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Der erste Roman aus der Welt von Faar folgt Harmis, Gor und Alix hinein in die Tiefen unter Alaris. Alaris, die Hauptstadt des Reiches, hat ihren einstigen Glanz eingebüßt – statt Gold und Geschmeiden sind in den Straßen nun stählerne Klingen zu Hause. Ein Mörder geht in den Straßen von Alaris seinem blutigen Handwerk nach. Der junge Kartograf Harmis, der unsterbliche Seelenkrieger Gor und Alix, die Frau ohne Erinnerung, jagen ihm hinterher. Steckt die Bruderschaft hinter den Morden? Oder die verhassten Meermenschen? Schon bald stellen sie fest, dass die wahnsinnigen Morde nur Teil eines viel größeren Plans sind. Das Schicksal der ganzen Stadt steht auf dem Spiel. Nominiert für die Longlist des Seraphs 2017.
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Seitenzahl: 443
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FAAR
DAS VERSINKENDE KÖNIGREICH
DIE ASCHESTADT
CHRISTIAN GÜNTHER
© 2016 Amrûn Verlag
Jürgen Eglseer, Traunstein
Lektorat und Korrektorat: Lektorat Rohlmann & Engels lektorat-rohlmann-engels.comUmschlaggestaltung: Atelier Tag 1atelier.tag-eins.de
ISBN – 978-3-95869-256-5
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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1 16
INHALT
1 – HYRON
2 – EINE UNBEKANNTE
3 – HARMIS
4 – MALBIOL
5 – JARNE
6 – HARMIS
7 – USINDE
8 – HYRON
9 – HARMIS
10 – GOR
11 – HARMIS
12 – HYRON
13 – HARMIS
14 – HARMIS
15 – GOR
16 – HARMIS
17 – HYRON
18 – HARMIS
19 – HYRON
20 – GOR
21 – HARMIS
22 – HARMIS
23 – HYRON
24 – HARMIS
25 – GOR
26 – GOR
27 – HARMIS
28 – ARN
29 – HARMIS
30 – GOR
31 – HARMIS
32 – HARMIS
33 – ALIX
34 – ARN
35 – HARMIS
36 – USINDE
37 – HYRON
38 – HARMIS
39 – ERON
40 – ARN
41 – HARMIS
42 – ALIX
43 – ARN
44 – HYRON
45 – HYRON
46 – ALIX
47 – GOR
48 – ALIX
49 – HARMIS
50 – ALIX
51 – HARMIS
52 – GOR
53 – HYRON
54 – HYRON
55 – ALIX
56 – HARMIS
57 – JUUN
58 – HARMIS
59 – CORMAR
1 – HYRON
Der Himmel über der Küste hatte die Farbe von flüssigem Blei.
Hundert Schritt vor den Klippen erhoben sich vier mächtige Pfeiler aus dem Meer. Darauf ruhte ein Käfig, aus breiten Bohlen gezimmert und mit dicken Tauen festgezurrt. Am Boden lag ein Gefangener und erwartete den Tod.
Hyron schreckte auf, als etwas unter seinem Käfig dumpf gegen das Holz schlug, ein Zittern durchlief das Gerüst. Er kroch über die rohen Stämme des Bodens, klammerte sich an das feuchte Gitter und spähte in die grauen Nebelschwaden. Salz brannte in kleinen Wunden an seinen Händen. Unten schälte sich ein Schemen aus dem Dunst. Beim Blick auf die plätschernden Wellen wurde Hyron schwindelig, der Wind schmerzte in seinen Ohren und biss eisig in die Haut. Er kniff kurz die Augen zusammen – auch sie brannten vom Salzwasser, weiße Sterne tanzten hinter seinen Lidern. Unten tasteten schlanke Hände an den Pfählen, eine graue Gestalt kletterte herauf, orangefarbene Streifen zeichneten ihre Haut. War das wieder einer dieser verfluchten Seemenschen? Er sah anders aus als Hyrons Peiniger – aber machte das einen Unterschied?
Instinktiv griff er nach dem Heft der Axt – vergebens. Sie war nicht da. Seine Hände waren zittrig, als sie wieder das Gitter umklammerten. Er wollte etwas rufen, doch nur ein Krächzen entrang sich seiner Kehle und wurde vom Wind fortgerissen. Verfluchter Bastard, geh dahin zurück, wo du herkommst! Ins Wasser mit dir! Lass mich in Frieden sterben.
Der Fremde erklomm jetzt schnell die Pfeiler, auf denen Hyrons Käfig ruhte – glitschiger Tang und scharfe Muscheln hielten ihn nicht auf. Der Söldnerhauptmann wich zurück, griff nach dem Seilstück, das er wie einen Schatz hütete. Er hatte es bei seinen früheren Ausbruchsversuchen von den Holzgittern gelöst – zu Beginn seiner Gefangenschaft, als er, noch bei Kräften, in seinem Käfig gewütet hatte wie ein verwundetes Tier. Die Flucht war ihm dennoch nicht gelungen.
Er wickelte die Enden des zerfransten Seilstücks um seine Hände, stolze Pranken, die jetzt aufgeschwemmt und bleich waren vom allgegenwärtigen Wasser. Bei jeder Flut brachen sich die Wellen an den dicken Holzbohlen. Hyron hatte zunächst versucht, sich an den Gittern hochzuziehen, um dem kalten Wasser zu entgehen, doch das hatte er schnell aufgeben müssen. Inzwischen war er so entkräftet – und hoffnungslos -, dass er nur noch auf dem rauen Holz lag und das Meer über sich hinwegschwappen ließ. Die Wellen zogen und zerrten an ihm, Gischt sprühte ihm ins Gesicht. Der Käfig war so konstruiert, dass der Insasse nicht ertrinken musste. Er war nur immer wieder der eisigen Flut ausgesetzt, um kurz darauf salzverkrustet und durchnässt im kalten Wind zu liegen, der von der See her wehte. Letztendlich würde der Gefangene qualvoll verdursten.
Doch nun wähnte Hyron einen Feind vor sich, gegen den er kämpfen konnte, obwohl es ihm schwerfiel, seinen eigenen, erbärmlichen Zustand zu vergessen.
Diese verdammten Kreaturen!
Hatten ihn und seinen Trupp überrascht, als sie die Ruine auf den Klippen durchsuchten. Es war kaum zu einem richtigen Kampf gekommen. Die Meerwesen waren im Schutze des Nebels über die Felsen geklettert und hatten seine Söldner einen nach dem anderen außer Gefecht gesetzt. Hyron hatten sie bewusstlos in den Käfig geschafft und zurückgelassen. Als er erwacht war, vor wie vielen Stunden vermochte er nicht mehr zu sagen, hatte er um sich herum nur Nebel und Wasser gesehen – selbst die Klippen waren vom Dunst verschluckt worden.
Zwei Nächte hatte er inzwischen hier verbracht, und er wusste nicht, ob er eine dritte überstehen würde.
Die Aussicht auf einen Feind, der sich in den Käfig wagte, wirkte gegen die Taubheit in seinen Gliedern, die von der Kälte fast steif geworden waren. Sollte er jemals hier herauskommen, würde er wahrscheinlich herumkriechen wie ein gichtkranker Greis.
Er hustete – eine schwere Erkältung kam noch dazu. Hyron versuchte trotzdem, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, und wischte sich mit der Hand die Gischt vom Gesicht. Entschlossen griff er das Seil fester und erwartete den Eindringling.
Inzwischen hatte dieser das Gerüst erklommen und spähte über die Kante des Bodens in den Käfig. Eine hässliche Fratze, haarlos, gemustert in Grau und Orange, mit eindeutigen Zügen eines der Meeresbewohner. Trotzdem wirkte sie eher wie das Gesicht eines Menschen, der auf bizarre Weise entstellt war. Übergroße, gelbe Augen fixierten Hyron. Grinste der Fremdling, als er das kümmerliche Seil in Hyrons Händen erblickte? Spitze Zähne zeigten sich zwischen den schmalen Lippen. Er legte einen Finger an den Mund, blasse Schwimmhäute waren an der feingliedrigen Hand zu erkennen.
Mit einem behänden Sprung schwang sich der Meermensch auf den Rand der Plattform und machte sich an den Tauen zu schaffen, die den Käfig zusammenhielten. Hyron zögerte – wenn der andere einer von seinen Peinigern war, warum versuchte er dann, den Käfig aufzubrechen? Wollten sie ihn befreien? Hatten sie sich eine neue Teufelei ausgedacht? Gnade erwartete er nicht.
Dennoch – die dünnen Hände arbeiteten flink, kratzten Schlick und Tang beiseite, brachen Krusten und legten die Seile frei, um sie gleich darauf mit einer Klinge zu durchtrennen.
Hyron ließ den anderen nicht aus den Augen, doch der beachtete ihn nicht, arbeitete rasch und konzentriert. Schon bald hatte er den ersten Balken gelöst, griff das rutschende Holz und warf es auf den Boden, um gleich darauf den nächsten zu lösen. So sammelte er drei der Balken in Hyrons enger Zelle und schuf zugleich eine Öffnung. Noch ein paar Hölzer mehr, bis der Gefangene die Zelle verlassen konnte.
Der Söldnerhauptmann biss die Zähne zusammen, erhob sich und straffte das Seil zwischen seinen Fäusten. Er machte einen Schritt vorwärts, taumelte kurz, bis er sein Gleichgewicht wiederfand. Abermals tanzten ihm Sterne vor den Augen. Der Seemensch drehte sich wie beiläufig um, betrachtete ihn einen Moment lang kritisch aus seinen großen Augen. Dann wandte er sich wieder ab, ohne Hyron weiter zu beachten, und setzte seine Arbeit am Käfig unbeirrt fort. Hyron sank zurück auf den Boden.
Er sah sich um. Zeigten sich noch mehr solcher rätselhaften Wesen? Unter den grünen Wellen huschten Schatten entlang. Hyron vermochte nicht zu sagen, ob sich dort Kreaturen bewegten oder seine Augen ihm nur einen Streich spielten. Zu vieles hatte er in den letzten Tagen schon zu sehen geglaubt. Dichte Wolken verbargen die Sonne und warfen eisigen Regen auf das Meer. Möwen hatten sich kreischend auf dem Dach des Käfigs niedergelassen, unbeeindruckt von der Anwesenheit des Meermenschen oder des Gefangenen. Er legte das Seilstück beiseite und versuchte, mit den Händen ein wenig vom Regen aufzufangen. Die Beute reichte nicht zu viel mehr, als sich die aufgesprungenen Lippen damit einzureiben, aber immerhin konnte er so die Salzkrusten ein wenig auflösen. Er fühlte sich hundeelend – sein Magen schmerzte, seine Kehle war ausgedörrt.
Der Fremde unterbrach die Arbeit am Gitter, griff an seinen Gürtel und warf Hyron eine lederne Trinkflasche zu. Fast wäre sie ihm entglitten und ins Meer gerutscht, doch im letzten Moment bekam er sie zu fassen. Er fixierte den anderen mit festem Blick – konnte er ihm trauen? Mit einem Schulterzucken wischte er seine Bedenken beiseite und öffnete die Flasche. Hustend spuckte er die ersten, gierigen Schlucke auf den Boden, dann trank er vorsichtiger.
Der Fischmensch sah ihn an und lächelte, was mit seinen spitzen Zähnen eher wie das drohende Zähnefletschen eines Raubtiers wirkte.
Hyron hob die Flasche, als stieße er in einem Gasthaus mit einem alten Bekannten an, und lachte krächzend. »Auf die Freiheit!«, rief er. Inzwischen hatte sein Besucher weitere Stangen entfernt – der Käfig lag nun offen, keine Barriere trennte die beiden mehr.
Ungerührt fuhr der Meermensch mit seiner Arbeit fort, band die gelösten Hölzer mit den nun herumliegenden Seilstücken zu einem Bündel zusammen. Bedeutete Hyron, näher zu kommen.
Der kroch vorsichtig zu ihm. Das Maul des Retters öffnete sich. Mit seltsam klickenden Lauten sprach er: »Syuk«, und deutete auf sich selbst.
Hyron nickte zögernd und nannte seinen eigenen Namen. Das Wesen vermochte also zu sprechen – das hatte er noch bei keiner der Kreaturen erlebt. Bisher hatte er sie immer nur mit dem Blatt seiner Axt empfangen, was ihnen bizarre Laute des Entsetzens entlockt hatte.
Das Bündel Holzstämme klatschte unten ins Wasser, der Fischmensch sprang hinterher. Hyron kroch weiter zu der neu entstandenen Öffnung und zwängte sich hindurch. Er würde schwimmen müssen.
Im offenen Meer. Ihm graute vor der Vorstellung, doch noch schlimmer war die Aussicht, hier in diesem Käfig elend zu verdursten, zerdrückt von der eisigen Faust des Ozeans.
Keuchend kletterte er an dem Pfahl hinab und riss sich die Hände an Muschelrändern auf. Als seine Füße bereits das Wasser berührten, zögerte er, wollte den fest im Boden verankerten Pfahl nicht loslassen. Vor ihm erstreckte sich endlose Weite, das Meer, konturenlos und finster, darunter unergründliche Tiefen. Noch während Hyron überlegte, rutschten seine Hände am nassen Tang ab und er sank entkräftet ins Wasser. Sein Körper war Kälte gewohnt – doch als er in die Wellen glitt, schien er augenblicklich zu Eis zu gefrieren. Unfähig sich zu bewegen, sank Hyron sofort in die Tiefe, schluckte Salzwasser. Ein Arm packte ihn, zog ihn ruckartig wieder nach oben. Syuk presste Hyron die zusammengebundenen Balken gegen die Brust, bis er zupackte und sich daran klammerte. Das Holz hielt ihn mehr schlecht als recht über Wasser – er keuchte, hustete, spie aus. Panik wallte auf, er begann, mit den Beinen zu strampeln. Die Hand des Fischmenschen löste sich von Hyrons Arm, er tauchte unter und schwamm ein Stück voraus.
Hyron versuchte, sich nur auf das Holz unter seinen Fingern und die Bewegung seiner Beine zu konzentrieren. Er zappelte wie ein Frosch – was für eine entwürdigende Körperhaltung! Doch Hyron war Söldner genug, dass er seine Würde problemlos vergessen konnte, wenn es nötig war. Er blinzelte Gischttropfen fort, die ihm in den Augen brannten, und hielt den Blick auf die Klippen gerichtet. Sie waren während seiner Gefangenschaft immer in Sichtweite geblieben – auch das gehörte sicher zur Folter dazu: die Rettung so nah, aber unerreichbar. Mühsam kam er vorwärts. Wellen schlugen über ihm zusammen, er schluckte Wasser und hustete wieder. Die Strömung zerrte an seinem geschwächten Körper, doch die auflaufende Flut trug ihn dem Strand entgegen. Was wohl aus den anderen geworden war? War sein Söldnertrupp tot? Die Söhne der Schande vernichtet, ihre Taten aus der Geschichte des Landes getilgt? Waren sie in ähnlichen Gefängnissen gelandet wie er? Manchmal, wenn der Nebel vom Sturm zerrissen worden war, hatte er die Konturen weiterer Käfige erkennen können, vor der Küste verteilt wie Wachtürme.
Sein Befreier tauchte auf, schwamm ihm entgegen und deutete in Richtung Strand. Hyron suchte das Ufer ab, bemerkte dann die dunklen Schemen, die sich auf halbem Wege dorthin zwischen den Wellen bewegten. Meermenschen. Ihre Speere mit den gebogenen Klingen aus Knochen waren deutlich zu erkennen. Diese Waffen waren am grausamsten, wenn sie splitterten und sich die Fragmente nicht mehr aus dem Körper entfernen ließen. Er hatte das während seiner Zeit bei der Stadtwache erlebt, als Meermenschen noch hauptsächlich in Legenden und Wirtshaus-Geschichten aufgetaucht waren. Ein junger Kerl war in ein Scharmützel geraten, Hyron hatte ihn gemeinsam mit einem anderen Wachsoldaten in ein Hospital gebracht. Als er den Priestern die Waffe gezeigt hatte, die den Burschen verletzt hatte – ein geborstener Dolch aus Fischbein – hatten sie ihn auf der Stelle getötet. Zu groß war die Angst davor gewesen, dass er sich veränderte. Wurde wie sie, ein Sklave der See. Grauenvolle Geschichten kannte man eine Menge, aber am liebsten sprachen die meisten Menschen gar nicht von ihnen. Hyron spie aus, das Salzwasser brannte ihm in den Augen, sein Blick war vernebelt. Fand dann die Umrisse wieder, Meermenschen, Speere.
War seine Flucht also nicht unbemerkt geblieben? Er fühlte sich so hilflos im Wasser. Die muskulösen Arme, die mächtigen Schultern, alles nutzlos, während er sich an verrottenden Holzbalken festklammerte. Er hatte das Gefühl, nicht vorwärtszukommen. Die Brandung zog ihn an den Beinen immer wieder hinaus aufs Meer. Stehend, auf festem Grund, mit einer Klinge in der Hand, hätte er den verfluchten Missgeburten den Garaus gemacht. Grimmig erinnerte er sich an den Kampf auf den Klippen. Wie hatten sie den nur verlieren können? Sein Begleiter verschwand wieder unter der Wasseroberfläche, tauchte den Feinden entgegen.
Hyron konnte vier Meermenschen erkennen, deren Köpfe aus dem Wasser ragten und immer wieder in den Wellenkämmen verschwanden. Als die nächste Welle brach, waren nur noch zwei der Meerwesen zu sehen. Im nächsten Moment tauchte hinter ihnen der orange gestreifte Schädel von Syuk auf. Er attackierte zwei Wachen gleichzeitig und verschwand mit ihnen in schäumendem Wasser.
Hyron kämpfte weiter gegen die Unterströmung an, die an ihm zerrte, als sei der Ozean ein Tier, das ihn in seinem Maul verschwinden lassen wollte. Doch seine Beine wurden immer schwerer, die Oberschenkel brannten. Syuk tauchte wieder auf und kämpfte noch immer mit einem der Wächter.
Sein Gegner versuchte seinen Speer einzusetzen, doch Syuk wich geschickt aus, tauchte immer wieder darunter weg. Es gelang ihm jedoch nicht, dem anderen Arm des Feindes zu entgehen. Dieser endete in wirbelnden Zotten, wie Fangarme, die nach ihm griffen und sich um seinen Hals schlangen. Die beiden versanken. Stoisch warfen sich die Wellen weiter dem Strand entgegen, während die Kämpfenden unsichtbar blieben.
Hyron spürte seine Beine kaum noch. Überall konnten weitere dieser grässlichen Gestalten lauern, jeden Moment konnten sie ihn packen und in die Tiefe ziehen. Etwas streifte sein Bein. Hyron bemühte sich, tief und gleichmäßig zu atmen und die Panik zu unterdrücken.
Das Ufer – er musste es erreichen. Wo war Syuk? Ein Licht wurde sichtbar am Fuß der Klippen. Ein Signalfeuer?
Die Wellen warfen ihm einen dunklen Schemen entgegen – bleiche und ausdruckslose Augen starrten ins Nichts, bevor der tote Meermensch langsam versank. Hyron verlor die Küste aus den Augen. Das Wasser warf ihn herum, Wellen trugen ihn aufwärts, um ihn dann in ihren Tälern zu verschlingen und wieder auszuspeien. Er schluckte Salzwasser, würgte.
Endlich – diesen Augenblick würde er niemals vergessen – schabten Hyrons Knie auf Kies. Sein linkes Schienbein riss an einem Felsen entlang, der Schmerz trieb die Taubheit aus den Beinen. Er rappelte sich auf, ließ das Holz achtlos zurück, taumelte, fiel, stand auf, entkam den Wellen. Der Strand unter seinen Füßen. Neben ihm glitt Syuk wie ein Schatten aus dem Wasser. Das Orange seiner Streifen leuchtete. Er deutete auf das Feuer.
Atemlos stolperte Hyron über den groben Sand, Syuk neben ihm lief mühelos, er hatte den Kampf ohne Verletzungen überstanden. Im Alleingang hatte sein Befreier vier Meermenschen besiegt, ohne Blessuren davonzutragen. Bemerkenswert.
Jenseits des Strandes stapften sie durch hohes Gras, erreichten ein Gehölz aus dürren Tannen, das mit tausend Nadeln nach ihnen stach, während sie sich durch die störrischen Äste drängten. Hyron genoss den Schmerz auf seiner unterkühlten Haut, auf der er bis vor Kurzem kaum mehr etwas gespürt hatte. Er blickte sich zum Strand um – das Meer war schon fast in den Nebeln verschwunden.
Syuk führte ihn durch das kleine Waldstück hindurch. Auf einem kaum sichtbaren Trampelpfad erreichten sie den Fuß der Klippenlandschaft dahinter. Der helle Fels reflektierte den Schein der Flammen des Feuers. War das nicht viel zu auffällig und würde ihre Feinde zu ihnen führen?
Hyron bemerkte, dass Syuk nicht direkt auf das Feuer zuging, sondern es in einem Bogen umkreiste. Der Meermensch bedeutete ihm zu warten. Hyron gehorchte. Er war es nicht gewohnt, Anweisungen entgegenzunehmen, aber jetzt ließ er es zu – seine Situation schien ihm nicht geeignet für Machtspiele. Er war entkräftet und unbewaffnet, der Mann aus den Fluten hingegen war ein guter Kämpfer und unverletzt. Es hatte keinen Zweck, jetzt seinen Führungsanspruch durchzusetzen. Obwohl ihm der Gedanke, den anderen herauszufordern, wie von selbst in den Sinn kam. Er musste grinsen. Da war er wieder, der alte Söldneranführer mit dem stets köchelnden Blut. Es war den elenden Meereskreaturen nicht gelungen, diese Flamme zu löschen, auch wenn sie es noch so sehr versucht hatten. Er hockte sich in den Schatten eines Felsens und wartete. Er konnte Syuk sehen, wie er flink über die schroffen Felsen huschte und sich dem Feuer näherte. Hyron hatte keine direkte Sicht auf die Feuerstelle, aber der Wind trug die eigenartigen Klicklaute herüber, mit denen sich diese Biester verständigten. Das waren Fischmenschen dort am Feuer! Was hatte Syuk vor? Vielleicht waren die Fischmenschen untereinander ebenso verfeindet wie die Menschen. War er, der stolze Söldner, nur ein Gefangener, der zwischen unterschiedlichen Fraktionen der Herrscher des Meeres herumgeschoben wurde? Wer konnte schon sagen, welche Beweggründe diese Fremden antrieben? Er grübelte weiter – besser, er blieb auf der Hut und ließ sich nicht vor lauter Dankbarkeit den Verstand vernebeln.
Dann verstummten die Stimmen, ein Gurgeln war zu hören, dumpfes Aufschlagen im Sand. Kurz darauf kam Syuk um den Felsen herumgelaufen, hinter dem Hyron sich verbarg. »Komm«, zischte er und führte ihn an der Feuerstelle vorbei, tiefer zwischen die Felsen. Im Vorbeigehen erkannte Hyron schemenhaft die Körper von zwei der widerlichen Fischmenschen. Seltsame Gesichter, wulstige Auswüchse, Münder wie Schnäbel. Und diese riesigen Augen! Ihre Körper wirkten auf den ersten Blick wie die von Menschen, aber die Proportionen stimmten nicht. Sie waren zu schmal, die Beine zu lang und dünn, Flossen wuchsen an Unterarmen und Beinen. Sein Retter hatte zwei weitere Feinde getötet – wann wären es genug, um den nagenden Zweifel in Hyrons Innerem zu zerstreuen?
»Eine Falle. Sie sichern sich ab und glauben, wer aus einem Käfig flieht, läuft zu Feuer und Wärme.« Syuks Aussprache war wirklich gewöhnungsbedürftig, doch Hyron verstand und nickte. »Wir lassen es brennen?«
»Ja. Vielleicht sind noch andere da, die es beobachten. Komm, wir müssen hier entlang.«
Wortlos gingen sie weiter, zwischen den Felsen stapften sie durch den knochenbleichen Sand. Hyron musste dem messerscharfen Strandgras ausweichen, das in die nackten Beine schnitt. Er spürte, wie sein Gang unsicher wurde, einmal taumelte er und musste von Syuk gestützt werden.
Schließlich gelangten sie in eine Höhle, deren Eingang vom Meer verborgen und windgeschützt lag. Syuk deutete auf einen Lagerplatz an einer der Wände. Schnell und geschickt entzündete der Meermensch ein Feuer, während Hyron sich wie ein altes Mütterchen in Decken hüllte und an das Feuer setzte. Er schob alle Zweifel an Syuk beiseite und griff nach den getrockneten Früchten und dem Tonkrug mit Wasser, die ebenfalls bereitstanden. Der Kerl hatte wirklich an alles gedacht.
Was hat er nur vor?, fragte sich Hyron, während er die Wärme durch seinen Körper strömen ließ. Überall kribbelte und juckte es wie verrückt. Nachdem er getrunken hatte, lehnte er sich zurück. Er sah den Umriss seines Retters im Höhleneingang stehen. Von der Statur her war nicht zu erkennen, ob er nicht doch vielleicht ein Mensch war – die Ähnlichkeit war groß. Hyron fielen die Augen zu und er sank in einen unruhigen Schlummer. Als Letztes sah er, wie Syuk sich noch einmal zu ihm umblickte und verschwand.
Als Hyron die verkrusteten Augen öffnete, war Syuk offenbar gerade zurückgekehrt. Er war triefnass und machte sich am heruntergebrannten Feuer zu schaffen. Und er war nicht allein gekommen. Auf der anderen Seite der Feuerstelle lag jemand, gehüllt in Decken aus Syuks Beständen. Hyron richtete sich auf und versuchte zu erkennen, wer dort lag.
Syuk bemerkte, dass Hyron zu sich gekommen war, und reichte ihm einen frischen Krug mit Wasser. Hyron ergriff ihn, roch skeptisch daran, nahm eine abgestandene Note wahr. Doch er kümmerte sich nicht weiter darum, leerte ihn langsam, aber stetig. Wasser troff ihm durch den Bart. Er beobachtete weiter den Körper unter der Decke. Syuk hatte das Feuer zum Lodern gebracht, das unstete Licht der Flammen fiel auf eine Strähne schwarzen Haares. »Sirra!«, rief Hyron aus, befreite sich aus seinen Decken und kroch zu dem Kopf hinüber, der dort im Halbdunkel aus der Decke schaute. »Sirra«, sagte er, leiser jetzt, und drückte ihre Schulter. Sie stöhnte unwillig auf, wälzte sich zur Seite.
»Sie hat Fieber. Muss schlafen«, merkte Syuk an.
»Was bist du – ein Arzt?«, blaffte Hyron ihn an.
Syuk ließ nur ein Grinsen über sein Gesicht huschen, das seine spitzen Zähne freilegte, zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. »Wenn du wieder bei Kräften bist«, sagte er mit dem Rücken zu ihm, »willst du vielleicht draußen nach deinen Leuten sehen. Zwei Mann konnte ich noch retten. Einer von ihnen scheint darüber aber gar nicht so erfreut zu sein.« Hyron blickte zum Höhleneingang, konnte aber nur einige Büschel Dünengras sehen, die im Wind wogten. Mühsam erhob er sich, durchwühlte einen Haufen mit Kleidung, der neben dem Feuer lag, und zog sich Hose und Hemd eines Wachmanns über. Syuk hatte also noch mehr Leute seines Trupps aus den Käfigen gerettet? Der Söldnerführer war froh, dass er nicht der einzige Überlebende war – wie hätte er mit der Schmach leben sollen? Er hatte als Anführer seines Trupps versagt. Zumindest hatte er sie so nicht alle in den Tod geführt.
Er schleppte sich zum Ausgang, wobei er jeden Knochen im Leib spürte. Der Schlaf hatte ihm gutgetan, doch richtig erholt war er nach der langen Tortur in den Fluten des Meeres noch lange nicht. Hyron trat nach draußen, stemmte sich gegen den Wind und atmete durch. Er spürte den tiefen, vertrauten Hass in sich zurückkehren, als sein Blick über die Brandung wanderte, die grässlichen Wellen, in denen sich seine Peiniger verbargen. Er hatte sie schon immer gehasst, doch mit jeder einzelnen Welle, die in dem verfluchten Käfig über ihn hinweg geschwappt war, war der Hass genährt worden.
In einer windgeschützten Nische zwischen einigen Felsen sah er zwei Gestalten hocken. Einer von ihnen war notdürftig in eine von Syuks Decken eingehüllt, der andere so nackt, wie er aus dem Käfig gekommen sein musste. Hyron sah die blutigen Striemen, die seine Handgelenke und seinen Rücken überzogen. Arn, der Mann mit der Decke, stand auf, als er Hyron erblickte. Er überragte den Anführer um einen halben Kopf, war ebenso breitschultrig und narbenübersät. Die zittrigen Hände, die er seinem Anführer entgegenstreckte, zeigten, dass er fror.
»Gut, euch zu sehen«, begrüßte Hyron seine Männer. »Da drin ist ein Feuer.« Er deutete auf den Höhleneingang.
»Vielleicht kannst du ihm Vernunft beibringen«, entgegnete Arn und deutete missmutig auf Faust, der elend aussah.
»Was ist los, Faust? Hat er dich aus deinem Käfig befreit?«
Faust nickte.
»Und hat er dich bis ans Ufer gebracht?«
»Ja, verdammt.«
»Na also. Warum willst du dann nicht an sein Feuer kommen? Hätte er uns töten wollen, wäre das da draußen auf dem Meer einfacher gewesen.«
Jetzt meldete sich auch Faust mit schneidender Stimme zu Wort. »Ihr habt also schon Freundschaft geschlossen, ja?«, warf er Hyron an den Kopf. »Pass auf, was du sagst. Wo willst du denn sonst hin? Du hast ja nicht einmal eine Hose an.«
Arn spie aus. »Ich traue ihm auch nicht. Er riecht nach Fischmensch, wenn du mich fragst.«
»Aber offenbar gehört Syuk nicht zu denen. Warum hätte er uns sonst retten sollen?«
»Ich weiß nicht, wer oder was er ist. Aber er hat uns aus diesen Käfigen geholt. Und er hat ein Feuer, Wasser und was zu fressen. Im Moment ist er der beste Verbündete, den ich mir vorstellen kann. Was morgen ist, wird sich zeigen. Los jetzt, Faust, heb deinen Arsch aus dem Sand und beweg dich in die Höhle. Ich komme mir ja fast vor wie deine Mutter, wenn ich dir das sagen muss, aber hier draußen gehst du drauf, wenn du nackt im Wind hockst und dir die Eier vom Sand bürsten lässt.«
Zögerlich erhob sich Faust und schimpfte murmelnd vor sich hin, während die anderen bereits in Richtung Höhle gingen. Dort erwartete Syuk sie.
»Sollten wir nicht eine Wache aufstellen?«, fragte Hyron ihn, der sich über sich selbst ärgern konnte, weil er einfach so hier geschlafen hatte, ohne jede Absicherung.
Syuk schüttelte den Kopf. »Hierher kommen sie nicht. Sie fürchten die Geister aus den Schatten.« Er deutete in den rückwärtigen Bereich der Höhle, der sich im Dunkeln verlor.
Hyron blickte in die Schwärze. »Da geht es weiter?«
Syuk nickte. »Oben ist ein Schacht, er führt zu den Gräbern in den Klippen.«
»Da sind Gräber? Dann sind womöglich tatsächlich Geister in der Höhle?«
Syuk nickte.
Das gefiel Hyron gar nicht.
»Und die Sachen – wo hast du die alle her?«
»Sie überfallen die Händlerzüge. Aber die meisten Waren werfen sie einfach in die Gräben und Wälder neben der Straße. Sie interessieren sich nicht für Beute.« Er zeigte wieder in die Dunkelheit hinter ihnen. »Über den Gräbern liegt die alte Festung. Wo eure Leute gefallen sind. Dort haben einige der Meermenschen ihr Lager aufgeschlagen. Eure Sachen sind wahrscheinlich noch dort.« Hyron nahm jetzt genauer in Augenschein, was der Fischmann alles herbeigeschafft hatte. Arn hockte sich derweil ans Feuer, während Faust die Höhle betrat und der wärmenden Kraft der Flammen nicht länger widerstehen konnte. Einige seiner Finger und Zehen wirkten bedrohlich blau, es blieb zu hoffen, dass sie ihm keinen davon abnehmen mussten.
Neben den Decken und einigen Tonkrügen mit Wasser und Bier hatte Syuk zwei Holzkisten herangeschafft, in denen sich versiegelte Tonschalen mit getrocknetem Obst und eingelegten Fleischstreifen stapelten. Hyron bemerkte, dass sich auf allen Kisten, Krügen und sogar auf den Decken dasselbe Symbol befand, eine Art Wappen, das mehrere Vögel im Flug darstellte. Nicht gerade einzigartig, etwas Ähnliches benutzte wohl jeder dritte Händler in Faar, dennoch erkannte Hyron es wieder. Es war das Zeichen von Karias, dem Händler, der ihn und die Söhne der Schande beauftragt hatte. Wie er feststellte, trug auch das Hemd, das er sich aus dem Kleiderhaufen gezogen hatte, sein Wappen. Seinetwegen waren sie hier, um die Küstenstraße zu sichern, um die Banden, die die Händler überfielen, ausfindig und unschädlich zu machen. Das wäre ihnen auch fast gelungen.
Die Meermenschen waren nachts gekommen und hatten den Händlerzug angegriffen. Die Söhne der Schande hatten sie zurückgeschlagen und bis in ihr Lager verfolgt. Ein Beobachtungsposten, eine alte Festung auf den Klippen. Dort waren Hyron und seine Leute in einen Hinterhalt geraten, hatten die Zahl ihrer Feinde unterschätzt. Fast wäre dies das Ende der Söhne der Schande gewesen. »Syuk?«, fragte Hyron. Syuk sah auf. Der Söldnerhauptmann zeigte in die Runde. »Sag – sind das hier alle?«
Syuk zögerte, als habe er nicht ganz verstanden, dann nickte er. »Alle aus den Käfigen, die noch lebten. Drei waren tot.«
Geerdes und Brool waren schon oben in der Festung gefallen, erinnerte Hyron sich.
Vier von neun. Weniger als die Hälfte seines Trupps hatte überlebt. Und sie waren kaum einsatzfähig. Dennoch mussten sie den Kampf weiterführen. Die Söhne durften nicht aufgeben. Niemals.
Er strich mit dem Daumen über das eingebrannte Wappen auf einem Tonkrug. Die Meermenschen hatten also die Wagen der Händler geplündert, nachdem sie seine Söldner in die Falle gelockt hatten und die Straße unbewacht war. Wahrscheinlich hatten sie niemanden entkommen lassen.
Hyron ärgerte sich am meisten darüber, sich den abstrusen Wünschen des Händlers gefügt zu haben. Posten zu beziehen in der Nähe einer Kreuzung, anstatt die Wagen von Wachen begleiten zu lassen. Vollkommen idiotisch, niemand konnte von einem Punkt aus die ganze Straße im Blick behalten. Fast hätte dieser Unfug das Ende seines Söldnertrupps bedeutet.
»Wir sind dir zu Dank verpflichtet, Syuk. Warum hast du das getan?«
Faust schnaubte auf der anderen Seite des Feuers. Hyron mahnte ihn mit einem strafenden Blick. Übertreib es nicht, Bursche.
Syuk starrte ins Feuer, wrang die Hände und zögerte. »Ich habe einen Wunsch. Jetzt, nachdem ich euch gerettet habe.«
Der Söldneranführer musterte ihn. »Und welcher ist das?«
»Wie viele deiner Leute sind gefallen? Die drei hier sind alle, die ich retten konnte.«
Hyron knirschte mit den Zähnen, versuchte sich an die Gesichter seiner toten Leute zu erinnern. Es fiel ihm schwer. »Wir waren zu neunt, als wir die Klippen erreichten. Fünf sind tot.«
Syuk blickte ihn unbewegt an, Hyron konnte in seinem fremdartigen Gesicht nicht lesen wie in dem eines Menschen. Er starrte einfach zurück, bis es ihm zu dumm wurde. »Was ist mit dir? Du bist also keiner von denen? Woher stammst du?« Er brannte jetzt darauf, die Geschichte dieses bizarren Mannes kennenzulernen. »Am Fuß der Berge lebt mein Volk in den ewigen Nebeln. Doch wir sind nur noch wenige. Die Salzwasserleute haben uns heimgesucht. Ich würde sogar behaupten, dass mein Hass auf sie dem deinen ebenbürtig ist.« Syuk schüttelte den Kopf und hob abwehrend die Hände. »Ich bin keiner von denen. Ich stamme aus den Wäldern des Nordens, nicht aus dem Ozean.« Seine Aussprache wurde immer deutlicher, als täte ihm die Übung des Sprechens gut. Inzwischen war er nicht schwerer zu verstehen als jemand aus Lygia, abgesehen von den ungewöhnlichen Klicklauten. »Mein Volk ist nicht sehr zahlreich, es lebte verborgen. In Frieden. Aber jetzt sind Wesen aus dem Meer gekommen. Sie verändern meine Brüder, sie machen sie zu Monstren.«
Hyron bemerkte, wie Arn ihn aufmerksam musterte, während Syuk sprach. Sirra atmete gleichmäßig und stieß ein leises Schnarchen aus. Sie bekam von alldem nichts mit. »Du suchst Vergeltung?«
Syuk grinste, seine spitzen Zähne und der flackernde Feuerschein ließen ihn wie ein wildes Tier erscheinen. »Ihr braucht Ersatz. Ich werde der erste neue Mann in eurer Truppe sein. Zusätzlich kann ich euch zu euren Waffen führen.« »Warum solltest du zu uns passen? Du bist ein guter Kämpfer, ja. Aber du bist kein Mensch, du kannst keine Stadt betreten, ohne Aufsehen zu erregen. Keine zwei Atemzüge würde es dauern, bis jemand die Bruderschaft ruft.«
»Ich würde wetten, dass jeder einzelne von euch Aufsehen erregt, wenn er durch die Straßen einer Stadt wandert. Ihr habt euch an mein Feuer gesetzt, von meinen Vorräten gegessen. Ihr seid Ausgestoßene. So wie ich. Ich bin nirgendwo daheim. Die Meermenschen hassen mich, ebenso wie die Menschen in den Städten und Dörfern. Und mein eigenes Volk …« Syuk schluckte deutlich sichtbar. »Lasst mich an eurer Seite kämpfen, gegen die Ungeheuer aus dem Meer, gegen das Fremde, das euch alle verändern kann. Ich sage euch: Dies ist nur der Anfang.«
Hyron saß lange schweigend da. Er blickte zu Arn, der ihn unbewegt musterte. Wenn der Krieger eine Meinung dazu hatte, so gab er sie nicht kund. Er konnte seinem Anführer diese Entscheidung nicht abnehmen. Wer mit den Söhnen der Schande kämpfen durfte, das entschied allein Hyron.
»Können wir durch die Grabhöhlen bis zur Festung hinauf gelangen?«, fragte er den Meermenschen.
Syuk blickte verwundert auf. »Wenn ihr schwindelfrei seid.«
Hyron atmete tief durch. »Komm mit uns und lass uns gemeinsam Rache nehmen. Wie es danach weitergeht, entscheiden wir später.«
Wenn Syuk enttäuscht von diesem Aufschub war, ließ er es sich nicht anmerken. Er nickte. Arn zeigte weiterhin keine Regung, Faust zog sich weiter in die Schatten zurück und grollte vor sich hin.
»Lass uns von dem eingelegten Fleisch essen und das Bier leeren. Wenn wir uns noch etwas ausgeruht haben, nehmen wir die Rache in Angriff.« Als Hyron sich zur Seite beugte, um sich einen Bierkrug zu greifen, schoss ein stechender Schmerz durch seinen Körper. Wie, um ihn daran zu erinnern, dass sie alle gerade erst dem Tod entronnen waren. »Vielleicht sollten wir es auch nicht überstürzen«, sagte er und zog den Korken aus dem Krug.
Nach einem kurzen, tiefen Schlaf weckte Syuk den Söldnerführer auf. »Komm, werfen wir einen Blick auf unseren Weg. Wir sollten nicht zu lange warten.« Hyron quälte sich hoch und folgte ihm.
Sie schlichen im Schutz der morgendlichen Dämmerung durch Felsen und Dünen, um einen Blick auf die Ruine zu werfen. Auf einem Klippenabschnitt, der etwas vorgelagert den Strand überragte, zeichneten sich die Überreste der alten Festung gegen den Himmel ab. Ein scharfer Wind trieb die Wolken in Fetzen darüber hinweg. Gras wogte, Möwen kreischten und schwärmten über den alten Mauern. Wahrscheinlich hatten sie sich längst über die Toten hergemacht, die dort nach dem Kampf zurückgeblieben waren, und stritten nun um die kümmerlichen Reste.
Unterhalb der Festung waren Öffnungen in der Felswand zu erkennen, davor Stufen und Wege in die Klippen geschlagen.
Syuk deutete darauf. »Dort entlang kommen wir ungesehen zur Festung.«
»Bist du sicher, dass sie noch da sind?«, fragte Hyron.
»Ja, sie wechseln sich regelmäßig ab und kehren ins Meer zurück. Ich glaube, sie können nur für begrenzte Zeit an Land sein. Siehst du?« Hyron kniff die Augen zusammen und spähte an den Felsen entlang. Er sah einen flinken Schatten, der die Steilwand hinabkletterte. Zorn wallte in ihm auf. Er ließ sich auf einen Fels sinken, die Hände auf die Oberschenkel gestützt. »Was treibt sie aus dem Wasser?«
»Vergeltung?«
»Wofür? Das Beben, bei dem das Land zerriss, war nicht von Menschen gemacht.«
»Im Süden, wo eure Stadt Kath an der Küste liegt, fahren wieder Fischer mit ihren Schiffen hinaus. Fangen Meermenschen.«
»Das ist mir neu. Bist du dort gewesen?«
»Nein, ich war noch nicht in der Nähe eurer Städte.«
»Warum kämpfen sie nicht dort und kommen stattdessen die Küste herauf?«
»Vielleicht ist es ihnen gleich. Ein Mensch so gut wie jeder andere. Sie machen keinen Unterschied.«
Hyron schüttelte den Kopf. »Noch dazu werden sie immer zahlreicher. Haben keine Scheu, hier ihre grausigen Käfige zu errichten, weil kein Mensch sich mehr hertraut.«
»Im Grunde gehört ihnen die Küste bereits.«
»So ist es.«
»Ich hörte von Priestern, die in eurem Land regieren. Können sie die Menschen vor der Bedrohung schützen?«
Hyron schnaubte. »Ja, die Bruderschaft. Sie stellen den großen Rat in Alaris. Ihre Mönche und Paladine setzen im Land die Gesetze durch, die der Rat erlässt.«
»Was ist mit eurem König?«
»Er schläft. Schon seit vielen Jahren.«
»Du meinst, er ist tot?«
»Er scheint gefangen zu sein, irgendwo zwischen dem Leben und dem Tode. Aber genug davon. Du sagst, sie sind da oben. Wir werden sie überraschen, wenn wir sie durch den Tunnel angreifen.« Er ballte die Faust. So viele Leute hatte er verloren. Am liebsten würde er jeden einzelnen dieser Eindringlinge zermalmen, durch die Fluten steigen wie ein zorniger Gott und sie bis auf den letzten kiemenatmenden Winzling ausrotten. Sie zogen sich von ihrem Aussichtspunkt zurück und machten sich auf den Weg zur Höhle.
Er beobachtete Syuk, während er hinter ihm durch die sandigen Felsen kletterte. Jedem Menschen, der ihn so gerettet hätte, der so entschlossen gegen die Meermenschen kämpfte, hätte er schneller vertraut. Doch dieser Syuk – wie weit ist es her mit seiner Loyalität? Wie viel Einfluss hat seine zweifelhafte Abstammung auf ihn?
Er betrachtete die orange gestreifte, schuppige Haut auf den Schultern, in denen kräftige Muskeln arbeiteten, während Syuk sich auf zwei aufragende Felsen stützte und in die sandige Kuhle darunter sprang. Als Kämpfer wäre er sicher wertvoll, aber ob Hyron den anderen Söhnen der Schande beibringen konnte, ihn in ihren Reihen zu akzeptieren? Doch alles Grübeln nutzte nichts, seine Truppe war dezimiert und jede Klinge willkommen. Bevor sie wieder in die Höhle traten, hielt Hyron Syuk am Arm zurück. Ihm fiel die kalte, schuppige Struktur der Haut unter seinen Fingerspitzen auf. »Und die Geister in den Gräbern?«, fragte er.
Syuk winkte ab. »Harmlos.«
Hyron hoffte, dass er recht behielt. Gegen Geister zu kämpfen, mochte er nicht. Er hatte lieber Gegner aus Fleisch und Blut. Wenn sie anderen Menschen begegneten, überlegte er weiter, würden sie Syuk verbergen müssen. Seine Haut, seine Augen – all das war viel zu fremdartig. Den Halbmenschen in eine Stadt zu bringen – er versuchte sich vorzustellen, gegen wie viele Gesetze der Bruderschaft er damit gleichzeitig verstieße.
Hyron beschloss, ein Auge auf Faust zu werfen, der würde die größten Probleme machen, was den Umgang mit Syuk anging. Der junge Bursche war heißblütig und hatte zudem die Regeln der Bruderschaft gut verinnerlicht. Eine unheilvolle Kombination. Zwar war er eingeschworenes Mitglied der Söhne der Schande, aber trotzdem ein Anhänger der Bruderschaft vom Goldenen See. Und deren Gesetze verbaten jeden Kontakt zu Fischmenschen, zu Fisch und sogar zu ungeweihtem Wasser. Hyron hoffte, dass die Treue zu den Söldnern bei dem jungen Burschen schwerer wog als das Festhalten an den Gesetzen.
Sirra war am Morgen zu sich gekommen und hatte den neuen Kameraden kritisch beäugt, aber nichts gesagt. Stattdessen hatte sie die Reste des eingelegten Fleisches verschlungen und schien inzwischen wieder alle Sinne beieinanderzuhaben.
So konnten sie durchaus einen Angriff wagen, fünf Kämpfer, von denen vier zwar nicht voll in Form waren, aber noch immer einen starken Trupp abgaben. Trotzdem brauchten sie Waffen – alles, was sie bei sich trugen, waren Äste, die sie als improvisierte Keulen verwenden konnten. Sie sahen aus wie Barbaren, die aus einer Höhle gekrochen kamen. Hyron lachte auf. »In Ordnung, lasst uns gehen.« Er sah seine Leute einen nach dem anderen an. Es war Zeit, sich auf den bevorstehenden Kampf einzuschwören. Hyron sprach ihren Schwur mit solch finsterem Blick, dass sich sein Zorn auf die anderen übertrug, ihren eigenen Hass auf die Feinde verstärkte, ihn befeuerte wie Scheite, die in eine gierige Glut geworfen wurden.
Seine Stimme donnerte durch die Höhle. »Wir ruhen erst, wenn das Blut auf dem Schwert …« Die anderen antworteten im Chor: »… das Blut eines Königs ist.«
Grimmig umfassten sie ihre Waffen und machten sich auf den Weg. Syuk, der unbewegt ihre kurze Einschwörung verfolgt hatte, ging voran, Faust bildete die Nachhut. Der Junge war noch immer ungehalten, ihm passte der neue Begleiter nicht. Hyron hoffte, dass er diese Wut im Kampf gut einsetzen konnte. Der Halbfischmensch hatte sich ein dickes Seilbündel über die Schulter geworfen und auch Arn eines gegeben – erstaunlich, was er alles aus den Trümmern der Händlerwagen geborgen hatte.
Syuk, der Einzige mit einer Klinge, führte sie den langsam ansteigenden Gang hinauf. Er hatte sein kurzes Schwert Hyron angeboten, dem es Syuks Ansicht nach als Anführer zustand, doch der hatte dankend abgelehnt. Dennoch hatte ihm die Geste gefallen – der Neue schien tatsächlich zu wissen, wie man sich bei den Söhnen der Schande zu verhalten hatte, und tat instinktiv das Richtige.
Der Weg lag unter einer Schicht Sand begraben und führte aufwärts. Bleich schimmerten Boden und Wände, weiter oben fiel durch einen Spalt Tageslicht in den Gang. Nach einem langen Aufstieg wand sich der Gang mehrfach, wurde breiter und mündete schließlich in einen weiteren, offensichtlich von Menschen bearbeiteten Flur. Hier lag weniger Sand am Boden und es war heller als während des Aufstiegs. In der Wand links von der Gruppe waren kleine Öffnungen durch den Fels getrieben worden. Die Luft war von feinem Nebel durchzogen, der sich vor dem Wind hierher gerettet hatte. Sonnenstrahlen ließen ihn leuchten. An der gegenüberliegenden Wand lagen in regelmäßigen Abständen Eingänge, hinter denen die Grabkammern befanden, die seit Jahrhunderten in den Felsen ruhten. Sie mussten sich weit oben in den Klippen befinden, dicht unter der Festung, in der sie ihre Gegner erwarteten. Syuk wurde langsamer und ging vorsichtig an der ersten Grabkammer vorbei. Als Hyron ihm folgte, konnte er im Halbdunkel schemenhaft einen offenen Sarkophag erkennen. Er meinte, dunkle Knochen ausmachen zu können, flirrende Luft, ein Glitzern. Syuk stieß ihm unsanft in die Seite. »Komm weiter«, zischte er. »Mit deiner Glotzerei weckst du ihn auf.« Hyron rieb sich mit einer raschen Bewegung übers Gesicht und nickte knapp. Verfluchte Geister. Fast hätte er wie ein Narr hier gestanden und in die Dunkelheit gestarrt, bis der Tote erwacht wäre und ihn zerrissen hätte.
Er eilte weiter und winkte auch seinen Leuten, zügig zu folgen. Sie passierten die nächsten Gräber. Faust blieb plötzlich stehen, spähte in die Dunkelheit einer der Kammern, so wie Hyron kurz zuvor. Der Anführer grunzte und wollte gerade auf seinen Mann losstürmen, da bückte der sich schnell, huschte in die Kammer und kam im nächsten Moment wieder heraus. In der Hand hielt er stolz seine Beute: ein verrostetes Schwert, dessen Klinge auf halber Länge abgebrochen war. Arn betrachtete die Waffe spöttisch, während Hyron dem Burschen eine verpassen wollte. Doch dann fiel sein Blick auf eine Bewegung hinter Faust, der ganz vertieft in die Bewunderung seines zweifelhaften Schatzes war. Hyron schubste Faust beiseite und hieb mit seinem Stock auf das Gerippe ein, das hinter dem Burschen aus dem Dunkel auftauchte. Braune Knochen, verwitterte Reste einer Rüstung darüber, im Schädel ein unirdisches Leuchten. Die Augen wie kleine Flammen. Zischend wich das Monster aus, doch Hyron war zu schnell für eine Kreatur, die gerade erst aus jahrzehntelangem Schlaf erwacht war – selbst in seinem Zustand und nur mit einem Knüppel bewaffnet. Er drosch auf sie ein, Knochen splitterten, Staub wallte auf, ein grausiges Geheul erklang und starb plötzlich wieder ab, als der Schädel zerbrach und das weiße Feuer darin erlosch.
Der Untote verging, ein schwaches Flimmern in der Luft war alles, was von seinem Dasein blieb. Abgesehen von dem Haufen seiner Überreste. Erstaunt betrachtete Hyron seinen Stock. Arn nickte anerkennend. »Mit dem Knüppel einen Untoten erlöst. Erstaunlich.«
Syuk hatte sich zu ihnen gesellt und betrachtete die braunen Knochen, die überall herumlagen. »Sie sind schwach. Sehr schwach.«
Zuerst wollte Hyron ihm reflexhaft widersprechen – wie konnte der Kerl es wagen, seinen Sieg zu schmälern? Doch er musste ihm recht geben, das war einfach gewesen. Ein wahrhaft unbedeutender Sieg über ein paar verfaulte Knochen. »Hoffen wir, dass wir sie nicht alle aufgeweckt haben.« Doch die Kälte, die sich in der Grabkammer breitmachte, ließ ihn wissen, dass diese Hoffnung vergebens war. Diese Kälte kam nicht allein vom Wind, der über das Meer gegen die Klippen peitschte. Die Luft vor Hyrons Augen flimmerte wie nach einem langen Marsch durch die Hitze einer Wüste.
»Achtung«, sagte er noch, doch die anderen hatten die Gefahr ebenfalls bemerkt. Etwa zehn Grabkammern hatte Hyron gezählt und aus mehreren kamen Skelette hervor, umweht von geisterhaften Lichtern. Braune Knochen in unstetem Licht, das Grinsen der Schädel starr. Die betäubende Wirkung ihrer Blicke durfte man nicht unterschätzen. Hyrons Taktik gegen solche Wesen war einfach: Sei schnell.
Die letzten Söhne der Schande fächerten sich auf, Syuk fügte sich nahtlos in ihre Formation ein. Gleichzeitig stürmten sie voran, attackierten den ersten Untoten von drei Seiten. Syuk gelang es sogar, mit einem gewagten Sprung in den Rücken des Skeletts zu gelangen und ihm mit einem schnellen Schnitt die Wirbelsäule zu durchtrennen. Hinter ihm tauchte ein großer Schatten auf. Syuk wirbelte herum, Hyron stürmte an ihm vorbei. Ein wahrer Hüne schälte sich aus dem Dunkel seiner Grabkammer, auf seinem Schädel thronte eine schlichte Krone. Syuk sprang Hyron zur Seite, als der Skelettkönig sein Schwert hob, und parierte dessen Schlag. Die Wucht der Klinge zwang ihn in die Knie. Als er sich abstützte, verhedderte sich seine Hand in dem Seilbündel, das er um seinen Körper geschlungen hatte. Während er sich befreite, schwang der Riese das Schwert in einem weiten Bogen. Hyron rammte ihn in die Seite, der Riese schwankte. Dennoch führte er seinen Schlag weiter. An seinem Arm riss etwas, die Klinge schlug gegen die Wand. Schnell zog der Untote die Waffe wieder zurück und holte erneut aus. Die anderen kamen jetzt heran. Das Schwert des Skelettkönigs schwang durch die Luft, unter ihm hockte Syuk und versuchte, sich aus den Seilschlingen zu befreien. Im letzten Moment schnellte Faust nach vorne und lenkte den Schlag des Skelettkriegers mit seiner rostigen Klinge ab. Syuk flogen einige Splitter ins Gesicht. Hyron hieb mit seinem Stock von der Seite auf den Feind ein. Stocherte zwischen den Rippen, verwirbelte den Geisterstaub und zerrte an einzelnen Knochen. Der alte König wankte, war zu langsam für mehrere Gegner. Sie rissen ihn förmlich auseinander, Haut und Stoff ließen sich zerteilen wie Papier. Hyron lachte die Schmerzen fort, die in seinen Gelenken brannten, und griff sich die Krone des Toten, noch bevor er das Schwert der Knochenhand entwand. Auch diese Klinge war rostig, doch besser als ein Knüppel. Den warf er achtlos fort. Die übrigen Untoten waren schwach, das unirdische Licht in ihren Schädel glomm nur noch blass. Ihres Königs beraubt, vergingen auch ihre Seelen. Arn und Syuk stellten sich ihnen Seite an Seite entgegen und zerschlugen die morschen Knochen. Der Staub wallte durch den Gang und bedeckte sie alle. Es kehrte Stille ein, nur das allgegenwärtige Rauschen der Brandung und das Geschrei der Möwen waren zu hören. In den Gräbern herrschte wieder Ruhe.
Sirra und Arn warfen ihre Stöcke fort und statteten sich mit rostigen Waffen aus, die sie den Knochenhänden der Skelette entwanden. Bei den Gräbern handelte sich wohl um die letzten Ruhestätten für die Wachen des Königs. Eines Königs aus der Zeit, zu der man seine Toten noch in Gräber legte, anstatt sie zu verbrennen. Es musste eine Zeit gewesen sein, in der man die Heimsuchung der Geister noch nicht gekannt hatte.
Syuk war inzwischen dem Gang bis zum Ende gefolgt und hinter einer Biegung verschwunden. Hyron schlug eisige Luft entgegen, als er ihm folgte. Zuerst dachte er an weitere Untote oder Geister und riss sein Schwert hoch, doch dann sah er, dass Syuk an einem Ausgang stand. Eine mannshohe Öffnung, die den Blick aufs Meer freigab. Weit unter ihnen brachen sich die Wellen an den Klippen. Hyron trat neben den Halbfischmenschen und betrachtete skeptisch den Weg. Ein schmales Sims, das die Steilwand entlangführte und an seinem anderen Ende in einer Öffnung verschwand. Mehrere Eingänge taten sich entlang des Simses auf. Weitere Gräber? Etwa in der Mitte war das Sims auf mehreren Schritt Länge weggebrochen, sie würden klettern müssen.
»Der einzige Weg nach oben liegt dort drüben«, stellte Syuk fest. »Wenigstens brauchen wir nicht leise zu sein«, rief Hyron gegen den Wind. »Endlich mal etwas, wozu das Meer gut ist.« Innerlich überlief ihn ein Schauer, als er in die Brandung schaute und sich an sein Martyrium erinnerte. Zeit, Rache zu nehmen.
Die anderen hatten aufgeschlossen und spähten skeptisch in die Tiefe. Arn blieb unbewegt, Sirra ebenfalls. Nur Faust wurde nervös. »Da sollen wir rüber? Aber wenn wir an der Wand hängen – dann sind wir doch perfekte Zielscheiben.« »Wir müssen da rüber, das ist der einzige Weg, um sie zu überraschen. Siehst du den Überhang dort oben? Der wird uns vor ihnen schützen.« Hyrons entschlossener Blick erstickte jeden weiteren Einwand, der Faust womöglich auf der Zunge gelegen hatte. Der Bursche begriff offenbar so langsam, wann er zu weit ging.
Syuk und Arn hatten sich derweil aus der Deckung des Höhleneingangs hinausbewegt und gingen hintereinander das Sims entlang, bis sie zur Abbruchstelle gelangten. Sie nahmen die Seile zur Hand und suchten die Wand nach Möglichkeiten ab, sie zu befestigen. Sirra behielt derweil die Umgebung im Blick. Hyron beobachtete sie kurz. Die Frau aus dem Süden war ihm ein Rätsel, seit sie sich seiner Gruppe angeschlossen hatte. Sie hatte in früheren Kämpfen die linke Hand und ein Auge verloren, ihre Züge waren hart und abweisend. Trotzdem schien sie auf viele Männer eine erstaunliche Anziehungskraft zu besitzen. Doch das war ein sehr einseitiges Interesse – sie hatte für Männer nichts übrig und stellte eher den Dirnen nach, so wie ihre männlichen Kameraden es taten. Über ihre Vergangenheit wusste Hyron wenig, aber ihm war klar, dass sie schon vor ihrer Zeit bei den Söhnen der Schande so manche Schlacht geschlagen hatte. Wahrscheinlich in den Scharmützeln der Fürsten von Lygia, die kaum noch zwischen einer Treibjagd und einer Feldschlacht zu unterscheiden wussten, so sehr hatten sie sich an ihre Kleinkriege gewöhnt. Syuk hatte sich daran gemacht, die Lücke, an der das Sims über mehrere Mannslängen weggebrochen war, kletternd zu überwinden. Er krallte sich in den Fels und hangelte sich hinüber, als sei es ein Kinderspiel. Weder der an ihm zerrende Wind noch ein Gedanke an den tödlichen Sturz, den ein Fehlgriff bedeuten würde, schienen ihn zu stören. Schnell hatte er die Bresche überwunden und befestigte das Seil an einem Vorsprung. Arn tat es ihm auf seiner Seite mit dem anderen Seilende gleich. Wird das halten? Hyron war skeptisch, doch es blieb ihnen keine Wahl.
Die Männer spannten noch ein zweites Seil über den Abgrund, dann war es Zeit für die anderen, hinüberzuklettern. Gerade wollte Hyron das Seil packen, als Sirra ihn zurückhielt. »Seht!«, rief sie und deutete nach unten. Zwischen den Felsen, wo die Gischt der Brandung sie fast unsichtbar machte, waren Meermenschen den Wellen entstiegen. Sie machten sich daran, die Klippe zu erklimmen. Ähnlich wie Syuk waren sie erstaunlich geschickte Kletterer.
Zwischen ihren Zähnen trugen sie gezahnte Knochendolche, ihre Speere hatten sie auf den Rücken befestigt. Ihre Haut glänzte grau und feucht, sie trugen Tangfetzen um Arme und Beine gebunden. Ihre handflächengroßen, lidlosen Augen glotzten ausdruckslos. Hyron zählte drei von ihnen. »Schnell, rüber, bevor sie oben sind!«, rief er.
Der Anführer ging voran, packte eines der Seile und trat auf das andere. Ohne nach unten zu blicken, lief er mit entschlossenen Schritten bis zur anderen Seite, wo Syuk ihn erwartete und das Seil im Auge behielt. Eilig winkte Hyron den anderen. Sirra kam als nächste. Obwohl sie nur eine Hand zum Festhalten hatte, schwang sie sich behände über den Abgrund hinweg. Die Angreifer aus der Tiefe hatten den halben Weg bereits hinter sich, ihre klickenden Laute waren schon zu vernehmen. Faust und Arn mussten sich beeilen. Arn schickte den jüngeren vor, als sich plötzlich von oben eine Gestalt herabschwang und Hyron fast vom Sims fegte. Er hatte alle Mühe, das Gleichgewicht zu halten, während lange Finger an ihm zerrten. Hyron löste ihren Griff, nicht ohne einige der Glieder zu brechen, und stieß den zappelnden Körper von sich. Die alte Krone hatte der Gegner ihm vom Kopf gerissen und in die Tiefe geschleudert. Der Meermensch zischte ärgerlich, als er mit dem Rücken auf dem Felsgang landete. Ein Tritt beförderte ihn hinab. Faust klammerte sich schwer atmend an den Fels. Sie mussten von diesem verdammten Sims runter. Erst recht, wenn jetzt auch von oben Feinde kamen.
Faust brauchte zu lange auf dem Seil. Der erste der Angreifer aus dem Meer hatte die Felswand überwunden. Er krallte sich an einen Vorsprung, nahm sein Messer zur Hand und schwang sich zum Seil hinauf, um es mit einem Hieb zu durchtrennen. Faust schrie auf und klammerte sich am oberen Seil fest. Seine Füße traten ins Leere, bis er es schaffte, sie an die unebene Wand der Klippe zu pressen. Langsam arbeitete er sich voran. Das Seil knirschte bedrohlich. Der Fischmensch versuchte, ihm zu folgen und schwang sich abermals nach oben. Arn stieß mit seinem Schwert nach ihm und konnte so einen weiteren Angriff verhindern. Lange genug, damit Faust das Sims erreichte. Keuchend sank er gegen die Wand. »Weiter! Es ist noch nicht vorbei!«, rief Hyron. Er eilte voran zu einer Stelle, an der das Sims breiter wurde. Der Eingang war nicht mehr weit.
Der Meermann unter der Seilkonstruktion wandte sich Arn zu und versuchte, einen Treffer mit seinem Knochendolch zu landen, während er noch immer in der Wand hing und sich mit der anderen Hand am Fels festkrallte.
Doch Arn schlug brutal zu, als der Angriff kam. Sein Schwert brach, aber auch die Klinge aus Knochen zersplitterte. Bevor der Feind sich in Sicherheit bringen konnte, schlug Arn ihm auf die Hand, die ihn am Fels hielt. Der Meermensch brüllte und fiel. Am Fuß der Klippen verschlang ihn die Brandung. Das Sims bröckelte, als Arn zu nah an der Kante hockte. Schnell trat er vom Rand zurück und ergriff das Seil. Hyron blickte in die Tiefe. Zwei weitere Kämpfer hingen unschlüssig in der Wand, verharrten, tauschten Blicke. Dann wandten sie sich ab, kletterten wieder hinunter, zurück ins Meer.
Der Söldnerführer spuckte ihnen hinterher. »Verschwindet dahin, wo ihr hergekommen seid!«
Der Rest des Weges war ein Kinderspiel, nachdem Arn am verbliebenen Seil den Abgrund überwunden hatte. Ein Gang führte in die Klippen hinein, grobe Stufen im Fels endeten inmitten der Ruine. Scharfer Wind empfing die Söldner. Vorsichtig bewegten sie sich in den Schatten der Mauerreste voran. Die Meermenschen waren verschwunden, lediglich zwei Tote lagen im dürren Gras. Geerdes und Brool.
In düsterer Stimmung sammelten sie die Körper ihrer Kameraden ein, schichteten einen Haufen aus Holz und gewährten ihnen die letzte Ehre. Sie verbrannten sie, um ihre Seelen freizugeben, sodass sie nicht als Geister bleiben müssten wie die Toten unten in den Grabhöhlen. Frei zu sein und auf dem Wind zu schweben mit den Vögeln.
Die Flammen loderten hell und trugen die Seelen der gefallenen Krieger weit über das Land, mit dem Flug der Funken jagten sie fort.