Fährdienst - Klaus Merz - E-Book

Fährdienst E-Book

Klaus Merz

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Beschreibung

Klaus Merz gehört seit vielen Jahren zu den außerordentlichen Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Für seine Lyrik und Prosawerke wie z.B. Jakob schläft wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Der dritte Band der Werkausgabe von Klaus Merz, der seine Prosa aus den Jahren von 1983 bis 1995 versammelt, zeigt den Erzähler Merz als Meister der Balance: Seine Figuren halten sich in einem labilen Gleichgewicht zwischen Verheerungen und Momenten des Glücks. Kern des Bandes bilden jene viel gerühmten Erzählungen, die 1988 unter dem Titel Tremolo, Trümmer erschienen sind. Erstmals in Buchform erscheint Die Schonung. Eine Moritat in sieben Gängen.

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Seitenzahl: 254

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HAYMONverlag

Klaus Merz

Fährdienst

Prosa 1983–1995

WerkausgabeBand 3

Herausgegeben von Markus Bundi

 

 

 

© 2012

HAYMONverlag

Innsbruck-Wien

www.haymonverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-7099-3721-1

Buchgestaltung und Satz:

hoeretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Umschlaggestaltung:

hoeretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol, nach einem Entwurf und unter Verwendung einer Zeichnung von Heinz Egger

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen

Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger

Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

Inhalt

Bootsvermietung (1985)

Bootsvermietung

Ein großer Erzähler

Nachtmusik

Halt in Remagen

Schulgesang

Laurin

Kinderfrage

Shakespeare

Diese kleinen Zeichen der Hoffnung

Morgengrauen

Notoperation

Zoogeschichte

Eterna

Guter Rat (1)

Schwieriger Sachverhalt

Amerika

Dallas bei Bern

Vorbeugende Anfrage

Von den Sorgen des Mittelstands

Zur Entstehung der Alpen

Das Land der Griechen mit der Seele suchen

Erklärung aus Wien

Peintre naïf

Besichtigung

Ossobuco

Enzyklopädie

Tremolo Trümmer (1988)

Tremolo Trümmer

Bacharach

Priskas Miniaturen

Vom Hochsitz aus

Verkündigung oder Das Drohnenjahr

Niemandstag

Die Weinfahrt

Der Erbe

Hanni Ball

Peter und Paul

Report

Die Zettersche Madonna. Ein Vergleich

Die Brandmale zeigen

Ciao, ciao Bambina. Eine Korrespondenz

Vor Ort

Die Schonung (1989)

Eine Moritat in sieben Gängen (Schauspiel)

Nachricht vom aufrechten Gang (1991)

Guter Rat (2)

Fleischeslust

Aus dem kleinen Didaktikum

Vorsorgliche Maßnahme

Kurze Durchsage

Feldzug

Kopfschmuck

Foyer-Fest

Vom Reisen

Sonntagsspaziergang

Standbein Spielbein

Atemlaut

Widerruf

Gegenwart

Auf der Insel

Passion

Konversion

Abwesenheit

Die Alphabetin

Holz anfassen

Schöpfung

Kirmes

Verantwortung

Hochzeit

Stellenwechsel

Laterna magica

Das Pfand

Birmingham Small Arms

Nachschrift

Am Fuß des Kamels (1994)

Mein Werkzeug

Am Fuß des Kamels

Lokaltermin

Fährdienst

Der fiebernde Holländer

Insektenbelustigung

Hydranten

Lokale Erwärmung

Halali. Für M.

Die Angst der Männer vor dem Wort

Zimmer im Wald

Siegerehrung

Drohende Turbulenz oder Meine Suche nach H.

Sichtwechsel

Aus Schwarzhäusern. Ein Porträt

Das Ende der Fertigkeiten

Querfahrt

Im Schläfengebiet

Kurze Durchsage (1995)

Wiedersehen

Marzipan

Jenseits von Eden

Sakrament

Busstation

Hoher Mittag

Tod, wo ist dein Stachel?

Spätprogramm

Flauberts Enkel

Editorische Notiz

Klaus Merz

Literaturnachweis

Bootsvermietung

Prosa (1985)

Bootsvermietung

Hinausfahren, sagte die Frau am Steg, könnt ihr in meinen Booten. Die Stunde zum Preis einer Stunde. Aber wie eng ihr die Maschen der Netze knüpft, darüber will ich nicht wachen.

Ein großer Erzähler

Kurz nach dem Krieg küsste mein Onkel der berühmten Negersängerin dreimal die Hand; wer seiner Beschreibung des Galaabends zugunsten der Kriegswaisen teilhaftig werden konnte, vergaß dieses Paris seiner Lebtag nie mehr.

Später kehrte er mit dem Schweißtuch Louis Armstrongs aus derselben Metropole zurück. Pomadisiert und blaurasiert immer, mit seinen in Gold gefassten Zähnen.

Er betrat die Restaurants stets von hinten, kontrollierte zuerst die Sauberkeit der Toiletten und stand dann unverhofft zwischen den erstaunten Küchenmannschaften, wo er sich jeweils an Ort und Stelle entschied, ob er dem Lokal die Ehre erweisen oder es für alle Zeiten meiden wollte.

Schade, dass er in jenem harten Winter, festgehalten durch eine unglückliche Reifenpanne, ausgerechnet dem Koch in Les Enfers so unvorsichtig ins Messer lief.

Nachtmusik

Draußen ist es kalt. Und der Herr auf dem Bildschirm verbreitet wenig Zuversicht in den Häusern. Aber der Vorteil der Blechmusik, die vom Dorfplatz herauftönt, besteht darin, dass man sie auch mit klammen Fingern in Gang setzen kann:

Der revolutionäre Geist und das Unglück hielten mich jung, erklärt die Jubilarin nach dem dritten Marsch, als sie sich am offenen Fenster den verdutzten Musikanten zeigt.

Halt in Remagen

Rheinzeitung. Spiegel der Welt. Echo der Heimat. Der Herr gegenüber trägt grünen Loden. Ohne Jäger kein Wild! Er blättert mit seinen beiden Holzhänden etwas zu laut in der Zeitung. Der Zug fährt wieder an:

Die Brücke von Remagen – vielleicht mit John Wayne.

Schulgesang

Unser Lehrer biss nie in seine Geige:

Hab ein Lied auf den Lippen, dann komme, was mag, sangen wir im Chor als Refrain und trauten diesen älteren Herren immer weniger über den Weg, die stets einen runden Mund machten und so taten, als pfiffen sie – auf die Welt.

Laurin

Die Sonne scheint schräg ins Zwischenparterre. Dreißig Menschen bei Überfällen der Contras wieder ums Leben gekommen, meldet der Nachrichtensprecher.

Wie er das sagt, merkt der Bub auf, erwartet keine Antwort von mir, baut weiter an seinem Land aus Klötzen: einem vorläufigen Exil.

Kinderfrage

Valeria, Kind, das nicht einschlafen kann, wo doch Kinder so lieblich sind, wenn sie schlafen.

Schafgarbe, Honig, nichts hilft, erst nach Stunden endlich die leichte Antwort auf die schwierige Frage des Kinds, ob man Gott mit zwei oder nur mit einem t schreibe.

Shakespeare

Die Instruktoren in den grauen Overalls hatten die allgemeine Lage selber entworfen, ehrenamtlich, ein kriegsmäßiger Einsatz mit Freiwilligen aus dem Quartier.

Auf dem Bild in der Zeitung machten die Leute muntere Gesichter. Einige schwitzten beim Betreten des Schutzraumes, und nur der Handharmonikaspieler hatte sich die Übung etwas lustiger vorgestellt:

To be or not to be, sagte der Instruktor, als sie die Gas-schleusen passierten. Aber niemand im Bunker verlangte nach einer Übersetzung des englischen Zitats.

Diese kleinen Zeichen der Hoffnung

Stimmen über dem großen Platz, Tonprobe für den Film am Abend. Noch ohne Bild, weil es Tag ist. Zwei bekannte Sprechstimmen der mittleren Generation sind zu hören, das Geräusch einer beginnenden Bahnfahrt. Open air.

Vielleicht reist der Held des Abends mit dem Zug von Hamburg nach Heidelberg. Er hat wenig Gepäck und schütteres Haar. Die dunkle Warze in der Mitte seiner Stirn verleiht ihm eine Zielstrebigkeit, die er auf anderen Fahrten längst eingebüßt hat.

Wahrscheinlich ist er ein rauchender Held.

Im Gepäcknetz entdeckt er erst jetzt den Übergangsmantel einer Frau, die jederzeit ins Abteil zurückkehren kann. Dieses Lila hat er noch nie gemocht. Aber er hätte gerne das Gefühl, sich auf dem Bahnsteig wenigstens mit den richtigen Worten verabschiedet zu haben.

Heisere Huptöne. Der Zug rollt auf einen unbewachten Niveauübergang zu, steigert die Geschwindigkeit. In der Ferne Hochkamine, nach dem Rauch zu schließen Westwind. Der Held nimmt sein Gesicht im Zugsfenster ausgiebig wahr und fährt weiter in die Deutsche Dämmerung hinein.

Auf einem Provinzbahnhof bleibt der Vorsteher als kleines Zeichen der Hoffnung mit dem Rücken zu den Geleisen provokativ auf der Personenwaage stehen.

Morgengrauen

In einer Kuh durch die Nacht geflogen, es waren auch Kinder dabei. Aus den Flugzeugen grüßten die Passagiere herüber, und die Fleischwände hielten uns warm.

Aber als wir im Baumgarten landeten, stand wieder der Zwerg an der Ecke des Hauses und betrachtete mit steinernen Augen den nahenden Tag.

Notoperation

Zum Teil lagen sie zu zweit in den Betten, halbbenommene Menschen, nackt und in blauen Kleidern. Das Aufsichtspersonal an den Kopfenden unerschütterlich sanft, Milchglas in den Eingangstüren.

Obwohl ihm der Arzt bei der Eintrittsmusterung deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass dieser Eingriff für nichts gut sein werde, stieg er die Treppen hoch.

Es stand weit und breit kein anderes Gebäude zur Verfügung, und darin wohnten lauter Operierte, gab er später als Rechtfertigung an.

Zoogeschichte

Bitte nicht füttern! Ein Samstagnachmittag ohne besondere Vorkommnisse. In den Wäldern schon Herbst.

Eine Hornisse könnte mich jetzt in den Kopf stechen, sagte mein Freund unvermittelt, und im Grunde weiß ich nicht, was das Lama hier soll, das angestrengte Glück der beiden Kinder auf der Schaukel wird jedenfalls nicht tangiert davon.

Ich sah ihn an, er trug sein Abzeichen der Winterhilfe am Revers. Oder sollte ich jenen um seinen Traum beneiden, der behauptete, seinen Lebensplan auf einer Zwanzig-frankennote vorgezeichnet gesehen zu haben?, entgegnete er und verließ den Park.

Eterna

E. behauptete, die Zeit schreite für ihn merklich langsamer voran als für andere Menschen. Um diese Störung zu beheben, verschrieb ihm der behandelnde Arzt eine Armbanduhr, die er stets im Mund zu tragen hatte. Man erhoffte sich allseits Besserung dadurch.

Vor wenigen Tagen sah ich diesen entfernten Bekannten nach Wochen zum ersten Mal wieder. Das Ende eines Lederarmbandes schaute ihm aus dem Mund.

Guter Rat (1)

Manchmal trete ich vors Haus, wenn es regnet, und bleibe da stehen: Die Nässe dringt in die Haut, auf die Knochen, ins Blut. Gegen Abend rinnt es rosarot aus den aufgeschlitzten Hausschuhen heraus. Um Mitternacht schon fließt reines Regenwasser durchs lecke Adernetz: Empfiehlt sich als Läuterung an besonders trüben Tagen. Tage mit Wasser im Boot.

Schwieriger Sachverhalt

Es ist im Nachhinein immer schwierig zu sagen, wer ursprünglich angefangen hat. Als Geschworener bleibt man daher dazu verurteilt, ihrer vehement vorgetragenen Rechtfertigung vorläufigen Glauben zu schenken:

Danach zu schließen, scheint der Geschädigte tatsächlich ungemein griffige Augen gehabt zu haben, mit denen er die Täterin bis zum Zeitpunkt ihrer Notwehr, wie sie ihre Handlung notorisch zu bezeichnen pflegte, über Jahre hinweg fest im Griff gehabt hat.

Ihr Zugreifen muss demnach, wohl oder übel, als eine Art von aktivem Widerstand gegen eine untätliche Handlung gedeutet werden, gegen rohe Behandlung ohne Hände und Füße sozusagen, gegen sein rohes Auge, das sie so plötzlich in ihrer Hand gehalten und mit dem sie, laut Aussage, gar nicht recht gewusst habe, was anfangen.

Amerika

Von Steckborn aus quer durch die Schweiz ist er 1953 zum ersten Mal gefahren. Und seither jedes Jahr einmal diese Reise. In Brig findet einer wie er immer Platz. 1964 zum Beispiel mit Ischias fünf Tage lang gegen den Simplon gestiert. An der gegenüberliegenden Zimmerwand Schwarzweißfotografien der Ruinen von Gondo, der Goldgräberstadt im Zwischbergental: Er wäre auch dabei gewesen damals, Herrgottsack, aber seither keine schmerzfreie Minute mehr. Die Bemerkung von Leukerbad kann man sich sparen, er ist inzwischen mit allen Wassern gewaschen, muss sich etwas vor Augen führen, um Linderung zu erfahren, großartige Landschaften zum Beispiel oder den Fluss von Menschen in einer Stadt, auch die respektablen Formen der neuen Serviererinnen mit den Namen der Heiligen von Ausserberg und Innertkirchen verschaffen ihm Luft.

Dann aber mit Blick auf den Stockalperpalast noch schnell ein Raclette essen, den Halben Fendant dazu, bevor es endlich abgeht, durch den Simplon hindurch Domodossola zu, nach Locarno hinunter, wie gesagt, ins Hotel Amerika.

Dallas bei Bern

So habe er den Käsmeister und sich selbst seiner Lebtag nie in Verlegenheit geraten sehen wie an jenem zweiundzwanzigsten Hornung, aufs Loch genau ein Vierteljahr nach dem berühmten Attentat von Dallas.

Selbdritt seien sie in den Keller gestiegen: die amerikanische Unternehmerin, der Meister in der weißen Schürze und seine eigene Wenigkeit. Als Exporteur habe er seine Geschäftspartner, wenn sie schon einmal in der Alten Welt aufzutauchen geruhten, immer gerne ins nahe Emmental geführt.

Jedenfalls habe man schon eine geraume Zeit zwischen den gewaltigen Fluchten gestapelter Käselaibe gestanden und die Amerikanerin die Kraft des Meisters beim Wenden der Laibe bewundern lassen, als im hinteren Teil des Lagers unverhofft Schritte und wenig später das markerschütternde Quietschen eines Tieres zu vernehmen gewesen sei.

Edyl, habe die Amerikanerin nur geschrien und sei kurzerhand zwischen die Regale gesackt, während der zweite Käser in seinen währschaften Militärschuhen umständlich vor ihnen erschienen sei, einen zertretenen Rehpinscher in der rechten Hand, den er irrtümlicherweise, wie er immer wieder beteuerte, für jene Ratte gehalten habe, die schon seit Wochen ihr Unwesen im Lager getrieben und der ein Käserlehrling in seiner bekannt pietätlosen Art kurz zuvor erst den Spitznamen Lee Harvey O. angehängt hatte.

Vorbeugende Anfrage

Bis zu zehn Stunden am Tag unter einem Mikroskop in ein fremdes Gehirn hineinschauen und darin die notwendigen Veränderungen vornehmen, sei ja nicht jedermanns Sache, sagte der Archivar, der dem Professor nach anstrengenden Arbeitstagen ab und zu eine alte Handschrift ans Tageslicht holen musste, damit sich die Kapazität über den reich verzierten Anfangsbuchstaben der Heiligen Schrift ein wenig erholen konnte.

Seit vorgestern aber, fuhr der gewissenhafte Beamte besorgt fort, sei er nicht mehr sicher, ob er dem Professor diese fortgesetzte und im Grunde illegale Freundlichkeit auch weiterhin erweisen dürfe. – Es handle sich immerhin um unersetzbare Handschriften klösterlicher Provenienz. – Andererseits wolle man sich in subalterner Position einer Kapazität vom Range des Gehirnspezialisten natürlich nicht gerne verweigern, weshalb er hiermit an vorgesetzter Stelle vorzusprechen sich erlaube.

Vorgestern, wie gesagt, sei der Professor nämlich wieder im Archiv erschienen, um sich im Anschluss an eine siebenstündige Kopfoperation wie üblich nach der Heiligen Schrift zu erkundigen. Als Antwort auf seinen ehrerbietigen Gruß habe dieser aber seine randlose Professorenbrille auf die Stirn zurückgeschoben, um sich mit seinen blauen Forscheraugen nah an sein erbleichendes Archivarsgesicht heranzuschieben und interessiert zu fragen, ob er, der Archivar, denn nicht erst neulich durch seine Hand operiert worden sei.

Von den Sorgen des Mittelstands

Ein Fragment

1

Um fünf Uhr in der Frühe brachte der Bäckergeselle Arthur im Mehllager einen Wurf junger Mäuse auf. Ihre rosa Farbe rührte ihn für Augenblicke, aber Minuten später lagen die kleinen Biester dennoch verbrüht im Chromstahltrog der Kleinbäckerei. Und da das Brot im Ofen rief, blieben sie weiterhin dort liegen, während vor den offenen Fenstern des Betriebes ein für diese Jahreszeit außerordentlich heftiges Hagelwetter niederging.

2

Marina, Marina, Marina, pfiff Arthur gut gelaunt vor sich hin. Mit seinem Pfeifen gab er wie üblich einer Vorfreude Ausdruck. Dazu führte er die angenetzte Brotbürste so elegant über die frisch gebackenen Stangenbrote, als wäre er ein erfahrener Kirchenmann, der sein Aspergill über den geneigten Köpfen seiner Gläubigen schwingt.

3

Den Weg ins Gebäck, das Arthur für Gustav den Radler regelmäßig bereithielt, fand ein Teil der jungen Mäuse erst gegen acht. Arthur platzierte die toten Tierchen sorgfältig in die Blätterteigspitze hinein, füllte den gezuckerten Trichter mit Vanillecreme auf, während im ersten Stock der Bäckermeister in seinen schweren Holzschuhen unruhig auf- und abging.

4

Um halb neun stand Gustav mit seiner Cynar-Kappe, den weichen Hirschlederhosen am Backstubenfenster und äugte mit seinen Radsportaugen zum Teigaffen hinein.

Wie jeden Samstagmorgen hatte er sich die Waden frisch rasiert und täuschte mit dem Glanz des Massageöls über seine beiden fehlenden Schaufelzähne hinweg, die er am Sustenpass eingebüßt hatte: ein Auffahrtstag mit wenig Glück in den Speichen.

5

Es musste ungefähr gegen acht Uhr vierzig gehen, als Gustav, der es ja immer nur auf sein Cornet abgesehen hatte, in die goldgebackene Patisserie biss. Im Oberlicht spiegelte sich eine rote Sonne, und die vom Unwetter geläuterte Luft vermischte sich mit dem herrlichen Duft einer weiteren Brotladung, die auf Arthurs Geheiß vom Lehrling aus dem Ofen gezogen wurde, während er selbst gelassen am Fenster stand.

6

Vorzustellen hat man sich jetzt bloß noch die Wut des Bäckermeisters, der im weißen, gesteiften Hut aus dem Privattrakt des Hauses eben in die Backstube trat, als Gustav der Radler einen halben Wurf junger Mäuse aufs Fensterbrett seines Betriebes erbrach: das ausgerechnet an einem Samstag, der vom Mittelstand in seinem permanenten Kampf gegen die Lebensmittelgiganten ohnehin jeweils das Letzte fordert, und nach einer Nacht, die der Meister, seinen Angestellten gegenüber die Gründe verschweigend, einmal mehr schlaflos zugebracht hatte.

Zur Entstehung der Alpen

In der Nacht vom fünften auf den sechsten April stellt W. fest, dass die Theorien über sein Heimatgebirge – durch Auffaltungen entstanden und erst im Laufe des vergangenen Krieges zur militärischen Festung ausgebaut – nicht mehr zu halten sind.

Das Gegenteil hat sich vielmehr als wahr erwiesen, hält der Erwachende fest, dass nämlich das gesamte subterrane Waffenarsenal Helvetiens ursprünglich schon da gewesen sein muss und man erst später, Caspar Wolfs phantastische Gebirgsmalereien kopierend, zu dieser gigantischen und beinahe landesweiten Tarnarbeit angesetzt hat, die zu guter Letzt in so eindrücklichen Staffagen wie Gotthard, Jungfrau, Matterhorn gipfelte. – Was sich ja auch touristisch, wie wir wissen, nachträglich aufs Schönste hat auswerten lassen.

Das Land der Griechen mit der Seele suchen

Alles aufs Haar genau wie auf dem Prospekt. Nur auf einem kleinen Balkon, grüne Wäschedrähte querüber, eine vergitterte Holzkiste mit drei Zwerghühnern darin. Anspruchsloses Ziergeflügel, das sich lediglich im geringeren Wuchs von den größeren Nutzrassen unterscheidet, im übrigen aber über eine erstaunliche Legetätigkeit verfügt:

Von der Akropolis herab zufällig auf einen Film gebannt, doch erst zu Hause beim Durchgehen der Diaserien tatsächlich entdeckt – den eigenen Hühnern zum Verwechseln ähnlich.

Erklärung aus Wien

Auf den Diapositiven der Mitreisenden lauter große Perspektiven: ein Nachmittag in Schönbrunn, perfekt wie auf Touristikplakaten.

Er habe seinen Begleitern gegenüber verschwiegen, dass seine Wahrnehmung eher Sinnbildern gelte – er jedoch stets darauf bedacht sein müsse, des Sinnes hinter den Bildern nicht unverhofft verlustig zu gehen –, weshalb er um diese ganz gewöhnliche Postkarte gebeten habe am Kiosk.

Peintre naïf

Noch mit sechzig Jahren musste der Maler R. seinem Leinwand- und Farblieferanten schwören, dass er die bezogene Ware auf den Centime genau berappen werde. Man bezahlt immer mit dem Leben, aber das wissen die Händler nicht und opfern sich ganz dem Geschäft, soll sich R. jeweils gesagt haben, das sei die ausgleichende Gerechtigkeit.

Besichtigung

Die weißen Läden gegen das späte Licht gestellt. Auch im Vorbeifahren wollen wir die Langsamkeit nicht verletzen:

Ein jung gebliebener König reitet strahlend durch den gepflegten Park. Sein Pferd mit den marmornen Hoden gehorcht ihm aufs Wort.

Dass man uns später vom Fluss aus das Sterbezimmer des Republikaners zeigt, ficht seine Majestät nicht mehr an.

Und im Heck des Showbootes die beiden Liebenden melden vor dem Parlament so oder so ihren geheimen Widerstand an.

Ossobuco

Da alles ja nur so viel Sinn habe, wie er ihm selber zu geben vermöge, sagte der Vierzigjährige am Nebentisch, könne ich mir vorstellen, dass es manchmal nicht leicht sei, so still und gelassen auf dem Stuhl sitzen zu bleiben. Zwar habe er soeben vier Ossibuchi gegessen, gekostet, die Polenta direkt vom offenen Feuer, dann zwei Sorten Eis in Auftrag gegeben, weil das Süße bekanntlich den Magen schließe, dazwischen geraucht, dass für Augenblicke ein kleiner Schwindel durch die Stirnhöhlen gezogen sei; und jetzt noch dieser wunderbare Schnaps, der einem den Gaumen anschwellen lasse, bis man ein Kissen im Munde trage.

Aber im Grunde sei doch alles bei derselben Gleichgültigkeit geblieben wie eh und je, auch der Dixieland aus dem Lautsprecher im oberen Eck und die plötzlich einfallende Sonne in den verrauchten Scheiben änderten daran nichts.

Wahrscheinlich sei das der Schwiegervater des Wirts, der jetzt gegenüber, ohne vom Teller aufzuschauen, ein ganzes Menü verzehre am halböffentlichen Tisch mit Wolltischtuch und Nelkenväschen in der Mitte, dem Strickzeug auf der Einbaubank. Mutmaßlich müsste dieser alte Mann doch lange vor einem selber das Zeitliche segnen, aber davon merke man ihm gar nichts an beim Essen.

Und endlich die junge Wirtsfrau, die schon Abend habe, obwohl die Uhr am Kamin doch erst auf achtzehn Uhr vierzig zeige. Schön sei sie ja nicht, die Frau, und so friseurfrisch frisiert von irgendeinem Ignoranten in der nahen Stadt, die Achselhöhlen vermutlich ausrasiert. Dabei habe sie doch eine Spannung im Leib, dass die Teller auf ihrer Hand eigentlich vorzu zerspringen müssten. Nur wisse sie das nicht, sonst hätte sie ihm nicht, als bediente sie einen Frührentner, so arglos vier saftige Kalbshaxen aufgetischt, wo er doch, wie ich selber sehe, zur Stillung seines Hungers am liebsten in ihre Fesseln gebissen hätte.

Enzyklopädie

Vielleicht müsste man von der Brechnuss ausgehen, von den Samen der Feuerlilie in ihrer kapselartigen Frucht, von Shakespeares angeblicher Totenmaske im gerissenen Gips. Oder konsequent bei den Stichwörtern verweilen von Sade bis Termit. Beim thronenden Schöpfergott, der die Welt mit dem Zirkel ausmisst auf einer kleinen, vierfarbigen Reproduktion.

Tremolo Trümmer

Erzählungen (1988)

Tremolo Trümmer

1

Über den Betten des Geschwisterpaares hingen drei colorierte Portraits. Otto Lilienthal. Jesus von Nazareth. Claude Dornier. Am Fußende der Bettstatt stand auf einer Marmorhalbsäule die Gipsbüste Enrico Carusos an der Wand.

Karl belegte das linke Bett, damit sein steifes Bein die Schwester nicht störte, wenn er nachts ein- und ausstieg, um seine Existenz auf Orion hin auszurichten oder nach einem Zeppelin Ausschau zu halten. Sein Leben lang verweigerte er den Eierkonsum, was ihm schon als Kind den Spitznamen Dotter eingetragen hatte. Seine Schwester nannte man Krötchen, da sie ihre hohen, glockenähnlichen Puh-Puh-Rufe meisterhaft unter die langgezogenen Rufe der Geburtshelferkröten in Dotters Gemüsegarten zu mischen verstand. Mit schnellen Händen griff sie Jahr für Jahr in den Holunder und buk ihre unvergleichlichen Holderküchlein: Les Petites Coquines.

Bei einer zufälligen Rückkehr in unser Dorf wurden wir Mitte November zu unfreiwilligen Zeugen der Sprengung des Dotterhauses. Der Luftschutz probte den Ernstfall. Die angegliederten Zivilschutzeinheiten trugen ihre gelben Helme, insgeheim hofften die Samariter auf Verletzte.

Am Rand der Sperrzone, wo wir von Ordnungskräften aufgehalten worden waren, unterhielten sich die Zuschauer in aufgeräumter Stimmung miteinander. Und der unverwüstliche Kelterborn war tatsächlich mit seinem Bauchladen unterwegs.

Das Haus hatte seit Jahren leer gestanden, aus Sicherheitsgründen waren die Dachziegel, lauter alte Biberschwänze, im Voraus schon abgetragen worden. Die Fensterscheiben hätten sich im Laufe der Jahre, wie es hieß, von selber erledigt.

Durch den feuchten Dachlattenrost auf dem Krüppelwalm meinten wir die graue Tragfläche eines Hängegleiters wahrnehmen zu können.

2

Krötchens wöchentliche Reise führte jeweils mit Europas steilster Normalspurbahn nach Beromünster, wo man sich hinter dem Turm der Stiftskirche unwillkürlich den geplanten Metallturm des Landessenders Beromünster, notabene auf Gunzwiler Terrain, vorzustellen versuchte, auf dessen oberster Zinne ein reformiertes Unikum aus dem Wynental anlässlich einer gemütlichen Turnfahrt ins Luzernische eines Tages einen Handstand drücken würde. (Übrigens der nachmalige Vater von Drillingen, die selbst von ihrem Erzeuger nur schwerlich auseinandergehalten werden konnten und deshalb der Einfachheit halber im ganzen Dorf nur Bub genannt wurden, was wir wiederum, die wir mit Karl, Konrad und Kurt gemeinsam die Schulbank drückten, nie richtig verstehen konnten.)

Dotters Schwester, mit dem üblichen Hang zum Geheimnisvollen beschwert, verrichtete, obwohl sie nicht katholisch war, im hinteren, dunklen Teil des Stiftskirchenschiffes ein stilles Gebet. Sie steckte zwei Kerzen an, die sie Ende Monat jeweils pauschal verrechnete, und stieg nachher mit großer Zuversicht in den Postautokurs Richtung Luzern um.

Die Fahrt führte über Neudorf, Gormund nach Hildisrieden hinunter, wo allfällige Rechtsabbieger noch heute nach kurzer Wegstrecke unweigerlich auf das Knochenhaus neben der Schlachtkapelle stoßen und an den legendären Sieg der Einheimischen über das große Heer der Österreicher zu denken gezwungen sind. Lauter Männerknochen in einem vergitterten Kabäuschen, und alle ganz weiß.

Es folgten noch Ortschaften wie Rothenburg und Emmenbrücke, wenn man von den vielen verstreuten Weilern und der großen Fuhrhalterei am Straßenrand absah, bevor der Postkurs die Leuchtenstadt erreichte, wo Krötchen wie jeden Mittwochnachmittag von Enrico Käch zum Gesangsunterricht erwartet wurde.

(Als Zweitältester einer kinderreichen Familie aus Zell/LU wäre Käch eigentlich für den Dienst bei der Schweizergarde vorgesehen gewesen, hätte das unselige Rom den jungen Mann nicht schon nach wenigen Wochen aus dem Vatikansbezirk hinausgesogen und einen Bariton aus ihm gemacht.)

3

In Zeiten ohne festes Engagement als Privatgärtner in den Kulturen der ortsansässigen Fabrikantenfamilien, Blech und Tabak, baute Karl im geräumigen Estrich seines Elternhauses, das nach der Grippewelle anno achtzehn zu gleichen Teilen an die beiden Geschwister übergegangen war, an der verbesserten Version seines Hängegleiters weiter.

Schon als Zwanzigjähriger hatte Dotter, auf seiner langen Wanderung Richtung Norden da und dort bei der Ernte aushelfend, Otto Lilienthal, dem Vater des Segelfluges, am Grabe die Reverenz erwiesen. – Der berühmte Flugmann war 1896, noch nicht fünfzigjährig, dafür aber mit über zweitausend Gleitflügen in den Knochen und hochverdient in Sachen Aerodynamik, auf einem Berliner Flugfeld liegengeblieben.

Während seiner Wanderung trug Dotter zudem die eigenhändige Transkription von Leonardo da Vincis Aufzeichnungen über das Fliegen auf sich, die das Genie seiner Zeit aus Angst vor der Werkspionage oder weil er gefürchtet hatte, vorschnell dem Gespött der Leute preisgegeben zu werden, in seiner schwer zu entziffernden Spiegelschrift verfasst hatte. Dotter hatte auch einen Spiegel dabei.

Die Stimme des Einsatzleiters im Megaphon erinnerte uns unwillkürlich an schneidende Kälte. Wir schlugen den Mantelkragen hoch und blieben bei unseren Gedanken, die das vergessene Geschwisterpaar in weiten Volten umkreisten, während vor unseren Augen schon die schwarze Zündmaschine installiert wurde. In letzter Dringlichkeit versuchten wir Dotter und Krötchen wenigstens in unseren Köpfen ein mögliches Denkmal zu setzen, bevor der Applaus über die geglückte Zertrümmerung ihres Anwesens über uns zusammenschlagen und uns als Einziges die spärliche Kindheitserinnerung an zwei ältere Menschen, von denen wir eigentlich nicht viel wussten, in den gealterten Händen zurückbleiben würde.

4

Krötchen sang mit Blick auf die Reuss, im Rücken Enrico Käch, eine schwierige Koloratur. Vor dem inneren Auge der Sängerin schwebte der Astralleib des frühverstorbenen, neapolitanischen Meistertenors mit seinen zweieinhalb Oktaven Stimmumfang. Er trug seinen Part mit seiner ausgeglichenen Stimme, der vielgerühmten darstellerischen Begabung sozusagen über den Wolken vor.

In Luzern ging es um nichts Geringeres als um die Transposition von Carusos Tenor in die Sopranlage Krötchens – mit Hilfe von Geburtshelfer Käch, der die feingliedrige Schwester mit den tiefliegenden Augen immer wieder vor den waghalsigen Flugkünsten ihres Bruders warnte und prompt auch recht bekam, als man Dotter eines Tages, seinen Hängegleiter zu einer Tragbahre umfunktioniert, nach Hause brachte. Man hatte ihn zwischen Schwarzenbach und Ehrlosen auf offenem Feld zusammengelesen. Sein linkes Knie war entzwei, und bald schon stand fest, dass er zwar noch fliegen, aber nie mehr würde landen können.

Es kam zum Bettenwechsel unter den Geschwistern. Krötchen pausierte in Sachen Gesang und pflegte den Piloten. Dotter entwickelte in seinem Kopf schmalere Flügel.

Sie aßen zusammen einen Geburtstagskuchen nach dem andern auf, erwiesen Käch die letzte Ehre. Und manchmal legte die Schwester ihrem Bruder ein Tremolo ins Ohr, dass darüber aller Schmerz verging, anschwoll und verging.

Die Nachricht vom berüchtigten Handstand anlässlich der Turnfahrt zum Landessender Beromünster erreichte die zunehmende Abgeschiedenheit des Geschwisterpaares nur noch wie ein Gerücht.

5

Nach Jahren konnte man Dotter im Kursschiff über den Bodensee fahren sehen. In Friedrichshafen lag die Dornier DO X, das Großflugboot, vor Anker. Dotter zählte die Motoren nach, es waren tatsächlich zwölf. Er spürte die Versteifung seines Standbeines nicht mehr, als sich der silberne Koloss langsam aus dem Wasser hob und Richtung Meersburg verschwand. Und er verwand, bereits wieder im Kursschiff stehend, an diesem großen Tag beinahe den Schmerz über den Verlust seiner Schwester, die eines Abends ohne Abschied einfach zu Caruso übergelaufen war.

Der Herr sei im Himmel, hatte von diesem Zeitpunkt an Dotter notorisch zu sagen gepflegt, wenn ihn jemand über Thuja hinweg, durch Buchenlaub grüßte. Wie Krötchen hing er keiner bestimmten Konfession an, aber er war zeitlebens vom Nazarener beeindruckt geblieben, der Kranke geheilt und übers Wasser gegangen war, auf dem er die Dornier hatte liegen sehen. – Auch er, Dornier, ein Nachfahre Lilienthals, Mitstreiter Graf Zeppelins und, bei aller technischen Besessenheit, ein großer Bewunderer Enrico Carusos.

Die beiden Reporter auf ihrem Holzpodest setzten die Kameramotoren in Gang, das Gebäude sackte leiser als erwartet in sich zusammen. Die Wendrohre der Pionierund Brandschutzleute spritzten in die Staubwolke hinein.

Wir hätten in unserer Unverbesserlichkeit über den Trümmern gerne eine von Dotters Tragflächen schweben sehen. Auch eine fern verklingende Koloratur wäre uns recht gewesen. Stattdessen betrat die Gemeindepräsidentin den Platz und bedankte sich beim Luftschutzoffizier für die gelungene Räumung. Mit Staub auf den Schultern machten wir uns auf den Weg.

Bacharach

1

Unsere Talbahn fährt im Halbstundentakt. Abfahrt nullsieben und siebenunddreißig in der Kantonshauptstadt. Ankunft neununddreißig Minuten später an der Endstation. Die vormals himmelblauen Trieb- und Personenwagen sind im Lauf der Zeit leuchtend orange gespritzt, neues Rollmaterial ist hinzugekauft worden. Auch auf der Schmalspur ruft der Taktfahrplan nach einem gnadenlosen Betrieb.

Mein Bekannter behauptet immer, der Großteil des Personals sei merklich dicker, aber nicht zufriedener geworden, seit die Kompositionen nicht mehr von Hand abgewinkt und die Fahrkarten nur noch stichprobenweise kontrolliert würden. Wahrscheinlich hat er recht, denn ich kenne weit und breit keinen genaueren Menschen als diesen Kalbermatten.

2

Wer mittwochs kurz vor zwölf auf dem Weg zu den letzten Geleisen das Untergrund-Café passiert, kann Kalbermatten hinter der hell erleuchteten Scheibenfront des Lokales sitzen sehen, in Uniform, den gebürtigen Walliser, der in der geflochtenen Tragtasche seiner ledigen Mutter durch den Lötschberg gekommen ist und seither das Mittelland kaum mehr verlassen hat.

Er tupft mit dem feuchtgemachten Zeigefinger die letzten Krümel seines Käsekuchens auf, den er sich wie vor jeder Mittagsschicht einverleibt hat, und er will zahlen.

Er möge diese Wähen zwar nicht sonderlich gern, sei aber daran gewöhnt, hat er mir vor Jahren einmal anvertraut, als wir beide Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht hatten und nebeneinander im Wartezimmer eines Internisten saßen: jeder einsfünfundsiebzig groß und sechsundsiebzig Kilogramm schwer, also mittlere Staturen, er bei der Bahn und ich sein Passagier.

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Wenn mich Kalbermatten illegalerweise im Führerstand mitfahren lässt, setze ich vorsichtshalber das Gesicht eines Geleisearbeiters auf, um ihn beim Stationspersonal nicht in Verruf zu bringen. Während der Fahrt unterhalten wir uns über unser Dorf im Hunsrück, das wir von einem elfteiligen Fernsehfilm her kennen. Anstatt Du sagt man dort Dau zueinander, während Kalbermatten und ich selbstverständlich beim ordentlichen Sie bleiben.

Im Hunsrück wird genau wie bei uns geliebt, gelebt, gehasst und gestorben. Unsere Gespräche über den Hunsrück sind Gespräche über uns, ohne dass wir einander dabei zu nahe treten würden auf der kurzen gemeinsamen Fahrt.

„Der Jahrmarkt des Lebens“, sagt Kalbermatten unverhofft, dreht an seinem Bremsrad, und ich weiß genau, an welche Szene er jetzt denkt. Beide haben wir das Frühlicht vor Augen, das über einem verlassenen Festplatz liegt, und die schmalen, nackten Füße einer Frau, die über grüngesprenkelte Steinfliesen gehen im Film.

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Beim ersten Halt auf Verlangen müssen wir jeweils leise sein, denn der Mann am Kiosk auf der gegenüberliegenden Straßenseite döst unruhig über seiner bunten Auslage. Wir wollen ihn nicht stören, wollen auch nicht geschwätzig werden über dem schwierigen Schicksal, das sofort wieder in sein Bewusstsein tritt, wenn er durch den Bahnlärm geweckt wird oder der Schatten eines Kunden über seine Auslage streicht.

„Verkalkte Sulzergelenke links und rechts“, flüstert Kalbermatten mir zu, ohne seinen Schienenstrang aus den Augen zu lassen.

Die Türen schließen automatisch.

Wir sind jetzt eine Straßenbahn. Ich erzähle, was ich durch die offenen Fenster der bahnnahen Häuser alles sehen kann.

„Wie auf dem Hunsrück“, sagt Kalbermatten und behält die auswärtigen Automobilisten im Auge, die die Schienen nicht räumen wollen, pfeift mit Erfolg.

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Ausweiche hat die Station in unserem Rücken geheißen. Sie ist unbemannt. Wir biegen also ohne Segen in die zweite große Gerade ein, queren sorgfältig und in rechtem Winkel das Geleise der Normalspurbahn – auf jeder Fahrt erfolgt dieser kleine Doppelschlag ins Kreuz des fahrenden Lokalbahnpersonals – und setzen in einem Zug über die vierspurige Autobahn hinweg.

Damen und Herren in weißen Höschen stehen vor der Großbäckerei in einem grünen Gehege und schlagen einander über Mittag Tennisbälle um die Ohren. Sie nehmen keine Notiz von der orangen Bahn.

„Jeder Halt, der nicht verlangt wird“, sagt Kalbermatten, „ist ein kleines Geschenk, eine Erinnerung an die Zeit, als noch genügend Zeit blieb, einen Passagier auf halbem Weg die Notdurft verrichten zu lassen, wenn er das Wasser nicht mehr über die ganze Strecke zurückzuhalten vermochte.“ Heute wartet auf dem neuen Streckenstück hinter rotweißen Schlagbalken schon ungeduldig der Individualverkehr, bis wir vorübergeflogen sind.