warnung des Guides wäre sie bis zu den Knien darin versunken. Diese Vorstellung hatte sie alle sehr erheitert. Später erspähten sie eine Gruppe von Glyptodons, die in der Ferne auf einer Wiese grasten. Ein grotesker aussehendes Tier konnte es Olivias Meinung nach nicht geben. Glyptodons waren riesige Gürteltiere und hatten etwa die Größe und Form eines VW-Käfers. Sie konnte weder ihre Köpfe noch ihre Schwänze sehen, nur fünf rundliche graue Erhebungen, die sich langsam über die Wiese bewegten und Spuren im langen Gras hinterließen.

Aber vor allem hatte Olivia Indricotheriidae sehen wollen. Diese Tiere hatte Erebus zuletzt per De-Extinktion wiederauferstehen lassen, und angeblich lebten zwei von ihnen im Tal. Die Indricotheriidae waren die größten Landsäugetiere, die je gelebt hatten, und ein Vorfahr der Nashörner. Ein Exemplar hatte in etwa das doppelte Gewicht eines Mammuts und glich einem viereinhalb Meter großen Koloss auf säulenartigen Beinen. Sie hatte in ihrem Orientierungspaket gelesen, dass die Indricotheriidae 1916 in Sibirien von einem russischen Paläontologen namens Borissiak entdeckt worden waren, der sie nach dem »Indrik-Tier« benannte, einem Ungeheuer aus der russischen Mythologie, das angeblich tief im Ural lebte und so groß war, dass seine Schritte die Erde zum Beben brachten. Das Indrik-Tier hatte den Körper eines Bullen, den Kopf eines Pferdes, ein riesiges Horn an der Schnauze und war mit rauem schwarzen Fell bedeckt. Die Indricotheriidae sahen in der Tat fast genauso aus, nur dass sie kein Horn besaßen. Trotz ihrer Größe waren sie scheue und schwer zu findende Tiere, da sie dazu neigten, sich in den dichten Virginischen Traubenkirsche- und Kreuzdornbüschen, die entlang der Flussläufe in den unteren Gebieten des Erebus-Tals wuchsen, oder in den dichten Wäldern in den höheren Talgegenden zu verstecken.

Sie schüttelte ihr blondes Haar und betrachtete die Mammuts erneut, die sich nun um den See herumbewegt hatten und besser zu erkennen waren, während sie durch die Büsche liefen, diese abfraßen und eine Spur aus zerfetzter Vegetation hinter sich zurückließen.

»Wir werden doch heute Nacht nicht zertrampelt, oder?«, fragte sie lachend.

»Sie passen sehr gut auf, wohin sie die Füße setzen«, versicherte der Guide ihr. »Außerdem gehen sie ebenfalls schlafen, wenn die Sonne untergeht.«

»Legen sie sich zum Schlafen hin?«

»Sie sind eher wie Pferde und schlafen meist im Stehen, aber manchmal legen sie sich auch für eine halbe Stunde hin. Aber sie sind so schwer, dass sie ersticken können, wenn sie zu lange liegen – beispielsweise, weil sie krank oder verletzt sind.«

Die letzten Sonnenstrahlen fielen auf den See unter ihnen, und es wurde rasch kühler. Olivia wusste, dass die Temperaturen in dieser Höhe nachts durchaus unter den Gefrierpunkt fallen konnten.

»Wir sollten ein Feuer anzünden und etwas essen«, schlug Mark vor.

»Auf jeden Fall«, erwiderte der Guide und erhob sich.

Die beiden zogen los, um ein Lagerfeuer zu machen und das Abendessen zuzubereiten. Olivia war sehr froh, dass sie einen Mann gefunden hatte, der nicht nur gern kochte, sondern es zudem gut konnte – und darüber hinaus wusch er auch noch ab. Heute Abend würde es wie üblich gefriergetrocknetes Essen geben, doch das war okay. Dies sollte auch keine Luxussafari sein, bei der sie von vorn bis hinten bedient wurden. Ganz im Gegenteil. Olivia und Mark hatten beschlossen, in ihren Flitterwochen ein richtiges Abenteuer zu erleben – eine achttägige Rucksacktour entlang des hundertsiebenundsiebzig Kilometer langen Barbican Trek. Das war der berühmteste Rundgang in Erebus, und er beinhaltete eine beachtliche körperliche Anstrengung, umwerfende Ausblicke und die Gelegenheit, die unfassbare Megafauna des Pleistozäns, die durch die Wissenschaft der De-Extinktion und die Auswilderung in ein natürliches Habitat entstanden war, zu bestaunen. Olivia bedauerte es zwar ein wenig, dass Mark auf einem Guide bestanden hatte, musste aber auch zugeben, dass der Mann ein Quell an Informationen darstellte, dabei jedoch ruhig und unaufdringlich blieb. In Erebus gab es keine gepflegten Wanderwege oder ordentlichen Lagerplätze, und das machte auch den Reiz aus: Man fühlte sich wie ein John Muir, der ein unbekanntes und unerforschtes Land erkundete. Das war selbstverständlich albern, denn Erebus gehörte zu den am besten kuratierten Landschaften Colorados, doch Olivia war es leid, über ausgetretene Pfade zu wandern und auf abgenutzten, heruntergekommenen Zeltplätzen zu übernachten. In den Jahren seit der COVID-Pandemie schienen die wilden Ecken Amerikas zunehmend überlaufener geworden zu sein.

Sie sah von ihrem Platz auf einem Baumstamm aus zu, wie Mark und der Guide sich ums Abendessen kümmerten. Mark hatte eine Flasche Bourbon dabei, aus der die beiden Männer hin und wieder einen Schluck tranken. Er war so ein lieber, übereifriger Mann, und man wäre nie auf die Idee gekommen, dass sein Vater ein Milliardär sein könnte. Mark kam ganz nach seiner Mutter, einem der wundervollsten Menschen, denen Olivia je begegnet war. Wie seine Eltern zueinandergefunden hatten, war ihr völlig schleierhaft, aber sie schätzte sich glücklich, eine solche Schwiegermutter zu haben. Den großen, stürmischen, lauten Tech-Milliardär-Vater bekam sie ohnehin kaum zu Gesicht, und sie hoffte, dass dies auch nach der Geburt ihres Kindes so bleiben würde.

Inzwischen flackerte ein Feuer in ihrem Lager. Die magische Stunde war angebrochen, und auf den Gipfeln leuchtete das Alpenglühen. Es wurde schnell kälter. Sie holte eine Fleecejacke aus ihrem Rucksack und ging zum Feuer. Am liebsten hätte sie auch einen Schluck Bourbon getrunken, was aufgrund ihrer Schwangerschaft jedoch nicht ging.

»Tut mir leid, Liebes. Ich hoffe, du hast nichts dagegen«, sagte Mark und schwenkte mit schuldbewusstem Grinsen die Flasche.

»Ist schon okay. Trinkt ihr zwei nur.«

Die Mammuts waren nicht mehr zu sehen, da sie nun vom Felsvorsprung, der sich zwischen ihnen und dem See befand, verdeckt wurden. Der Guide erklärte ihnen, dass die Tiere die Nacht in einer geschützten Senke verbringen würden.

Das Abendessen bestand aus gefriergetrockneten Hühnchen-Tetrazzini mit Instantsuppe, heißer Schokolade und Keksen zum Nachtisch. Olivia beobachtete Mark beim Essen, dessen Kiefermuskeln dabei deutlich hervortraten. Er war insgesamt sehr muskulös, jedoch nicht übertrieben, sondern eher schlank und athletisch und hatte lockiges dunkles Haar und weiße Zähne. Seltsamerweise schien die Schwangerschaft ihre Lust nur noch zu steigern. Sie hatte angenommen, dass derartige Gefühle abgemildert werden würden, was jedoch nicht eintrat. In dieser Nacht würden sie sehr leise sein müssen, was jedoch nur noch mehr Spaß machte, da Mark ihr den Mund zuhalten musste, wenn sie kam. Das war wie zu Highschool-Zeiten, wenn sie angeblich in ihrem Zimmer mit ihrem Freund gelernt hatte, während sie doch in Wirklichkeit miteinander fummelten.

Der Guide legte sein übliches Feingefühl an den Tag und baute sein Zelt diskret außerhalb der Sichtweite hinter einigen Bäumen und gute hundert Meter von ihrem entfernt auf.

Es wurde dunkel, und die Sterne tauchten am Himmel auf, als hätte Gott einen Eimer leuchtenden Staubs umgestoßen. In dreitausend Metern Höhe sah man Sterne, die kein Mensch auf Meereshöhe jemals gesehen hatte, stellte sie fest.

Das Feuer war ausgegangen, und sie konnte ihren Atem im Licht der glühenden Kohlen sehen.

Mark stand auf. »Ich bin müde.«

»Ich auch.« Sie täuschte ein Gähnen vor und war schon beim Gedanken an das, was gleich passieren würde, erregt. Irgendetwas an der anstrengenden Wanderung, den Glyptodons und den Mammuts, den schneebedeckten Gipfeln und dem Sternenhimmel über ihnen ließ ihr Verlangen in ungeahnte Höhen schnellen.

Sie hielt seine Hand, als sie ins Zelt gingen. Ihre Schlafsäcke waren bereits miteinander verbunden, und sie zogen sich schnell aus und stiegen hinein, um sich eng zu umschlingen. Er war sofort bereit, und sie kamen gleich zur Sache.

2

Olivia lag im Dunkeln und lauschte Marks leisem Atem neben sich. Die Nacht war ruhig und windstill, die Stille allumfassend. Trotz der eisigen Temperaturen waren ihre Schlafsäcke sehr warm, außerdem war sie es gewohnt, in alpinem Wetter zu zelten. Ihr Vater war mit ihr und ihren Brüdern zu jeder Jahreszeit in den Wasatch-Bergen und dem Manti-La Sal National Forest zelten gegangen, manchmal hatten sie mitten im Winter Langlaufskiausflüge durch drei Meter hohen Schnee gemacht, wobei die Temperatur in den Nächten oft auf weit unter null fiel. Himmel, wie sehr sie ihn vermisste. Mark ähnelte ihm ein wenig, denn er ließ sich auch nicht von der Wildnis einschüchtern und begegnete allem, was ihm die Natur in den Weg warf, vollkommen gelassen. Mit einem neuen Freund ging sie immer als Erstes zelten. Trotz ihrer großen Worte bestanden viele diesen Test nicht – meist brauchte es nur etwas Regen oder Schnee, einen Moskitoschwarm oder eine Klapperschlange, und schon gerieten sie in Panik. Oder ihnen fehlte jegliches Gefühl für die Wildnis, und sie ließen einfach ihren Müll herumliegen, pinkelten zu dicht an einem Fluss oder wussten nicht, wie man ein Zelt aufbaute.

Sie drehte sich auf die Seite und war kein bisschen müde. Die Sonne ging im Herbst so früh unter, und sie vermutete, dass es gerade mal zwanzig Uhr war. Wie gern wäre sie wie Mark eingeschlafen, der immer und überall innerhalb von fünf Minuten tief und fest schlief. Es war eine dunkle, mondlose Nacht. Die Mammuts würden unter ihnen in der Senke schlafen. Olivia lauschte und fragte sich, ob Mammuts wohl schnarchten. Aber sie konnte rein gar nichts hören.

Ihre Gedanken gingen auf Wanderschaft, und sie musste an ihre olympische Medaille denken, die in einer Socke verborgen in ihrer Unterwäscheschublade zu Hause in Salt Lake ruhte. All die jahrelange harte Arbeit, die Mühe, Risiken, Stürze, Verletzungen, Operationen, Rehas, Erholungspausen, noch mehr Arbeit, noch mehr Abrackern – und schließlich Pyeongchang. All ihre Bemühungen waren zusammengefasst und in ein Stück Bronze gepresst worden, das nun in einer Schublade lag. Mark war entsetzt gewesen, dass sie die Medaille nicht einrahmen und zusammen mit einem Foto von sich auf der Siegertribüne aufhängen wollte, doch sie hatte dafür keinen Grund gesehen. Eigentlich konnte sie das Ding gar nicht leiden.

Für ihr Kind würde vieles anders verlaufen. Sohn oder Tochter, ihr war es völlig gleich. Er oder sie würde nicht dieselben Fehler machen wie sie. Olivia hatte viel erlebt und wusste, wie das System arbeitete und was getan werden musste, und sie konnte ihrem Kind etwas viel Besseres geben als eine Bronzemedaille.

Auf einmal war sie hyperwachsam und angespannt. Sie hatte ein Geräusch gehört. Ein seltsames Rupfen. Mark wurde schlagartig wach. Und dann fing es an, das laute Zerreißen der Zeltplane, als würde sie aufgeschnitten.

»Was zum Henker?« Mark setzte sich ruckartig auf.

Olivia zog eine Stirnlampe aus der Zelttasche und schaltete sie ein. Als sie damit durch das Moskitonetz des Innenzelts leuchtete, enthüllte sie einen langen, zackigen Riss in der Zeltklappe.

»Was war das?«, fragte Mark. »Ein Ast?«

»Es weht kein Wind«, entgegnete Olivia.

»Glaubst du, das war ein Bär?«, wollte er wissen.

»Sie haben doch gesagt, dass alle Bären weggebracht wurden.«

»Mag sein, aber einer könnte über die Berge zurückgekommen sein.«

Olivia überlegte. Möglicherweise war es ein Tier gewesen, das die Menschen im Zelt gerochen und neugierig eine Pfote hineingesteckt hatte.

Sie lauschten, aber es blieb alles still.

»Ich gehe raus«, erklärte Mark.

»Nein, warte.«

»Ich werde nicht warten. Wenn es eine Katze oder ein Bär ist, müssen wir das Tier verscheuchen. Wir können nicht einfach warten, bis es ins Zelt gelangt.«

Er nahm ihr die Stirnlampe ab, setzte sie auf und zog sein Klappmesser aus der Scheide, bevor er aus dem Schlafsack schlüpfte. Nur in Thermounterwäsche huschte er zum Zelteingang und öffnete ihn.

Dort hielt er inne. Kein Geräusch drang von draußen herein. Vorsichtig steckte er den Kopf ins Freie.

»Siehst du etwas?«

»Nein.«

Olivia war verunsichert. Dort draußen konnte auch ein Berglöwe lauern. Vielleicht lief er ja weg, wenn er das Licht sah. Aber Mark hatte recht: Sie konnten sich nicht einfach im Zelt verstecken, sondern mussten etwas tun. Wenn sie den Guide riefen, brachten sie ihn nur in Gefahr, zudem widersprach es ihrem Wildnisethos, ihn um Hilfe zu bitten.

Sie tastete herum, bis sie ihr Messer gefunden hatte, und setzte sich die Stirnlampe auf, schaltete sie jedoch noch nicht ein.

»Okay, ich gehe raus«, erklärte Mark und verschwand in der Dunkelheit.

Sie sah das Leuchten seiner Lampe schwach durch den Zeltstoff schimmern, als er sich umschaute. Nervös umklammerte sie ihr Messer.

Das Licht bewegte sich noch lange dreißig Sekunden weiter, bis sie plötzlich hörte, wie Mark ein Grunzen – ein komisches Schnauben – ausstieß. Es folgte ein Geräusch, als ob eine Flüssigkeit vergossen oder verspritzt wurde, und das Leuchten verschwand.

»Mark?«, rief Olivia. »Mark!«

Keine Antwort.

Sie eilte zur Zeltklappe, spähte hinaus, schaltete ihre Stirnlampe ein und ließ den Lichtstrahl umherschweifen. Auf dem Boden lag sein Messer. Ganz in der Nähe entdeckte sie die noch immer eingeschaltete Stirnlampe im Gras.

»Mark!«, kreischte sie. »Mark! Hey, wir brauchen hier Hilfe!« Sie sprang aus dem Zelt und umklammerte das Messer. An der Stelle, an der er das Messer und die Lampe fallen gelassen hatte, blieb sie stehen und starrte entsetzt zu Boden – und da spürte sie auch schon etwas im Nacken, das ihre Haut aufriss, ihren Knochen zertrümmerte und hindurchfuhr, was sich gleichzeitig kochend heiß und eiskalt anfühlte.

3

Das Pfeifen des Titellieds von Zwei glorreiche Halunken durchschnitt den dunklen Raum.

»Echt jetzt?«, murmelte Frankie Cash und tastete auf dem Nachttisch nach dem Handy. Sie hob es hoch und starrte darauf: fünf Uhr früh, und der Anruf kam von ihrem Vorgesetzten Wallace McFaul.

»Cash«, meldete sie sich und versuchte, die Müdigkeit aus ihrer Stimme zu vertreiben.

»Frankie.« Er hörte sich erschreckend munter an. »Im Erebus-Resort gibt es ein Problem.«

»Womit haben wir es zu tun?«

»Entführung, möglicherweise auch Mord.«

»O Gott.«

»Wir machen einen Hubschrauber bereit. Detective Romanski leitet das CSI-Team.« McFaul zögerte. »Laut Dienstplan ist das Ihr Fall … Leitende Agentin Cash.«

Er betonte die Worte leitende Agentin ein wenig, denn dies wäre ihr erster Fall seit ihrer Beförderung zum Senior Detective der Major Crimes Division des CBI.

Jetzt war sie hellwach. »Bin in vierzig Minuten da.«

Frankie Cash beendete die Verbindung und rollte sich mit einer einzigen Bewegung aus dem Bett. Dadurch, dass sie nackt schlief, musste sie zwischen Bett und Dusche keine Verzögerung in Kauf nehmen, und das heiße Wasser, das ihr übers Gesicht lief, sorgte dafür, dass sie einen klaren Kopf bekam. Sechzig Sekunden später trocknete sie sich bereits mit einem rauen Handtuch ab, kämmte sich schnell die Haare und putzte sich die Zähne. Ohne auch nur einen Moment stillzustehen, zerrte sie eine hellblaue Seidenbluse, einen grauen Kammgarnblazer und einen Rock von einem Stuhl, auf dem sie vor dem Schlafengehen alles bereitgelegt hatte. Sie zog sich an, klemmte sich ihre Dienstmarke an den Gürtel und holsterte ihre Baby Glock 9 mm, um danach rasch etwas Lippenstift aufzulegen. Während sie die Lippen übereinander rieb, betrachtete sie ihr Spiegelbild. Himmel, waren das wirklich neue Fältchen um ihre Augen? Sie streckte sich die Zunge raus. Vergiss deine Sorgen um dein Gewicht, dein Alter, deine Falten und deinen Arsch – und mach deine Arbeit.

Ihr erster Fall in der neuen Abteilung. Und sie hatte so eine Ahnung, dass es ein großer werden würde.

In der winzigen Küche ihres Apartments kochte sie Wasser in einem elektrischen Kessel, goss ihn zu zwei Esslöffeln Instantespresso in einen Thermobecher, gab zwei Esslöffel Kaffeeweißer und zwei Esslöffel Zucker hinzu, drückte den Deckel drauf und saß zwei Minuten später in ihrem Wagen und war auf dem Weg in Richtung Norden nach Kipling zum CBI-Hauptquartier in Lakewood, Colorado.

Um zwanzig vor sechs war der Parkplatz der Colorado-Untersuchungsbehörden so gut wie leer. Die Sterne verblassten gerade erst am Nachthimmel, als sie in die kalte Septemberluft ausstieg und mit ihrem Kaffeebecher in der Hand das Gebäude betrat, um direkt auf McFauls Büro zuzuhalten.

Dort unterhielt sich ihr Boss, der wie immer einen zerknitterten blauen Anzug mit weißem Hemd und grauer Krawatte trug, vor seinem Schreibtisch mit Bart Romanski, dem Leiter des CSI-Teams.

McFaul sah auf die Uhr. »Genau vierzig Minuten. Ist das ein neuer Rekord?«

Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln. »Ich wollte schon immer mal in Erebus Ferien machen.«

»Ich befürchte, der Aufenthalt wird für Sie nicht besonders erholsam«, erwiderte McFaul. »Gestern Abend wurden gegen einundzwanzig Uhr zwei Wanderer – frisch Verheiratete – aus ihrem Zelt entführt. Es handelt sich um Mark und Olivia Gunnerson.«

»Gunnerson?«, wiederholte Romanski. »Gibt es eine Verbindung zum Tech-Milliardär?«

»Es ist sein Sohn.«

»Ach du Scheiße … Entschuldigen Sie, Sir.«

McFaul runzelte die Stirn und fuhr fort: »Sie haben oben in den Bergen gezeltet. Gegen einundzwanzig Uhr hörte der Guide einen Schrei. Als er sich etwas angezogen und ihr Zelt erreicht hatte, waren die beiden verschwunden. Das Zelt war aufgeschlitzt, und an zwei Stellen wurden Blutflecken im Gras gefunden. Sheriff James Colcord vom Eagle County hat zusammen mit seinen Deputys auf den Notruf reagiert und uns zur Unterstützung angefordert.« Er wandte sich an Romanski. »Bei diesem Fall müssen wir uns möglicherweise stark auf forensische Beweise verlassen.«

»Verstehe«, sagte Romanski.

Cash hatte noch nie mit Colcord zusammengearbeitet, vermutete allerdings, dass er wie jeder andere der gewählten County-Sheriffs war, die sie in Colorado kannte – ältere Herren, die freundlich blieben, solange man sich nicht in ihre Politik einmischte, und die sich immerzu Sorgen wegen der nächsten Wahl machten.

McFaul fuhr fort: »Das Erebus-Sicherheitsteam hat bereits eine große Suchaktion mit eigenen Leuten gestartet. Das Team des Sheriffs ist ebenfalls vor Ort. Der Tatort liegt zweiundzwanzig Kilometer von der nächsten Straße entfernt auf einer Höhe von etwa dreitausend Metern. Wir reden hier von felsigem Gelände. Es gibt in der Nähe nur einen einzigen Ort, an dem ein Hubschrauber landen kann. Von dort müssen Sie einen knappen Kilometer zu Fuß zum Tatort laufen, daher sollten Sie Ihre Ausrüstung platzsparend einpacken. Wir fliegen bei Anbruch der Dämmerung mit dem A-Star. Noch Fragen?«

»Wurden sie von einem Mammut gefressen?«, wollte Romanski wissen.

Cash verkniff sich ein Grinsen.

McFaul runzelte die Stirn; der Mann war berühmt für seinen mangelnden Humor. »Auf solche Witze sollten Sie vorerst verzichten, verstanden, Bart?« Er wandte sich an Cash und musterte sie mit seinen grauen Augen kühl, jedoch nicht unfreundlich. »Es hat ganz den Anschein, als wäre Ihr erster Fall als leitende Agentin gleich ein richtig großer.«

»Ja, Sir.«

Er nickte knapp, und sie war heilfroh, dass sie sich keine aufmunternden Worte anhören musste.

»Dann wollen wir den Heli mal beladen. Verstauen Sie Ihre Ausrüstung so, dass Sie sie einen Kilometer weit schleppen können.« Er sah auf die Uhr. »Die Sonne geht in neunundzwanzig Minuten auf.«

»Ja, Sir.« Romanski wandte sich zur Tür. Cash folgte ihm auf den Gang.

»Das wird richtig gut«, meinte Romanski, der sich mit seinen drahtigen Beinen und leicht nach außen geneigten Füßen schnell bewegte. »Ich kann es schon spüren.«

Romanski hatte schon immer eine makabre Schwäche für spektakuläre Verbrechen gehabt, und es konnte ihm gar nicht blutig genug sein.

»Waren Sie schon mal da oben?«, fragte Cash.

»In Erebus? Bei meinem Gehalt?«

»Es hat ganz den Anschein, als dürften wir uns da jetzt kostenlos umsehen.«

»O ja.« Er rieb sich die Hände und hatte ein breites Grinsen im fast schon elfenhaften Gesicht. »Ich will die Suite mit dem Whirlpool. Wir sehen uns am Heli, Frankie.«

 

Als der Hubschrauber abhob, drehte und Richtung Westen über die Front Range flog, ging am Himmel hinter ihnen gerade die Sonne auf und tauchte die Berggipfel in goldenes Licht. Der erste Schnee der Saison war wenige Tage zuvor gefallen und bedeckte die höher gelegenen Gebiete mit einer blendend weißen Schicht. Der Anblick war atemberaubend und erinnerte Cash wieder einmal daran, warum sie aus Portland, Maine, nach Colorado gezogen war. In Portland schneite es zwar auch viel, doch das sah nie so gut aus.

Dieser Fall versprach ein großes öffentliches Interesse, und sie würde endlich das berühmte Erebus-Resort von innen sehen. Andererseits handelte es sich bei einem der Opfer um den Sohn eines Milliardärs, daher konnte das Ganze auch gut nach hinten losgehen. Hohes Risiko, hohe Rendite.

Im Hubschrauber quetschten sich sechs Passagiere auf die Bänke, während sie über die Berge hinwegflogen. Cash schaute sich um: Romanski hatte zwei Tatortermittler dabei, einen Forensiker, der spezialisiert war auf Fingerabdrücke, Schusswaffen und Werkzeugspuren, und einen anderen Experten für Chemie, Fasern und vermischte Spuren. Zwischen ihnen saß Dr. Chris Huizinga, der Chefpathologe des CBI, ein ernsthafter junger Mann mit schwarzrandiger Brille und hellblondem Haar.

Während der Hubschrauber durch die anbrechende Dämmerung flog, empfand Cash eine gewisse Befriedigung, dass sie die Berge unter sich identifizieren konnte: Mount Evans, auf dem sie sich in ihrer ersten Woche in Colorado vor zehn Jahren aufgrund von Höhenkrankheit übergeben hatte, Grays Peak, Keystone, wo sie gern Skifahren ging, die Stadt Frisco, Grand Traverse Peak, Keller Mountain – sie flogen Richtung Nordnordwest. Endlich, als sie Pilot Knob und die Flat Tops hinter sich gelassen hatten, tauchte das üppige Erebus-Tal vor ihnen auf. Dabei handelte es sich um einen tiefen Bergkessel, der vom oberen Abfluss des Erebus River umschlossen und von einem Halbkreis aus dreieinhalb- bis viertausend Meter hohen Gipfeln umgeben war und nur einen Zugangspunkt hatte, durch den die Straße führte. Das Resort umfasste das gesamte Tal – knapp dreihundertfünfundsechzig Quadratkilometer.

Der Hubschrauber ging über dem Tal in den Sinkflug über. Die berühmte Lodge des Resorts kam in Sicht, die nach dem Vorbild des Treetops-Hotels in Kenia an einem Berghang über einem See aus Holz freitragend errichtet worden war. Etwas weiter entfernt im Tal befand sich die alte Geisterstadt Erebus, ein pittoreskes Bergarbeiterlager, das später restauriert als Filmset gedient hatte.

Sie flogen weiter zum Eingang des Tals. Cash sah aus dem Fenster und entdeckte fünf riesige Gestalten, die sich langsam über eine große Wiese bewegten.

»Hey, Romanski, sehen Sie sich das an.«

Sie holte ihr Fernglas aus dem Rucksack und schaute genauer hin. Romanski beugte sich über ihre Schulter, um etwas erkennen zu können, und atmete ihr gegen den Hals. Eine Familie Wollhaarmammuts kam in Sicht, die langsam unter ihnen entlangtrottete. Der zottelige Bulle marschierte voraus, und seine gewaltigen Stoßzähne glänzten im Licht der frühen Morgensonne, und hinter ihm liefen mehrere Kühe, zwischen denen sich zwei Kälber tummelten.

»Lassen Sie mich mal sehen.«

Sie reichte Romanski das Fernglas.

»Unglaublich«, murmelte er staunend. »Jurassic Park in echt.«

Der Hubschrauber drehte nach Nordwesten ab und flog auf einen beeindruckenden Bogen aus Steintürmen zu, die ein Hängetal wie stumpfe Granitzähne umgaben. Ein winziger See ruhte wie ein türkisfarbenes Juwel am Grund des Tals.

Jetzt hielt der Hubschrauber auf eine Wiese etwas oberhalb des Sees zu, bei der es sich anscheinend um ihre Landezone handelte. Während sie nach unten sanken, stand ein Deputy des Sheriffs auf dem Feld und wies sie ein, indem sie orangefarbene Stäbe schwenkte und ihnen zu verstehen gab, wo der Hubschrauber auf dem Gras landen sollte. Einen Augenblick später waren sie auch schon aufgekommen, und die Rotorblätter wurden immer langsamer.

Frankie Cash schnappte sich ihren Rucksack. Sie hatte nur wenig eingepackt – Kaffee, Wasser, ein Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade, ein Notizbuch, ein Fernglas, ein Feuerzeug. Ein Crewmitglied öffnete die Tür, und sie setzte sich ihre Red-Sox-Baseballkappe auf das kurze Haar und sprang hinaus, um geduckt unter den Rotorblättern hindurchzulaufen. Das CSI-Team folgte ihr mit der Ausrüstung. Alle versammelten sich am Rand der Wiese. Romanski trat neben sie und stellte seine Tasche ab.

»Schöne Aussicht.«

»Was Sie nicht sagen.«

»Da kommt der Sheriff.«

Sie schaute sich um und bemerkte einen Mann von etwa fünfzig, ungefähr eins fünfundneunzig groß, mit großem Cowboyhut und Stern auf der Brust, der sich ihnen näherte. Er entsprach im Großen und Ganzen ihren Erwartungen, was nicht gerade ermutigend war. Möglicherweise lag es an seiner Ähnlichkeit zu John Wayne, diesem Typ großer, langsam redender Macho, den sie auf den Tod nicht ausstehen konnte.

Er nahm ihre Hand in seine, die sich kühl und trocken anfühlte, und seine Augen hatten die Farbe ausgewaschener Jeans. »Sheriff Jim Colcord, Eagle County. Mein Deputy, Teresa Sandoval.«

Eine schlanke und deutlich jüngere Frau in perfekt gestärkter und gebügelter Uniform nickte ihr grüßend zu.

»Frankie Cash, leitende CBI-Agentin.« Sie schüttelte ihm kurz und fest die Hand. »Unser Team …« Nacheinander zeigte sie auf ihre Begleiter. »Romanski, leitender Detective, CSI-Forensik, Dr. Huizinga, Gerichtsmedizin, Reno und Butler, CSI-Spezialisten.«

Alle nickten einander zu.

»Danke, dass Sie hergekommen sind«, sagte Colcord. »Wir müssen ein Stück laufen, und ich bringe Sie unterwegs auf den neuesten Stand.«

Cash hob ihren Rucksack hoch und schwang ihn sich auf den Rücken.

»Ich kann Ihnen damit helfen, Agent Cash«, bot er an und wollte ihr den Rucksack abnehmen. »Wir befinden uns hier in über dreitausend Metern Höhe.«

»Nein, danke.« Sie schob sich die Riemen auf die Schultern. »Ich möchte keinen älteren Mann in Gefahr bringen, auf dieser Höhe einen Herzinfarkt zu bekommen.«

Romanski verkniff sich ein Grinsen.

Colcord runzelte die Stirn. »War nicht böse gemeint.«

»Hatte ich auch nicht so verstanden«, erwiderte Cash fröhlich. »Gehen wir.«

4

Frankie Cash blieb am Rand des Tatorts stehen und war nach dem steilen Anstieg ganz schön außer Atem. Während sie sich ein wenig erholte, nahm sie ihre Umgebung in Augenschein. Es war ein spektakulärer Ort, eine sehr weit oben gelegene Wiese am Fuß schneebedeckter Gipfel, von der man den Norden und Westen des Erebus-Tals und darüber hinaus Berge sehen konnte, so weit das Auge reichte.

Der Sheriff und der Deputy hatten den Bereich mit Absperrband umgeben, das in der kühlen Brise flatterte. Der Lagerplatz auf der Wiese grenzte an einige Espen, und in der Mitte stand ein grünes Zelt. Ein ordentlicher Ring aus Steinen befand sich gute zwanzig Meter vom Zelt entfernt am Rand der Wiese, und vom Feuer darin war nur noch Asche übrig. Das Gepäck der Opfer lehnte in der Nähe unter Regenplanen an einem Baum. Alles sah ordentlich und sauber aus – abgesehen vom zackigen Riss in der Zeltklappe und zwei großen dunklen Flecken auf dem platt getretenen Gras vor dem Zelt.

Ein Stück weiter fiel das Land sanft ab und ging in einen Kamm über, und sie konnte den See erkennen, der wie ein Stück herabgefallenen Himmels glänzte. Jenseits davon wurden die Berge steiler, und mit Geröll bedeckte Hänge und Klippen führten hinauf zu einer Reihe verschneiter Gipfel – laut der GPS-Karte auf ihrem Handy waren das die Barbicans. Auf der anderen Seite des Lagers kam ein Bach zwischen den Espen hervor und gluckerte, gesäumt von Gras und Herbstblumen, über kleine Wasserfälle und Teiche den Hang hinunter. Das frühmorgendliche Licht schimmerte durch die Espen und tauchte die Szenerie in Licht und Schatten.

Sie sah sich den Bereich mit den Flecken genauer an. Diese waren größer, als sie nach McFauls Beschreibung angenommen hatte – sehr viel größer. Das war nicht gut. Es waren keine offensichtlichen Hinweise auf einen Tumult, einen Kampf oder das Kommen und Gehen von Angreifern zu erkennen. Das Gras war nur durch Schritte platt getreten, es gab jedoch keine Spuren, die auf das Wegschleifen von Leichen hingedeutet hätten.

Danach wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Zelt zu. Es handelte sich um ein Ultraleichtzelt für Rucksacktouristen mit Überzelt. Der diagonale Riss befand sich nur in der Außen-, aber nicht in der Innenhülle und war etwa fünfundsiebzig Zentimeter lang. Sie konnte nicht erkennen, ob er von einem Messer oder etwas anderem stammte, wusste aber, dass Romanski das Zelt mit ins Labor nehmen und unter dem Mikroskop untersuchen würde.

Cash hatte es schon immer als hilfreich empfunden, beim Ersteindruck eines Tatorts auf Mutmaßungen und Analysen zu verzichten. Stattdessen versuchte sie, sich die Szene vor ihrem inneren Auge vorzustellen, sie sich einzuprägen. Was ihr bei diesem Tatort jedoch nicht gelang. Der Kontrast zwischen der wunderschönen Umgebung und der schrecklichen Tat, die sich hier zugetragen haben musste, war schlichtweg zu groß, um ihn zu erfassen, jedenfalls im Augenblick. Alles in allem erschien ihr das allerdings ein seltsamer Ort für eine Entführung – oder einen Doppelmord – zu sein, falls sie diese Blutflecken ernst nehmen mussten. Wer würde denn so weit hier raufwandern? Dieser Riss sah ihrer Meinung nach gezackt genug aus, um von einem Tier stammen zu können. War möglicherweise eine der Kreaturen aus dem Park dafür verantwortlich? Hatten sie es tatsächlich mit einem Jurassic Park zu tun?

Romanski trat zu ihr und holte sie mit seinem lauten Seufzen aus ihren Gedanken. Er nahm seinen Rucksack ab, stellte ihn hin und wischte sich mit dem Tuch, das er sich locker um den Hals gebunden hatte, das Gesicht ab. Dann betrachtete er ebenfalls den Tatort.

»Mann, das ist verdammt viel Blut.«

»Genau das habe ich auch gedacht.«

»Wurden sie von einem Säbelzahntiger gefressen?«, mutmaßte er.

Cash zuckte mit den Achseln.

Der Rest des CSI-Teams traf nun auch ein, stellte alles ab und legte nach dem anstrengenden Marsch erst einmal eine Pause ein. Sheriff Colcord, der ein Stück zurückgefallen war, gesellte sich zusammen mit seinem Deputy zu ihnen. Cash stellte zufrieden fest, dass er schweißgebadet war und ein rotes Gesicht hatte, bevor sie sich schalt, weil sie deswegen eine gewisse Befriedigung empfand.

Der Sheriff trank einen großen Schluck aus seiner Feldflasche.

Jenseits der Espen tauchten mehrere Männer auf, die sich außerhalb des abgetrennten Bereichs bewegten. Einige trugen grüne Uniformen und sahen sehr offiziell aus, daher vermutete Cash, dass es sich um Mitarbeiter der Erebus-Sicherheit handelte.

»Es wird Zeit für die Anzüge, Leute«, sagte Romanski und zog seinen aus dem Rucksack.

Während sich Romanski und das CSI-Team in die Anzüge zwängten und ihre Beweismittelkits bereit machten, löste sich ein Mann von der Gruppe.

»Andrew Maximilian«, stellte er sich vor, trat auf Cash zu und reichte ihr die Hand. »Leiter der Erebus-Sicherheitsabteilung.«

»Leitende Agentin Frankie Cash, CBI«, erwiderte sie und schüttelte ihm die Hand.

Sie beäugte ihn neugierig, versuchte jedoch, es nicht zu auffällig zu tun. Er war der Erebus-Mann, mit dem sie hauptsächlich zu tun haben würde. Maximilian musste wie sie um die vierzig sein und war schlank, fit und in ein safariartiges Kakioutfit gekleidet, das nur aus Taschen und gebügelter Baumwolle zu bestehen schien. Dazu trug er einen australischen Cowboyhut und eine verchromte 45er am Gürtel. Er hatte ein attraktives, leicht gerötetes Gesicht, stahlblaue Augen und einen breiten Schnurrbart. Der typische »Große Weiße Jäger«. Darüber hinaus sprach er mit unverkennbarem australischen Akzent. Sie war beeindruckt von seinem ruhigen, kontrollierten Verhalten – insbesondere angesichts der Tatsache, dass vor Kurzem zwei Personen in seinem Zuständigkeitsbereich entführt worden waren.

»Können Sie mir bitte erzählen, was Erebus bisher als Reaktion auf diese Situation unternommen hat, Mr Maximilian? Meines Wissens wurde ein Suchtrupp losgeschickt.«

»Sobald wir davon erfuhren, haben wir alle verfügbaren Mitarbeiter am Boden und in der Luft eingesetzt«, berichtete Maximilian. »Da draußen sind fast einhundert Personen und unsere beiden Hubschrauber auf der Suche nach den Vermissten.«

Cash nickte.

»Bisher haben wir den See an der Lodge untersucht und überwachen die Gletschertümpel in den höher gelegenen Bereichen wie den dort vorn. Zudem durchkämmen wir das Gebiet in einem immer größer werdenden Ring. Bislang leider ergebnislos.«

»Nach welchem Protokoll gehen Sie vor? Sind Ihre Leute bewaffnet?«

»Wir haben die Leute in Sechserteams eingeteilt – fünf Personen, angeführt von jemandem vom Sicherheitspersonal. Der Teamleiter ist bewaffnet, aber die anderen haben ihre Privatwaffen dabei. In Colorado ist das sichtbare Tragen von Waffen erlaubt, und wir haben es hier ganz eindeutig mit ein paar üblen Typen zu tun. Momentan holen wir Mitarbeiter von außerhalb des Tals her, und wir hoffen, bis heute Abend zweihundert Personen vor Ort zu haben.«

»Konnten Sie eine Spur finden?«

»Nein.«

»Kein Blut und keine Fußabdrücke? Die Opfer müssen doch stark geblutet haben, wenn ich diese Flecken hier richtig deute.«

»Wir haben danach Ausschau gehalten, jedoch nichts gefunden. Ich kann Ihnen versichern, dass wir unser Bestes geben.«

»Was ist mit Hunden?«

»Noch sind keine hier.«

»Wir holen welche. Erzählen Sie mir mehr über Ihre Sicherheitsmaßnahmen.«

»All unsere Tiere sind mit Videokameras und GPS ausgestattet. Wir gehen die Aufnahmen gerade durch.«

»Ihre Tiere werden gefilmt?«

»Nein, sie tragen Videokragen, die nach vorn zeigen, damit wir immer ungefähr dasselbe sehen wie das Tier. Diese Feeds werden rund um die Uhr in unserer Zentralstation überwacht. Es gibt auch Kameras am hohen Bergpass am Talausgang, der zur anderen Seite und in die Flat Tops Wilderness Area führt.«

»Ist das der einzige Weg, um das Tal zu verlassen?«

»Der einzige, wenn man nicht über außergewöhnliche Kletterfähigkeiten verfügt.«

Sie wandte sich an Colcord. »Sheriff, arbeiten Sie mit ansässigen Hundeführern zusammen?«

»Wir haben ein hervorragendes Such- und Rettungsteam in Eagle«, antwortete der Sheriff.

»Könnten Sie es schnellstmöglich herholen?«

»Wir haben es längst angefordert. Es müsste in etwa zweieinhalb Stunden eintreffen.«

Cash war angenehm überrascht. »Würden Sie mir bitte mitteilen, was Sie sonst noch alles getan haben, Sheriff?«

Er tippte sich an den Hut. »Wir haben ein eigenes Suchteam da draußen, das mit Erebus zusammenarbeitet. Wir haben einen Rettungshubschrauber hergeholt, der zusammen mit den beiden von Erebus aus der Luft nach den beiden Vermissten sucht. Und … wir haben Sie angerufen.«

»Danke, Sheriff.« Sie nickte und wandte sich erneut Maximilian zu. »Ich würde gern mit dem Guide reden, der bei den Opfern war. Ist er hier?«

Maximilian winkte einen drahtigen, fitten Mann mit ergrauendem Haar zu sich, der glatt rasiert war und dessen Haut die Farbe und Beschaffenheit von Leder hatte.

»Leitende Agentin Cash, CBI«, stellte sie sich vor und machte sich nicht die Mühe, ihm die Hand zu reichen. Geplauder, soziale Feinheiten und Händeschütteln konnte sie an einem Tatort nicht leiden, daher ermutigte sie gar nicht erst dazu. Sie schwenkte ihr CBI-Handy. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich das Gespräch aufzeichne?«

»Überhaupt nicht.«

Sie warf Maximilian einen Blick zu. »Es könnte sein, dass ich Sie gleich noch mal sprechen muss.«

»Ich wäre bei dieser Unterhaltung gern dabei«, warf der Sheriff ein.

»Selbstverständlich.« Sie drückte auf Aufnahme und steckte sich das Handy so in die Blusentasche, dass das Mikrofon auf den Mann gerichtet war. »Nennen Sie mir fürs Protokoll bitte Ihren Namen und Ihren Titel.«

»Stefan Dressel. Erebus-Guide, Level A.«

»Dies ist nur eine Vorbefragung. Wir werden Sie später um weitere Details bitten. Das ist natürlich alles rein freiwillig. Okay?«

»Verstanden.« Anders als Maximilian wirkte Dressel sehr erschüttert; sein Gesicht sah angespannt und weiß aus, und er fingerte an einem Karabinerhaken an seinem Gürtel herum. Es machte den Anschein, als wäre er die ganze Nacht auf den Beinen gewesen, was auch seine blutunterlaufenen Augen und seine Nervosität erkennen ließen.

»Alter?«

»Neunundfünfzig.«

»Seit wann arbeiten Sie schon für Erebus?«

»Seit zehn Jahren.«

»Und davor?«

»Ich habe im Sommer als Colorado-Bergführer gearbeitet und im Winter Eisklettern in der Uncompahgre Gorge unterrichtet. Außerdem war ich Teilzeitskilehrer in Keystone und Vail.«

»Fangen wir mit Ihren Klienten an. Wie wurden Sie ihnen zugewiesen, und wie waren die beiden so?«

Er nickte und schien nur zu gern zu kooperieren. »Die A-Level-Guides bekommen die, äh, besten Klienten. Mark und Olivia Gunnerson – Sie wissen bestimmt, dass er der Sohn des Tech-Milliardärs ist.«

Sie nickte und war es langsam leid, dass man den Vermissten ständig als Milliardärssohn beschrieb.

»Und sie gehörte dem olympischen Skiteam an. Sie sind beide erfahrene Rucksacktouristen und Wanderer. Eigentlich haben sie mich gar nicht gebraucht. Ich glaube, sie haben mich nur angeheuert, um möglichst viele Tiere zu sehen.«

»Sind es nette Leute?«

»Sehr nette. Wirklich freundlich. Nicht so, wie Sie vielleicht denken. Sie sind in den Flitterwochen – Erebus ist auf frisch Verheiratete ausgerichtet, was Sie vermutlich längst wissen.«

»Wann sind Sie aufgebrochen?«

»Gestern früh. Sehr früh. Wir haben die Lodge um vier Uhr in einem Jeep verlassen und den Weg bei Sonnenaufgang erreicht. Man läuft zweiundzwanzig Kilometer bis hier rauf.«

»Waren die beiden gute Wanderer?«

»O ja.«

»Ist unterwegs irgendetwas passiert?«

»Nicht viel. Wir haben Glyptodons gesehen.«

Glyptodons? Was in aller Welt waren Glyptodons? Sie würde das später nachschlagen müssen. »Wann sind Sie hier eingetroffen?«

»Gegen drei. Wir haben das Lager aufgeschlagen. Direkt vor dem Abendessen konnten wir eine Familie aus Wollhaarmammuts am See beobachten. Die Tiere kommen jeden Abend her und sind einer der Gründe, warum wir hier lagern.«

»Um wie viel Uhr war das?«

»Gegen fünf. Wir haben die Mammuts eine Weile beobachtet, bis sie unter dem Felskamm verschwanden, wo sie üblicherweise übernachten.«

»Und danach?«

»Danach haben wir das Abendessen zubereitet.«

»Wer genau?«

»Mark und ich.«

»Was gab es?«

»Gefriergetrocknetes Hühnchen mit Reis. Kakao. Kekse zum Nachtisch.«

Cash verzog das Gesicht. »Gefriergetrocknetes Essen?« Sie konnte das Zeug nicht ausstehen. »Ich dachte, dies wäre ein piekfeines Resort.«

»Das ist es auch, aber wir reden hier nicht von einer Luxussafari. Das ist ein richtiger Abenteuerurlaub mit Rucksäcken. Es gibt keine Lebensmittelabwürfe. Wir haben alles für die ganzen acht Tage dabei und müssen daher auf leichtes Gepäck achten.«

»Was ist mit Alkohol?«

»Er hatte etwas Bourbon dabei, von dem wir getrunken haben. Sie nicht, nur Mark und ich.«

»Wie viel?«

»Wir haben uns einen Viertelliter geteilt, vielleicht auch etwas mehr.«

»Was ist mit Drogen oder Gras?«

»Nein.«

Cash nickte. »Und danach?«

»Die Sonne ging gegen halb sieben unter. Wir saßen noch eine Weile am Lagerfeuer, und dann bin ich zu meinem Zelt gegangen.«

»Wo steht Ihr Zelt? Ich sehe es hier nirgends.«

»Hinter den Espen, etwa hundert Meter von hier.« Er zeigte dorthin. »Da drüben und dann um die Ecke.«

»Sie sind so früh zu Bett gegangen?«

»Wir reden hier von frisch Verheirateten … Ich habe sie allein gelassen und ihnen Privatsphäre gewährt.«

»Wann war das?«

»Gegen halb acht.«

»Ich sehe ihre Rucksäcke da drüben an einem Baum lehnen. Wie kommt es, dass Sie Ihre Ausrüstung nicht aufhängen, um sie vor Bären zu schützen?«

»In Erebus gibt es keine Bären.«

»Keine Bären? In den Bergen von Colorado?«

In diesem Moment schaltete sich Maximilian, der in der Nähe gestanden und zugehört hatte, hilfsbereit ein. »Als Erebus errichtet wurde, haben wir alle Raubtiere aus diesem Bereich umgesiedelt – Bären, Berglöwen, Rotluchse, Wölfe, Kojoten und so weiter.«

»Warum denn das?«

»Wie Ihnen bekannt sein dürfte, haben wir sechs de-extinkte Spezies aus der Megafauna des Pleistozäns hier angesiedelt. Alles friedliche Pflanzenfresser. Jedes dieser Tiere kostet uns mehrere Millionen Dollar. Daher wollen wir um jeden Preis vermeiden, dass sie gefressen werden. All das hier mag wie eine Wildnis erscheinen, doch in Wahrheit wird die Ökologie im Tal genauestens kuratiert und überwacht.«

»Und es ist nicht möglich, dass Raubtiere hier reinkommen?«

»Die einzige Möglichkeit dazu stellt der Espada Pass dar, der in viertausend Metern Höhe über die Berge und durch die Flat Tops Wilderness Area führt. Dort befinden sich zahlreiche Monitore und Alarme, darunter auch Kameras, die rund um die Uhr laufen. Nichts kann hier rein oder raus, ohne dass wir es merken.«

»Sie sagten, hier leben nur Pflanzenfresser. Keine Säbelzahntiger oder etwas in der Art?«

»Nein.«

»Meines Wissens stellen Elefanten in Afrika die gefährlichste Tierart dar«, wandte Cash ein.

»Das ist korrekt. Aber ich kann Ihnen versichern, dass dies hier kein Jurassic Park ist, Agent Cash. Bei der Wiedereinführung unserer Megafauna haben unsere Wissenschaftler darauf geachtet, die Gene für Aggression zu entfernen. Jedes einzelne Tier wurde gechippt und mit einem GPS-Gerät sowie den Live-Videokragen ausgestattet und wird gründlich überwacht. Wir wissen jederzeit, ob Tag oder Nacht, wo sich jedes einzelne Tier aufhält. Letzte Nacht war kein Tier im Lager oder auch nur in der Nähe davon. Wir haben das überprüft. Unter dem Kamm knapp einen Kilometer entfernt haben einige Mammuts übernachtet – das ist ihr üblicher Platz –, aber auch sie kamen dem Lager nicht näher.«

»Sie behaupten also, es wäre unmöglich, dass ein Tier dafür verantwortlich ist?« Sie zeigte auf die beiden Blutflecken neben dem Zelt.

»Genau das wollte ich damit zum Ausdruck bringen.« Knochentrocken fügte er hinzu: »Außerdem tragen Tiere keine Waffen.«

»Woher wissen Sie, dass der Riss von einem Messer stammt?«

»Was sollte es denn sonst gewesen sein?«

»Eine scharfe Kralle beispielsweise.«

»Ich würde behaupten, dass ein Tier mit Klauen mehrere parallele Schnitte hinterlassen hätte«, gab Maximilian zu bedenken. »Außerdem wissen wir wie gesagt immer, wo unsere Tiere sind, und sämtliche Raubtiere wurden aus dem Tal entfernt. Sie können mir glauben, dass hierfür ein Mensch verantwortlich ist.«

Cash nickte. Vermutlich hatte er recht und verhielt sich bloß trotzig. »Wir müssen das Zelt mit ins Labor nehmen und den Schnitt unter dem Mikroskop untersuchen.«

»Das ist eine gute Idee.«

Cash wandte sich an Dressel. »Ich habe Ihren Bericht unterbrochen. Bitte fahren Sie fort.«

Er nickte und räusperte sich. »Ich zog mich also aus und legte mich in meinen Schlafsack.«

»Was hatten Sie an?«

»Ähm, nichts. Ich schlafe nackt.«

Sie nickte anerkennend.

»Es war noch früh, daher habe ich gelesen.«

»Was haben Sie gelesen?«

»Einen Roman.«

»Welchen?«

»Bloodless – Grab des Verderbens von Preston und Child.«

»Gutes Buch?«

»So gut, dass ich schon befürchtete, gar nicht einschlafen zu können.«

»Und dann?«

»Irgendwann hörte ich aus Richtung ihres Zelts ein reißendes Geräusch. Ich dachte, dass einer von ihnen das Zelt repariert und möglicherweise etwas Gewebeband abgerollt hat. Da sie schon häufiger in der Wildnis unterwegs waren und erfahren sind, habe ich mir keine Sorgen gemacht und nichts weiter unternommen.«

»Wie lange haben Sie dieses Geräusch gehört?«

»Etwa zwei oder drei Sekunden lang. Als würde etwas langsam aufgerissen.«

»Wie spät war es da?«

»Ich habe nicht auf die Uhr gesehen, aber es muss gegen neun gewesen sein. Jedenfalls blieb danach alles ruhig. Ich las weiter, bis ich auf einmal ein anderes Geräusch hörte, nicht unbedingt einen Schrei, eher ein lautes Grunzen, das abrupt abbrach. Es hörte sich nicht richtig an, daher setzte ich mich auf und lauschte. Dann hörte ich einen schrecklichen Schrei.«

»Wie viel Zeit verging zwischen dem Grunzen und dem Schrei?«

»Hm, vielleicht dreißig Sekunden, eher weniger.« Der Guide griff nach einem Tuch, das an seinem Gürtel hing, und tupfte sich das Gesicht ab. Seine Hand zitterte leicht. Er war ein guter Zeuge, fand Cash. Aufmerksam, fokussiert, riss sich zusammen.

»Und danach?«

»Ich zog mich an und rannte zu ihrem Zelt. Als ich dort eintraf, sah ich zwei Stirnlampen, die noch brannten, auf dem Boden liegen, und daneben zwei Messer – und diese großen Blutlachen.«

»Wie viel Zeit verstrich zwischen dem ersten Grunzen, das Sie gehört haben, und Ihrer Ankunft am Zelt?«, wollte Cash wissen. »Bitte überlegen Sie gut, bevor Sie antworten. Es ist sehr wichtig, dass wir den genauen Zeitablauf kennen.«

Dressel schwieg einige Sekunden lang. »Tja, wie ich bereits sagte, lagen zwischen dem Grunzen und dem Schrei etwa dreißig Sekunden. Danach stieg ich sofort aus meinem Schlafsack und zog lange Unterhose, Socken und Stiefel an. Ich schnürte sie nicht zu, sondern stopfte die Schnürsenkel nur rein und streifte sie über. Lassen Sie mich überlegen … Ich nahm auch meine Stirnlampe und mein Klappmesser mit. Dann lief ich die hundert Meter zu ihrem Zelt auf der anderen Seite der Bäume … Ich schätze, dass es insgesamt etwa drei oder vier Minuten gedauert hat.«

»Welchen Weg haben Sie von Ihrem Zelt hierher genommen?«

»Ich bin um die Espen herumgelaufen.« Er zeigte in die Richtung. »Von hier aus ist mein Zelt nicht zu sehen, aber es steht direkt hinter den Bäumen.«

»Wir werden die Entfernung messen«, meinte Cash. »Haben Sie in der Zeit, in der Sie zum Zelt gelaufen sind, noch irgendetwas gehört? Kampfgeräusche, Schritte, Stimmen?«

»Nicht das Geringste. Aber ich hatte solche Panik und bin schnell gerannt, daher habe ich auch nicht so genau hingehört.«

Cash hielt inne. Ihr Blick fiel auf die beiden getrockneten Blutlachen auf dem platt getretenen Gras, die jeweils knapp einen Meter groß waren, wobei eine etwas kleiner aussah als die andere. Romanski und der Pathologe hockten daneben, nahmen Proben, maßen und untersuchten die Flecken und die Erde ringsherum auf Haare und Fasern. Sie hielt sie nur ungern von der Arbeit ab, aber … »Hey, Bart«, rief sie. »Könnten Sie und der Doc bitte mal kurz herkommen?«

Die beiden beendeten rasch, was sie gerade machten, duckten sich unter dem Absperrband hindurch und nahmen die Gesichtsmasken und Schutzbrillen ab. Huizingas blondes Haar stand in alle Richtungen ab. Ihrer Meinung nach hätte er auch Model werden können, wenn er nicht so nerdig gewesen wäre. Romanskis Gesicht wirkte hager, und seine übliche ironische Miene war nicht zu sehen.

»Wie viel Blut wurde hier vergossen?«, fragte sie.

Huizinga schüttelte den Kopf. »Diese Frage können wir beantworten, wenn wir alles im Labor ausgewertet haben.«

»Stellen Sie jetzt eine Vermutung an.«

»Sie wissen, dass ich Vermutungen hasse.«

»Ist Ihnen eine angepisste Vorgesetzte lieber?«

Der junge Pathologe schüttelte den Kopf. »Wenn Sie darauf bestehen … Ich vermute, dass es jeweils zwei bis drei Liter waren. Aber nageln Sie mich bitte nicht darauf fest.«

»Wäre ein solcher Blutverlust tödlich?«

»Zwei Liter sind schon äußerst gefährlich, wenn man den Blutdruck nicht schnell wieder hochbringt. Bei einer Frau könnte es durchaus tödlich sein – Frauen haben generell weniger Blut als Männer. Drei Liter wären bei jedem Menschen tödlich.«

»Danke«, sagte Cash.

Colcord, der die ganze Zeit schweigend und angespannt zugehört hatte, räusperte sich. »Doktor, besteht die Möglichkeit, dass die beiden nach einem solchen Blutverlust noch laufen konnten?«

»Nein«, erwiderte Huizinga. »Sie hätten das Bewusstsein verloren.«

»Jemand muss sie also getragen haben. Ich sehe hier nur nirgends entsprechende Spuren.«

»Ich auch nicht.«

»Zwei Körper, die getragen werden, das macht wenigstens zwei, wahrscheinlich eher vier Personen«, merkte Colcord an.

Cash war verblüfft, dass er die richtigen Schlüsse zog, und fragte sich, ob sie ihre Meinung über Sheriff Colcord revidieren musste.

»Mr Dressel sagt«, fuhr Colcord fort, »er wäre innerhalb von drei bis vier Minuten nach dem Schrei hier gewesen. Da waren die beiden längst weg. Daher richte ich meine nächste Frage an Sie, Doktor: Wie können die beiden Opfer in so kurzer Zeit derart viel Blut verloren haben? Ist das nicht sehr viel Blut für eine so kurze Zeitspanne?«

Man konnte Huizinga sein Unbehagen deutlich ansehen. »Diese Frage möchte ich ohne weitere Daten lieber nicht beantworten.«

Cash runzelte die Stirn. »Wir müssen aber jetzt sofort wissen, ob wir nach Leichen oder entführten Opfern suchen, Chris.«

»Na ja …« Er verlagerte das Gewicht. »Ich würde davon ausgehen, dass sie tot sind.«

»Obwohl sie vielleicht nur zwei Liter Blut verloren haben?«

»Ja, denn zwei Liter Blut in unter vier Minuten verliert man nur, wenn …« Er zögerte.

»Wenn was?«

»Wenn man enthauptet wird.«

5

Sheriff Jim Colcord beobachtete das CSI-Team, das seinen Job machte. Nach allem, was er erkennen konnte, schienen diese Leute gründlich und kompetent zu sein. Der Teamleiter, wie hieß er doch gleich? – Romanski – hatte seinen Schutzanzug ausgezogen und verstaute die Beweismittelbehälter in Segeltuchtaschen. Stücke des blutgetränkten Bodens waren herausgeschnitten und eingetütet worden. Colcord staunte, was man heutzutage alles als Beweis mitnahm, sogar blutige Grassoden. Da war es kein Wunder, dass sich die Asservatenkammer in Denver in einem so riesigen Gebäude befand – Colcord hatte sie während seiner zwei Amtszeiten als Sheriff des Eagle County einige Male zu Gesicht bekommen. Das Ding war so groß wie ein Supermarkt.

Sie hatten so viele Beweise gesammelt, dass sie sie unmöglich auf dem Rücken transportieren konnten. Daher verstauten sie sie in Hubschrauberkörben, die so abgeholt und nach Denver geflogen werden konnten. Derweil hatte Colcord über Funk erfahren, dass der Hubschrauber mit dem Hundeführer und den Hunden an der Landezone aufgesetzt hatte und sie jetzt raufkamen. Mit dem Hundeführer – Acosta – hatte er schon früher zusammengearbeitet. Der Mann wusste, was er tat. Daher hoffte Colcord auch, dass sie diese Mistkerle im Nullkommanichts finden würden. Das war auf jeden Fall einer der verrücktesten Mordfälle, in die er je verwickelt gewesen war – und er ging inzwischen davon aus, dass es sich um Mord handelte, vor allem nach dem, was der Doc gesagt hatte.

Während der Wartezeit hakte Colcord über Walkie-Talkie nach, wie es mit der Suche voranging. Offenbar schlecht, denn über einhundert Personen waren seit Stunden unterwegs und hatten rein gar nichts gefunden. Er konnte sie weiter unten sehen, wie sie sich in einer Reihe durch eine mit hohem Gras bewachsene Wiese arbeiteten. Es war kurz vor Mittag und einer dieser kühlen, klaren Herbsttage. Wolken zogen über die Berge hinweg und ließen ihre Schatten über die Landschaft wandern.

Sein Deputy Sandoval kam um die Baumgruppe herum, ließ sich vom Guide die Strecke zeigen, die er als Reaktion auf den Schrei entlanggelaufen war, und maß die Entfernung. Er sah, dass Cash herumlief und in ihrem kleinen Notizbuch herumkritzelte. Dabei hoffte er, dass die nervige CBI-Agentin mit der Red-Sox-Kappe und dem Bostoner Akzent – war es Boston? Er war sich nicht sicher – nicht vorhatte, die Hunde zu begleiten. Ob sie etwas draufhatte, würde sich noch zeigen. Sie war groß und zäh und offensichtlich fit, trotz ihres Gewichts. Kurzes kastanienbraunes Haar, grüne Augen, kein Make-up, abgesehen von einem Hauch von Lippenstift, Sommersprossen, die auf zumindest etwas irisches Blut schließen ließen, und sie wirkte stets streitlustig und schob die ganze Zeit die Unterlippe vor. Er vermutete, dass sie noch neu in diesem Job war und sich beweisen wollte.

Er bemerkte, dass sich der CSI-Typ aufrichtete, nachdem er die Beweismittelbeutel verstaut hatte, die Hände in die Hüften stemmte und den Rücken durchdrückte, sich erst nach rechts, dann nach links beugte. Cash, die neben ihm stand, zuckte zusammen.

»Das sieht nicht gesund aus«, meinte sie zu ihm.

»Wieso denn das? So etwas nennt man Dehnen. Das ist wie Yoga.«

»Das ist kein Yoga. Wenn Sie Ihren Rücken weiter so behandeln, brauchen Sie eine dieser Gehhilfen mit den kleinen gelben Tennisbällen, wenn Sie siebzig sind.«

»So etwas macht der Chiropraktiker immer mit meinem Rücken.«

»Chiropraktiker sind Quacksalber.«

Romanski lachte auf. »Sie sind heute aber grantig, Frankie.«

»Ich bin immer grantig, wussten Sie das noch nicht?«

Genervt von dem Wortgeplänkel, entfernte sich Colcord einige Schritte, um in Ruhe nachzudenken. Wie konnten zwei Leichen einfach so verschwinden? Im See hatten sie schon nachgesehen – dort hatten sie mit als Erstes gesucht –, jedoch nichts gefunden.

Sandoval trat neben ihn und rollte das Maßband wieder auf. »Die Informationen des Guides scheinen alle zu stimmen.«

Colcord nickte.

»Glauben Sie, die beiden sind tot?«, fragte sie.

Nach einem Moment nickte Colcord. »Ich spekuliere nur ungern, aber … ja, ich schätze schon.« Er hielt inne, da er das leise Bellen der Spürhunde auf dem Weg hörte, das nach und nach lauter wurde. Schon tauchten die Hunde auf – zwei Redbone-Schweißhunde mit wackelnden Ohren und heraushängenden Zungen. Der Hundeführer, ein unrasierter Mann mit langen schwarzen Haaren, ein Halb-Arapaho, lief hinter ihnen her und hielt die Hunde an langen Leinen – das war Sam Acosta, den Colcord gut kannte. Acosta hob grüßend die Hand, und Colcord tat dasselbe. Acosta hatte eine Abneigung gegen das Händeschütteln und behauptete, dadurch würden Gerüche übertragen.

Acosta befahl seinen Hunden, sich hinzusetzen, und sie gehorchten sofort.

Cash und Romanski traten näher.

»Agent Cash«, sagte Colcord. »Detective Romanski – Sam Acosta.«

Abermals hob Acosta eine Hand. »Haben wir etwas, womit sie die Fährte aufnehmen können?«, fragte er niemanden im Besonderen. »Ich möchte ja nicht unhöflich sein, aber die Spur wird immer kälter.«

»Bart? Zeigen Sie Mr Acosta, was Sie haben«, bat Cash ihren Kollegen.

Romanski zückte zwei Ziploc-Beutel, die Socken der beiden Opfer enthielten.

Acosta nahm sie entgegen. »Wie alt ist die Fährte?«

»Etwa fünfzehn Stunden.«

Er nickte. Seine Hunde saßen hyperwachsam da, spitzten die Ohren und hechelten begierig.

Acosta wandte sich an Colcord. »Haben Sie eine Ahnung, wohin die Spur führt, Sheriff?«

»Nein«, antwortete Colcord. »Sie müssen am Ausgangspunkt anfangen – am Zelt. Es steht da vorn im abgesperrten Bereich.«

»Wer begleitet mich?«, fragte Acosta.

»Ich«, sagte Cash sofort.

»Und Sie, Sheriff?«

»Natürlich.« Colcord bemühte sich um eine neutrale Miene. Er war erleichtert, dass Maximilian bei seinen Leuten, einer Gruppe aus Männern mit Walkie-Talkies, auf der anderen Seite des Absperrbands stand. Von den Erebus-Hubschraubern, die eine weitere Runde über dem Tal drehten, war nichts zu sehen. Bei all den Leuten da draußen und drei Hubschraubern fragte er sich, wie wenigstens vier Mörder, die zwei Leichen mit sich herumschleppten, entkommen konnten, ohne eine Spur zu hinterlassen – und sich dann versteckt hielten. Und was in aller Welt hatten sie für ein Motiv? Je länger er darüber nachdachte, desto verrückter erschien ihm dieser Fall.