Fado Fantastico - Urs Richle - E-Book

Fado Fantastico E-Book

Urs Richle

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Beschreibung

Den Blues kann man hören. Den Tango kann man tanzen. Aber den Fado muss man fühlen. Geschichten liegen auf der Straße, heißt es, und manch eine ist voller Wehmut und einer Portion Sarkasmus. Die Geschichte des vierundfünfzigjährigen Portugiesen Francisco Fantastico nimmt eine drastische Wendung, als er wegen Mordes verhaftet wird. Dabei hat alles so hoffnungsvoll angefangen: Als Francisco seinem Sohn António nach vierzehn Jahren Schweigen seinen Aufenthaltsort bekannt gibt, besucht ihn der prompt in Genf. In freundschaftlicher Annäherung betrinken sie sich, aber der nächste Morgen sieht trostlos aus. Von der Ärmlichkeit des Lebens seines exilierten Vaters bestürzt, beschließt António ihn gegen seinen Willen nach Lissabon zurückzubringen. Aus dieser Entführung wird eine Reise durch die Geschichte und Tabus ihrer eigenen Familie, die mit der Begleichung einer alten Schuld ihr jähes Ende nimmt. Was schließlich als simpler Mord in der Zeitung steht, enthüllt sich als die Geschichte eines verlorenen Vaters, der seinen Sohn wiederfindet.

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Seitenzahl: 199

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Für Léonie, Oscar & Célestine

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Es gibt Geschichten, sagt man, die auf der Straße liegen. Andere müssen mühsam aus der eigenen Erfahrung zusammengeklaubt werden. Wieder andere fliegen einem zu wie Träume. Und manch eine ereignet sich ganz leise nebenan. Die Geschichte, die ich erzählen werde, lag unter meinem Bett, genauer: ein Stock tiefer, in der Wohnung, die der unseren wie ein Schlagschatten in allen Winkeln folgt, vom langen Flur über das Entree, die Küche, das Schlafzimmer und das weite Wohnzimmer mit dem Alkoven im hinteren Teil. In dieser Wohnung lebte Francisco, ein großer, dickleibiger, schwer atmender Mann um die fünfzig, der vierzehn Jahre vor all diesen Ereignissen aus Portugal in die Schweiz gekommen war, ein unauffälliges Leben führte und eines Tages plötzlich etwas Außergewöhnliches tat. An einem strahlenden Maimorgen kochte Francisco sich einen starken Kaffee, holte im Schlafzimmer eine Pistole aus dem Schrank, wickelte diese in seinen alten Anorak und trank die Tasse in einem Zug aus. Mit dem Anorak unter dem Arm bestieg er den Bus, durchquerte die ganze Stadt, stieg am Flughafen aus, wo die Lagerhalle der Speditionsfirma steht, bei der er seit über zehn Jahren angestellt war, betrat das Büro ohne anzuklopfen, zog die Pistole und tötete seinen Vorgesetzten mit zwei Bauchschüssen. Danach ließ er sich in den Chefsessel fallen, legte die Waffe auf den Tisch und befahl der Sekretärin, die Polizei zu rufen. Widerstandslos ließ er sich festnehmen und legte auf der Wache ein Geständnis ab.

So erzählten es mir meine Nachbarn, und zwei Tage später stand es in der Zeitung: Mord in Raten war die Überschrift, und der Journalist fragte sich in seinem kleinen Artikel, ob jahrelange Schwarzarbeit zu erhöhter Gewaltbereitschaft führe und wer dazu zur Rechenschaft zu ziehen sei.

Seither ist die Wohnung unter uns leer. Der Radiowecker, der uns regelmäßig aus dem Schlaf riss, geht morgens um halb sechs nicht mehr los, abends, wenn wir in der Küche sitzen, dröhnen die Stimmen der Fadosängerinnen nicht mehr aus seinem alten Kassettengerät durch das offene Fenster auf den Hof, und im Treppenhaus riecht es nicht mehr nach frittiertem Fisch. Manchmal, wenn ich am späten Nachmittag an der Terrasse des Café du Rond-Point vorbeigehe, habe ich für einen kurzen Augenblick das Gefühl, ihn an einem der Tische sitzen zu sehen, erkenne dann aber bloß einen Fremden, der dort raucht, Zeitung liest und ein Bier trinkt, genau so, wie Francisco es vor kurzem noch zu tun pflegte.

Das war vor bald einem Jahr. Und nun sitze ich hier, auf der Terrasse in Alfama, und schaue über den Tejo, eine Palme vor mir, ein Glas Wasser auf dem kleinen Tisch. Die Sonne prallt auf die weißen Fassaden, die Zinnen und Balkone. Die Häuser scheinen von innen heraus zu leuchten, gespickt mit dunklen Flecken der Fenster und Türen. Das Geschrei spielender Kinder hallt durch die Gassen, das Ächzen und Knarren der alten Trambahn, die durch Alfama und hinunter nach Baixa fährt. Dann ist es ruhig. Die Luft ist kühl, trotz der Sonne. Es ist Februar.

Es muss ebenfalls im Februar gewesen sein, als diese Geschichte mit einem verhängnisvollen Brief ihren Anfang nahm. Er war an Franciscos Frau Maria adressiert, aber an António, seinen Sohn, gerichtet.

António lebt im Bairro Alto. Wir haben uns gestern verabschiedet. Ein fester, warmer Händedruck. Er schaute mich an, nickte, drehte sich um und verschwand. Es gibt Augenblicke im Leben, die eine seltsame Verbundenheit, eine Art Verwandtschaft mit einem Fremden spüren lassen, ohne dass man genau sagen könnte, worauf das Gefühl gründet. Dieser Händedruck war ein solcher Augenblick.

I

Francisco schrieb den Brief spät nachts fertig, und das nach einem Tag, an dem er morgens nicht daran geglaubt hatte, überhaupt noch einmal wieder zur Arbeit gehen zu können. Er wachte pünktlich auf, obwohl sein Kopf schwer war, die Augen verklebt. Er hatte am vergangenen Abend eine Menge Bier getrunken und war vor laufendem Fernseher eingeschlafen. Die leeren Dosen standen diagonal aufgereiht im Wohnzimmer, und wie jeden Morgen versuchte er, über sie zu steigen, ohne eine von ihnen umzuwerfen. Das war seine Gymnastik, und wenn es ihm gelang, versprach der Tag gut zu werden. An diesem Morgen stieg er mit einem Schwung über den Dosenzaun, als hätte er am vergangenen Abend nur zwei der zehn aufgereihten Dosen leer getrunken, und er war zuversichtlich. Er schaltete den Fernseher aus und hörte aus dem Schlafzimmer den Radiowecker dröhnen. Eine kernige, aufreizend frisch klingende Stimme redete in einem fort, und Francisco lauschte den neuesten Nachrichten des Tages, während er sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht und auf die Brust klatschte. Eigentlich hatte es keinen Sinn, anzurufen, denn seit ein paar Wochen war er jeden Tag abgewiesen worden. Aber wenn er bei Medical Instruments & Co., wo er seit über zehn Jahren als Aushilfe diente, irgendwann noch einmal Arbeit bekommen wollte, dann war es seine Pflicht, täglich um Viertel nach sechs anzurufen und nachzufragen. Das war sein Einsatz, und wenn er aufgerufen wurde, dann war das sein Lohn. Er rieb sein Gesicht in dem weichen, vom Heizungskörper noch warmen Handtuch und stellte sich im Flur neben das Telefon. Das Kabel war zu kurz, um den Apparat in die Küche oder ins Wohnzimmer zu nehmen, also musste er im Stehen auf die Tasten drücken und die Klingeltöne abwarten. Er kannte die Piepsstimme der Sekretärin. Der hohe, singende, überaus künstliche Ton war ihm nach all den Jahren so vertraut, dass er ihn an den Wochenenden beinahe vermisste. An diesem Morgen sagte die Stimme wider Erwarten kurz und trocken: «Ja», was bedeutete, dass Francisco sich schnell anziehen und zum Bus hinuntereilen musste. Die letzten Tage hatte er sich nach dem Telefonat jeweils erleichtert wieder ins Bett fallen lassen und die Sorgen um Geld, Zukunft und den Sinn des Lebens auf spätere Stunden des Tages verschoben. Er war immer pünktlich, anständig und korrekt, und um keinen Preis wollte er diese Qualitäten durch einen dummen Fehltritt Schaden nehmen lassen.

Er spürte seine Lunge und sein Übergewicht im Rhythmus des Laufschritts, als er von der Bushaltestelle zur Lagerhalle hinunter hetzte. Es war lange her, dass er auf den Feldern von Almada in Turnschuhen und Jogginghose kilometerweite Runden drehte, jung, sportlich, frisch verheiratet, voller Ideen und Lebenspläne. Nun, ein halbes Leben später, war er fett, allein und, wenn er ehrlich war, ohne irgendeine frohe Perspektive. Was er erreicht hatte, war eine mehr oder weniger regelmäßige Anstellung bei Medical Instruments & Co., wo er vor bald zehn Jahren von Monsieur Oh!, dem Chef senior persönlich, für ein paar Tage als Aushilfe angestellt worden war. Er hatte sich schnell zum Spezialisten für Aushilfsarbeiten in allen möglichen und unmöglichen Fällen gemausert, und dabei war es geblieben. Oh! war einerseits eine Anspielung auf den Namen, andererseits auf den Mund des Chefs, der auch in ruhigem Zustand ein enges, verkrampftes Kreisrund bildete, als wäre er immerfort zu einem O geformt.

Als Francisco an jenem Februarmorgen nach langen Wochen der Arbeitslosigkeit in großer Erwartung von der Bushaltestelle zur Lagerhalle hinunter keuchte und durch den Haupteingang trat, spürte er plötzlich die Erleichterung, endlich wieder etwas arbeiten und Geld verdienen zu können. Er war außer Atem, aber pünktlich. Jean hatte sich bereits umgezogen, kam sofort auf ihn zu und schüttelte ihm herzlich die Hand.

«Weißt du, was passiert ist?»

Francisco verneinte keuchend, versuchte, seinen Atem zu kontrollieren, während er die Weste auszog und zur Kantine hinübertrug.

«Oh! junior ist zurück!», hörte er Jean hinter sich flüstern. Bereits früher hatte Oh! senior seinen Sohn manchmal als Aushilfe eingestellt und ihm immer gleich die Stellung des Vorarbeiters zugewiesen. Vor zwei Jahren war Oh! junior in die USA verreist, das wusste Francisco, um dort sein Studium der Betriebswirtschaft abzuschließen. Er und Jean hatten öfter darüber gespottet, ob sich Oh! junior in den USA ausbildete, weil dort die Schulen besser sein sollten oder weil er sich dort den Titel kaufen konnte. Auch Luigi und André, die anderen beiden Mitarbeiter im Magazin, wussten das nicht so genau, und jetzt war der Junior also wieder zu Hause. Und nicht nur das, er übernahm auch prompt die Führung im Geschäft.

«Seit drei Tagen sitzt er oben im Büro des Alten», sagte Jean besorgt.

«Und wo ist der?»

«Von der Bildfläche verschwunden. Von einem Tag auf den andern, ohne Ankündigung, ohne weitere Erklärung.»

«Na und?»

«Du weißt nicht, was das bedeutet!»

«Was ist denn daran so schlimm? Oh! junior muss man nur alles immer wieder neu erklären, aber sonst bleibt doch alles beim Alten.»

«Eben nicht, jetzt wird umstrukturiert!»

«Umstrukturiert?»

«Behauptet er jedenfalls.»

«Und was soll das heißen?»

«Nichts geht wie vorher. Alles wird anders gemacht. Jeder Arbeitsschritt wird zerstückelt, verteilt und neu zusammengesetzt.»

«Wozu das denn?»

«Frag mich nicht, und frag wohl besser auch den Chef junior nicht, sonst gibt‘s nur Ärger. Jedenfalls ist alles komplizierter geworden, seit er da ist.»

Sie traten aus der Kantine in die Lagerhalle hinaus, und Francisco wollte nach dem Stapel Bestellungen greifen, die im Dokumentenfach vom Vortag noch übrig geblieben waren.

«Nein, lass das!», fuhr Jean ihn an.

«Wieso? Die kann ich doch schon bearbeiten, bis die nächsten Bestellungen kommen. Gemacht ist gemacht!»

«Ja, so war das früher, seit vorgestern geht jeder mit seinem Zettel los, sucht sich die Bestellung zusammen, bringt sie zum Packtisch und schnürt auch gleich das sendefertige Paket.»

«Warum das denn?»

«Frag nicht und nimm eine Bestellung. Los, an die Arbeit!» Jean drückte ihm einen Bestellschein in die Hand, nahm sich selbst einen und verschwand damit zwischen den Regalen. Etwas verdutzt stand Francisco neben dem Dokumentenfach und versuchte zu verstehen, was diese neue Arbeitsform bedeuten und worin der Vorteil liegen sollte. Als Oh! junior die Treppe herunterkam, stand Francisco noch immer neben dem Dokumentenfach und las die Bestellungen auf den restlichen Formularen.

«Etwas unklar?», hörte er den jungen Vorgesetzten fragen, ohne Begrüßung, ohne irgendein anderes Wort, dabei war es mehr als zwei Jahre her, dass sie sich gesehen hatten.

«Ich verstehe nicht ganz, Monsieur ... », sagte Francisco, «ich meine ... »

«Was meinen Sie?»

«Ich meine nur, dass es einfacher ist, die Ware mehrerer Bestellungen mit einem fahrbaren Regal zusammenzusuchen und an den Packtisch zu bringen, wie wir das bisher gemacht haben, dann kann nämlich ein Zweiter einen halben Tag lang packen, und die zweite Hälfte des Tages kann man die Arbeit wechseln, so hält man sich gegenseitig bei Laune.»

«Sie meinen, es ist einfacher, mit mehreren Zetteln gleichzeitig durch das Lager zu irren und alles durcheinander zu bringen, statt sich konzentriert um einen Kunden zu kümmern?»

«So habe ich das nicht gemeint.»

«Der Kunde hat Priorität, Herr Fantastico, alles andere hat sich diesem Grundsatz unterzuordnen. Und jetzt an die Arbeit! Und, Herr Fantastico», fügte er im Weggehen noch hinzu, «in der Pause kommen Sie zu mir ins Büro!»

Francisco erledigte seine Arbeit wie immer, und in der Pause betrat er pünktlich, aber ahnungslos das Büro des Monsieur Oh! senior, wo ihn Oh! junior, über den Schreibtisch gebeugt, bereits erwartete. Francisco kannte dieses Büro. Mehrmals hatte er schon hier gesessen, auf dem kleinen Metallstuhl vor dem langen Eichentisch. Er kannte das große Ölbild, das hinten an der Wand hing, ein majestätischer Blick auf ein gewaltiges Bergmassiv aus der Vogelperspektive, die dem Bild etwas Kraftvolles und seltsam Unwirkliches verlieh. Darunter saß Oh! junior und lehnte sich in dem dick gepolsterten Ledersessel seines Vaters zurück.

«Sie glauben also, Herr Fantastico, etwas von Betriebsführung zu verstehen?», fragte Oh! junior, verschränkte die Hände hinter seinem Kopf und wiegte sich im Sessel.

«Nein, Monsieur, das glaube ich nicht, es war nur, ich dachte eben ... »

«Das ist ja phantastisch, Herr Fantastico, Sie denken!» Francisco beobachtete das sarkastische Lächeln auf dem jungen Gesicht, ließ sich jedoch nicht irritieren. Seine ganze Kindheit über hatte er seines Namens wegen solche Wortspiele über sich ergehen lassen müssen, dagegen angekämpft, schließlich selbst darüber gelacht und sie zu ignorieren gelernt.

«Herr Fantastico», fuhr Oh! junior fort, da Francisco nur dasaß und auf den Boden starrte, «was haben Sie sich denn gedacht?»

«Wir haben das bisher immer so gemacht, Monsieur, es hat prima funktioniert, und ich verstehe nicht, warum wir die Bestellungen jetzt anders zusammentragen sollen. Das ist doch ein großer Zeitverlust, wenn wir mit jeder Bestellung einzeln durch das ganze Lager laufen müssen ... »

«Ich sage Ihnen eins, Herr Fantastico, Sie sind aus Portugal hierher gekommen, um Geld zu verdienen. Gut, das ist Ihr Recht. Aber unterlassen Sie in Zukunft solche Anmaßungen vor meinen Angestellten! Aus reiner Sympathie zu meinem Vater habe ich Sie heute früh kommen lassen. Ein Wort, und es stehen zehn andere vor der Tür, die Ihre Arbeit machen - für einen Bruchteil Ihres Lohns! Das muss ich Ihnen ja wohl nicht erklären!»

Oh! junior ließ seine Worte wirken, die er für überzeugend genug hielt. Francisco starrte auf den matten Linoleumboden, sagte nichts und sah unter dem Schreibtisch Oh! juniors Lederschuhe glänzen. Sie waren vorn an der Spitze etwas abgewetzt, und Francisco dachte gerade flüchtig daran, dass man sie ihm bestimmt einmal zum Putzen geben würde, als er die scharfe Stimme vor sich wieder hörte.

«Nun verschwinden Sie, und morgen pünktlich!»

Francisco schaute Oh! junior kurz in die Augen, vermeinte, einen Funken Furcht darin zu erkennen, drehte sich um und öffnete die Tür. Es ist nur ein Frage der Zeit, sagte er sich beim Hinausgehen, bis ich zum Schuhputzer degradiert werde. Francisco ging durch den langen Flur bis zur Treppe, die in die Lagerhalle hinunterführte. Am Treppenabsatz blieb er kurz stehen und schaute hinab in dieses Loch, in das er im Lauf der Jahre so häufig gestiegen war, diese finstere mit Neon ausgeleuchtete Höhle, dieses Gruselkabinett voller Schläuche, Spritzen, Windeln, Katheter und künstlicher Gelenke, dieses Universum unzähliger, undefinierbarer Plastikteile zur Versorgung des kranken menschlichen Körpers. Gerne hätte er die Menschen einmal kennen gelernt, für die er diese Gegenstände zusammenstellte, gerne hätte er gesehen, was mit den Werkzeugen und Prothesen, was mit den Spritzen und sterilen Gazen den Patienten angetan wurde, für die dieses Arsenal hier angelegt war. Wie seltsam müsste eine Begegnung mit einem Querschnittgelähmten sein, für den er seit Jahren Monat für Monat die Windelpackungen schnürte, wie wäre es, einmal selbst aus diesem Lager beliefert zu werden, krank, verletzt, verunglückt in einem Spital zu liegen und einen Katheter wieder zu erkennen, ein Messgerät, einen Schlauch am Arm, eine Seriennummer, einen Stempel, einen Kontaktkleber auf der Brust, eines jener undefinierbaren Gruselobjekte der sechsten Reihe, die spitzen Metallzähne, die Stacheln und Drähte, die elektrischen Teile, die Dioden und Digitalanzeigen, eines dieser scheußlichen Dinge irgendwo an seinem Körper eingepflanzt wieder zu finden, das wäre seltsam, erschreckend und beruhigend vielleicht gleichzeitig, die Gewissheit endlich darüber, dass diese Gegenstände tatsächlich eine Anwendung finden, dass sie nicht nur von tonnenschweren Lastwagen geladen, aus den Kartons und Holzkisten gepackt und in kleinere, leichtere Kartons verpackt, adressiert und wieder losgeschickt werden, dass sie nicht nur diesen mit Neon ausgeleuchteten Tunnel durchlaufen, in dem sie - Jean, Luigi, André und immer wieder auch er - hin und her rannten wie Ameisen in einer sich nie ändernden Straße, dass diese ganze Mühe, die sie sich gaben, dass die Kraft, die sie für die Vertreibung dieser Gegenstände täglich verwendeten, nicht umsonst war, dass der Stein, den sie rollten, nicht immer derselbe war, sondern dass es eine Folge gab, eine Herkunft und eine Bestimmung, ein übergeordnetes System, in das sie eingebunden waren. Auch wenn die Macht des Monsieur Oh! allumfassend und engmaschig schien, musste es außerhalb dieser Grenzen etwas geben, das sie nicht durchschauten und das auch Monsieur Oh! nicht kontrollieren konnte, auch wenn es ihnen zuweilen so vorkam, als sei die ganze Welt auf diese eine voll gestopfte Lagerhalle reduziert, als würden alle Probleme und Freuden des Lebens sich an diesem einen Ort abspielen und sich auf ihn beschränken, so kamen die Lastwagen, welche die Waren lieferten, doch aus Hamburg, Amsterdam, Rom, Warschau neuerdings, und auf den Paketen, die sie versendeten, standen Orte wie Zürich, Obstalden, Niedernünigen, Mont-sur-Rolle, Yverdon, und wenn er einen der leer geräumten Lastwagen von der Laderampe wegfahren sah, überkam ihn hin und wieder ein leises Heimweh, eine alte, fast schon verdorrte Sehnsucht, und insgeheim wünschte er sich, dass einmal ein Lastwagen aus Lissabon Waren liefern würde, eine große Ladung leistungsstarker Geräte aus seinem Land, die eine solide ökonomische Beziehung belegen würde, er möchte es seiner Heimat gönnen, mit Stolz würde er die Waren abladen und sich bei jedem Stück den Umsatz für die Lissabonner Firma ausrechnen, zählend und rechnend würde er Waren aus dem Camion heraustragen und in der Halle zwischen den Regalen auftürmen, und sein Stolz würde mit jeder Ladung im Verhältnis zum ausgerechneten Umsatz steigen, er würde strahlen und aufblühen und arbeiten wie ein Tier nach so langen Jahren der Trennung, und er stellte sich vor, wie er dem Chauffeur die Hand schütteln und ihm viel Glück für die Heimreise wünschen würde, und gleichzeitig würde er innerlich zerbrechen bei der Vorstellung, dass dieser Mann, sein Freund, sich in den Sattel des leer geräumten Schleppers schwingt und sich aufmacht Richtung Frankreich, Spanien, Lissabon, auf und davon nach Alcantara, über die Brücke zu den Vierteln und Feldern von Cacilhas und Almada - vierzehn Jahre ist es her, und sein Sohn war damals sechs.

Er hörte Jeans Stimme verzerrt, leicht verzogen wie von einem Kassettenband, das sich gleich im Getriebe des Geräts verwickeln würde. Er hörte ihn seinen Namen rufen, der Schädel schmerzte, er konnte den linken Arm nicht bewegen, ein Fuß tat ihm weh, mit der rechten Hand fasste er sich an die Stirn, die Neonröhre über ihm blendete, und er schloss die Augen wieder. Ein rosa Schleier hing vor seinem Blick, und er überlegte, was das bedeuten mochte.

«Francisco! Hörst du mich? Sag was!»

Erst jetzt bemerkte er, dass er am Boden lag. Jean war über ihn gebeugt und fasste ihn am Arm, am Bein, am Rücken, am Nacken, dann wieder am Arm. Er zerrte, stieß und schob ihn an allen Gliedern hin und her, aber angenehmer wurde dadurch nichts. Der Schmerz im Kopf schoss ihm nun im Rhythmus des Pulsschlags von den Schläfen zum Nacken, als würde eine Nadel im Sekundentakt immer wieder seinen Schädel durchbohren.

«Francisco, hörst du mich, komm zu dir, sag was!»

Francisco öffnete die Augen und sah Jean über sich, sein erschrockenes Gesicht, die Panik in seinem Blick. Er versuchte zu sprechen und sah, wie Jeans Gesicht sich erst zu einer Grimasse, dann zu einem scheußlichen Lachen verzog.

«Francisco! Was machst du denn für Sachen!»

«Was denn, was denn für Sachen?», versuchte Francisco zu sagen und kämpfte gegen den Schmerz in seinem Kopf. Vorsichtig stemmte er sich mit dem rechten Arm hoch und zog den linken Arm unter seinem Rücken hervor. Vor ihm stand das Regal der siebten Reihe, und hinter ihm war die steile Metalltreppe, die zu den Büros hinaufführte. Auf der anderen Seite lag ein ganzes Regal am Boden zerschlagen.

«Bleib hier sitzen und beweg dich nicht, ich ruf einen Arzt!», hörte er Jean sagen und sah, wie dieser bereits ansetzte, die Treppen hinauf zu stürzen.

«Nein, nein, es geht schon, ich brauch keinen Arzt, keinen Arzt!», rief er schnell.

«Bleib da sitzen, bis ich wieder da bin! So wie du gestürzt bist, damit lässt sich nicht spaßen. Wer weiß, was du dir alles gebrochen hast!»

«Jean!», rief Francisco und riss alle Kraft zusammen. «Kein Arzt, Jean! Ich brauche keinen Arzt, es geht schon.»

Er zog sich am Geländer hoch, sah Jean weiter die Treppe hinauf rennen und schrie noch einmal. Jean hielt inne und drehte sich um.

«Was ist denn mit dir? Bist du okay?»

«Kein Arzt, Jean, kein Arzt, es geht schon. Komm her und hilf mir auf!»

Langsam kam Jean die Treppe herunter und griff Francisco unter die Arme.

«Ich kann keinen Arzt gebrauchen», sagte Francisco beim Aufstehen.

«Vielleicht hast du was gebrochen?»

«Ein Arzt ruiniert mich.»

«Was redest du denn da?»

«Jean, ich bin nicht versichert.»

«Was?»

«Ich habe keine Versicherung. Wenn du einen Arzt rufst, dann bin ich die nächsten Monate erledigt.»

«Aber ... Francisco!»

«Was soll‘s, es geht schon, gib mir ein Glas Wasser!» Jean führte Francisco in die Kantine. Francisco setzte sich auf die Holzbank, und Jean gab ihm einen dieser dünnwandigen, braunen Plastikbecher aus der Instantkaffeemaschine, gefüllt mit Leitungswasser.

«Was hast du bloß gemacht? Warum bist du denn die Treppe runtergefallen?»

«Keine Ahnung. Ich hab da nur gestanden.»

«Wo?»

«An der Treppe! Und hab hinuntergeschaut und ... »

«Und was?»

«Ach nichts. Ich kann mich nicht erinnern.»

«Das hat gekracht, sag ich dir! Ich dachte, der hat sich alle Knochen gebrochen. Ein Geräusch wie das Bersten von trockenem Holz. Du hast ja auch ein ganzes Regal mit dir runtergenommen! Geht‘s wieder?»

«Ja, alles in Ordnung, nur mein Schädel brummt noch. »

«Hat dich Oh! junior so mitgenommen?»

«Oh! junior?»

«Du warst doch bei ihm?»

«Ach der, ja ... »

Francisco trank den Becher aus und stellte sich wieder auf die Füße. Gebrochen hatte er sich nichts, die linke Hand war wieder zu gebrauchen, und der Schmerz in seinem Kopf hatte etwas nachgelassen.

«Komm, hilf mir erst, dieses Regal wieder in Ordnung zu bringen.»

Sie hoben die Stahlträger hoch und stellten die Konstruktion wieder in die Reihe, sammelten schweigend die zerstreuten Schachteln und Gegenstände zusammen und ordneten sie an ihre Plätze. Es wurde ein stiller, geregelter Rest des Tages. Jeder wanderte mit seinen Bestellungen andächtig durch das Lager, schnürte anschließend das Paket, legte es auf den Postwagen und griff nach dem nächsten Zettel. Die einsamen Wanderungen verhinderten jeglichen Kontakt zwischen ihnen. Jeder war mit seinem Zettel unterwegs, keiner half dem andern. Ohne viel Aufwand hatte Oh! junior in seinem Betrieb eine Isolation der Arbeiter herbeigeführt. Auch wenn der Arbeitsablauf viel mehr Zeit brauchte und sich die Bestellformulare im Dokumentenfach stapelten, arbeiteten sie doch schweigsam und konzentriert, und für diesen Nachmittag war das Francisco recht so. Er hatte keine Lust, mit irgendjemandem zu reden, nicht einmal mit Jean, der ihm angeboten hatte, am Feierabend noch ein Bier zu trinken. Der Sturz hatte ihn durcheinander gebracht. Weniger die körperlichen Schmerzen machten ihm zu schaffen als vielmehr die Tatsache, dass er beim besten Willen keine Ahnung hatte, wie und warum er die Treppe hinuntergefallen war. Und was ihn noch mehr beschäftigte, war das völlige Fehlen einer Erinnerung an das Gespräch mit Oh! junior. Alles, woran Francisco sich undeutlich erinnern konnte, war das Bild an der Wand, wie er später den langen Gang hinunter bis zur Treppe marschiert war, und er erinnerte sich daran, einem portugiesischen Freund die Hand geschüttelt zu haben, der dann in einen Lastwagen stieg und wegfuhr. Er kannte den Fahrer, und es war nicht das erste Mal, dass Felipe ihm im Traum erschien. Diesmal ging etwas Versöhnliches von ihm aus, als wolle er ihm verzeihen, als wolle er ihn, indem er als Lastwagenfahrer die Waren aus Portugal an Medical Instruments & Co. lieferte, auffordern, die Freundschaft wieder aufzunehmen. Und während er daran dachte, dass er sich, wäre Felipe noch am Leben, mit ihm versöhnen könnte, hatte er plötzlich Lust, an Maria zu schreiben. Seit vierzehn Jahren fühlte er zum ersten Mal das dringende Bedürfnis, mit seiner Frau zu sprechen, ihr mitzuteilen, was er gerade erlebt hatte. Er sehnte sich danach, gemeinsam mit ihr den alten Streit zu besiegeln. Aber darüber sprechen wollte er lieber nicht, und als Jean ihm um halb sechs auf die Schulter klopfte und ihn noch einmal zu einem Bier einlud, lehnte Francisco entschieden ab.

«Was ist denn mit dir, Francisco?», fragte Jean besorgt. «Du siehst nicht gut aus. Komm, ich lass dich heute nicht allein!» Und schließlich fuhren sie eben doch wie gewöhnlich zum Café du Rond-Point, wo man sie beide mit Namen kannte.

Der Abend war kühl, aber einige Gäste saßen draußen vor dem Café auf der Terrasse, tranken Weißwein, rauchten, re