Faceless - Terry Hayes - E-Book

Faceless E-Book

Terry Hayes

4,5
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein schäbiges Hotel in New York wird zum Schauplatz eines grausamen Verbrechens: In einer Badewanne voll Säure liegt die entsetzlich entstellte Leiche einer Frau. Es gibt keine Fingerabdrücke, keine DNA-Spuren, keine Hinweise auf den Täter. Da die Polizei im Dunkeln tappt, zieht der leitende Detective einen Spezialisten hinzu – einen Undercover-Agenten des US-Geheimdienstes, der unter dem Codenamen Pilgrim agiert. Und Pilgrim findet tatsächlich eine Spur, die ihn an die türkische Küste und zur toughen wie auch geheimnisvollen Polizistin Leyla führt. Doch nicht nur Leyla scheint etwas zu verbergen. Auch die Ermittlungen nehmen eine zutiefst beunruhigende Wendung, als Pilgrim auf eine terroristische Verschwörung stößt, die das Gesicht der westlichen Welt für immer auslöschen könnte. Um den unsichtbaren Feind hinter den Anschlagsplänen aufzuhalten, muss der Agent einen hochgefährlichen Kampf gegen die Zeit gewinnen – einen Kampf jenseits aller Grenzen von Gut und Böse …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1157

Bewertungen
4,5 (50 Bewertungen)
32
11
7
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Buch

Ein schäbiges Hotel in New York wird zum Schauplatz eines grausamen Verbrechens: In einer Badewanne voll Säure liegt die entsetzlich entstellte Leiche einer Frau. Es gibt keine Fingerabdrücke, keine DNA-Spuren, keine Hinweise auf den Täter. Der Mord ruft den ehemaligen Geheimdienstagenten Scott Murdoch auf den Plan – und ist erst der Auftakt zu einem Fall, der Murdochs härtester werden soll. Denn der amerikanische Geheimdienst ist einer Verschwörung auf die Spur gekommen, die das Gesicht der westlichen Welt für immer auszulöschen droht. Unter dem Codenamen Pilgrim verfolgt Murdoch eine Spur, die ihn an die türkische Küste und zur geheimnisvollen Polizistin Leyla Cumali führt. Doch nicht nur Leyla scheint etwas zu verbergen. Auch die Identität des Drahtziehers hinter den Anschlagsplänen liegt im Dunkeln. Um den unsichtbaren Feind aufzuhalten, muss Agent Pilgrim einen hochgefährlichen Kampf gegen die Zeit gewinnen – einen Kampf jenseits aller Grenzen von Gut und Böse …

Autor

Terry Hayes arbeitete als Journalist, bevor er nach Los Angeles ging und sich auf das Schreiben von Drehbüchern verlegte. Als Drehbuchautor und Produzent wirkte er bisher an zahlreichen international erfolgreichen Filmen mit, so an der »Mad Max«-Reihe mit Mel Gibson und dem Horror-Blockbuster »From Hell« mit Johnny Depp. Für seine Arbeit wurde Terry Hayes bereits mehrfach mit bedeutenden Filmpreisen ausgezeichnet. Heute lebt Terry Hayes mit seiner Frau Kristen, mit der er vier Kinder hat, in Australien. »Faceless« ist sein erster Roman.

TERRY HAYES

FACELESS

DER TOD

HAT KEIN GESICHT

THRILLER

AUS DEM ENGLISCHEN

VON MICHAEL BENTHACK

Die englische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »I Am Pilgrim«

bei Bantam Press, an imprint of Transworld Publishers,

a Random House Group Company Ltd, London.

Page & Turner Bücher erscheinen

im Wilhelm Goldmann Verlag, München,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe

Random House GmbH.

1. Auflage 2014

Copyright © der Originalausgabe 2012

by Terry Hayes

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014

by Page & Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur

Cover design: R. Shailer / TW; Fingerabdruck: Shutterstock

Redaktion: Eva Wagner

Gesetzt aus der Minion Pro bei omnisatz GmbH, Berlin

ISBN 978-3-641-12865-4

www.pageundturner-verlag.de

There is no terror so consistent, so elusive to describe, as that which haunts a spy in a strange country.

John le Carré, The Looking Glass War

Keine Furcht ist so schrecklich und gleichzeitig so schwer zu beschreiben wie die, die einen Spion in fremdem Land befallen kann.

John le Carré, Krieg im Spiegel

Down these mean streets a man must go who is not himself mean, who is neither tarnished nor afraid.

Raymond Chandler, The Simple Art of Murder

Aber durch diese schäbigen Straßen muß ein Mann gehen, der selbst nicht schäbig ist, der eine reine Weste hat und keine Angst.

Raymond Chandler, Die simple Kunst des Mordes

Nachweise

aus:John le Carré: Krieg im Spiegel

aus dem Englischen von Manfred von Conta

© 2004 List Verlag in der Ullstein Buchverlage GmbH

© der deutschen Übersetzung Paul Zsolnay Verlag, Wien

aus: Raymond Chandler: Die simple Kunst des Mordes

aus dem Amerikanischen von Hans Wollschläger

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe

© 1975 Diogenes Verlag AG Zürich

TEIL EINS

Kapitel eins

Es gibt Orte, an die ich mich zeitlebens erinnern werde – der Rote Platz, über den ein heißer Wind hinwegfegt, das Schlafzimmer meiner Mutter auf der falschen Seite der 8 Mile Road, der riesige Park eines exklusiven Kinderheims, eine Gruppe von Ruinen namens »Theater des Todes«, in denen ein Mann wartete, um mich zu töten.

Doch nichts hat sich mir tiefer ins Gedächtnis eingeprägt als ein Hotelzimmer in New York: fadenscheinige Vorhänge, schäbiges Mobiliar, ein mit Tina und anderen Partydrogen überhäufter Tisch. Neben dem Bett liegen eine Handtasche, ein ultraknappes schwarzes Höschen und ein Paar Jimmy Choos mit 15 Zentimeter hohen Absätzen. So wie ihre Besitzerin gehören auch diese Dinge nicht hierher. Sie ist im Badezimmer, nackt. Mit durchschnittener Kehle liegt sie mit dem Gesicht nach unten in einer Badewanne voller Schwefelsäure, des Wirkstoffs von Abflussreinigern, die in jedem Supermarkt erhältlich sind.

Auf dem Boden liegen Dutzende leere Flaschen des Reinigungsmittels, DrainBomb mit Namen. Unbemerkt fange ich an, sie mir anzuschauen. Da an allen noch das Preisschild klebt, sehe ich, dass der Täter, um keinen Verdacht zu erregen, die Flaschen in zwanzig verschiedenen Läden gekauft hat. Wie ich immer sage: Es fällt schwer, umsichtiges Planen nicht zu bewundern.

Im Raum herrscht das reinste Chaos, der Lärm ist ohrenbetäubend – Polizei-Funkgeräte plärren, Assistenten des Coroners, die lautstark Unterstützung anfordern, eine Latina, die schluchzt. Selbst wenn das Opfer mutterseelenallein in der Welt war, gibt es offenbar immer jemanden, der an einem solchen Ort weint.

Die junge Frau im Bad ist unidentifizierbar. Weil sie drei Tage lang im Säurebad gelegen hat, sind ihre Gesichtszüge völlig zerstört. Das war der Plan, nehme ich an. Denn wer immer sie getötet hat, hat auch ihre Hände mit Telefonbüchern beschwert. Durch die Einwirkung der Säure sind nicht nur ihre Fingerabdrücke unkenntlich geworden, sondern es wurde auch nahezu das gesamte darunter befindliche metakarpale Gewebe zerfressen. Sollten die Kriminaltechniker vom New York Police Department beim Gebissabgleich keinen Treffer erzielen, dürfte ihnen die Identifizierung des Opfers verdammt schwerfallen.

An Orten wie diesem, an denen man das Gefühl hat, dass das Böse noch an den Wänden klebt, schweifen die Gedanken mitunter in eigenartiges Terrain ab. Das geistige Bild einer jungen Frau ohne Gesicht ruft mir einen alten Lennon/McCartney-Song in Erinnerung: Eleanor Rigby – eine Frau, die ein Gesicht aufsetzt, das sie in einem Konservenglas neben der Tür aufbewahrt. Also nenne ich das Opfer Eleanor. Das Tatort-Team hat noch Arbeiten zu erledigen, doch alle im Zimmer Anwesenden glauben, dass Eleanor beim Sex ermordet wurde: die halb von der Unterlage gezogene Matratze, das zerwühlte Bettlaken, die bräunlichen Spritzer geronnenen arteriellen Bluts auf einem Nachttisch. Die richtig Perversen meinen, der Täter habe ihr die Kehle durchgeschnitten, noch während er in ihr war. Das Üble daran ist: Sie könnten recht haben. Doch wie immer die Frau auch gestorben ist – wer nach Positivem sucht, kann es ja darin finden, dass sie vermutlich gar nicht bemerkte, was geschah, beziehungsweise erst im letzten Augenblick.

Dafür dürfte Tina – Crystal Meth – gesorgt haben. Die Droge macht einen so geil, so euphorisch, dass jedes Gefühl von Vorahnung verloren geht. Die meisten Menschen haben unter dem Einfluss von Tina nur einen zusammenhängenden Gedanken: Wo gabele ich jemanden auf, den ich um den Verstand vögeln kann?

Neben den beiden leeren Alufolien mit Tina liegt etwas, das wie eines dieser kleinen Shampoofläschchen aussieht, die man in Hotelbadezimmern gratis bekommt. Es hat kein Etikett und enthält eine klare Flüssigkeit – wahrscheinlich GHB. In den Schmuddelecken des Internets wird es inzwischen offen angeboten: In hoher Dosierung eingenommen, hat es Rohypnol als beliebteste Vergewaltigungsdroge ersetzt. Die meisten Musikschuppen sind voll davon. Die Discogänger nehmen einen kleinen Schluck, um Tina zu verschneiden, damit sich die Wahnvorstellungen abschwächen. Doch GHB hat selbst Nebenwirkungen: eine herabgesetzte Hemmschwelle und ein intensiveres sexuelles Erleben. Auf der Straße wird es unter anderem »Easy Lay« genannt. Nachdem Eleanor ihre Jimmy’s weggekickt hat und aus ihrem winzigen schwarzen Rock gestiegen ist, muss sie abgegangen sein wie eine Rakete am 4. Juli.

Allen Anwesenden unbekannt, ein Fremder mit teurem Sakko über der Schulter und jeder Menge Ballast in der Biographie, schiebe ich mich durch das Gedränge und bleibe neben dem Bett stehen. Ich blende den Lärm aus und sehe Eleanor vor mir: Sie sitzt oben, nackt, reitet ihn wie ein Cowgirl. Sie ist Anfang zwanzig, hat eine gute Figur, und ich stelle mir vor, dass sie mitten dabei ist – weil sie den Drogencocktail intus hat, steuert sie auf einen ungeheuren Orgasmus zu. Dank des Crystal ist ihre Körpertemperatur erhöht, die angeschwollenen Brüste hängen nach unten, Atem- und Herzfrequenz schnellen unter dem Ansturm der Leidenschaft und der chemischen Wirkstoffe in die Höhe. Ihr Atem kommt stoßweise, ihre feuchte Zunge sucht angestrengt nach dem Mund unter ihr. Sex ist heutzutage sicher nichts für Feiglinge.

Das Licht der Neonreklamen einer Reihe von Bars vor dem Fenster muss auf die blonden Strähnen in ihrer hochmodischen Frisur gefallen sein und sich auf ihrer Panerai-Taucheruhr gespiegelt haben. Sicher, die Uhr ist ein Plagiat, aber ein gutes. Ich kenne diese Frauen. Wir alle kennen sie – jedenfalls den Typus. Man sieht sie im riesigen neuen Prada-Shop in Mailand, in den Schlangen vor den Clubs in Soho, an wässrigen Latte macchiatos in den angesagten Cafés in der Avenue Montaigne nippend – junge Frauen, die People für eine Zeitschrift mit Nachrichtenwert und ein japanisches Schriftzeichen auf dem Rücken für das Sinnbild ihrer Rebellion halten.

Ich stelle mir die Hand des Mörders auf Eleanors Brust vor, sie berührt einen edelsteinbesetzten Brustwarzenring. Der Typ nimmt ihn zwischen die Finger, reißt daran und zieht Eleanor zu sich heran. Sie schreit auf, ist auf Touren – ihr ganzer Körper ist jetzt überempfindlich, besonders die Brustwarzen. Aber das macht ihr nichts aus – wenn’s jemand rau will, heißt das nur, dass er sie wirklich mag. Während sie rittlings auf ihm sitzt, das Kopfbrett des Betts heftig gegen die Wand schlägt, muss sie zur Zimmertür geblickt haben, die mit Sicherheit abgeschlossen und verriegelt war. In diesem Viertel ist es das Mindeste, was man tun sollte.

Ein Schaubild an der Wand zeigt den Fluchtweg: Eleanor befindet sich in einem Hotel, aber hier endet auch schon jede Ähnlichkeit mit dem Ritz-Carlton. Das Hotel heißt Eastside Inn – das Zuhause von Arbeitsmigranten, Rucksacktouristen, den Verlorenen und allen anderen mit zwanzig Dollar für eine Nacht. Bleib so lange, wie du willst – einen Tag, einen Monat, den Rest deines Lebens –, dafür brauchst du nur zwei Ausweise, einen davon mit Foto.

Der Typ, der Zimmer 89 bewohnte, war vermutlich schon eine Weile hier – auf einer Kommode stehen ein Sixpack Bier, vier halbleere Schnapsflaschen und ein paar Schachteln Frühstücksflocken. Auf einem Nachttisch steht eine Stereoanlage, daneben liegen einige CDs. Ich sehe sie kurz durch. Sein Musikgeschmack ist gar nicht mal übel. Der begehbare Kleiderschrank ist allerdings leergeräumt – anscheinend hat er seine Klamotten mitgenommen, als er das Weite suchte, während sich die Leiche in der Badewanne zu verflüssigen begann. Ganz hinten in der Ankleide liegt ein Haufen Abfall: weggeworfene Zeitungen, eine leere Dose Kakerlakengift, ein Wandkalender mit Kaffeeflecken. Ich greife nach dem Kalender. Jedes Blatt zeigt ein Schwarz-Weiß-Foto einer antiken Ruine – das Kolosseum, ein griechischer Tempel, die Celsus-Bibliothek bei Nacht. Auf Kunst gemacht. Doch die Kalenderblätter sind leer, auf keinem ist ein Termin vermerkt – außer als Kaffeeuntersetzer ist der Kalender offenbar nie verwendet worden. Ich werfe ihn wieder zurück.

Ohne zu überlegen, im Grunde aus Gewohnheit, wende ich mich ab und streiche mit der Hand über den Nachttisch. Seltsam: kein Staub. Ich mache dasselbe bei der Kommode, dem Kopfteil des Betts und der Stereoanlage und bekomme das gleiche Ergebnis. Der Mörder hat alles abgewischt, um seine Fingerabdrücke zu beseitigen. Das ist zwar nicht besonders originell, aber als ich einen Geruch wahrnehme und meine Finger an die Nase hebe, ändert sich alles. Der Geruch stammt von einem Desinfektionsspray, wie man es auf Intensivstationen verwendet. Es tötet nicht nur Keime, sondern zerstört, als Nebenwirkung, auch DNS-Material – Schweiß, Haut, Haare. Indem der Täter alles im Raum damit besprüht und anschließend die restliche Flüssigkeit über den Teppich und an die Wände geschüttet hat, hat er sichergestellt, dass sich die Leute vom NYPD mit ihren speziellen Staubsaugern gar nicht erst bemühen müssen.

Plötzlich wird mir klar, dass es sich hier um alles andere als ein lehrbuchmäßiges Tötungsdelikt wegen Geld, Drogen oder sexueller Befriedigung handelt. Dieser Mordfall ist etwas Außergewöhnliches.

Kapitel zwei

Nicht jeder weiß es – oder interessiert sich dafür –, doch der wichtigste Grundsatz der Forensik ist die Locard’sche Regel. Sie besagt: »Jeder Kontakt zwischen Täter und Tatort hinterlässt eine Spur.« Während ich in dem Raum stehe, umgeben von Dutzenden Stimmen, frage ich mich, ob Professor Locard wohl so etwas wie dem Zimmer 89 begegnet ist: Alles, was der Mörder berührt hat, befindet sich jetzt in einer Badewanne voll Schwefelsäure, ist sauber gewischt oder durchtränkt von industriellem Desinfektionsmittel. Ich bin überzeugt, dass keine Zelle, kein Molekül von ihm zurückgeblieben ist.

Ein Jahr zuvor hatte ich ein kaum beachtetes Buch über moderne Ermittlungstechniken geschrieben. Im Kapitel mit der Überschrift »Neue Herausforderungen« schrieb ich, dass mir die Verwendung von antibakteriellem Spray nur einmal begegnet sei – und zwar bei einem hochprofessionell durchgeführten Mord an einem Geheimdienstagenten in der Tschechischen Republik. Der Fall verhieß nichts Gutes, und bis auf den heutigen Tag ist er nicht aufgeklärt. Wer immer im Zimmer 89 gewohnt hat, kannte sich offenbar gut aus in seinem Geschäft. Darum beginne ich die Untersuchung des Raums mit allem gebotenen Respekt.

Besonders ordentlich war der Täter allerdings nicht. Zwischen dem anderen Müll entdecke ich neben dem Bett einen leeren Pizzakarton. Ich will gerade darüber hinwegsteigen, als mir klar wird, dass der Täter vermutlich dort sein Messer deponiert hatte: auf dem Pizzakarton, leicht zu erreichen, so natürlich, dass Eleanor es wahrscheinlich nicht mal bemerkt hat.

Ich stelle sie mir auf dem Bett vor, wie sie unter der zerwühlten Bettdecke nach seinen Genitalien greift. Sie küsst ihn auf die Schulter, die Brust, nimmt ihn in den Mund. Vielleicht ahnt der Typ, was gleich kommt, vielleicht auch nicht: Zu den Nebenwirkungen von GHB gehört, dass es den Würgereflex unterdrückt. Da es keinen Grund gibt, warum eine Person sich nicht ein achtzehn, zwanzig oder fünfundzwanzig Zentimeter langes Ding in den Mund schieben kann, zählen zu den Orten, an denen man GHB am leichtesten kaufen kann, Schwulensaunen. Und Sets von Pornofilmen.

Ich stelle mir seine Hände vor, wie sie Eleanor packen – er wirft sie auf den Rücken, setzt seine Knie links und rechts von ihrer Brust auf. Sie glaubt gerade, der Typ bringe sich in Stellung für ihren Mund, da muss er, wie zufällig, die rechte Hand neben das Bett fallen gelassen haben. Unbemerkt tasten seine Finger nach dem Deckel des Pizzakartons, dann greifen sie nach dem Messer. Es ist kalt und billig, aber, weil es neu ist, mehr als scharf genug, um die Sache zu erledigen.

Wer den beiden von hinten zugeschaut hätte, hätte gesehen, wie sie den Rücken durchdrückt, gehört, wie sie eine Art Stöhnen von sich gibt – und geglaubt, dass der Typ in ihren Mund eingedrungen ist. Ist er aber nicht. In ihre von den Drogen geweiteten Augen tritt ein angstvoller Ausdruck. Er legt die linke Hand fest auf ihren Mund und drückt ihren Kopf so weit nach hinten, dass die Kehle freiliegt. Sie bäumt sich auf und windet sich, versucht, die Arme einzusetzen, aber er hat das vorausgesehen. Er setzt sich rittlings auf ihre Brüste, drückt die gebeugten Knie auf ihre Bizepsmuskeln – an der Leiche, die in der Badewanne liegt, sind die beiden blauen Flecken gerade eben zu erkennen. Eleanor ist hilflos. Seine rechte Hand hebt sich in ihr Blickfeld – sie erblickt sie und versucht zu schreien, während sie sich wie verrückt wehrt und sich mit aller Macht befreien will. Der geriffelte Stahl des Pizzamessers blitzt auf, vorbei an ihrer Brust, auf ihre blasse Kehle zu. Ein kräftiger Schnitt …

Das Blut spritzt auf den Nachttisch. Jetzt, da eine der Arterien, die das Gehirn versorgen, vollständig durchtrennt ist, muss es sofort vorbei gewesen sein. Eleanor sackt zusammen, röchelt und verblutet. Mit ihrem Restbewusstsein erkennt sie, dass sie soeben Zeugin ihrer eigenen Ermordung geworden ist. Alles, was sie war und sich erhofft hatte, ist weg. So hat er es getan – er ist gar nicht in ihr gewesen. Man muss wohl für wenig dankbar sein, wie immer …

Der Mörder macht sich daran, das Säurebad vorzubereiten, und zieht das blutige weiße Hemd aus, das er getragen haben muss – gerade eben wurden Stücke davon unter Eleanors Leiche in der Badewanne gefunden –, außerdem das Messer: zehn Zentimeter lang, schwarzer Plastikgriff, millionenfach in irgendwelchen Ausbeutungsbetrieben in China produziert.

Da ich von meiner Vergegenwärtigung des Tathergangs noch ganz erschüttert bin, bemerke ich kaum, dass mir jemand seine raue Hand auf die Schulter legt. Kaum spüre ich sie, schüttle ich sie ab, bereit, dem Typ auf der Stelle den Arm zu brechen – ein Echo aus meinem früheren Leben, leider. Er murmelt eine knappe Entschuldigung, sieht mich seltsam an und will mich beiseitedrängen. Es ist der Leiter des Forensik-Teams – drei Männer und eine Frau –, sie stellen die UV-Lampen auf und packen die Behältnisse mit dem blauen Fluoreszenzfarbstoff aus, mit denen sie die Matratze auf Spermaflecken untersuchen wollen. Von dem Desinfektionsmittel wissen sie noch nichts, und ich sage auch nichts davon – soweit ich erkenne, hat der Mörder einen Teil des Betts vergessen. Sollte das zutreffen, dürften sie, angesichts des Charakters des Eastside Inn, Tausende positive Treffer erhalten, die bis in die Zeit zurückreichen, als Prostituierte noch Netzstrümpfe trugen.

Tief in Gedanken mache ich ihnen Platz. Ich versuche alles auszublenden, denn der Raum, die ganze Situation verströmt etwas Beunruhigendes. Ich bin nicht ganz sicher, was. Das Szenario stimmt nur teilweise, und ich kann nicht sagen, warum. Ich schaue mich um und gehe noch einmal alles durch, was ich gesehen habe, aber ich komme einfach nicht darauf – ich habe das leise Gefühl, dass es sich auf etwas von früher am Abend bezieht. Ich versetze mich zurück und spule gedanklich das Band bis zu jenem Zeitpunkt zurück, als ich den Tatort betrat.

Worum handelte es sich? Ich zapfe mein Unterbewusstsein an und versuche, meinen ersten Eindruck zurückzuholen – es war etwas, das von der Gewalt losgelöst ist, eine Kleinigkeit, aber von größter Bedeutung.

Wenn ich es nur zu fassen bekäme … dieses Gefühl … es ist … es ist irgendein Wort, das mir jetzt partout nicht einfällt. Ich erinnere mich, in meinem Buch geschrieben zu haben, dass es ungeprüfte Annahmen sind – Annahmen, die man voraussetzt, ohne sie zu hinterfragen –, die einen jedes Mal straucheln lassen. Und dann komme ich darauf.

Beim Betreten des Zimmers habe ich das Sixpack auf der Kommode und einen Karton Milch im Kühlschrank gesehen, die Titel einiger CDs wahrgenommen, die neben dem Fernseher lagen, den Eyeliner im Abfalleimer bemerkt. Und der Eindruck – das Wort, das mir als Erstes in den Sinn kam, aber nicht bis in mein Bewusstsein vordrang, war »weiblich«. Ich habe das Geschehen in Zimmer 89 richtig rekonstruiert, nur das Wichtigste hatte ich übersehen. Es war gar nicht ein junger Typ, der in dem Hotelzimmer wohnte. Es war gar nicht ein nackter Mann, der mit Eleanor Sex hatte und ihr die Kehle durchschnitt. Es ist gar kein cleverer Typ gewesen, der ihre Gesichtszüge mit Säure zerstört und Desinfektionsmittel in dem Zimmer ausgegossen hat.

Sondern eine Frau.

Kapitel drei

Ich habe in meinem Beruf viele Mächtige kennengelernt, doch bin ich nur einem Menschen mit echter natürlicher Autorität begegnet – der Sorte Mann, die einen mit einem geflüsterten Wort zum Schweigen bringen kann. Er steht jetzt im Flur. Kommt auf mich zu und sagt den Leuten vom Spurensicherungsteam, sie sollen warten: Die Feuerwehrleute wollen die Säure abpumpen, bevor sich jemand Verätzungen zuzieht.

»Aber behaltet eure Plastikhandschuhe an«, rät er. »Dann könnt ihr euch im Flur ja gegenseitig gratis die Prostata abtasten.« Alle lachen – bis auf die Leute vom Spurensicherungsteam.

Bei dem Mann handelt es sich um Ben Bradley, den Lieutenant der Mordkommission, der die Ermittlungen in dem Mordfall leitet. Er war unten im Büro des Hotelmanagers und hat versucht, den Dreckskerl ausfindig zu machen, der den Laden leitet. Er ist ein hochgewachsener Schwarzer – Bradley, nicht der Dreckskerl –, Anfang fünfzig, hat große Hände und trägt eine Arbeiterjeans mit umgekrempelten Hosenbeinen. Seine Frau hat ihn kürzlich zum Kauf der Jeans überredet – ein zum Scheitern verurteilter Versuch, sein Image aufzubessern. Stattdessen sieht er darin, wie er selbst meint, wie eine Figur aus einem Steinbeck-Roman aus, wie ein zeitgenössischer Flüchtling aus den Great Plains.

So wie all die anderen Ermittler in solchen Mordfällen empfindet auch er wenig Zuneigung für die Forensik-Spezialisten. Zum einen wurde die Arbeit vor einigen Jahren ausgelagert, und es tauchten überbezahlte Leute wie diese auf, in frisch gebügelten weißen Arbeitsoveralls mit Aufschriften wie »Forensic Biological Services, Inc.« auf dem Rücken. Und zum anderen – und das brachte für ihn das Fass zum Überlaufen – liefen diese beiden Shows, die die Forensik in den Mittelpunkt rückten, mit großem Erfolg im Fernsehen und hatten zu einem unerträglichen Ausbruch von Promi-Allüren bei den Forensik-Experten geführt.

»Herrgott noch mal«, hatte er sich kürzlich mir gegenüber beschwert, »gibt es in diesem Land eigentlich noch jemanden, der nicht von einem Auftritt in einer Reality-Show träumt?«

Während er den Möchtegern-Promis zusieht, wie sie ihre Laborutensilien wieder in ihre Koffer verstauen, sieht er mich. Ich stehe schweigend an der Wand und schaue zu – eine Beschäftigung, mit der ich gefühlt mein halbes Leben zugebracht habe. Er ignoriert die Leute, die nach ihm rufen, und bahnt sich seinen Weg zu mir. Wir geben uns nicht die Hand. Ich weiß nicht, warum, es ist nur eben nie unsere Art gewesen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob wir Freunde sind – aber weil ich mich so ziemlich aus allem heraushalte, sollte ich mir wahrscheinlich kein Urteil erlauben. Doch wir respektieren einander – wenn das denn hilft.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagt er.

Ich nicke und mustere seine umgekrempelte Arbeitsjeans und die schwarzen Arbeitsstiefel – ideal, um durch das Blut und die Scheiße an einem Tatort zu waten.

»Wie sind Sie hergekommen – mit dem Traktor?«, frage ich.

Er lacht nicht. Ben lacht eigentlich nie, er hat den trockensten Humor, den man sich vorstellen kann. Was nicht heißt, dass er nicht witzig ist. »Konnten Sie sich schon umschauen, Ramón?«, fragt er ruhig.

Ich heiße nicht Ramón, und das weiß er auch. Aber weil er außerdem weiß, dass ich bis vor Kurzem einem der geheimsten Nachrichtendienste unseres Landes angehörte, spielt er vermutlich auf Ramón García an. Ramón war ein FBI-Agent, der sich unendlich viel Mühe gab, seine Identität zu verbergen, während er die Geheimnisse unseres Landes an die Russen verriet – und dann seine Fingerabdrücke überall auf den Müllsäcken hinterließ, in denen er die gestohlenen Dokumente ablieferte. Ramón war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der unfähigste Geheimagent aller Zeiten. Wie gesagt, Ben ist sehr witzig.

»Ja, ich habe ein bisschen was gesehen«, erwidere ich. »Was wissen Sie über die Frau, die in diesem Loch gehaust hat? Sie ist doch die Haupt-Tatverdächtige, oder?«

Ben kann zwar vieles verbergen, aber jetzt spricht aus seinen Augen doch Verwunderung – eine Frau?!

Ausgezeichnet, denke ich. Ramón schlägt zurück.

Trotzdem, Ben ist ein cooler Cop. »Das ist ja interessant, Ramón«, sagt er und versucht herauszufinden, ob ich wirklich an etwas dran bin oder einfach nur meinen Zenit überschritten habe. »Wie sind Sie denn darauf gekommen?«

Ich zeige auf das Sixpack auf der Kommode, die Milch im Kühlschrank. »Welcher Mann macht denn so etwas? Ein Typ hält das Bier kalt und lässt die Milch umkippen. Und sehen Sie sich mal die DVDs an – romantische Komödien, und kein einziger Action-Film darunter. Wollen wir ein bisschen herumgehen?«, rede ich weiter. »Rausfinden, wie viele andere Typen in dieser Absteige Eyeliner in ihre Mülleimer werfen? So etwas macht nur eine Frau – eine, die nicht hierhergehört, egal, welche Rolle sie spielt.«

Er wägt meine Worte ab und hält meinem Blick stand, es ist aber nicht zu erkennen, ob er mir meine Hypothese abnimmt. Bevor ich fragen kann, erscheinen hinter den Gefahrgut-Tonnen der Feuerwehr zwei junge Detectives – eine Frau mit ihrem Kollegen – und bleiben vor Bradley stehen.

»Wir haben was, Ben!«, ruft die Polizistin. »Es geht um die Bewohnerin …«

Ben nickt gelassen. »Ja, es ist eine Frau – erzählt mir was, was ich noch nicht weiß. Was ist denn mit ihr?«

Er hat es mir also abgenommen. Die beiden Cops sehen ihn ungläubig an und fragen sich, warum, zum Teufel, er das weiß. Bis morgen früh dürfte ihr Chef eine noch größere Legende sein. Und ich? Ich finde den Typen schamlos – will er meine Erkenntnis umstandslos auf seinem Konto verbuchen? Ich muss lachen.

Bradley wirft mir einen Blick zu. Einen Moment lang glaube ich, er würde mein Lachen erwidern, aber da habe ich mich getäuscht. Doch seine schläfrigen Augen scheinen zu zwinkern, als er sich wieder dem Polizistenpaar zuwendet. »Woher wisst ihr eigentlich, dass es sich um eine Frau handelt?«

»Wir haben das Hotelregister und sämtliche Gästeakten«, antwortet der männliche Detective, Connor Norris mit Namen.

Plötzlich ist Bradley hellwach. »Vom Manager? Ihr habt den Dreckskerl gefunden – ihn dazu gebracht, dass er das Büro aufschließt?«

Norris schüttelt den Kopf. »Es sind vier Haftbefehle wegen Drogenhandel auf ihn ausgeschrieben – wahrscheinlich befindet er sich schon auf halbem Weg nach Mexiko. Nein, Alvarez hier« – er zeigt auf seine Kollegin – »hat oben einen Typ wiedererkannt, der wegen Einbruchdiebstahl gesucht wird.« Er blickt seine Kollegin an, unsicher, ob er noch mehr sagen darf.

Alvarez zuckt mit den Achseln, hofft auf das Beste und packt aus. »Ich hab dem Einbrecher Haftverschonung versprochen, wenn er die Schlösser zum Büro des Geschäftsführers und zum Safe knackt.«

Sie blickt Bradley nervös an und fragt sich, was sie sich damit wohl eingebrockt hat.

Ihr Chef verzieht keine Miene. Seine Stimme wird nur ein wenig leiser, sogar weicher. »Und dann?«

»Insgesamt acht Schlösser, er hat sie in weniger als einer Minute geknackt. Kein Wunder, dass in dieser Stadt nirgends mehr was sicher ist.«

»Was haben Sie in der Gästeakte der Frau gefunden?«, fragt Bradley.

»Quittungen. Die hat hier etwas länger als ein Jahr gewohnt«, sagt Norris. »Hat bar bezahlt und das Telefon nicht anschließen lassen – kein Fernseher, kein Kabelanschluss, nichts. Die wollte nicht aufgespürt werden.«

Bradley nickt. Genau das hatte er sich gedacht. »Wann hat einer der Zimmernachbarn die Frau zuletzt gesehen?«

»Vor drei oder vier Tagen. Keiner weiß was Genaues«, berichtet Norris.

Leise sagt Bradley: »Vermutlich ist sie untergetaucht, unmittelbar nachdem sie ihr Date ermordet hat. Was ist mit ihrer Identität? Es muss doch etwas in ihrer Gästeakte gewesen sein.«

Alvarez prüft ihre Notizen. »Fotokopien ihres Führerscheins, ausgestellt in Florida, und ein Studentenausweis oder so was – ohne Lichtbild«, sagt sie. »Ich wette, die sind echt.«

»Überprüfen Sie sie trotzdem«, weist Bradley die beiden an.

»Wir haben die Kopien Petersen gegeben«, sagt Norris und meint damit einen weiteren jungen Polizisten. »Er arbeitet schon daran.«

Bradley nimmt das zur Kenntnis. »Kennt der Einbrecher – oder irgendeiner der anderen Hotelgäste – die Tatverdächtige, weiß man irgendwas über sie?«

Sie schütteln den Kopf. »Niemand kennt sie. Die haben sie nur kommen und gehen gesehen«, sagt Norris. »Anfang zwanzig, etwa eins fünfundsiebzig groß, super Figur laut Aussage des Einbrechers …«

Bradley hebt die Augen gen Himmel. »Nach seinen Standards heißt das wahrscheinlich, sie hat zwei Beine.«

Norris lächelt, Alvarez aber nicht – sie wünscht sich einfach, Bradley würde sich zu ihrer Abmachung mit dem Einbrecher äußern. Sie wenigstens zusammenstauchen, damit sie’s hinter sich hätte. Stattdessen muss sie weiter mitspielen, professionell agieren: »Nach Aussage einer sogenannten Schauspielerin auf Zimmer 114 hat die Frau dauernd ihr Aussehen geändert. Mal Marilyn Monroe, dann wieder Marilyn Manson, manchmal beide Marilyns am selben Tag. Dann wären da noch Drew und Britney, Dame Edna, k. d. lang …«

»Meinen Sie das ernst?«, fragt Bradley. Die jungen Polizisten nicken und rattern weitere Namen herunter, so als ob sie es beweisen wollten. »Ich freue mich schon darauf, das Fahndungsfoto zu sehen.« Ihm wird klar, dass alle üblichen Wege einer Mordermittlung versperrt sind. »Sonst noch etwas?«

Sie schütteln den Kopf. Das war’s.

»Am besten, wir besorgen uns Aussagen von den Verrückten – oder wenigstens von denen ohne Haftbefehl, was wahrscheinlich auf drei hinausläuft.«

Bradley entlässt sie und dreht sich zu mir um. Ich stehe im Schatten. Er will mir etwas zeigen, was ihn ziemlich beunruhigt.

»Schon mal so was gesehen?« Er zieht Plastikhandschuhe an und nimmt von einem Regal im begehbaren Kleiderschrank eine Metallbox. Sie ist khakifarben, so schmal, dass ich sie nicht bemerkt habe. Er will sie gerade öffnen, wendet sich aber noch kurz zu Alvarez und Norris um. Sie verlassen gerade das Zimmer, schlängeln sich durch die Feuerwehrleute, die jetzt ihre Gefahrgut-Pumpen einpacken.

»Hey, ihr beide!«, ruft er. Sie drehen sich um. »Was den Einbrecher angeht: Das war gute Arbeit.«

Die Erleichterung steht Alvarez ins Gesicht geschrieben. Kein Wunder, dass das Team Bradley verehrt.

Ich betrachte die Metallbox – bei näherem Hinsehen ähnelt sie einem Attaché-Koffer, an der Seite ist in weißen Buchstaben eine Seriennummer aufgeprägt. Offensichtlich dient der Koffer irgendwelchen militärischen Zwecken, ich erinnere mich vage, so etwas schon einmal gesehen zu haben. »Medizinkoffer fürs Schlachtfeld?«, frage ich ohne große Überzeugung.

»Fast«, sagt Bradley. »Zahnmedizin.« Er klappt den Koffer auf, und zum Vorschein kommt, in Schaumstoff gebettet, ein komplettes Set von Armee-Zahnarztinstrumenten: Spreizer, Sonden, Extraktionszangen.

Ich starre Bradley an. »Sie hat dem Opfer die Zähne gezogen?«

»Alle. Wir haben keine gefunden, ich nehme also an, sie hat sie entsorgt. Vielleicht hat sie sie auch ins Klo gespült, und wir haben Glück – darum reißen wir gerade die Rohrleitungen auf.«

»Wurden die Zähne gezogen, bevor oder nachdem das Opfer getötet wurde?«

Ben merkt, worauf ich hinauswill. »Nein, das war keine Folter. Das Team des Coroners hat einen Blick in den Mund der Toten geworfen. Die sind sich ziemlich sicher, dass das nach dem Tod gemacht wurde – um die Identifikation zu verhindern. Das ist auch der Grund, warum ich Sie gebeten habe vorbeizukommen – ich habe mich an etwas in Ihrem Buch erinnert. Es ging da um zahntechnische Dinge im Zusammenhang mit einem Mord. Wenn der in den Staaten stattgefunden hat, könnte es vielleicht einen …«

»Da ist kein Zusammenhang – das war in Schweden«, sage ich. »Ein Typ hatte den Zahnersatz und die Kiefer des Opfers mit einem Chirurgenhämmerchen zertrümmert, mit demselben Ziel, nehme ich an. Aber Extraktionszangen? So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Na, jetzt haben wir’s«, erwidert Ben.

»Inspirierend. Dieses Voranschreiten der Zivilisation, meine ich.«

Wenn ich meine Verzweiflung über die Menschheit einmal außen vor lasse, dann muss ich sagen, dass die Vorgehensweise der Täterin mich zunehmend beeindruckt. Es kann nicht leicht gewesen sein, einer Toten zweiunddreißig Zähne zu ziehen. Offenbar hatte sie ein wichtiges Prinzip verstanden, etwas, das den meisten Menschen entgeht, die sich in diesem Geschäft betätigen: Niemand wird je wegen eines Mordes verhaftet. Sondern nur, weil er ihn nicht richtig geplant hat.

Ich zeige auf den Metallkoffer. »Wo kommt ein Zivilist denn an so was ran?«

Ben zuckt mit den Achseln. »Wo er will. Ich habe einen Freund im Pentagon angerufen, er ist daraufhin ins Archiv gegangen: Vierzigtausend Koffer waren Überschuss – die Armee hat sie im Laufe der vergangenen Jahre über Survival-Läden ausgemustert. Wir lassen die Besitzer der Koffer ermitteln, aber das dürfte uns auch nicht weiterhelfen. Ich bezweifle, dass jemand …«

Er zögert – er hat sich in einem Labyrinth verirrt. Er lässt den Blick durchs Zimmer schweifen und versucht, einen Weg nach draußen zu finden. »Ich habe kein Gesicht«, sagt er leise. »Keine zahnärztlichen Unterlagen, keine Zeugen – und was am schlimmsten ist, kein Motiv. Sie kennen dieses Geschäft besser als jeder andere – wenn ich Sie bitten würde, den Fall aufzuklären, welche Erfolgsquote würden Sie einschätzen?«

»Im Moment? Ungefähr die gleiche wie bei PowerBall, oder wie diese Lotterie heißt«, antworte ich. »Man wird zum Tatort gerufen und denkt sofort: Amateur, schon wieder ein Drogen- oder Sexualmord. Dann schaut man genauer hin – ich habe nur ein paar gesehen, die auch nur annähernd so gut ausgeführt waren wie der hier.« Dann erkläre ich ihm die Sache mit dem Desinfektionsspray, aber natürlich will er das nicht hören.

»Vielen Dank für die Aufmunterung.« Gedankenverloren reibt er Zeigefinger und Daumen aneinander. Weil ich Ben über einen langen Zeitraum aus der Nähe beobachten konnte, weiß ich: Es bedeutet, dass er jetzt gern eine rauchen würde. Er hat, wie er mir einmal erzählte, das Rauchen in den Neunzigern aufgegeben, und seitdem muss er bei zahllosen Gelegenheiten geglaubt haben, eine Zigarette könnte ihm helfen. Das ist jetzt offenbar so eine. Um über das Verlangen hinwegzukommen, redet er. »Sie kennen ja mein Problem. Marcie hat mir mal gesagt« – Marcie ist seine Ehefrau –, »wenn ich einem Opfer zu nahe komme, stelle ich mir am Ende vor, ich sei der einzige Freund, den es noch hat.«

»Und dass Sie sein Anwalt sind?«

»Genau das Wort, das sie gebraucht hat. Aber das Einzige, was ich nie konnte – Marcie sagt, dass es das Einzige ist, was sie an mir mag –, ist, einen Freund im Stich zu lassen.«

Der Anwalt der Toten, denke ich. Es gibt Schlimmeres. Ich wünschte, ich könnte etwas tun, um ihm zu helfen, aber es gibt nichts – es ist nicht meine Ermittlung. Außerdem bin ich, obwohl noch keine vierzig, im Ruhestand.

Ein Techniker betritt das Zimmer und ruft lauthals mit asiatischem Akzent: »Ben?« Bradley dreht sich um. »Im Keller!«

Kapitel vier

Drei Kriminaltechniker in Overalls haben eine alte Backsteinmauer eingerissen. Sie tragen zwar Gesichtsmasken, ersticken trotzdem fast an dem Gestank, der aus der Höhlung dringt. Aber sie haben keine Leiche gefunden – verwesendes Fleisch hat einen ganz eigenen, besonderen Geruch. Hier handelt es sich um austretendes Abwasser, Schimmel und hundert Generationen Rattenscheiße.

Bradley bahnt sich einen Weg durch mehrere, hintereinanderliegende Kellerräume und bleibt im grellen Licht einer Reihe von Arbeitslampen stehen, die die eingerissene Wand beleuchten. Ich folge dichtauf, zusammen mit den anderen Ermittlern, und komme gerade rechtzeitig dazu, um zu sehen, wie der Asiat – ein Sino-Amerikaner, den alle, aus offensichtlichen Gründen, Bruce nennen – mit einer tragbaren Lampe tief in den kurz zuvor geöffneten Raum leuchtet.

Darin befindet sich ein Wirrwarr von Rohrleitungen. Bruce erklärt, dass sie, nachdem sie das Bad in Zimmer 89 auf den Kopf gestellt haben, ohne etwas zu finden, was sich im U-Rohr verfangen hat, einen Schritt weiter gegangen sind. Sie hätten sich von den Jungs vom Spurensicherungsteam ein Röhrchen mit dem blauen Fluoreszenzfarbstoff besorgt, es mit einem halben Liter Wasser gemischt und das Ganze das Abflussrohr runtergespült.

Da es fünf Minuten gedauert habe, bis die gesamte Flüssigkeit durchgelaufen war, wüssten sie, dass irgendwo zwischen dem Keller und Zimmer 89 eine Verstopfung bestehe. Und jetzt hätten sie die gefunden – in dem Gewirr der Rohrleitungen und illegalen Abzweigungen hinter der Mauer.

»Bitte sagen Sie mir, dass es die Zähne sind«, sagt Bradley. »Hat sie sie im WC runtergespült?«

Bruce schüttelt den Kopf und leuchtet mit der tragbaren Lampe auf die Pampe aus verkohltem Papier in einem Winkelrohr. »Das Rohr kommt geradewegs aus Zimmer 89 – wir haben das getestet«, sagt er und zeigt auf den Brei. »Was immer es ist, sie hat’s wahrscheinlich verbrannt und ins Klo gespült. Das war zwar genau richtig – nur hat sie nicht mit dem Pfusch am Bau gerechnet.«

Mit einer Pinzette nimmt Bradley die pampige Masse auseinander. »Schnipsel von Quittungen, Fetzen einer U-Bahn-MetroCard, eine Kinokarte«, zählt er allen auf, die zuschauen. »Wie’s aussieht, ist sie das Zimmer noch ein letztes Mal durchgegangen, um alles loszuwerden, was sie übersehen hatte.« Sorgfältig trennt er weitere verbrannte Bruchstücke voneinander. »Eine Einkaufsliste – könnte nützlich sein, die Handschrift abzugleichen, falls wir jemals …«

Er hält inne und blickt auf ein Blatt Papier, das nicht ganz so verkohlt ist wie die anderen. »Sieben Ziffern. Handgeschrieben: 9025234. Ist nicht vollständig, der Rest ist verbrannt.«

Er hält den Papierfetzen der Gruppe hin, tatsächlich aber spricht er mit mir. Als wäre ich ein Entschlüsselungsexperte, nur weil ich früher bei einem Geheimdienst gearbeitet habe. Sieben handgeschriebene Ziffern, der Rest davon vernichtet: Sie können alles bedeuten. Aber ich bin im Vorteil. Die Leute in meiner früheren Branche befassen sich ständig mit Bruchstücken, darum lasse ich mich auf die Diskussion ein.

Die anderen fangen natürlich sofort an zu spekulieren – Bankkonto, Kreditkarte, Postleitzahl, eine IP-Adresse, eine Telefonnummer. Alvarez sagt, es gebe keine Postleitzahl mit 902, und sie hat recht. Fast.

»Ja, aber das kanadische System ist mit unserem verbunden«, entgegnet ihr Petersen, der junge Detective mit der Figur eines Linebackers. »902 – das ist Nova Scotia. Mein Großvater hatte eine Farm da oben.«

Bradley gibt keine Antwort. Er sieht mich immer noch an, will meine Meinung hören. Bittere Erfahrung hat mich gelehrt, mich erst zu äußern, wenn ich sicher bin, also zucke ich nur mit den Achseln – was dazu führt, dass Bradley und alle anderen weitermachen.

Tatsächlich denke ich über den Wandkalender nach, über den ich mir den Kopf zerbreche, seit ich ihn gesehen habe. Dem Preisschild auf der Rückseite zufolge hat er vierzig Dollar gekostet und wurde bei Rizzoli gekauft, einem gehobenen Buchladen. Viel Geld für einen Kalender, den man nie benutzt. Bei der Täterin handelt es sich offenbar um eine intelligente Person, deshalb kommt mir der Gedanke, dass der Kalender vielleicht gar nicht zur Datumsangabe diente. Vielleicht hatte sie ein Faible für antike Bauwerke.

Ich habe meinen Beruf größtenteils in Europa ausgeübt, und obwohl es schon lange her ist, dass ich so weit nach Osten gereist bin, bin ich mir sicher, dass 90 die internationale Vorwahl für die Türkei ist. Ich bin sogar mal einen Tag lang in dem Land herumgereist, und da wird einem klar, dass es da mehr griechisch-römische Ruinen gibt als in jedem anderen Land der Welt. Wenn 90 die Landesvorwahl ist, handelt es sich bei den folgenden Ziffern möglicherweise um eine Ortsvorwahl und den Teil einer Telefonnummer. Unbemerkt gehe ich in den ruhigsten Teil des Kellers und rufe mit meinem Handy bei Verizon an. Ich will mich schlaumachen über türkische Vorwahlnummern.

Während ich darauf warte, dass im Kundenzentrum der Telefongesellschaft jemand abnimmt, blicke ich auf die Uhr und stelle erschrocken fest, dass es bereits frühmorgens ist. Es ist inzwischen zehn Stunden her, dass ein Hausmeister, der einem Stromausfall im Nachbarzimmer nachging, die Tür zum Zimmer 89 aufschloss, um Zugang zu einem Sicherungskasten zu bekommen. Kein Wunder, dass alle müde aussehen.

Schließlich erreiche ich jemanden bei Verizon, eine Frau mit starkem Akzent – vermutlich in einem Call-Center in Mumbai –, und erfahre, dass mich meine Erinnerung nicht getrogen hat: 90 ist tatsächlich die internationale Vorwahl für die Türkei. »Und 252? Ist das eine Ortsvorwahl?«

»Ja, für eine Provinz … Muğla oder so ähnlich.« Dabei gibt sie ihr Bestes, den Namen richtig auszusprechen. Die Türkei ist ein großes Land – größer als Texas, mit einer Bevölkerung von über siebzig Millionen, und der Name sagt mir nichts. Ich bedanke mich bei der Frau und will gerade auflegen, als sie hinzusetzt: »Ich weiß zwar nicht, ob Ihnen das weiterhilft, aber hier steht, dass eine der größten Städte der Provinz ein Ort an der ägäischen Küste ist. Er heißt Bodrum.«

Bei dem Wort durchfährt es mich, ein Schauder der Angst, die auch nach so vielen Jahren kaum nachgelassen hat. Der Name schwemmt Erinnerungen an, wie Treibgut eines fernen Schiffswracks. »Tatsächlich?«, sage ich ruhig und versuche Herr meiner Gedanken zu werden. Dann erinnert mich jener Abschnitt meines Hirns, der sich mit der Gegenwart beschäftigt, daran, dass ich bei dieser Ermittlung nur Gast bin, und ich bin erleichtert. Ich möchte mit diesem Teil der Welt nie wieder etwas zu tun haben.

Ich gehe zurück ins Zimmer 89. Bradley sieht mich, und ich sage ihm, dass es sich meiner Ansicht nach bei dem Fetzen Papier um den ersten Teil einer Telefonnummer handele, er Kanada aber vergessen könne. Ich erzähle ihm von dem Kalender, worauf er erwidert, dass ihm der schon gestern Abend aufgefallen sei und dass der ihm ebenfalls Sorgen bereite.

»Bodrum? Wo liegt dieses Bodrum?«

»Das müssen Sie selbst herausfinden. In der Türkei. Der Ort ist eines der angesagtesten Sommerreiseziele der Welt.«

»So wie Coney Island?«, fragt er, ohne die Miene zu verziehen.

»Fast«, entgegne ich und stelle mir den Hafen voller extravaganter Yachten vor, die eleganten Villen, die kleine, in den Hügeln gelegene Moschee, die Cafés mit Namen wie Mezzaluna und Oxygen, voll von hormongesteuerten Gästen, mit 10-Dollar-Cappuccinos vor sich.

»Sind Sie mal dort gewesen?«, fragt Bradley.

Ich schüttle den Kopf – es gibt ein paar Dinge, über die zu sprechen mir die Regierung verboten hat. »Nein«, lüge ich. »Wieso sollte sie jemanden in Bodrum anrufen?«, frage ich mich laut, um das Thema zu wechseln.

Bradley zuckt mit den Achseln. Er will nicht spekulieren, ist mit seinen Gedanken woanders. »Der stämmige Bursche dort hat auch ganze Arbeit geleistet«, erzählt er und zeigt auf Petersen auf der anderen Seite des Raums. »Das war gar kein Studentenausweis – natürlich mit gefälschtem Namen –, den Alvarez in der Akte des Geschäftsführers gefunden hat, sondern ein Ausweis für eine Bücherei in New York.«

»Na prima«, sage ich, ohne viel Interesse. »Eine Intellektuelle.«

»Eigentlich nicht«, antwortet er. »Laut der Datenbank der Bücherei hat sie in einem Jahr nur ein Buch bestellt.« Er hält inne, mustert mich. »Ihres.«

Sprachlos erwidere ich seinen Blick. Kein Wunder, dass er mit seinen Gedanken woanders war. »Sie hat mein Buch gelesen?«, bringe ich schließlich heraus.

»Nicht nur gelesen. Sie hat es durchgearbeitet, würde ich sagen. Wie Sie gesagt haben: Es gibt nicht viele, die so professionell vorgehen. Aber jetzt wissen wir auch, warum: Die fehlenden Zähne, das Desinfektionsspray – das alles steht in Ihrem Buch, nicht wahr?«

Ich bin wie vor den Kopf geschlagen, als mir aufgeht, was das bedeutet. »Sie hat sich Teile aus unterschiedlichen Fällen zusammengesucht, hat mein Buch als eine Art Anleitung verwendet – wie man jemanden ermordet und wie man das vertuscht.«

»Genau«, sagt Bradley und lächelt, was nur höchst selten vorkommt. »Und jetzt habe ich das Vergnügen, Ihre Schülerin zu jagen, die beste der Welt.«

Kapitel fünf

Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen: Mein Buch über Ermittlungstechniken war kein Renner – sondern ein Buch, das, soweit ich das erkennen konnte, jedem verlegerischen Ideal zuwiderlief: Hatten die Leute das Buch einmal aus der Hand gelegt, wollten sie es in der Regel einfach nicht mehr weiterlesen.

Doch in dem kleinen Kader von Ermittlern, der eigentlichen Zielgruppe, schlug es ein wie eine Bombe. Es ging bis an die Grenzen der forensischen Praxis, der forensischen Wissenschaft, ja sogar der Glaubwürdigkeit. Nach genauerer Lektüre konnten aber nicht einmal die hartnäckigsten Skeptiker ihre Zweifel aufrechterhalten. Jeder von mir vorgestellte Fall beinhaltete jene kleinen Details, jene seltsame Patina aus Umständen und Motiven, mit deren Hilfe gute Ermittler das Wahre vom Falschen unterscheiden können.

Bereits einen Tag nach der Veröffentlichung stellte man sich in der geschlossenen Welt der Top-Ermittler eine Flut von Fragen. Wie, zum Teufel, kam es, dass niemand von einem dieser Fälle gehört hatte? Sie erschienen wie Verlautbarungen von einem anderen Planeten, nur die Namen waren verändert, um die Schuldigen zu schützen. Und was noch wichtiger war: Wer, zum Teufel, hatte das Buch geschrieben?

Ich hatte nicht den Wunsch, dass irgendjemand jemals dahinterkam. Aufgrund meiner früheren Arbeit hatte ich mir so viele Feinde gemacht, dass es schon egal war, und ich wollte nicht eines Morgens mein Auto anlassen und als Handvoll kosmischer Staub enden, der Ringe um den Mond bildet. Sollte ein Leser Erkundigungen über den vermeintlichen Autor einholen, würde er nur auf den Namen eines Mannes stoßen, der kürzlich in Chicago verstorben war. Eins steht aber fest: Ich habe das Buch weder um des Geldes noch um des Ruhmes willen geschrieben.

Ich habe es geschrieben, sagte ich mir, weil ich Verbrechen aufgeklärt habe, die von Menschen begangen wurden, die an der Grenze des menschlichen Einfallsreichtums operierten. Und weil ich glaubte, dass anderen Ermittlern einige der von mir erstmals verwendeten Methoden vielleicht von Nutzen sein könnten. Und das traf auch zu, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Aber es gibt auch einen tieferen Beweggrund: Ich bin noch jung – habe hoffentlich noch ein anderes, echtes Leben vor mir – und betrachte das Buch als eine Zusammenfassung, als eine Art, meiner früheren Existenz Lebewohl zu sagen.

Fast zehn Jahre lang gehörte ich der geheimsten Nachrichtendienstorganisation unseres Landes an, die so tief im Verborgenen operierte, dass nur eine Handvoll Personen überhaupt von ihrer Existenz wussten. Dem Geheimdienst oblag es, die anderen Nachrichtendienste unseres Landes zu überwachen, in der Welt der Geheimdienste als Abteilung für interne Ermittlungen zu fungieren. Insofern stellten wir, gewissermaßen, eine Rückkehr ins Mittelalter dar. Wir waren die Rattenfänger.

Obgleich die Anzahl der Mitarbeiter der sechsundzwanzig in der Öffentlichkeit bekannten – und der acht unbekannten – Geheimdienste der USA auch streng geheim ist, kann man doch sagen, dass über hunderttausend Menschen in unseren Machtbereich fielen. Eine so große Anzahl führte dazu, dass die Straftaten, in denen wir ermittelten, das gesamte Spektrum umfassten – von Landesverrat bis zu Korruption, von Mord bis zu Vergewaltigung, von Drogenhandel bis zu Diebstahl. Nur gehörten einige der Täter eben zu den besten und intelligentesten der Welt.

Die mit dieser streng vertraulichen Mission betraute Gruppe wurde von Jack Kennedy in den Anfangsmonaten seiner Regierung gegründet. Nach einem besonders schmutzigen Skandal bei der CIA – dessen Einzelheiten immer noch unter Verschluss sind – war Kennedy offenbar zu der Überzeugung gelangt, dass Angehörige von Nachrichtendiensten für menschliche Schwächen ebenso anfällig sind wie der Durchschnittsbürger. Wahrscheinlich noch anfälliger.

Unter normalen Umständen hätte das FBI als übergeordnete Ermittlungsbehörde fungiert. Unter der Fuchtel von J. Edgar Hoover ging es dort allerdings alles andere als normal zu. Hätte man ihm die Macht verliehen, intern gegen Geheimdienstler zu ermitteln, wäre das ungefähr so, nun ja, als hätte man Saddam Hussein Zugang zu den exquisitesten Waffenfabriken gewährt. Und deshalb schufen Kennedy und sein Bruder einen Geheimdienst, der mit einer noch nie dagewesenen Machtfülle ausgestattet war. Gegründet per Verfügung des Präsidenten, war er zudem einer von nur drei Geheimdiensten, die dem Präsidenten unmittelbar unterstellt waren, ohne die Aufsicht des Kongresses. Fragen Sie erst gar nicht nach den anderen beiden – auch ihre Namen zu nennen ist per Gesetz verboten.

In der abgeschotteten Welt, in der die mit der höchsten Sicherheitsüberprüfung leben, wurden die Mitarbeiter des neu gegründeten Geheimdienstes und seine schwierige Mission zunächst verunglimpft. Entzückt über die eigene Schlauheit, titulierten seine Kritiker ihn als »11. Luftlande-Divison« – anders ausgedrückt: als Kavallerie. Kaum jemand rechnete mit dem Erfolg des Dienstes, doch als dessen beeindruckende Reputation wuchs, fanden ihn die Leute nicht mehr ganz so lustig.

Wie durch gegenseitiges Einvernehmen verschwand ein Teil des Namens allmählich, bis die Geheimdienstler die neue Behörde – in ehrfürchtigem Tonfall – nur noch als »die Division« bezeichneten. Es ist nicht Eitelkeit, wenn ich sage, dass viele Mitarbeiter brillant waren. Das war auch nötig. Denn einige der Zielpersonen der Division gehörten zu den fähigsten Undercover-Agenten, die die Schattenwelt je gesehen hat. Während ihrer jahrelangen Ausbildung hatten diese Männer und Frauen gelernt, wie man log und von sich ablenkte, wie man sich verabschiedete, ohne eine Spur zu hinterlassen, wie man die Finger überall drin und Fingerabdrücke auf nichts hatte. Die Konsequenz war, dass ihre Jäger über noch größere Fähigkeiten verfügen mussten. Da der Druck, dem Wild einen Schritt voraus zu sein, ungeheuer, mitunter fast unerträglich war, war es kein Wunder, dass die Division die höchste Selbstmordrate von allen Regierungsbehörden aufwies.

Ich wurde während meines letzten Studienjahres in Harvard für diese elitäre Truppe rekrutiert, ohne dass mir das zunächst überhaupt bewusst war. Eine Headhunterin des Dienstes – eine sympathische Frau mit hübschen Beinen und überraschend kurzem Rock, die sich als stellvertretende Vorstandsvorsitzende der RAND Corporation ausgab – kam nach Harvard und sprach mit den vielversprechenden jungen Studierenden.

Ich hatte drei Jahre lang Medizin studiert, Hauptfach Pharmakologie. »Hauptfach« ist wörtlich zu verstehen. Tagsüber eignete ich mir die Theorie der Arzneimittel an, die Wochenenden waren der praktischen Anwendung gewidmet. Als ich in Boston einen Arzt konsultierte, nachdem ich mir die Symptome der Fibromyalgie angelesen und ihn davon überzeugt hatte, mir ein Rezept für Vicodin auszustellen, hatte ich eine Art Erleuchtung.

Und wenn nun ich hinter dem Schreibtisch säße und die Krankheiten – die echten und eingebildeten – der Patienten zu behandeln hätte, die ich im Wartezimmer verstohlen beobachtet hatte?

Da wurde mir klar, dass ich mich nicht für die Leiden, sondern für die inneren Antriebe der Menschen interessierte. Ich schmiss das Medizinstudium, schrieb mich in Psychologie ein, beendete mein Studium magna cum laude und stand kurz davor, meine Promotion abzuschließen.

Kaum hatte ich die Arbeit zu Ende geschrieben, bot mir die Dame im Kurzrock das doppelte Anfangsgehalt eines jeden anderen Arbeitgebers sowie nahezu grenzenlose Forschungsmittel und Beförderungsmöglichkeiten an. Die Folge: Ich schrieb ein halbes Jahr lang Berichte, die niemand las, und entwarf Fragebögen, die nie ausgefüllt wurden – bis ich dahinterkam, dass ich in Wirklichkeit gar nicht für die RAND Corporation arbeitete. Ich wurde observiert, befragt, beurteilt und überprüft. Und plötzlich war Kurzrock nirgends mehr zu sehen.

Stattdessen brachten mich zwei Männer – sehr kräftige Männer, die ich vorher noch nie gesehen hatte und nachher auch nie mehr sah – zu einem Verhörraum in einem unscheinbaren Gebäude in einem Gewerbegebiet unmittelbar nördlich der CIA-Zentrale in Langley, Virginia. Sie ließen mich eine Reihe von Formularen unterzeichnen, die mir jede Informationspreisgabe untersagten, und teilten mir anschließend mit, man habe mich für einen Posten in einem der Öffentlichkeit unbekannten Geheimdienst vorgesehen, dessen Namen zu nennen sie sich jedoch weigerten.

Ich sah sie ungläubig an und fragte mich, warum sie an mir interessiert waren. Doch wenn ich ehrlich bin, kannte ich die Antwort. Ich war ein idealer Kandidat für die Welt der Geheimdienste. Ich war intelligent, immer ein Einzelgänger gewesen und in meiner Seele zutiefst beschädigt.

Mein Vater hatte seine Familie vor meiner Geburt sitzenlassen und ward nie mehr gesehen. Ein paar Jahre später wurde meine Mutter in ihrem Schlafzimmer in unserer Wohnung an der 8 Mile Road in Detroit ermordet. Wie gesagt, es gibt einige Orte, an die ich mich zeitlebens erinnern werde.

Als elternloses Kind kam ich schließlich zu Adoptiveltern in Greenwich, Connecticut – acht Hektar manikürte Rasenflächen, die besten Schulen, die man für Geld kaufen konnte, das ruhigste Haus, das man sich nur vorstellen kann. Nachdem die Familie vollständig war, gaben Bill und Grace Murdoch vermutlich ihr Bestes, aber ich konnte ihnen nie der Sohn sein, den sie sich gewünscht hatten.

Elternlose Kinder lernen zu überleben. Sie kommen früh dahinter, ihre Gefühle zu verbergen, und wenn der Schmerz unerträglich wird, bauen sie sich eine Höhle im Kopf und verstecken sich darin. Nach außen hin versuchte ich der zu sein, den Bill und Grace sich meiner Meinung nach wünschten – und wurde am Ende doch für beide zu einem Fremden.

Während ich in dem Raum in der Nähe von Langley saß, wurde mir klar, dass die Annahme einer neuen Identität, das Verbergen von so vielem, was einen ausmacht und was man fühlt, das ideale Training für die Welt der Geheimdienste darstellt.

In den folgenden Jahren, in denen ich unter zahlreichen falschen Namen in der Welt herumreiste, begriff ich, dass die besten Geheimagenten, die mir begegneten, bereits vor ihrem Eintritt in einen Geheimdienst gelernt hatten, ein Doppelleben zu führen.

Zu ihnen gehörten wortkarge Männer in einer homophoben sozialen Umwelt, heimliche Ehebrecher mit Ehefrauen in den Vorstädten, Spieler und Süchtige, Alkoholiker und Perverse. Worin ihre Probleme auch bestanden, sie hatten alle lange geübt, der Welt ein Trugbild ihrer selbst vorzugaukeln. Von dort war es nur ein kleiner Schritt, eine weitere Maske aufzusetzen und der Regierung zu dienen.

Ich nehme an, die beiden kräftigen Männer merkten, dass etwas davon in mir steckte. Schließlich kamen sie zu jenem Teil, in dem es um gesetzwidriges Verhalten ging. »Erzählen Sie uns von Ihren Drogenerfahrungen.«

Mir fiel ein, was jemand einmal über Bill Clinton gesagt hatte: Er habe nie eine Frau getroffen, die ihm nicht gefiel. Wahrscheinlich wäre es wenig hilfreich gewesen, ihnen zu antworten, dass ich über Drogen genauso dachte. Ich leugnete selbst flüchtige Kenntnisse, froh darüber, dass ich nie die draufgängerische Lebensweise gepflegt hatte, die oftmals mit Drogenkonsum einhergeht. Ich hatte Drogen nur im Geheimen genommen und war meinen eigenen Regeln gefolgt – ich dröhnte mich ausschließlich allein zu, versuchte nicht, in Bars oder Clubs Frauen aufzureißen, fand, dass Partydrogen etwas für Amateure waren, und die Vorstellung, in einem Open-Air-Drogenmarkt herumzukurven, kam mir vor wie ein Rezept, erschossen werden zu wollen.

Es klappte. Ich wurde niemals wegen Drogenkonsum festgenommen oder verhört. Nachdem ich also bereits erfolgreich ein geheimes Leben geführt hatte, besaß ich genügend Selbstvertrauen, in ein zweites zu schlüpfen. Als die Männer schließlich aufstanden und wissen wollten, wie lange ich brauchen würde, über ihr Angebot nachzudenken, bat ich einfach um einen Kugelschreiber.

So war das also abgelaufen. Ich unterzeichnete die vorbereitete Vereinbarung in einem fensterlosen Raum in einem trostlosen Gewerbegebiet und trat in die Welt der Geheimdienste ein. Ob ich damals einen Gedanken an den damit verbundenen Preis verschwendete, an die ganz normalen Dinge, die ich nie erleben oder mit jemandem teilen würde – daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.

Kapitel sechs

Nach meiner vierjährigen Ausbildung – in der ich lernte, winzige Zeichen zu lesen, die andere übersahen, und in Situationen zu überleben, in denen andere umkommen würden – machte ich eine steile Karriere. Mein erster Auslandsposten führte mich nach Berlin, und innerhalb eines halben Jahres hatte ich zum ersten Mal einen Menschen getötet.

Seit Gründung der Division unterstanden ihre Operationen in Europa dem Befehl eines ihrer ältesten und erfahrensten Agenten mit Sitz in London. Als Erster hatte ein hochrangiger Offizier der britischen Navy den Posten bekleidet, ein Mann, der durchdrungen war von der Geschichte der Seekriegsführung. Folglich begann er sich selbst als »Blauen Admiral« zu bezeichnen, als jene Person, die früher der zweite Kommandant der englischen Seekriegsflotte war – dies entsprach genau seiner Stellung innerhalb der Division. Der Name blieb an ihm hängen, wurde jedoch im Laufe der Jahrzehnte verändert und verunglimpft, bis der Mann unter dem Namen Rider of the Blue Bekanntheit erlangte.

Als ich in Europa eintraf, leitete der damalige Bürochef gerade eine hochangesehene Operation, wobei kaum ein Zweifel daran bestand, dass er eines Tages nach Washington zurückkehren und den Top-Posten der Division bekleiden würde. Diejenigen, die sich seiner Ansicht nach bewährten, fielen die Karriereleiter unweigerlich eine Stufe hinauf, wodurch ein intensiver Wettstreit entstand, seine Gunst zu erlangen.

Vor diesem Hintergrund nun entsandte mich das Berliner Büro Anfang August – im schlimmsten Monat in dieser heißen, verzweifelten Stadt – nach Moskau, um Behauptungen zu untersuchen, wonach es in einem dort operierenden US-Geheimdienst zu Betrugsfällen gekommen war. Gewiss, das Geld fehlte, aber als ich tiefer grub, stellte sich das, was ich aufdeckte, als sehr viel übler heraus: Ein leitender US-Nachrichtendienst-Offizier war eigens nach Moskau gereist und stand kurz davor, die Namen unserer wertvollsten russischen Informanten an den FSB, die, was Aufgabe und Brutalität betrifft, Nachfolgeorganisation des KGB, zu verkaufen.

Da ich sehr spät auf dieser ganz besonderen Party erschien, musste ich auf der Stelle eine Entscheidung treffen – keine Zeit, Rat einzuholen, kein längeres Nachdenken. Ich fing unseren Offizier ab, als er sich gerade auf dem Weg zu einem Treffen mit seinem russischen Kontaktmann befand. Und ja, er war der erste Mensch, den ich getötet habe.

Ich habe ihn erschossen – ich erschoss den Rider of the Blue auf dem Roten Platz, während ein übler Wind von den Steppen her darüber hinwegfegte und den Geruch von Asien und den Gestank des Verrats mit sich führte. Ich weiß nicht, ob man auf so etwas stolz sein kann, aber obwohl ich jung und unerfahren war, brachte ich meinen Chef um wie ein Profi.

ENDE DER LESEPROBE