Ey Raquib - Helmut Körlings - E-Book

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Helmut Körlings

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Beschreibung

Student Helm Keller lässt sich 1959 auf eine Arbeit bei einer Ölerkundungsfirma im Osten der Türkei ein, dort wo hauptsächlich Kurden leben. Es entwickeln sich schnell Kontakte zu den Einheimischen, gegenseitige Unterstützung, Freunschaft, eine Liebesbeziehung und er gerät fast zwangsläufig ins Visir der türkischen Obrigkeit. Die anfängliche Unbefangenheit weicht sehr schnell dem Ernst der Lage, nämlich den permanenten Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden. Das Ganze spitzt sich schließlich dramatisch zu ... Fast nebenbei kommt der Leser in Kontakt mit der kurdischen Kultur, den Bräuchen, Werten, dem Umgang mit Frauen, vor allem aber: dem ungewohnten Nebeneinander von Härte und Menschlichkeit. ­

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Veröffentlichungsjahr: 2014

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Helmut Körlings

Ey Raquib

Kurdisches Zwischenspiel

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Vorbemerkung

 Als der Autor mich bat, ihm bei der Veröffentlichung seines Werkes behilflich zu sein, war ich zunächst skeptisch. Was für ein Buch mochte der Geophysiker Helmut Körlings geschreiben haben? Nachdem ich mich jedoch in den Text eingelesen hatte, war mir klar, dass es sich hierbei um einen besonderen Leckerbissen handelt. So locker und leicht, wie man in die Geschichte, die im Jahr 1959 spielt, hineingezogen wird, ist der Inhalt jedoch nicht. Der ursprüngliche Plan von Helm Keller, eine Semesterferienbeschäftigung im Osten der Türkei anzunehmen, wächst sich aus zu einer Abenteuer- und Liebesgeschichte und hat gar Elemente eines Thrillers. Man kann, wenn man will, noch weitere Kategorien finden, doch das Besondere ist das fast schon beiläufige Vertrautwerden mit der kurdischen Kultur. Helm zeigt von Anfang an eine bemerkenswerte Offenheit und Sympathie für die Menschen aus dieser Region und wächst ein Stück weit mit ihnen zusammen. Genau das aber führt zwangsläufig zu den Verstrickungen, die später dramatische Formen annehmen. Diese Geschichte vergisst man nicht so einfach. Sie wirkt nach. Und so wie die Charaktere am Ende nicht die gleichen sind wie zu Beginn, so ist auch der Leser im günstigen Fall ein anderer, nachdem er das Buch gelesen hat.

Georg Laska, Oktober 2014

Vorwort des Autors

»Ey Raqib...« - »Hört, ihr Feinde, wir Kinder der Meder leben noch ...«

So beginnt ein Gedicht des kurdischen Lyrikers und »Deng Bej« W.R. Dildar, das in den 40er Jahren zur kurdischen Nationalhymne wurde. Es ist ein Lied, in dem sich die ganze Tragik widerspiegelt, in der dieses Volk seit alters her gefangen scheint. Ein Lied, in dem die zementierte Friedlosigkeit der kurdischen Lande das Leitthema ist, die Hoffnungslosigkeit des Lebens anklingt - und die bedrückende Einsicht, dass Kurden in der Welt anscheinend keine Freunde haben, die bereit sind, ihnen in ihrem einsamen Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung zur Seite zu stehen.

Seit den ‚Friedens‘-verträgen der frühen 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts (Sevres, 1920 und Lausanne, 1923), in denen die Siegermächte des ersten Weltkrieges den größten Teil Kurdistans an Kemal Pascha ‚Atatürk‘ verschacherten und den ölreichen Rest auf die damaligen englischen und französischen Mandatsgebiete Syrien, Irak und Iran aufteilten, kämpft das Volk der Kurden um seine Rechte – bis heute vergebens! Jeder der etwa ein Dutzend Aufstände wurde von den Nationalstaaten unter furchtbaren Verlusten für die kurdische Bevölkerung und unsäglichen Gräueln an Wehrlosen, an Frauen, Kindern und Greisen, niedergeschlagen, Gräuel, die zwar nicht die Opferzahlen jener anderen, von der Türkei zu verantwortenden Massaker – dem Völkermord an den Armeniern 1915/16 – erreichten, in ihrer Zielsetzung und, gemessen an den perfiden Grausamkeiten jedoch durchaus mit diesen – bis heute ungesühnten – Taten vergleichbar sind.

Auch der jüngste Kampf der PKK, einer Kaderpartei mit einem reichlich diffusen leninistisch-marxistischem Programm, scheiterte, vornehmlich deshalb, weil es dieser Gruppierung nie gelang, die Mehrheit der eher konservativ denkenden Kurden für das Ziel eines fundamentalistischen Sozialismus, einer Volksdemokratie – etwa nach dem Muster Nordkoreas – zu begeistern.

Die 50er Jahre waren nach dem gewaltsamen Ende der sogenannten Mahabad-Republik, in der 1946 für einige Monate die Chance eines eigenen Kurdenstaates aufschien, zumindestens in Türkisch-Kurdistan relativ ruhig. Gegen Ende dieser Dekade jedoch kündeten sich neue Kämpfe an, die diesmal ihren Ursprung im Nordirak hatten. In dieser Zeit (1959) spielt die Handlung des vorliegenden Buches.

Etliche der tragenden Ereignisse dieses Romans beruhen auf Schilderungen oder Aufzeichnungen beteiligter Personen, von Kurden wie auch von Deutschen. Daher wurden alle Namen und Daten aus wohlerwogenen Gründen anonymisiert: Die bis heute fortdauernde Unterdrückung in allen Teilen Kurdistans, im Iran, im Irak und vor allem auch in der Türkei, die in diesen Ländern mit rigoroser Familien- und Sippenhaft einhergeht, sind der Grund für diese Vorsichtsmaßnahme.

Der Autor, der selbst eine Zeit lang dort lebte, möchte mit dem vorliegenden Buch das Interesse des Lesers für ein Land wecken, dessen Bild in der Welt, vor allem in Deutschland, vorwiegend von Erzählungen à la Karl May bestimmt wird. Die Menschen in Kurdistan sind weit davon entfernt, ein friedliches Leben in einem gesicherten politschen und sozialen Umfeld führen zu können. Gewisse Entwicklungen der letzten Zeit deuten sogar darauf hin, dass es noch viele Jahre dauern wird, bis den Nachkommen der Meder ein menschenwürdiges Dasein beschieden ist. Aber bis dahin darf die Welt, dürfen vor allem die Deutschen, ihren Blick nicht von diesem Land und seinen Problemen abwenden!

Helmut Körlings, im August 2001

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Ausstieg und Aufbruch

Verdammt - der Spitzbart würde ihn aufschreiben! So leise er auch versucht hatte, sich aus der Vorlesung zu schleichen: Die altersschwachen Dielen hatten höllisch geknarrt, was den Mann am Pult zu einem missbilligenden Blick in seine Richtung veranlasst hatte. Störungen solcher Art konnte Löhrs, Dozent am mathematischen Institut, ganz und gar nicht leiden. Nach Schluss der Vorlesung würde er sein hellblaues Büchlein zücken und seinen, Helm Kellers Namen, unter der Rubrik »Sonstiges« eintragen, mit einem »St« versehen, für ‚Störung‘. Seitdem das Notizbuch einmal liegengeblieben war, kannte man dieses Geheimnis des schrulligen Professors. Beim nächsten Seminarvortrag würde er die Folgen zu spüren bekommen. Und eine Wiederholung konnte er sich schon gar nicht leisten, denn schließlich war Mathematik ein Hauptfach, und beim Diplomexamen - in circa eineinhalb Jahren - würde Professor Löhrs die Fragen stellen! An sich kein Problem, aber wenn dabei das blaue Heftchen ins Spiel käme, müsste er sich entschieden wärmer anziehen als normalerweise nötig wäre!

Auf dem breiten, dunklen Flur des mathematischen Instituts legte er die Stirn an die leicht angestaubte Scheibe und genoss die Kälte des Glases. Das Klopfen im Schläfenbereich ließ etwas nach. Er verfluchte den gestrigen Abend in der »Stadt London«, der wieder einmal zu alkoholreich gewesen war. Weiß der Teufel, warum er sich betrunken hatte, besser gesagt: Sich hatte betrunken machen lassen! Draußen schneite es, wie schon seit Tagen und im Innenhof des verschachtelten Akademiegebäudes schaufelte der Hausmeister bereits seit Stunden, um wenigstens ein paar Parkplätze für die Herren des Rektorats freizubekommen. - Es war wie immer im winterlichen Clausthal: Schnee satt, dauerkalt und ebenso langweilig! Was waren das nur für Idioten, die sich dazu entschließen, die besten Jahre ihres Lebens hier oben im Harz, in dieser Ödnis, zu verbringen, um das Diplom in einem berg- oder hüttenmännischen Fach zu machen? Verrückt, diese Leute! Aber er selbst war ein solcher Idiot! Dabei hätte er in München studieren können, oder in Marburg, das wäre in jedem Fall gemütlicher gewesen, und näher an Mutters Kochtöpfen außerdem. Darüber hinaus hätte es eine signifikant höhere Chance gegeben, sich das hübsche Töchterchen irgendeiner Lokalgröße anzulachen!

Trübselig starrte er in den bleigrauen Wintertag. München - welche Verheißung war das damals, nach dem Abitur! Seine Eltern hätten keine Einwände gehabt. Das wäre ein Leben gewesen! Die heißgeliebten Berge in Sichtweite, sommers wie winters. Und Schwabing! Und Eva! - Was sie wohl derzeit machte? Helm biss sich auf die Lippen, als er an ihren Kleopatranacken und ihre kastanienbraunen Locken dachte, die er genussvoll zur Seite zu schieben pflegte, um ihren schlanken Schwanenhals zu küssen. Klar: Er allein war schuld, dass es nichts geworden war mit der schönen Zeit in Bayern, mit beschwingten Sommern in den Isarauen, herbstlichen Spaziergängen im Perlacher Forst, Klettertouren im Karwendel und im Wetterstein, Oktoberfest und - mit Eva. Bei ihrer letzten Bergtour hatte er sie einfach stehen lassen, als sie sich strikt weigerte, den dritten Gipfel an diesem Tag zu machen, »abzuhaken«, wie sie seine Sucht nannte, Drei- und Viertausender en gros zu sammeln.

»Hey, Helm, keine Lust auf Löhrs Tensoren?« Diese Frage wurde von einem derben Schlag auf die Schulter begleitet. Empört fuhr er herum:

»Aziz, ich sollte dir einen Jab verpassen, dass dir Hören und Sehen vergeht - willst du mir das Schulterblatt zerschlagen? Ich habe noch genug vom Sparring letzten Freitag.« Er rieb sich die schmerzende Stelle und schaute den langen, dunkelhaarigen Schlaks mit der markanten Hakennase böse an. Der grinst: »Never mind, old boy! Komm, wir gehen zu Fischer, Kaffee trinken.«

»Schon wieder? Mensch, Aziz, wir haben erst Anfang des Monats. Wenn ich so weitermache, kann ich demnächst Schnee schippen, um was zu fressen zu haben!«

»Ach komm, kein Palaver. Kriegst den Kaffee von mir.«

»Witzbold! Meinst du, ich würde mich von dir aushalten lassen, wie es einige aus deiner Gefolgschaft tun? - Im Vertrauen, Aziz, das wollte ich dir immer mal sagen: Du lässt dich ausnutzen! Etliche aus der Korona, mit denen du ständig bei Fischer rumsitzst, sind nichts anders als Schmarotzer!«

»Freunde von mir, wie du auch.« Der junge Mann blitzte ihn aus seinen schwarzen Augen schalkhaft an. »Na, ja, vielleicht nicht ganz so gute.« »Mein Vorschlag: Wir gehen auf meine Bude, ich mache uns einen guten Tee.«

»Ach, shit, sind zwei Kilometer, in Schnee! Besser, wir gehen zu Fischer.«

»Hör zu, Aziz: Ich fühle mich heute irgendwie neben der Kappe. Ich muss einfach mal mit jemandem reden, am besten mit dir. In Ruhe, verstehst Du? Bei Fischer ist's zu laut, zu viele Leute. Tu mir den Gefallen, komm mit, irgendwas zu essen ist auch noch da.«

»Kenn ich gar nicht von dir, so ein Trauermensch heute! - Also gut, basta, gehen wir zu Dir!«

Die beiden Freunde stapften durch den knöcheltiefen Schnee, vorbei an den in schmalen Gassen aufgereihten, holzbeplankten Harzhäusern, hinunter ins Tal und hinauf nach Zellerfeld.

»Warum bist du eigentlich so verrückt und wohnst in Zellerfeld?« ließ sich Aziz vernehmen. »Nahe die Akademie sollst du ein Zimmer haben. Jeden Tag vier, fünf Kilometer, wär nix für mich!«

»Das heißt: Nahe der Akademie! Und du kannst motzen wie du willst, ich ziehe nicht in deine Nähe, dann komme ich zu nichts mehr. Hier ist's einfach gemütlicher. Außerdem, du weißt doch: Wer was auf sich hält, wohnt in Zellerfeld!«

»Dummer Spruch, nix wert! Lauferei kostet Energie, und Energie kostet Geld, und Geld solltest du lieber versaufen, oder ...« Aziz schaute vielsagend auf.

»... verhuren, meinst du doch?« ergänzte Helm trocken.

»Bitte, wenn du es sagst! Überlege doch: All die Stunden, die du pro Semester unterwegs bist, mit einem sweet girl im Bett, das ist doch was!«

»Werds mir überlegen, du Casanova.«

Sie waren jetzt an Helm Kellers Behausung angelangt, einem uralten Bergmannskotten, wo er im Dachgeschoss ein Ministübchen bewohnte, zu dem eine erschreckend knarrende Treppe steil nach oben führte. Er hatte es gut getroffen: Seine Wirtin, kinderlos, verwöhnte ihn, wo sie nur konnte - Helm war für sie so etwas wie Sohn des Hauses. In seinem Zimmer brannte bereits ein munteres Feuer, und obwohl der Wind ums Haus heulte, war es angenehm warm im Raum. Helm setzte eine Emailkanne mit Wasser auf den hohen, grünlasierten Ofen und kramte unter einem Berg von Büchern, der Tisch und Bett bedeckte, eine Handvoll Kekse hervor. Aziz' Augen wanderten durch das Kämmerchen, das karg, aber zweckmäßig eingerichtet war. Sein Blick verhielt kurz auf dem Foto eines weißhaarigen Mannes mit lebhaften Augen, das, mit einem schwarzen Band versehen, auf Helms Schreibtisch stand.

»Weißt du, wie sehr du ähnlich bist mit Deinem Vater?«

Helm blickte auf. »Ja, ich weiß, aber du solltest besser sagen: ‚Wie sehr du Deinem Vater ähnelst‘. Deine Formulierung war nicht besonders gut.« - Sie hatten vor langer Zeit ein Abkommen getroffen, nach dem Helm die oftmals skurillen Satzkonstruktionen des jungen Kurden verbessern sollte. In den drei oder vier Jahren, die sie miteinander befreundet waren, hatte sich, wohl nicht zuletzt durch diese Taktik, sein Deutsch erstaunlich verbessert, sodass man nur noch selten den Ausländer durchhörte. Er schaute versonnen auf das Foto: »Dein Vater und du, ihr wart Freunde?«

»Ja, das waren wir.« Helm spürte, wie seine Augen sich mit Tränen füllten.

Aziz berührte ihn an der Schulter: »Tut mir leid - ich habe vergessen, dass er erst kurzer Monat tot ist.«

»Sechs Wochen, um genau zu sein. Das ist auch der Grund, dass ich mit dir sprechen wollte. Ich werde in Kürze Clausthal verlassen.«

Sein Gegenüber schaute überrascht auf: »du weg von Clausthal? du sagtest doch, es sei Wille deines Vaters, dass du dein Studium zu Ende bringst.«

»Ja, das ist wahr, Aziz, dazu hat er mich verpflichtet, kurz vor seinem Tod. Er war Bergmann mit Leib und Seele und stolz darauf, dass ich an seiner Alma Mater studiere, hier an der Akademie, wo er vor mehr als vierzig Jahren war. Keine Frage, dass ich seinen Wunsch erfüllen werde! Aber ich merke doch: Sein Tod hat mich mehr getroffen als ich wahrhaben wollte. Ich brauche etwas Abstand, verstehst du, eine Auszeit von ein oder zwei Semestern. Dann habe ich mich wieder gefangen und kann in Ruhe zu Ende machen.«

Der andere schüttelte den Kopf: »du solltest bleiben! In drei Semestern machst du dein Diplom, dann hast du was in der Hand. Dein Vorexamen zählt nichts, du bist nichts! Willst du auf den Bau, Steine schleppen? Oder in den Pütt, Kohle machen? Du bist verrückt!«

»Im Grunde hast du recht. Aber ich fühle mich jetzt und auf absehbare Zeit einfach nicht in der Lage, vernünftig zu arbeiten - zu studieren, meine ich. Ich fürchte, dass ich sinnlos herumhänge, am Ende noch ein Semester wiederholen muss. Ich merke doch, was mit mir los ist: Ich kann mich nicht konzentrieren - und jeden Abend in die Kneipe? Oder mich mit fünf Flaschen Bier in die Bude verkriechen? Nein - das macht keinen Sinn. Ich brauche eine feste Aufgabe, vor der ich nicht davonlaufen kann, wie hier vor der Vorlesung oder vor einem Seminar! Eine Verpflichtung, verstehst du, die mich einfach zwingt, nach vorne zu schauen, damit ich nicht dauernd über etwas nachsinne, was nicht mehr zu ändern ist. Mein Entschluss steht fest - ich gehe nach Semesterschluss. Ich habe bereits meine Exmatrikel beantragt.«

Aziz steckte sich eine seiner parfümierten Zigaretten an und schaute dem Rauch nach, der in der unteren Ofenklappe verschwand. »Helm, wir beide sind uns sehr ähnlich. Nicht nur in unserem Wesen. Für mich ist mein Vater ebenfalls derjenige, der mein Leben bisher bestimmt hat, den ich achte und liebe. Das ist unter Kurden übrigens nicht selbstverständlich, bei Gott nicht! Unsere Gesellschaftsform gilt zwar als patriarchalisch, aber so ganz richtig ist das nicht: Wir achten unsere Frauen hoch, besonders unsere Mütter. Die kurdische Gesellschaft ist deshalb eigentlich matriarchalisch, mit einer besonderen Beziehung zwischen Sohn und Mutter! Bei mir ist das allerdings anders: Ich bin Sohn meines Vaters - wie Du! Deshalb verstehe ich dich auch, sehr gut sogar! Aber - was sind deine Pläne, was gedenkst du zu tun - nach dem Ausstieg hier in Clausthal?«

Helm stützte den Kopf mit einer Hand und blickte seinen Freund sekundenlang stumm an: »Du erinnerst dich doch, dass ich ein paar mal für Cognos gearbeitet habe, in den Semesterferien. Der Boss kennt mich und hat mir ein Angebot gemacht - für Brasilien. Vorletzte Woche war ich in Hamburg, zur Tropenuntersuchung. Alles klar! Die Impfungen habe ich bereits hinter mir - nach der Choleraspritze gings mir saumäßig! Übermorgen soll ich in Hannover den Vertrag unterschreiben.«

Aziz war aufgestanden und schaute sinnend aus dem Fenster. Die wild wirbelnden Flocken vor der Scheibe zeigten, dass draußen ein veritabler Schneesturm eingesetzt hatte. »Hast du dir das auch gut überlegt? Ausgerechnet Brasilien, wahrscheinlich Amazonas. Ich bin kein Pessimist - aber wieviele kommen von dort zurück als - wie sagt man - Schrott?«

»Wrack, meinst du wohl.«

»Richtig, als Wrack kommen sie zurück, krank für den Rest des Lebens! Da lobe ich mir unser Klima, ich meine das meiner Heimat: Auch heiß, aber trocken - und gesund, sage ich Dir! Stärkt Herz und Kreislauf! Wenn du schon weg willst, gehe in die Sahara, oder nach Australien! Aber Amazonas - nein, danke. Wäre nix für Aziz Gord!«

Helm lächelte verhalten: »Na, ja, ganz so düster sehe ich das nicht. Außerdem muss ich erst einmal sehen, wie die Vertragsdauer ist. Mehr als ein Jahr möchte ich eigentlich nicht investieren. Professor Cheyp will darüber mit mir reden. Man sagte mir nur, dass es für Brasilien dringenden Bedarf gäbe. Viele Ausfälle!«

»Genau was ich sagte: Die kippen weg wie die Fliegen. Lass die Finger vom Amazonas!«

»Große Ansprüche kann ich nicht stellen! Ich muss schon dahin gehen, wo ein Platz frei ist!«

»Muss es denn unbedingt Cognos sein? Es gibt doch noch Prakla und Schlumberger, Wintershall und die Amerikaner.«

Helm stand auf, holte zwei Flaschen Bier, dazu Brot, Butter und ein Stück Hartwurst aus dem Holzkasten in der Ecke, den er seine Vorratskammer nannte: »Richtig, da gibts noch andere, wo ich anklopfen könnte. Aber bei Cognos bin ich bekannt! Außerdem hat mir der Personalchef zugesagt, mich als Ingenieur einzustellen, weil ich nun mal das Vordiplom habe: Die Auftraggeber - ob Shell, Mobiloil, DEA oder all die anderen Ölgesellschaften - sehen es nicht gerne, wenn in der Personalliste ein Student oder Praktikant auftaucht, die wollen alte Hasen! Ich werde übermorgen hören, wie es läuft.«

Der junge Kurde hatte es sich auf dem breiten Bett bequem gemacht. Instinktiv spürte er, dass sein Freund jetzt Aufmunterung benötigte, es höchste Zeit war, das Thema zu wechseln. Er berichtete also von einer großen Party mit Landsleuten, die letztes Wochenende in Goslar stattgefunden hatte.

»Mit Mädchen?«, fragte Helm, obwohl er die Antwort zu kennen glaubte, denn Feiern, an denen Aziz teilnahm, hatten einen durchaus absehbaren Regieablauf.

»Selbstverständlich!« Aziz' Antwort kam im Brustton der Überzeugung. »Eine ganze Reihe waren da, und hübsche darunter, sage ich Dir!«

»Und wo habt ihr die Bordsteinschwalben aufgegabelt?« Helm gähnte und holte zwei weitere Bierflaschen aus seiner »Kühlkammer« unter der Dachschräge.

Aziz räkelte sich wohlig auf dem Bett: »Verrate ich dir nicht! Außerdem: Nix Schwalben, du hast eine schmutzige Phantasie, Helm! Anständige Mädchen waren das, Abschlussklasse der Handelsschule! Hat der Direktor arrangiert. Dessen Tochter ist doch mit Kamil Shadi liiert, wusstest du das nicht?«

»Doch, ist mir bekannt. Handelsschule hat was für sich!« - »Wieso?«

»Wenn er sich von seiner Flamme Nachhilfe in kaufmännischem Rechnen und Buchführung geben lässt, kann er immer noch 'ne Herrenboutique aufmachen, falls er durchs Diplom rasselt. Oder eine Milchbar!«

Aziz lachte: »Da liegst du vielleicht gar nicht mal so falsch. Shadi ist jetzt, glaube ich, im fünfzehnten Semester, und weiter vom Diplom entfernt als im ersten!« - Es war gut, über Belangloses zu reden. Die Späße, die jetzt hin- und herflogen wie Tennisbälle, waren Balsam für Helms Seele. Spät abends brachen sie auf. In knietiefem Schnee begleitete er seinen Freund bis zur Bahnlinie, der Grenze zwischen den Schwesterstädten Clausthal und Zellerfeld im Talgrund. Am nächsten Tag wollten sie sich im Café Fischer treffen, dem »Kranzler« der Clausthaler Studentenschaft.

In jenen Jahren benötigte man gut fünf Stunden, um vom Oberharz die Landeshauptstadt zu erreichen, per Harzbahn und Bummelzug ab Goslar. So wurde es elf Uhr, bis Helm in Hannover-Herrenhausen vor dem unauffälligen Cognosgebäude stand, unweit des Wilhelm-Busch-Museums. Professor Cheyp, Chef der Cognos seit vielen Jahren, erwartete ihn bereits.

»Alles klar für Ihren Abschied vom Harz?«, begrüßte er ihn leutselig.

»Soweit es an mir liegt, schon«, antwortete Helm, etwas reserviert. Er wusste: Der weltläufige Professor war kein einfacher Verhandlungspartner. Auch wenn er, Keller, die Regeln der Höflichkeit zu wahren hatte: Über den Tisch ziehen lassen würde er sich nicht!

Cheyp blätterte in der Personalmappe mit der schön geschwungenen Beschriftung »H. Keller« Daneben lag der Bericht des Hamburger Tropeninstituts, den er offenbar bereits studiert hatte: »Das sieht ja alles ganz gut aus, Herr Keller. Geradezu prädestiniert für Belém do Para! - Ich biete Ihnen ein gutes Ingenieurgehalt. Sie werden verstehen, dass ich Ihnen nicht das geben kann, was diplomierte Leute bekommen, denke aber, dass Sie trotzdem zufrieden sein werden.«

Helm nickte: »Das Geld ist nicht unbedingt das Problem. Ich nannte Ihnen ja schon im Vorgespräch den eigentlichen Grund für meinen Entschluss, das Studium für eine begrenzte Zeit zu unterbrechen.«

»Ach ja, Ihr Vater. Mein Beileid, nachträglich.«

»Danke, Herr Professor. Wie lange müsste ich mich verpflichten?«

Cheyp zögerte. »Tja, Leute nach Brasilien zu schicken, das ist nicht billig! Flug, Einarbeitung, Risiko - man muss langfristig planen können, das kann man nicht für ein paar Monate machen. Normal sind zwei Jahre!«

Das hatte er erwartet: »Solange wollte ich eigentlich nicht unterbrechen. Sie verstehen, man kommt zu sehr raus aus dem Studium. Zum nächstjährigen Sommersemester dachte ich wieder einzusteigen, spätestens. Gibt es eine Alternative?«

Cheyp überlegte einen Augenblick und nickte dann: »Ja, die gibts tatsächlich. Seit letzter Woche haben wir einen neuen Auftrag - für Anatolien, und dafür stellen wir zur Zeit die Mannschaft zusammen. - Ja, das wäre auch etwas für einen Allrounder wie Sie: Vermessung, Auswertung, explorative Unterstützung durch Geoelektrik, eventuell auch Gravimemetrie. Das können Sie doch alles! Hätten Sie Interesse?«

In Helms Kopf arbeitete es. Er zögerte - und das keineswegs aus verhandlungstaktischen Gründen. Aziz' Statement kam ihm in den Sinn. Dann aber nickte er: »Ja, daran hätte ich tatsächlich Interesse. Wie wäre hier die Verpflichtungsdauer?«

»Die könnten wir in Ihrem Fall auf ein Jahr beschränken. Sagen wir: Bis 30. April nächsten Jahres. Wenn Sie möchten, mit einer Option auf eine halbjährige Verlängerung.«

»Das wäre in meinem Sinn. Einverstanden!« Helm lächelte den Professor an. »Ich stehe zu ihrer Verfügung, ab nächster Woche.«

Cheyp schien zufrieden. Er holte zwei Gläser und eine Flasche Napoleon aus einem Fach seines Schreibtischs. »Eine runde Sache wird das! Trinken wir einen auf den neuen Auftrag - und auf Ihren erfolgreichen Einstieg in die Crew!« Er füllte die Gläser exakt bis zum Eichstrich und prostete Helm zu: »Cheerio - auf gutes Gelingen! »Sie erhalten von mir in den nächsten Tagen nähere Einzelheiten über das weitere Procedere. Ich danke, wir sehen uns noch bei der Einweisung! Lassen Sie sich im Sekretariat unbedingt das Merkblatt ‚Naher und Mittlerer Osten‘ geben und besorgen Sie sich schon mal Ihre Ausrüstung - ich lasse Ihnen einen Verrechnungsscheck über, sagen wir, fünfhundert Mark ausstellen. Alles Gute!« Helm war merkwürdig gelöst, als er eine Stunde später das Gebäude verließ. Er fand die beiden Spezialgeschäfte, die im Merkblatt verzeichnet waren, und konnte, en passant, drei oder vier Punkte der Liste abhaken. Auf der Rückfahrt nach Clausthal erfasste ihn ein beinahe euphorisches Hochgefühl. Er konnte es kaum erwarten, Aziz diese überraschende Wendung mitzuteilen.

Er traf ihn am nächsten Tag in der Mensa. Während sie den üblichen Donnerstag-Eintopf löffelten, berichtete er in kurzen Zügen über sein Gespräch mit dem Cognoschef, verschwieg allerdings zunächst das eigentliche Ergebnis. Als sich Aziz beim abschließenden Kaffe eine seiner - wie Helm sie abschätzig nannte - 4711-Zigaretten anzündete, schien ihm der Zeitpunkt gekommen, die Überraschungsrakete zu zünden:

»Wo bekommst du eigentlich diese fürchterlichen Sargnägel her?«

»Direkt von einer Zigarettenfabrik in Diyarbakir. Lasse ich mir jeden Monat kommen, exklusiv!«

»Und das geht immer glatt, trotz Zoll und so weiter? Nie irgendwelche Reklamationen?«

»Nein, überhaupt nicht! Aber - wieso fragst du?«

»Ach, nur so. Ich dachte eben daran, dass ich eventuelle Beschwerden demnächst vor Ort erledigen könnte, als dein Agent, sozusagen.«

Aziz begriff schnell: »Heißt das, du gehst nach Kurdistan?«

»Jawohl,mein Freund, genau dorthin gehe ich. Und hier, auf dieser Liste, habe ich ein paar Fragen notiert, die du mir bitte beantwortest, damit ich nächstes Jahr heil zurückkehre.«

Die Überraschung war ihm perfekt gelungen und so war es kein Wunder, dass sie den ganzen Nachmittag zusammensaßen, etliche Tassen Kaffee tranken und Pläne schmiedeten. Aziz verriet dass er vor wenigen Tagen den Gestellungsbefehl für eine Reserveübung bekommen habe, die er unter Hinweis auf den Stand seines Studiums eigentlich hatte abschmettern wollen. »Aber jetzt habe ich eine bessere Idee: Ich werde im Juli, nach Semesterschluss, auf Kosten der Armee nach Hause fliegen und die sechs Wochen abreißen. Und danach, Helm, zeige ich dir das Land - meine Heimat!«

»Dieser Spaß würde dich mindestens ein halbes Jahr kosten, old boy! Dein Examen im nächsten Frühjahr könntest du vergessen!«

Sein Freund zuckte die Schulter: »Und wenn schon - das wäre mir die Sache wert. Einmalige Gelegenheit, dir Dinge zu zeigen, die du dein Leben lang nicht vergisst! Helm, wir werden herrliche Wochen verleben, am Nemrut Dag, an den Ufern des Van-Gölü! du wirst sehen: Unser Van-See ist mindestens so schön wie der von Berlin, und größer, viel größer! Es gibt soviel zu entdecken in unseren Bergen! Ich werde mit dir auf Bärenjagd gehen, wir können Steinböcke schießen - und einfach nur so durchs Land reiten!«

Helm horchte auf. Das Wort »Berg« ließ eine besondere Saite in ihm anklingen. »Wie weit ist es eigentlich von Diyarbakir zum Ararat?«

»Gut fünfhundert Kilometer. Falls du dort eine Bergtour machen möchtest - das schlage dir aus dem Kopf! Der Ararat liegt hart an der Grenze zur Sowjetunion. Absolutes Sperrgebiet, auf Schritt und Tritt nur Militär, Agenten und Spione, die Luft ist dort ziemlich bleihaltig, sage ich dir, genau wie hier an der Zonengrenze!« - Helms enttäuschter Blick amüsierte ihn: »Aber, mein Lieber, es gibt anderes zu sehen, du wirst staunen! - Übrigens: Wenn du unbedingt hoch hinaus willst: Es braucht ja nicht unbedingt der Ararat zu sein! Es gibt ein halbes Dutzend Berge über viertausend Meter, und Dutzende über dreitausend. Ich garantiere dir herrliche Bergtouren!« Aziz hatte sich geradezu in Begeisterung geredet.

»Ich fürchte, du siehst das zu optimistisch. Cognos ist eine verdammt effziente Firma. In den Auslandstrupps wird hart gearbeitet, Sightseeing ist bei Cognos im Normalfall nicht drin!«

»Helm, ich sage dir, wir werden Gelegenheit dazu haben. Im Sommer und im Herbst gibt es eine Reihe von Feiertagen, da arbeitet kein Mensch, auch die Cognos nicht. Man würde euch den Kopf abreißen! - Ich werde meinem Vater schreiben - es dürfte ihn interessieren, brennend interessieren, was sich dort tut. Ich denke, er wird ziemlich bald mit dir Kontakt aufnehmen, wenn ihm eure Ankunft gemeldet wird.«

Helm wusste, dass die Familie seines Freundes in der Nähe des Van-Gölü, des großen Sees im äußersten Osten Anatoliens, einen gewissen Einfluss ausübte. Welcher Art, das war ihm nie so recht klar geworden, denn Aziz hatte ihm gegenüber selten über diese Dinge gesprochen. Wenn er es recht bedachte, war er stets sehr zurückhaltend gewesen, was seine Familie, seine Herkunft anbetraf. Und er, Helm, hatte ihn nie danach gefragt. Ihm genügte es, in Aziz einen lebenslustigen, klugen und verlässlichen Kommilitonen zu haben, der noch dazu - im Vergleich zu manchen seiner eigenen Landsleute - äußerst kultiviert war.

Sie waren Freunde geworden, nachdem sie einige Situationen, die Vertrauen, Offenheit und Standfestigkeit auf beiden Seiten erforderten, gemeinsam erlebt und gemeistert hatten. Helm wusste, dass seine Freund die deutsche Schule in Istanbul besucht und dort Abitur gemacht hatte. Danach musste er seine Militärzeit abdienen, die er - kaum zwanzigjährig - mit dem Leutnantspatent abschloss. Mit ein- oder zweiundzwanzig Jahren war er in die Bundesrepublik gekommen, um Bergbauwissenschaften zu studieren. Irgendwann in ihrer frühen Bekanntschaft hatte Helm ihn einmal gefragt, wie er ausgerechnet auf Bergbau und Geologie gekommen war. »Wunsch meines Vaters«, war die knappe Antwort gewesen. Etwas lebhafter hatte Aziz damals hinzugefügt: »Außerdem sind die kurdischen Berge voll von Kupfer, Eisen, Mangan, Chrom, sogar Silber und Gold, und ich wollte lernen, wo und wie man diesen Reichtum heben kann.«

Wenn er, Helm, richtig vermutete, verfügte die Familie seine Freundes dort, im fernen Osten der Türkei, über beträchtlichen Grundbesitz. Sein Vater war wohl in dieser Gegend eine Art Patron oder Bezirkschef. Aber all diese Dinge blieben eingehüllt in einem merkwürdigen Nebel der Unbestimmtheit, was Helm allerdings nicht störte. Er hatte Aziz einige Male zu sich nach Hause eingeladen, sodass die Lebens- und Denkweise in deutschen Familien dem jungen Kurden jetzt keineswegs mehr fremd waren. Besonders das Weihnachtsfest liebte er geradezu. Einmal hatte er zu Helm gesagt, dass die Art, wie in Deutschland Weihnachten gefeiert wird, ihn an die Familienfeste zu Hause erinnern würde. Auch das letztjährige Christfest hatte er im Elternhaus seines deutschen Freundes, in dessen rheinischer Heimat, verbracht und die langen Gespräche über bergbauliche Dinge, die sie dort führten, hatte Helms Vater sehr genossen. Der alte Herr war von ihm hellauf begeistert gewesen und glaubte, in dem jungen Kurden so urpreußische Tugenden wie Pflichtbewusstsein und Opferbereitschaft zu erkennen. Und diese Sympathie war durchaus gegenseitig gewesen. Als dann vor wenigen Wochen Helms Vater starb, hatte Aziz es sich nicht nehmen lassen, ihm an der Seite seines Freundes die letzte Ehre zu erweisen.

Wenige Tage darauf traf ein von Professor Cheyp persönlich unterzeichnetes Schreiben ein, das neben den Reisedaten die Einladung zu einem Meeting in der darauffolgenden Woche enthielt. In dieser Veranstaltung - bei Cognos unumgängliche und wichtigste Vorbereitung des für den Auslandseinsatz vorgesehenen Personals - wurden Details des Auftrags diskutiert und von Fachleuten der geografische, ethnologische und politisch-wirtschaftliche Hintergrund des jeweiligen Landes erläutert. Fester Bestandteil dieser Seminare waren Arbeitsgruppen, in denen richtiges Verhalten sowie einige rudimentäre Sprachkenntnisse vermittelt und trainiert wurden.

Der Abreisetermin lag also unverrückbar fest. Die knappe Woche, die ihm verblieb, musste er sorgfältig planen, um die lange Liste der unumgänglichen, der wichtigen und auch der weniger wichtigen Dinge, die zu erledigen waren, zeitgerecht abzuhaken. Den Gedanken, seiner Mutter noch einen Besuch abzustatten, verwarf er, obwohl ihm klar war, dass seine alte Dame ihm deswegen gram sein würde. Eva fiel ihm ein. Er würde ihr aus Istanbul oder Damaskus eine Ansichtskarte schicken. Aber dann tauchte plötzlich ein Gedanke auf, der ihn geradezu faszinierte: Er könnte, falls Cheyp damit einverstanden wäre, den Flug nach München, dem Sammelplatz der Crew, einen Tag vorverlegen und bei ihr vorbeischauen. Was sie wohl für ein Gesicht machen würde, wenn er plötzlich vor ihr stünde, an ihrem Arbeitsplatz in der Bank? Dass diese Überraschung in eine umfassende Versöhnung münden würde, hielt er in der Euphorie, die ihn erfasste, zumindest für wahrscheinlich. - Noch am gleichen Tag fragte er in Hannover telefonisch nach, ob sein Flug nach München umgebucht werden könnte - aus dringenden familiären Gründen, wie er durchblicken ließ.

Die Hochstimmung, in die ihn die Aussicht auf ein Wiedersehen mit Eva versetzte, hielt bis zum Abend an. Als er jedoch, beim Aufräumen seiner Bude, den einen oder anderen ihrer letzten Briefe las, dämmerte ihm, dass die heiße Versöhnung, die er sich bereits ausmalte, wohl nur ein Traum bliebe: Eine Brücke zurück würde es kaum geben können – die trennenden Wasser waren einfach zu breit – und zu tief! Gleichviel - ein Tag in München hätte auch ohne Eva seinen Reiz: Ein paar Stunden in der Pinakothek, ein Abend in Schwabing - er würde sich einen vergnügten Tag machen!

Ein besonderer Glücksfall enthob Helm der Verpflichtung, für seine Freunde eine Abschiedsparty zu arrangieren: Ein Kommilitone, mit dem er gelegentlich in seiner Boxgruppe trainiert hatte, hatte zu einer kombinierten Verlobungs- und Geburtstagsfeier eingeladen. Gegen eine kleine Beteiligung konnte er sich an diese Fete anhängen. Das hatte zwar ein wenig den Geruch von Trittbrettfahrerei, war aber im studentischen Clausthal jener Zeit keineswegs ungewöhnlich, allein aus ökonomischen Gründen. Und so stiefelte er am Samstagabend, lustlos und frierend, im dicksten Oberharzer Nebel und knöcheltiefen Schneematsch die drei Kilometer zum Studentenheim, wo die Feier stattfinden sollte. Schon von weitem hörte er den typischen Lärm einer zünftigen Studentenfete, was seinen Missmut eher noch verstärkte, obwohl er zu anderen Zeiten solche Festivitäten durchaus zu delektieren verstand. Die Feststellung, dass er als ‚Solist‘ - ohne weibliche Begleitung also – überhaupt nicht in den ‚gemischten Chor‘ der Feiernden passte, ließ seine Laune um weitere Grade absinken. Er trank also ein paar Bier mit den Leuten seiner Fachschaft und mit seinen Sportkameraden aus der Boxgruppe, tanzte ein, zwei Mal mit Angelika, Aziz' derzeitiger Flamme und machte sich kurz nach Mitternacht, müde und auf seltsame Weise erleichtert, auf den Heimweg.

Aziz tauchte, sichtlich angeschlagen, am nächsten Tag bei ihm auf. Sie hatten sich verabredet, um vor seinem Start noch ein paar Fragen zu klären, die ihm wichtig schienen. Mit Blick auf das übernächtigte Gesicht seines Freundes - konnte Helm sich eine spöttische Bemerkung nicht verkneifen: »Du siehst aus, als ob dich Angelika erst vor einer Stunde freigegeben hätte.«

Aziz grinste: »Gratulation zu deiner Schätzung! War eine heiße Nacht - und danach Frühsport bis zum Wecken, das schlaucht, mein Lieber! Ich habe sie eben nach Osterode gebracht, vorsichtshalber zu ihrer Oma, nicht zu Papa!«

»Klug von dir - und zartfühlend, ihren Eltern gegenüber! Kaffe gefällig?« Endlich konnten sie sich Helms Fragenkatalog zuwenden. Sein Besucher hatte sich gut vorbereitet: Seiner Kollegmappe entnahm er ein Oktavheft, das zur guten Hälfte vollgeschrieben war: »Exklusiv für dich! Wenn du zurück bist, kannst du deine eigenen Erfahrungen dazugeben und daraus ein Buch machen, einen Ratgeber für Anatolienreisende, sozusagen! Kannst mich mit zehn Prozent daran beteiligen!«

»Das Buch schreibe ich irgendwann, old boy, da kannst du sicher sein! Über deine Provision können wir dann immer noch reden. - Schade, ich dachte immer, die Kurden seien indogermanischer Abstammung.«

»Sind wir auch, Indogermanen, waschechte sogar! Wieso zweifelst du daran, du Rassist!«

»Weil du schacherst wie ein Levantiner! Sogar noch schlimmer - die machens adhoc, du feilschst zwei Jahre im Voraus!«

Aziz lachte herzhaft: »Im Vertrauen, Helm: Im Schachern war ich schon immer gut! Schon auf der Penne in Istanbul habe ich gehandelt - mit Infos über Klassenarbeiten. Das war zwar meist reine Spekulation, aber manchmal hats hingehauen. Einer ist mir heute noch dankbar für die Spickerei, mit der ich ihn durchs Abi geschleust habe. So gesehen kanns schon sein, dass ich irgendwo in meiner Linie eine jüdische Großmutter habe.«

»Ganz sicher hast du das!« Helm vertiefte sich in das Merkheft. »Wie soll man das hier verstehen: Du schreibst, in deiner Heimat sei es wichtig, immer die Wahrheit zu sagen und nie zu lügen, auch nicht im Spaß. Keine Witze auf Kosten anderer! Heißt das: Man darf sich bei euch keinen Scherz erlauben? Sind Kurden humorlos? Wenn das stimmt, bist du keiner, du Witzbold!«

»Natürlich haben Kurden Humor! - Was ich meine ist, dass man nie versuchen sollte, jemanden zu düpieren. Hier sagt man auch: Jemanden anschmieren. So etwas wird bei uns sehr übel genommen. Ich glaube, gerade die Deutschen neigen dazu, auf Kosten anderer zu lachen. In dieser Beziehung sei vorsichtig, das kann ins Auge gehen! Da ähneln wir sehr den Japanern, für die es ja auch nichts schlimmeres gibt, als das Gesicht zu verlieren. Und was das Lügen betrifft, existiert in meinem Volk eine besondere Empfindlichkeit. Kurden lügen nie! Sie sagen immer die Wahrheit!«

»Immer?« zweifelte sein Gegenüber mit deutlich skeptischen Unterton. - »Immer!« bestätigte Aziz. »Na, ja, vielleicht schneiden sie manchmal ab, mehr aber nicht.«

Helm lachte: »Du meinst, sie schneiden auf, hin und wieder?« - »Ja, richtig - sie schneiden auf, manchmal.« Sehr ernsthaft setzte er hinzu: »Abschneiden tun sie nur die Köpfe von Leuten, die sie nicht mögen! Aber noch etwas Wichtiges - verrate ich nur dir, exklusiv: Sorge dafür, dass auf deinem Fahrzeug ‚ALMANYA‘ steht, vorn, hinten, an den Seiten, möglichst groß! Das Wort wirkt wie ein freier Fahrschein, glaube mir!« »Freifahrschein«, verbesserte Helm. »Jetzt sag nur noch, dass ich mir das auch auf meine Klamotten sticken soll.«

»Du machst dich über mich lustig, das solltest du nicht! Besser, du erinnerst dich daran, dass Engländer, Franzosen, Italiener - und übrigens auch die Amerikaner! - ziemlich verhasst sind bei uns, aus historischen Gründen! Der Vertragsbruch von Lausanne, 1923, der vor allem den Engländern angelastet wird, weckt auch heute noch Animositäten gegen gewisse Ausländer. Da bedarf es nur einer Kleinigkeit, schon heißt es: Dieser perfide Engländer, diese kaltschnäuzigen Franzosen! Bei Deutschen ist die Toleranzschwelle deutlich höher. Aber Vorsicht ist immer angebracht, es ist schon was dran an unserem Räuber- und Mörderimage, das wir nun mal in der Welt haben! Wir Kurden sind vom Schicksal nicht verwöhnt worden, und ein Leben hat bei uns nie viel gegolten Besser also, du sagst dreimal zuviel als einmal zu wenig, dass du ‚ALMANCI‘, Deutscher, bist. Das ist sehr nützlich, fast eine Versicherung.« Aziz nickte bedeutungsvoll. Nach einer kleinen Pause ergänzte er: »Auch wenn du es für übertrieben hältst - es könnte dir das Leben retten!« Helm schwieg betroffen. Aus Aziz' Worten klang großer Ernst. Er durfte seine Warnung keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen.

Gegen Abend verzogen sie sich in ihre Stammkneipe, um noch ein paar Stunden bei einem Glas Bier zu klönen und vielleicht den einen oder anderen aus ihrer Clique zu treffen. Aber es wollte keine rechte Stimmung aufkommen. Das Gespräch blieb einsilbig und nach zwei Stunden brachen sie den verkorksten Abend ab. Aziz sagte zu, ihn am nächsten Morgen zum Bahnhof nach Goslar zu bringen.

Er hielt Wort: Punkt sieben stoppte sein Wagen vor Helms Domizil. Seine Wirtin hatte Kaffee gekocht, eine ganze Kanne und bot, sich ständig die Augen wischend, dick belegte Brote an. Im Stehen schlürften sie die kochendheiße Brühe, schweigend, mit düsteren Mienen, aßen höflichkeitshalber eine Schnitte und als sie das ziemlich umfangreiche Gepäck eingeladen hatten, glich Aziz' postgelber VW einer Zigeunerfuhre. Der nun folgende, unabänderliche Abschied verstärkte den Tränenfluss von Gustel - Helms Wirtin - nochmals, sodass sie aufatmeten, als sie endlich losrollten. Der Harz indes machte seinem Namen als Kleinsibirien alle Ehre und verabschiedete Helm mit dichtem Schneefall. Die Straße hinunter nach Goslar war, wie meist, nicht geräumt, sodass sie den Bahnhof erst in letzter Minute erreichten - der Zug nach Hannover stand abfahrtbereit unter Dampf. Unerbittlich rückte der Zeiger der Bahnsteiguhr der letzten Sekunde entgegen. Als der Mann mit der Kelle pfiff, zog Aziz mit einem Ruck den Siegelring von seiner linken Hand, den er, solange sich Helm erinnern konnte, stets getragen hatte und reichte ihn seinem Freund durchs offene Abteilfenster: »Trage ihn immer! Jeder Kurde in der Van-Region kennt den Ring der T'Atmanikan. Möge er dir in meiner Heimat Glück bringen!« Damit wandte er sich abrupt um und ging mit schnellen Schritten zum Ausgang, ohne die Abfahrt abzuwarten – und ohne einen einzigen Blick zurück.

Das Einweisungsseminar begann in der Kantine der Cognos mit einem gemeinsamen Mittagessen der Crew, die ja nun für eine beträchtliche Zeitspanne auf Gedeih und Verderb miteinander auskommen sollte. Von der für Kurdistan bestimmten Mannschaft waren Helm zwei Leute bekannt: Hein Ölmann, ein dicker, blonder Driller aus Celle sowie der KFZ-Mann Bodo Block, genannt Motorblock. Den Truppführer Jens Jensen, ein Schleswig-Holsteiner, und den Vermesser Manfred ‚Manni‘ Schulte, gebürtiger Schwabe, hatte er gelegentlich bei Vorträgen in Clausthal gesehen. Die übrigen Bohrleute wie auch den Sprengmeister von Holte kannte er nicht.

Gleich nach dem Essen wurde es ernst: Professor Cheyp referierte persönlich über Hintergründe, Zielsetzung und Rahmenbedingungen des neuen Auftrags. Die Regierung in Ankara, erläuterte Cheyp, erwarte von den Untersuchungen einen Schub für die wirtschaftliche Entwicklung der Region. Sie würde deshalb - und natürlich wegen der besonderen politischen Situation in Ostanatolien - dieses Projekt scharf beobachten. Die Zuhörer nahmen den Hinweis mit gemischten Gefühlen auf - jeder fragte sich, wie scharf die Beobachtung der Behörden wohl sein würde. Wollte sich Ankara etwa in jede Kleinigkeit einmischen? Noch bedenklicher wurden die Mienen, als Cheyp darauf hinwies, dass verschiedene Gruppen der Bevölkerung - islamische Fundamentalisten, aber auch die kurdische Seite - in den Arbeiten einen Eingriff in ihre Rechte ansehen könnten und deshalb Störungen nicht auszuschließen seien.

Abends lud Professor Cheyp die Crew namens der Geschäftsleitung in ein nahegelegenes Restaurant zum Essen ein. Danach saßen sie in lockerer Runde zusammen und ließen es sich auf Kosten des Unternehmens wohl ergehen. Bald schon war man bei dem Sport angelangt, den auch Helm Keller aus seinen Einsätzen für Cognos schon zur Genüge kannte: Jeder versuchte, den anderen mit einem jener gepfefferten Witze auszustechen, die mit den Öldrillern, diesen Landsknechten der neuen Zeit, in Windeseile von einem Ende der Welt zum anderen reisten. Auch Cheyp schien sich köstlich zu amüsieren. Offenbar bestens gelaunt, sprach er Helm an: »Ich habe Ihrem Wunsch entsprechend Ihren Flug nach München umbuchen lassen. Trotzdem ist es schade, Herr Keller, denn am Mittwoch könnten Sie Einiges über Land und Leute sowie über richtiges Verhalten vor Ort lernen. Nicht unwichtig, auch für sie!« Helm versuchte, seine Bedenken zu zerstreuen, indem er von seinen Vorbereitungen in Clausthal berichtete. »Ich hatte einen sehr guten Instrukteur, der sogar aus jenem Teil Anatoliens stammt, in dem wir arbeiten werden. Die Familie meines Freundes scheint dort nicht ganz ohne Einfluss zu sein. Sein Vater ist in dieser Region ein einflussreicher Sheikh.«

Der kleine Professor horchte auf: »Sheikh, sagten Sie? Ein gutes Einvernehmen mit den Stammesführern der Gegend ist für uns natürlich existenziell wichtig. Werden Sie mit diesem Mann zusammentreffen?«

»Ich denke, ja. Mein Freund hat mich bei seinem Vater avisiert. Er wird mich zu sich bitten, sobald wir in Diyarbakir sind.«

Der Cognoschef war geradezu elektrisiert: »Das klingt gut. Bitte berichten Sie mir auf jeden Fall, wie dieser Kontakt gelaufen ist. Wichtiges könnten Sie per Funk durchgeben. Ich werde Jensen sagen, dass Sie in dieser Hinsicht von uns jede Unterstützung haben.« - Helm versprach es ihm.

Der Dienstag war der technischen Ausstattung und wissenschaftlichen Details gewidmet. Spezialisten machten die Mannschaft mit den zum Einsatz kommenden Geräten und Instrumenten vertraut und wie alle anderen übte sich Helm bis in den späten Abend im Wälzen kiloschwerer Handbücher. Am nächsten Tag, dem letzten des Einweisungsseminars, hatte er vormittags Gelegenheit, mit dem Referenten, einem aus Hamburg angereisten Ethnologen, die eine oder andere Frage zu diskutieren. Mit Befriedigung stellte er fest, dass Aziz in seinem »Ratgeber« das Wichtigste kurz und treffend angesprochen hatte. Der Dozent für asiatische Völkerkunde bestätigte die Wahrheitsliebe als wesentlichen, ja bestimmenden Zug des kurdischen Volkscharakters. Und was die Angst vor dem Verlust der persönlichen wie der Familienehre anginge, so wäre das die Haupttriebfeder der nach wie vor verbreiteten ‚Heif‘, der Blutrache. Dann referierte der Justitiar der Cognos, Dr. Esser, über einige relevante juristische Fragen. Er wies auf die rüde Praxis von Polizei und Gerichten bei Verkehrsunfällen hin, die angesichts der Unerfahrenheit der Landbevölkerung und mit Blick auf das orientalische Gewühl in den Städten nie ganz auszuschließen wären. Im Falle eines Unfalls habe man zwar die Versorgung eventuell Verletzter sicherzustellen, sich aber dann sofort vom Unfallort zu entfernen und die Angelegenheit dem von Cognos benannten Rechtsanwalt zu überlassen. Bei Unfällen mit Schwerverletzten, gar mit Toten, müsse der Unfallverursacher sofort außer Landes gebracht werden. Der Grund hierfür sei die Art und Weise, wie solche Fälle von der Polizei und der Justiz gehandhabt würden: Ein Unfallfahrer, ob schuldig oder nicht, würde für lange Zeit, oft für Monate und Jahre, im Gefängnis landen, bevor das Gerichtsverfahren eröffnet wird. »Und türkische Gefängnisse«, schloss Esser, »sind keinesfalls mit deutschen zu vergleichen! Sie sind alles andere als Luxushotels. Sie sind« - er machte eine kleine Kunstpause - »die Hölle!« Mit erhobener Stimme fügte er hinzu: »Außerdem, meine Herren: Denken Sie stets daran, dass das Gesetz der Blutrache dort unverändert gilt. Nehmen Sie es nicht auf die leichte Schulter, auch wenn das Blut bei einem Unfall fließt, den Sie absolut nicht verschuldet haben!« - Helm beschloss, auch diese Warnung ernst zu nehmen, glaubte aber nicht, dass ihn ein solches Unglück treffen könnte: Er kannte sich als einen sehr vorsichtigen und vorausschauenden Fahrer.

Punkt 12 Uhr brachte ein Cognos-Fahrzeug ihn zum Flughafen Langenhagen. Eine knappe Stunde später hob seine Maschine in Richtung München ab.

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Eva-Sophia, Eva-Maria

Der Flug in der Convair war unruhig gewesen: Etwa an der Mainlinie hatten sie eine kräftige Kaltfront angetroffen und ein ausgewachsenes Wintergewitter durchquert, wobei Aufwinde und hässliche Downdrafts die Maschine zu einem wilden Tanz durch die Wolken zwangen. Helm war heilfroh, als sie in München-Riem an die Gangway rollten - sein Magen hätte nicht mehr lange mitgespielt. Er nahm den nächsten Bus in den beschaulichen Münchner Vorort und quartierte sich im Martinshof ein.

In aller Eile duschte er und zog ein Hemd an, zu dem die auffallend gemusterte Krawatte passte, die Eva ihm zum letztjährigen Oktoberfest »verpasst« hatte. Zur S-Bahnhaltestelle, von wo aus er die Linie zum Stachus nahm, waren es nur wenige Schritte. Gegen halb vier betrat er gutgelaunt die Bankfiliale am Lenbachplatz. Gleich nachdem er die Drehtür passiert hatte, sah er in der Rezeption ihren leuchtend kastanienroten Haarschopf. Er drückte den Hut eine Kleinigkeit tiefer in die Stirn und stellte sich hinter einen breitschultrigen Urmünchner, der sich von ihr den Weg zur Hypoabteilung erklären ließ. Als er danach an den Schalter trat, blickte sie ihn konsterniert an, schüttelte ungläubig den Kopf und reichte ihm nach ein paar Sekunden der Verwirrung über den Tresen hinweg die Hand: »Du hier?«

»Wie du siehst, ich bins, leibhaftig!« Seine reichlich banale Antwort ärgerte ihn. Er grinste sie ein wenig hilflos an: »Wann hast du frei?«

»Wie immer - in einer Stunde.« Diese Auskunft begleitete Eva mit dem ihr eigenen, bezaubernden Lächeln, aber Helm hatte den Eindruck einer merkwürdigen Distanziertheit. Sie wandte sich einer neuen Kundin zu und suchte angelegentlich in einem Karteikasten. Nach ein paar Sekunden blickte sie zu ihm hinüber: »Fünf Uhr im ‚Torbräu‘, einverstanden?« Helm wunderte sich etwas. Warum sollte er sie nicht, wie unzählige Male zuvor, am Bankportal abholen? Er nickte kurz und zog sich zurück. Eigentlich hatte er sich dieses Wiedersehen anders, herzlicher vorgestellt, aber allzuviel Spontaneität der Angestellten war in ihrer Bank unerwünscht, das wusste er nur allzu gut. Außerdem: Er hatte sie ja auch ziemlich kalt erwischt - bei Licht betrachtet, war es ein regelrechter Überfall! - Langsam schlenderte er zurück zum Stachus, wo er in die Neuhäuser Straße einbog. Er liebte dieses unverwechselbare Flair der Münchner Innenstadt. Wie hatte man die Bayernmetropole doch kürzlich in einer Rundfunksendung genannt? »Weltstadt mit Herz«. Genau das war sie.

Ein paar Minuten vor fünf betrat er das ‚Torbräu‘ unweit vom Karlstor, wo sie sich früher oft getroffen hatten. Helm fand einen freien Tisch und bestellte einen Espresso. Wenig später stand sie vor ihm. Sie schien sich beeilt zu haben, denn auf ihrer Stirn zeigten sich kleine Schweißperlen. Die Begrüßung war herzlicher als vorhin: Eva hauchte einen Kuss auf seine Wange und spöttelte: »Du bist schlecht rasiert, mein Lieber.« Aber als er ihr aus dem Mantel half, zeigte sie Helm ihr schönstes Lächeln. Trotzdem: Wieder verspürte er jene seltsame Kühle die ihn schon zuvor irritiert hatte und die ihr eigentlich fremd war. Nachdem er für sie ebenfalls einen Espresso geordert hatte, legte sie ihre Hand auf seinen Arm, eine vertrauliche Geste, die er nur allzugut kannte: »Erzähle, was gibts Neues?«

»Du musst mir zuerst einmal verraten, wie lange du Zeit hast. Wir könnten irgendwo essen gehen.«

»Genau da liegt das Problem! Ich musste ein paar Telefonate tätigen, um mein Programm umzustellen. Dabei bin ich ganz schön ins Schwitzen geraten.«

»Man siehts.« Helm nickte und betrachtete ihre immer noch feuchte Stirn. »Bist du mir böse wegen meines Überfalls?« Behutsam griff er nach ihrer Hand, die gerade seinen Arm freigeben wollte. Sie ließ ihn gewähren.

»Nein, Helm, ich freue mich natürlich wahnsinnig, dich wiederzusehen.«

Er blickte ihr jetzt geradewegs in die Augen, die ihn mit ihrem türkisfarbenen Schimmer seit eh und je faszinierten. Sie schien einen Entschluss gefasst zu haben und strahlte ihn an, völlig unbefangen. Ihre unter dem knapp sitzenden Kaschmirpullover wogende Brust hypnotisierte ihn. Er rief sich selbst zur Ordnung.

»Also, wir plaudern hier ein halbes Stündchen. Dann fahre ich kurz nach Hause und ziehe mich um. Ich habe für uns im ‚Piroschka‘ einen Tisch reservieren lassen - wir treffen uns dort, zwanzig Uhr! Einverstanden?« - Helm glaubte, den Hüpfer zu verspüren, den sein Herz tat. »Super!« stimmte er zu, aber erneut beschlich ihn jener unbestimmte Zweifel: Warum nahm sie ihn nicht, wie früher selbstverständlich, mit nach Hause?

Die knappe Stunde, die sie im ‚Torbräu‘ verplauderten, verging wie im Flug. Eva schien nicht allzusehr betroffen, als Helm ihr eröffnete, dass er schon am nächsten Tag Deutschland verlassen würde - für lange Zeit! Er schilderte die Gründe, die ihn zu diesem Schritt bewogen hatten und sie berichtete in Stichworten von sich, ihrer Familie und einigen gemeinsamen Bekannten. Gegen 18 Uhr brachte er sie zur Haltestelle am Stachus. Ehe sie in die Strassenbahn stieg, bemerkte sie beiläufig: »Ich werde noch jemanden mitbringen. Sicher wirds ein netter Abend!«

Helm bummelte die Kaufinger Straße zum Marienplatz hinunter, die klassische Münchner Kaufmeile, auf der, wie immer, ein geradezu beängstigendes Gedränge herrschte. Er verspürte jetzt einen Bärenhunger, und so steuerte er kurz entschlossen das ‚Donisl‘ an, jene urgemütliche, altmünchner Gaststätte am Rathaus. - »Ein netter Abend!« Ihre Worte verstärkten eher die quälende Ungewissheit, die ihn gefangen hielt. Die Ankündigung einer netten Nacht wäre ihm eindeutig lieber gewesen! Im Donisl, setzte er sich an einen freien Ecktisch und bestellte Knödel, Würstel und Kraut, das Standardessen des eiligen Münchners. Dazu genehmigte er sich ein Maß Paulaner. Während er aß, versuchte er eine Analyse der bisherigen Begegnung mit Eva. Immer deutlicher spürte er, wie sehr ihre Art ihn befremdete. Zwei alte Männer, die angesäuselt am Nebentisch miteinander grantelten, drängten schließlich seine Gedanken in eine andere Richtung. Kurz vor 20 Uhr brach er auf.

Als er das ‚Piroschka‘ betrat, ein kleines, sehr intimes Lokal am Rande des englischen Gartens, in dem sie früher öfter gegessen hatten, schien Helm die Örtlichkeit anheimelnd und vertraut wie immer. Der Oberkellner geleitete ihn in den rückwärtigen, zum Park gelegenen Raum mit festlich gedeckten, kerzenbeleuchteten Tischen. Eva saß direkt gegenüber der Tür, in offenbar angeregtem Gespräch mit einem breitschultrigen, dunkelhaarigen Menschen. Die Art, wie sie ihre Hand auf der ihres Gesprächpartners ruhen ließ, war Helm sehr vertraut. Er verspürte den Stich in der Herzgegend, als er die Intimität dieser Geste erkannte. Mit bleiernen Schritten näherte er sich den beiden. Sie schaute auf, als er den Tisch erreichte und zog ihre Hand zurück. Helm straffte die Schultern, zwang sich zu einem unbefangenen Lächeln und begrüßte Eva mit einer Fröhlichkeit, die ihm selbst reichlich aufgesetzt erschien. Sie zog sich auf eine neutrale, ziemlich steril wirkende Förmlichkeit zurück: »Stefan, darf ich dir Helm Keller vorstellen, ein lieber, alter Freund von mir.« Und mit unschuldigem Augenaufschlag: »Helm, das ist Stefan Donath!« Der hatte sich inzwischen erhoben: Ein Hüne von gut zwei Metern, der Helm spöttisch von oben herab beäugte - obgleich der mit seinen einssiebenundachtzig selbst Gardemaß besaß.

Während beide umständlich Platz nahmen, erläuterte Eva in munterem Plauderton den Hintergrund ihrer Bekanntschaft mit Donath, gerade so, als ob sie Helm diese Erklärungen schuldig wäre. Der musterte unterdessen seinen Nebenbuhler. Als Boxer war er gewohnt, die Kampfkraft eines ihm unbekannten Gegners vor der ersten Runde zunächst einmal rein optisch abzuschätzen. Befriedigt stellte er fest, dass Donath für ihn kein Gegner sein würde, trotz seiner riesenhaften Größe. Mit einer gewissen Häme registrierte er die Anzeichen von Hängebacken und Doppelkinn sowie den unübersehbaren Bauchansatz. Dieser Mann war vor allem eins: fett! Und unbeweglich. Er würde ihn ganz schnell von den Beinen holen! Evas heißes Bemühen, eine unverfängliche Unterhaltung in Gang zu bringen, amüsierte ihn und er fragte sich, ob sie seine Gedanken ahnte. Sie verriet Helm, dass Donath Kunstsammler und viel unterwegs sei. »Sein Büro ist ganz in der Nähe des Isartorplatzes«, sagte sie mit einem Blick, als würde es sich um die Münchner Dependance von Christies handeln. Der Goliath nickte bedeutsam. - Helm erinnerte sich, dass in den alten, finsteren Gassen zwischen Isartor und Viktualienmarkt eine ganze Reihe von kleineren Antiquitätengeschäften mehr schlecht als recht existierten. Gleichzeitig stieg eine dunkle Erinnerung in ihm hoch.

»Sind Sie Kunstsammler oder Kunsthändler?«, wollte er wissen.

»Tja, sowohl als auch.« Seine Sprechweise war gedehnt, als ob er über den Sinn dieser Frage nachdächte. »Wissen Sie, wer sammelt, handelt auch in gewissem Umfang. Meistens, jedenfalls.«

Eva schien die Richtung zu erkennen, in die Helms Frage zielte und versuchte, ihm zuvorzukommen: »Wir waren früher öfter in dieser Ecke und haben mit Begeisterung in den Antiquitätenläden gestöbert«, sagte sie zu Donath. »Helm hat großes Interesse an alten Sachen, vor allem an gutem Porzellan.«

»Teller und solche Banalitäten interessieren mich eigentlich nicht besonders«, nahm der Dicke diesen Hinweis auf, eine Idee zu großspurig, wie Helm befand. »Mein Spezialgebiet sind Stiche, vor allem Kartographie.«

Sein Gegenüber plazierte seinen Stich präzise wie ein Florettfechter: »Da kenne ich ein kleines Lädchen in der Frauengasse, eine richtige Trödelhöhle! Dort habe ich letzten Herbst einige alte Stiche und wunderbare Kartographen gesehen, Waghenaers darunter und ein de Testu, herrlich, aber unverschämt teuer. Falls die echt gewesen wären, hätte ich Interesse gehabt!« Donath schaute ihn unsicher an, offenbar eine Antwort auf der Zunge. Aber Eva warf ihm einen schnellen Blick zu und zog die Augenbrauen hoch. Helm wusste jetzt: Dieser Hieb hatte gesessen! Die »Kunstsammlung« seines Gegenspielers war jener obskure Laden in der Nähe des Isartorplatzes. Er erinnerte sich jetzt: Im düsteren Hintergrund dieses Etablissements hatte er einen wahren Golem hantieren sehen. Der Golem war Donath gewesen!

Es hätte das Ende des Abends sein können, kaum dass er begonnen hatte, aber wie ein rettender Engel erschien in diesem Moment der Tischkellner und überreichte die schweinslederne Speisekarte. Offenkundig darum bemüht, verlorenen Boden wieder gutzumachen und jeden Zweifel an seiner Honorigkeit und Bonität zu zerstreuen, verkündete Donath mit großspuriger Geste: »Ich lade euch ein!« Helm protestierte - in diesem Fall aus Überzeugung. Schließlich überließ ihm der andere, betont herablassend, die Auswahl des menuegerechten Weins. Helm studierte kurz die Karte und wählte einen Szamorodner Tokajer, eine Spezialität des Hauses. »Trocken, natürlich«, rief er dem Piccolo nach. Donaths Blick drückte äußerste Verwunderung aus: »So jung und schon Erfahrung mit Wein?« Sein Tonfall war eine Spur zu jovial.

Helm zuckte die Schulter: »Hat sich so ergeben! Praktika in Frankreich, Österreich, Ungarn und Italien, das ist nicht nur gut fürs Fachwissen, da lernt man auch Land und Leute kennen - und natürlich die Weine der Region! Als Rheinländer bin ich sensibilisiert, für guten Wein - und ebenso für Kunst!« Er konnte es sich nicht verkneifen, nachzuschlagen, obwohl er von seinem Sport her durchaus wusste, dass er damit die Regeln verletzte.

Eva hatte die leicht verbesserte Stimmung am Tisch intuitiv erfasst und wechselte das Themen: »Stefan, er fliegt morgen in den Nahen Osten, für ein ganzes Jahr.« Und zu Helm: »Ist das nicht hart, eine solch lange Zeit in dieser Wildnis da unten? Hast du eigentlich die Risiken einkalkuliert? Was kann da nicht alles passieren! Für mich wäre das nichts, meine Welt ist und bleibt München.« Ihr Gegenüber betrachtete angelegentlich die ausdrucksvolle Maserung der Tischplatte und nickte: »Ja, richtig, München - der Nabel der Welt! Ich liebe diese Stadt ja auch, aber ein ganzes Leben hier am Ort, allenfalls mal ein Ausflug nach Gräfelfing oder zum Kloster Andechs - ich ginge ein wie eine Primel! Was deine Frage betrifft: Risiken ja, die gibt es, aber sie sind kalkulierbar, wenn man sich richtig verhält.« Er gab das eine oder andere aus dem Fundus seines ethnologischen Spezialwissen zum besten. Dass diese Weisheiten frisch erworben waren, verschwieg er - eine kleine Konzession an seine Eitelkeit!

Bei der Vorspeise - filetierte Felchen vom Plattensee - räusperte sich der Falstaff: »Nun erklären Sie mir doch mal, mein lieber Herr Keller, was Sie eigentlich dort machen, da unten, wo die Völker aufeinanderschlagen, wie es bekanntlich bei Goethe heißt.« - Helm schluckte. Er konnte Leute nicht ausstehen, die mit klassischen Zitaten um sich warfen um Eindruck zu schinden. In dürren Sätzen umriss er den Auftrag der Cognos.

»Sie sprengen also Löcher in den Boden und heraus kommt Öl?« Donath schien diese Frage ernst zu meinen.

Helm musste über soviel technisches Unverständnis lachen: »Nein, ganz so einfach ist es nicht.« Dann versuchte er, den Begriff ‚Erdölexploration‘ in simplen Worten zu erklären, aber als er merkte, dass selbst einfachste physikalische Gesetzmäßigkeiten für diesen Mann böhmische Dörfer waren, brach er sein Privatissimum ab und wechselte nochmals das Generalthema: »Ich habe übrigens vor, Bogazkoy einen Besuch abzustatten«, sagte er beiläufig, hob sein Glas und prüfte angelegentlich Farbe und Geruch des Tokajers. »Das interessiert mich brennend.«

Donath blickte fragend: »Was meinen Sie mit Bogaschkö?«

»Nun«, holte Helm aus und war sich dabei sicher, dem Mann einen weiteren Hieb versetzen zu können: »Bogazkoy ist unter Kunstkennern und Kunstsammlern ein Begriff! Bei diesem Dorf, östlich von Ankara, liegen die Ruinen der hethitischen Hauptstadt Hattusa. Dort graben vor allem deutsche Archäologen. Der größte Teil der hethitischen Statuen, Skulpturen und Keramiken stammt aus Bogazkoy.«

Donath schien elektrisiert: »Ach, ja, die Hethiter! Hier im Haus der Kunst gabs vor einem halben Jahr eine Ausstellung über hethitische Keramik, faszinierend, sage ich ihnen! Danach, das weiß ich zufällig, wurde in allen Münchener Kunsthandlungen monatelang nur nach hethitischen Skulpturen gefragt.« - Donath hielt inne und überlegte. »Man hätte mit hethitischer Kunst Wahnsinnsgeschäfte machen können. Wäre es nicht möglich, dass Sie dort unten, beispielsweise, Keramiken akquirierten? Wenn Sie mir das eine oder andere Stück zuschickten, das wäre gewiss nicht zu Ihrem Schaden!« Eva blickte ihn schweigend an und zog ihre Nase kraus, für Helm ein untrügliches Zeichen ihrer stillen Wut! Sie wusste: Donath hatte sich mit dieser Bemerkung endgültig als geldgieriger Schacherer bloßgestellt – und sie mit! Er beschloss, am Mann zu bleiben: »Ich werde es mir überlegen. Obwohl - das Risiko muss man gut abwägen! Unerlaubte Ausfuhr von Kunstgegenständen wird streng bestraft.« Er setzte noch eins drauf: »Mit Handabhacken!«

Der Andere blickte ihn entsetzt an. Seine dümmliche Bemerkung, es dann besser zu lassen, quittierte Helm mit anzüglichem Grinsen: »Ab morgen bin ich in Istanbul, zu Vorbesprechungen, die wahrscheinlich hart sein werden. Trotzdem hoffe ich auf Gelegenheit zum Sightseeing.« - »Eine wunderbare Stadt«, pflichtete Donath bei. »Goldenes Horn, Hagia Sophia, Blaue Moschee, herrlich!«

Helm echote: »Goldenes Horn, Hagia Sophia, ja, darauf freue ich mich auch.« Versonnen schaute er Eva an: »Vor allem, Eva, weil ich mich an dich erinnern werde.«

»An mich erinnerst du dich da? Lieb von dir! Aber - wieso ...?«

»Ganz einfach: Ich werde daran denken, wie schön es wäre, in deiner Begleitung das Tor der Weisheit zu durchschreiten.« - Eva schüttelte verständnislos den Kopf.

»Nur ein Wortspiel«, lachte er: »Mit Eva-Sophia durch die Hagia Sophia!« - Er wusste nur zu gut, dass er damit einen neuen und sehr scharfen Pfeil aus dem Köcher geholt hatte, denn sie hasste ihren Passvornamen geradezu. »Kennen Sie ihn eigentlich, ihren kompletten Vornamen?«, fragte er den Dicken, der gelangweilt zuhörte. »Eva-Sophia, Eva die Weise? Ist doch eine hübsche Kombination, oder nicht?« Er blickte zu seiner Exfreundin hinüber. Deren Gesicht schien in Eiseskälte erstarrt. Schlagartig erkannte er, dass er sie in eben diesem Moment endgültig verloren hatte. Die letzte Brücke zwischen ihnen brannte lichterloh, aber noch immer trieb ihn kalte, berserkerhafte Zerstörungswut: »Ich habe nie verstanden, meine Liebe, dass du diesen hübschen Namen nicht mochtest - ich fand ihn sehr stilvoll - und passend, für dich: Eva, die Weise ...!«

Ihre Augen schleuderten Blitze: »Ich habe es dir mindestens dreimal erklärt, warum.« Der Trotz in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Helm dachte nicht daran, sie zu schonen: »Ach, ja, du meintest, dieser Name würde dich an jene berüchtigten Tage im Juni erinnern, die der Volksmund ‚Kalte Sophie‘ nennt. Verständlich, welche Frau möchte das schon sein, eine kalte Sophie! Du hast es ja immer heiß gemocht, im Juni, und auch sonst!«

Eva lachte auf, aber es klang bitter: »Deinen Kommentar finde ich ziemlich geschmacklos. Soll das ein Witz sein?«

»Aber nein, keine Spur!« Sarkastisch fügte er hinzu: »Ich glaube, wir hatten das nette Gespräch über dieses Thema hier im englischen Garten, am Hesseloher See, letzten Sommer! Ziemlich heiß wars - wettermäßig und auch sonst ...!« Die Stimmung am Tisch war schlagartig auf den absoluten Nullpunkt gesunken, aber es machte ihm nichts mehr aus. Im Gegenteil, er hatte es gewollt, genau so gewollt! Er deutete ein Gähnen an, gab vor, hundemüde zu sein und erhob sich. Indem er Evas große Augen, Zeichen ihrer Irritation, souverän ignorierte, dankte er ihr für die Einladung - zu diesem netten Abend, wie er mit mokantem Lächeln hinzufügte, und verabschiedete sich mit betonter Förmlichkeit. Er konnte es sich nicht verkneifen, einen letzten Schlag zu landen und wünschte Donath viel Glück für seine weiteren Aktivitäten - in allen nur erdenklichen Sammelbereichen, wobei er zunächst ihn, dann Eva anblickte und vieldeutig nickte. In der Tür drehte er sich nochmals um und winkte - ein Abgang, den er in seiner spöttischen Theatralik selbst höchst bühnenreif fand. Dem Piccolo drückte er im Vorübergehen einen größeren Schein in die Hand - für Sherry und Tokajer.

Draußen war es warm geworden, ein typisch Münchner Föhn hatte eingesetzt. Helm atmete tief durch - er fühlte sich auf merkwürdige Weise erleichtert. Trotzdem - als er gegen Mitternacht in seinem Hotelzimmer anlangte, übermannte ihn plötzlich kalte Wut . Er riss sich Evas Krawatte vom Hals und warf sie in den Papierkorb - ein beinahe symbolischer Akt, mit dem das Kapitel München für ihn endgültig abgehakt war!