Fabelhaft! - Fabian Vogt - E-Book

Fabelhaft! E-Book

Fabian Vogt

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Beschreibung

Das neue Buch des Schriftstellers, Theologen und Künstlers, Fabian Vogt, enthält fabelhaft schöne, spannend und fantastisch erzählte Kurzgeschichten. In diesem wunderschönen Band sind 17 1/2 fabelhaft schöne Kurzgeschichten und Erzählungen versammelt – für Herz und Hirn ... und immer wieder mit heiligen Momenten: lange und kurze Texte, witzige und ernste, ermutigende und traurige, verrückte und ziemlich normale – alles, was die Vielfalt des Erzählens ausmacht und Freude beim Lesen schenkt. • Was ist, wenn ein Android gerne getauft werden möchte? • Wenn der persönliche Schutzengel spontan beschließt, Urlaub zu machen? • Wenn die genetischen Experimente in einem Labor viel besser laufen als erwartet? • Und wenn ein Mann endlich die Liebe seines Lebens findet … , um dann festzustellen, dass sie in einer anderen Zeit lebt? Tauchen Sie ein in die Welt dieser fabelhaften Geschichten. Ob zum Vorlesen oder Selbergenießen: Diese unterhaltsamen, fantasievollen und berührenden Geschichten sind ein echtes Lesevergnügen.

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Seitenzahl: 160

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FABIAN VOGT

17 ½ verheißungsvolleKurzgeschichten

Fabian Vogt, Jahrgang 1967, ist Schriftsteller, Theologe und Künstler. Wenn er nicht für die Evangelische Kirche mit halber Stelle kreative Kommunikationsprojekte entwickelt oder Beiträge für den Kultsender hr3 produziert, schreibt er Romane, Kurzgeschichten und unterhaltsame Sachbücher. Außerdem lädt er als Kolumnist mehrerer Zeitschriften und Magazine zum Weiter-Denken ein.

Für seinen Roman „Zurück“ wurde der promovierte Geschichtenerzähler mit dem „Deutschen Science Fiction Preis“ ausgezeichnet, und seine Kabarett-Programme (mit „Duo Camillo“) haben mehrere Kleinkunstpreise gewonnen. Fabian Vogt lebt mit seiner Familie im Vordertaunus bei Frankfurt.

fabianvogt.de

© 2021 Brunnen Verlag Gießen

Lektorat: Petra Hahn-Lütjen

Umschlagmotiv: Adobe Stock

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

Satz: DTP Brunnen

ISBN Buch 978-3-7655-0766-3

ISBN E-Book 978-3-7655-7603-4

www.brunnen-verlag.de

„Professor,

ist das hier wirklich …

oder findet es bloß

in meinem Kopf statt?“

Harry Potter

„Es findet in deinem

Kopf statt, Harry.

Warum muss das bedeuten,

dass es nicht wirklich ist?“

Albus Dumbledore

Inhalt

Manfred Siebald * Über FABELHAFT!

Fabian Vogt * „Ich liebe Geschichten“ (Vorwort)

Überraschungsparty

Die zwei Liebesbriefe

Perfect Love

Kreuzweg

Freizeitgestaltung

Fast ’en Gottesdienst

Ich mach’s!

Das Bild des Engels

Auf Rosen gebettet

Toleranzbereich

Engel auf Urlaub

Verbranntes Herz

Mein brauner Daumen

Myomorphus

Wirklich ruhig werden

Der Prophet

Geheimnis des Glaubens

Cliffhanger (½ Geschichte)

Über FABELHAFT! 17 ½ verheißungsvolle KURZGESCHICHTEN

Ein Buch voller fabelhafter, erfrischender Überraschungen: Diese Geschichten setzen uns auf ein Gedankenkarussell und drehen mit uns höchst unterhaltsame Runden durch die Bibel, die Kunst, die Kirche, die Wissenschaft und das Internet. Wie auf einer Achterbahn des Lachens und der Rührung tauchen sie in die Tiefen des Alltäglichen und schwingen sich gleich danach auf zum Verblüffenden. Und öfters sind sie erst dann fertig, wenn wir als Leser sie in unserer Vorstellung fertig geschrieben haben. Ein ebenso spannender wie entspannender Freizeitpark für die Seele.

Manfred Siebald, Liedermacher, Literaturwissenschaftler und Autor (u. a. Du bist zu Hause und andere Geschichten)

„Ich liebe Geschichten“ – Vorwort

Ich liebe Geschichten. Und wenn mich Menschen fragen „Was machen Sie eigentlich beruflich?“, dann antworte ich manchmal ganz spontan: „Ich bin Geschichtenerzähler!“ – auch wenn ich diesen „Beruf“ natürlich in unterschiedlichen Funktionen ausübe: als Schriftsteller in Büchern, als Theologe auf der Kanzel, als Sprecher im Radio, als Journalist in Zeitungen und als Künstler auf der Bühne.

Doch die Wirkung guter Geschichten ist immer die gleiche: Sie nehmen mich (und andere) mit auf eine Reise in eine fantasievolle Welt und laden ein, dem Geheimnis des Lebens auf unterhaltsame Weise auf die Spur zu kommen. Und das, ohne bedrängend zu sein, denn ich entscheide ja selbst, wie weit ich eine Geschichte an mich heranlasse. Insofern ist es schön, wenn eine Erzählung beim Zuhören Lust macht, weiter zu denken … weiter zu träumen … und Teil des Geschehens zu werden.

Darum wundert mich auch nicht, dass Jesus, anstatt theologische Weisheiten von sich zu geben, fast immer kluge Geschichten erzählt hat, wenn er etwas von der Kraft des Vertrauens oder der Schönheit des Daseins deutlich machen wollte. Und dabei musste er nicht einmal das Wort „Gott“ benutzen – wer aufmerksam zuhörte, die oder der verstand sofort: „In diesen Gleichnissen geht es darum, was der Himmel mit der Erde und mit mir zu tun hat.“

Wahrscheinlich erkannten deshalb schon die Autoren der Antike, dass man Menschen am besten mit Geschichten zum Weiterdenken inspirieren kann. Und das machten sie mit großer Leidenschaft … besonders gerne mit Fabeln. Nach dem Motto „Fabula delectat et docet“ – eine Fabel unterhält und bildet. Darum heißt diese Kurzgeschichten-Sammlung „Fabelhaft!“, obwohl darin, anders als in der Antike, selten Tiere als Repräsentanten der Menschen vorkommen. Macht nichts. Das Wort „Fabelhaft“ meint ja auch etwas grundsätzlich Anregendes.

Nebenbei: Ich füge meinen Geschichten statt animalischer Charaktere gerne eine Prise „Surreales“ zu, das heißt: Ab und an passiert in ihnen etwas, das eigentlich unmöglich ist – und das genau deshalb hilft, die Kraft des Möglichen neu zu entdecken. Lassen Sie sich überraschen! Und weil Friedrich Schiller mal gesagt hat, „Die Fabel ist der Liebe Heimatwelt“, passt es auch, dass ich mich in meinen Geschichten immer wieder mit biblischen oder geistlichen Themen beschäftige. Weil ich finde, dass sich in allem, was mit Glauben zu tun hat, eine Tür zur Liebe öffnet.

Die Kurzgeschichten dieses Buches sind in den letzten Jahren in verschiedenen Anthologien und Zeitschriften erschienen, ich habe aber auch einige Satiren und zwei ganz neue Erzählungen mit aufgenommen, lange und kurze Texte, witzige und ernste, ermutigende und traurige, verrückte und ziemlich normale: weil ich Ihnen gerne die Vielfalt des Erzählens schmackhaft machen möchte.

Also: Tauchen Sie ein in die Welt der Geschichten. Mit einem Satz! Und vielleicht finden Sie darin ja auch den einen oder anderen Gedanken, der Ihnen Lust macht, zum Weiter-Denker, zur Weiter-Denkerin zu werden. Würde mich freuen.

Fabian Vogt

Überraschungsparty

„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“

Der fast kahlköpfige Matthias Renz stand am Gartentor und hielt demonstrativ eine Flasche spanischen Rotwein in die Höhe. „Alles Gute! Darauf sollten wir anstoßen.“

Alexander musste schlucken und hielt sich an der Haustür fest, die er gerade geöffnet hatte.

Was!? Was wollte denn dieser schräge Typ auf seiner Geburtstagsparty? Reflexartig schüttelte er die Hand, die sein Kollege ihm hinstreckte, und starrte ihn weiterhin fassungslos an.

Doch Renz grinste nur. „Hat mich ja echt total überrascht, dass Sie ausgerechnet mich zu Ihrer Geburtstagsfeier eingeladen haben.“

„Ich habe dich nicht eingeladen“, schrie es in Alexanders Kopf. „Du bist der Letzte, mit dem ich meinen Geburtstag feiern möchte.“

Der Mann hielt noch immer seine Hand fest. „Na, da nun die Einladung schon so persönlich war, ist das ja wohl der richtige Moment, um zum Du zu wechseln. Ich bin der Matthias.“

Ein Albtraum. Dieser karrieregeile Vollpfosten stand vor seiner Tür – und wollte offensichtlich mitfeiern. Dabei hatte sich Alexander so auf einen entspannten Geburtstag mit seinen engsten Freunden gefreut.

Matthias ließ seine Hand los. Endlich. „Ich finde das ein total tolles Signal von Ihnen … Quatsch … von dir. Ich hab ja auch gemerkt, dass die Stimmung zwischen uns gelegentlich etwas … na, sagen wir … angespannt war. Und da kann so ein gemeinsamer Abend natürlich das Eis brechen. Klasse Idee!“

Alexander fühlte eine Eiseskälte in sich aufsteigen. Ich will einfach nur, dass du verschwindest. Bitte. Löse dich auf! In nichts. Gerne auch für immer! Dann schnappst du mir wenigstens nicht das neue Projekt in Spanien vor der Nase weg. Komm, geh einfach!

Aber es war zu spät. Was sollte er denn machen? Seinen Kollegen wieder heimschicken? Das hätte den Betriebsfrieden in der Abteilung für die nächsten zehn Jahre vergiftet.

Widerwillig trat Alexander zur Seite und winkte Matthias ins Haus.

Da drang eine schrille Stimme durch die Hecke: „Huhu! Wartet auf mich. Ich husch gleich mit ins Körbchen. Na, ihr beiden, das wird ja ein tolles Fest.“

Frau Bornschier, die Abteilungssekretärin, bemühte sich, ihren voluminösen Körper, den sie in ein Sechzigerjahre-Blümchenkleid gezwängt hatte, an den Mülltonnen vorbeizudrücken.

Mein Gott, die Bornschier, das größte Lästermaul der Firma. Und dabei auch noch total unzuverlässig und ständig krank.

Als Matthias Renz an Alexander vorbei in den Flur trat, raunte er ihm ins Ohr: „Warum hast du denn dieses wandelnde Brechmittel eingeladen? Du hast ja wirklich einen erstaunlichen Geschmack. Ach so, … na klar, du willst was für das Klima im Büro tun. Respekt! Echt Respekt!“

Ich habe euch nicht eingeladen, durchfuhr es das Geburtstagskind. Jetzt krieg ich Pest und Cholera gleichzeitig ins Haus.

Langsam spürte er Wut in sich aufsteigen. Nein, von denen würde er sich seinen Geburtstag nicht vermiesen lassen: Ist doch völlig egal, was die von mir denken. Die haben auf meiner Feier nichts zu suchen – und ich schmeiße sie jetzt raus. Beide. Und zwar sofort. Wenn die mich …

Als die Abteilungssekretärin ihm hektisch einen bunten Blumenstrauß mit einer lila Glaskugel in die Hand drückte und ihn dann in ihrem Überschwang umarmte, räusperte sich Alexander: „Liebe Frau Bornschier, da muss es sich um ein …“

„Happy Birthday, mein Lieber!“, kam es just in diesem Moment von der Seite.

Die füllige Frau fuhr herum: „Herr Dr. Graf. Welch eine Freude.“ Und zu Alexander gewandt fügte sie hinzu: „Wie schön, dass Sie den Chef auch eingeladen haben. Aber heute Abend bitte nichts Dienstliches. Ja?“

Alexander schob sie ein wenig unsanft an sich vorbei ins Haus.

Dr. Graf dagegen zerdrückte ihm fast die Finger, als er mit sonorer Stimme sagte: „Chapeau, mein Lieber. Sie haben das Zeug zu Höherem. Beeindruckend, wie Sie die aufgeheizte Atmosphäre in der Abteilung erspürt haben und Ihren Geburtstag nutzen, um ein Fundament für die Zukunft zu legen. Brillant. Also: diese Einladung.

Wenn Ihr Rotwein so gut ist, wie Ihre Fähigkeiten, dann wird das ein ganz besonderes Fest. Ha ha. Hier, ich habe Ihnen den neuen Roman von Paul Auster mitgebracht. Sie sind doch so ’ne Leseratte. Ah, ich sehe schon, da ist die Garderobe.“

Wie in Trance führte der verwirrte Mann seine Gäste, die sich im Flur versammelt hatten, ins Wohnzimmer, versorgte sie mit Getränken und entschuldigte sich dann. Er müsse kurz nach dem Essen sehen.

Kaum hatte er den Raum verlassen, sprintete Alexander in sein Kellerbüro an den Rechner und öffnete, ohne sich zu setzen, seinen E-Mail-Account.

Da! Eine neue Mail. Von Georg. Hatte der etwa abgesagt? Georg, sein bester Freund?

„Lieber Alex. Dir herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Wundere mich, dass es diesmal gar keine kurzfristige Einladung zu einer Fete gibt. War doch absolut super in den letzten Jahren. Na, wahrscheinlich bist du diesmal mit deiner Liebsten allein unterwegs. Im Kino. Oder was ihr sonst so treibt. Halt die Ohren steif. Freu mich, wenn wir uns bald wiedersehen. Dein Georg.“

Alexander ließ sich in den Schreibtischstuhl fallen. Verdammt noch mal. Was war denn hier los?

Er atmete mehrfach tief durch, dann öffnete er den Ordner mit den gesendeten E-Mails. Da war sie doch … seine Einladung: „Hey, ich habe Geburtstag und mach wie immer am Freitag ein spontanes Fest. Kommt einfach vorbei. Rückmeldung nicht nötig. Für Essen und Trinken ist gesorgt.“

Und dann durchzuckte es ihn. O Gott!

Natürlich: Er hatte seine Kontakte in Gruppen geordnet. Und statt die Gruppe „Freunde“ anzuklicken, war er offensichtlich mit der Maus auf die Gruppe „Firma“ gekommen und hatte seine Einladung statt an seine besten Freunde an die Kolleginnen und Kollegen seiner Abteilung geschickt.

Scheiße. Scheiße. Scheiße!

Und jetzt?

Alexander ließ den Kopf in die Hände sinken. Da war nichts mehr zu machen. Er musste mit diesen komischen Leuten feiern, die ihm schon während der Woche unglaublich auf den Senkel gingen.

Mann! So was Absurdes. Stand so eine verrückte Geschichte nicht schon in der Bibel? Ja, erzählt nicht Jesus von einer Party, bei der die gewünschten Gäste nicht kommen – woraufhin der Gastgeber einfach Leute von den Hecken und Zäunen einlädt? Oder so ähnlich. War dann wohl doch ganz gut geworden.

Er schloss kurz die Augen und stieg anschließend seufzend wieder die Treppe hoch.

Irgendwann gegen zehn setzte sich Matthias Renz, also neuerdings „der Matthias“, zu ihm aufs Sofa und murmelte alkoholschwanger: „Du, Alex, dieses interessante Projekt in Spanien. Wollen wir das nicht zusammen machen? Ich hab‘ schon mit dem Chef gesprochen. Er fänd’s gut. Und weißt du was: Die Bornschier ist gar nicht so schlimm. Nur gestresst. Pflegebedürftige Mutter und so. Aber ich glaube, die wird in Zukunft viel kooperativer sein. Tolle Party übrigens. Du bist ein Mordskerl.“

Alexander stand auf, stellte sich vor den alten Biedermeierspiegel im Flur und prostete sich selbst zu: „Herzlichen Glückwunsch!“

Seit Jahrhunderten fragen sich die klügsten Denkerinnen und Denker: Wie konnte es passieren, dass das „Hohelied der Liebe“ in den Kanon der Bibel aufgenommen wurde? Ein Text voller Sinnlichkeit, Hingabe und Erotik? Vielleicht gibt diese kleine Geschichte eine Antwort.

Die zwei Liebesbriefe

„Geht es dir um Geld?“ Der verängstigte Kurier lag auf der Erde. Er hielt beide Hände abwehrend vor das Gesicht, blinzelte nervös und blickte fragend zu dem verschwitzten Jüngling auf, der ihn brutal vom Pferd gerissen hatte.

„Nein, es geht um Liebe!“, antwortete der dunkelhäutige Verfolger lakonisch, „Gib mir die Briefe, und ich lasse dich gehen!“

Die Gesichtszüge des am Boden Liegenden entspannten sich schlagartig, er erhob sich langsam, klopfte den Staub aus seinen Kleidern und begann dabei – erst ein wenig, dann immer lauter – zu lachen: „Willst du damit sagen, dass du mich überhaupt nicht ausrauben willst? Ich glaube es nicht. Als ich gesehen habe, wie du hinter mir aufgetaucht bist, dachte ich natürlich, du seist einer dieser miesen Straßenräuber, die einem überall begegnen. Da bin ich einfach losgaloppiert, wie ein Verrückter. Ich dachte, mein letztes Stündchen schlägt. Du bist schon ein komischer …“

„Gib mir die Briefe!“ Der Jüngling hatte nicht mitgelacht. Er wischte sich unkonzentriert den Schweiß aus dem Gesicht und klopfte seinem Pferd beruhigend auf den Hals. Das Tier sah erschöpft aus, und der Überfallene bemerkte erst jetzt, dass der gesamte Körper des jungen Mannes vor Aufregung zitterte. Nur mühsam konnte er sich noch auf den Beinen halten. Wahrscheinlich war er die ganze Nacht geritten.

Da packte der Jüngling unerwartet zu. Er riss den kleinwüchsigen Mann hoch, schüttelte ihn durch, schrie erst einmal laut auf und flüsterte dann flehentlich: „Gib mir endlich die Briefe! Bitte!“

„Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest“, wehrte sich der Bedrängte, „ich bin zwar ein Kurier, aber ich bringe Proben afrikanischer Seide in die Stadt, damit mein Chef demnächst große Geschäfte macht. Manchmal arbeite ich auch als Weinlieferant oder Aushilfe im Lager. Aber Briefe … Briefe habe ich noch nie transportiert.“

Schluchzend brach der junge Mann am Hals seines Pferdes zusammen und fiel auf die Knie: „Du bist es gar nicht! Du bist nicht der Bote? Dann ist alles aus. Dann hat alles keinen Sinn mehr. Verflucht! Warum lässt Gott das zu? Ich … ich habe ihm doch ein solches Meisterwerk geschrieben; das Schönste, das mir je zu seinem Lob eingefallen ist … und meine Liebste, was wird sie sagen? An einem einzigen Tag, an einem solchen Festtag, verliere ich nicht nur meine Arbeit, sondern auch die Frau, die ich liebe!“

„Unter uns, bist du sicher, dass du nicht auch den Verstand verlierst? Du redest ziemlich wirres Zeug.“ Unsicher, was er mit dem Jüngling anfangen sollte, der da hemmungslos weinend vor ihm kniete, begann der Seidenlieferant an seinem schon ergrauten Bart zu nesteln.

Als von dem Verzweifelten keine Antwort kam, lockerte er die Bauchgurte der Pferde, rieb sie mit Stroh ab und führte sie zu einer kleinen Pfütze, um sie zu tränken.

„Halt, lass das“, erklang plötzlich die Stimme des erschöpften jungen Mannes: „Ich muss sofort wieder los, der Bote kann noch nicht weit sein. Ich muss versuchen, ihn zu erwischen, bevor er die Stadt erreicht! Vielleicht schaffe ich es so …“

Der Ältere stellte sich dem erhitzten Jüngling in den Weg: „Das hat keinen Zweck. Dein Pferd ist völlig am Ende. Wenn du ihm keine Pause gönnst, bricht es zusammen. Wenigstens eine Viertelstunde. Lass uns ein Stück zu Fuß gehen. Dann bleiben die Tiere warm. Und du siehst mir auch aus, als könntest du eine kurze Erholung gebrauchen. In dieser Verfassung will dich sowieso keine Frau haben. Vielleicht hast du ja Lust, mir zu erzählen, was dich so beunruhigt. Dafür bin ich dir auch nicht mehr böse, dass du mich so heftig in den Dreck geschmissen hast.“

Langsam setzte sich der Zug der ungleichen Männer in Bewegung; ein verwahrloster kleiner mit selbstsicherem Schritt, den die Neugier forsch machte, und ein gebeugter großer, den seine Verzweiflung niederdrückte.

Eine Zeit lang gingen die beiden schweigend nebeneinanderher, bis der junge Mann irgendwann die Stille brach, leise und vorsichtig, als könne er sich selbst noch nicht recht glauben, fing er an zu sprechen.

„Meinen Namen brauchst du nicht zu kennen, aber so viel kann ich dir sagen: Ich bin ein bekannter Mann, und ich bin auch ein Poet. Ein Dichter. Vor zwei Wochen habe ich endlich den Auftrag bekommen, auf den ich so viele Jahre gewartet habe: Ich sollte ein episches Gedicht zum Lobe Gottes schreiben … und zwar das, das heute beim großen Fest in der Stadt vorgetragen wird. Du weißt, was diese Auszeichnung bedeutet. Ich war so stolz.

Und ich habe mir unfassbar viel Mühe gegeben, mehr als bei allen anderen Texten – nun … von einem vielleicht abgesehen. Nächtelang habe ich gegrübelt, doch die Worte wollten einfach nicht kommen; bis ich eines Morgens nach einem langen Gebet plötzlich spürte, dass es jetzt passieren wird. Ja: Gott selbst war bei mir, als ich an meinem Pult geschrieben habe, und es ist ein herrliches, inniges Gedicht entstanden, berauschend, anbetend und voller Liebe. Ich war dem Himmel so nah wie nie.

Aber die Liebe ist mir auch zum Verhängnis geworden. Ich habe nämlich gleichzeitig an einem Liederzyklus für meine Liebste gearbeitet: Ich dachte, der große Festtag wäre auch ein guter Anlass, sie um ihre Hand zu bitten. Darum habe ich allen Mut zusammengenommen und für sie ebenfalls in fantasievollen Bildern geschwelgt. Glaube mir: Jedes meiner Gefühle ist zu einem Lied geworden. Ich war sicher, sobald sie das liest, sagt sie ‚Ja‘. Wenn du sie nur kennen würdest: Sie ist so einzigartig, so geistreich und fröhlich zugleich, die vollkommenste Frau der Welt …“

„Ja und?“ Der Seidenlieferant schaute den zerrissenen Jungen kritisch an, „das klingt doch alles absolut wundervoll: Du hast zwei bewegende Texte geschrieben. Einen für Gott – einen für deine Liebste. Wozu die ganze Aufregung?“

Der Dichter blieb stehen und schaute sein Gegenüber mit großen Augen an: „Ich Idiot habe die Umschläge verwechselt!“

„Oh.“

„Ja, wenn der Hohepriester meine privaten Liebesschwüre liest, bin ich ruiniert. Und sie erst! Meine Liebste! Sie wird denken, ich wolle mich über sie lustig machen!

Auf jeden Fall wird mich der Heilige Rat verstoßen. Warum musste ich in meinen intimen Gefühlsäußerungen auch so offenherzig sein. Ich dachte eben, in einem verführerischen Liebeslied kann ich auch mal ein wenig … na ja … deutlicher werden … wenn du verstehst, was ich meine. Natürlich in ganz poetischer Form, aber ich wollte meine Freundin doch auf jeden Fall heiraten.

Jetzt glaube ich, ich muss verrückt gewesen sein. Stell dir vor: Ich habe geschrieben, ihre Brüste seien wie Trauben, wie zwei junge Rehe, ich schwärme genießerisch von den Rundungen ihrer Hüften und vergleiche ihre Schenkel mit Marmorsäulen. Und das bei den konservativen Priestern; wenn die das zu lesen bekommen, ist alles aus. Mein Gott, ich bin krank vor Liebe.“

Sein Weggefährte fasste plötzlich einen Entschluss: „Hier, nimm mein Pferd, es ist jünger und frischer als deines, reite, so schnell du kannst. Vielleicht schaffst du es noch. Ich treffe dich dann in der Stadt.“

Vergeblich. Er kam zu spät. Vor dem Tempel hatte sich schon eine gewaltige Menschenmenge versammelt, erregt, murmelnd wie ein Gebirgsbach im Frühling. Vorne betrat just in diesem Moment der Hohepriester die Tribüne, um zu den Wartenden zu sprechen.

Verzweifelt versuchte der Jüngling, sich in einer letzten Kraftanstrengung zum Podium zu kämpfen, um seinen Irrtum vielleicht noch aufklären zu können. Aber es war sinnlos, die Menschenmenge stand zu dicht, niemand wollte auf das Flehen des Dränglers hören, und auch die gellenden Rufe des jungen Mannes verhallten ungehört.

Dann durchbrach die mächtige Stimme des Hohepriesters das Stimmengewirr: „Es ist unglaublich: Noch nie hat ein Poet es gewagt, die Liebe Gottes zu den Menschen in derart ungewöhnliche Bilder zu fassen. So, als ginge es um ein junges Liebespaar, beschreibt der Künstler das Verhältnis Gottes zu seinem Volk mit dichterischer Vollmacht und Kraft.“