Fair. Ohne Kompromisse - Nina Weger - E-Book

Fair. Ohne Kompromisse E-Book

Nina Weger

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Beschreibung

Wie weit würdest du gehen?

Nach dem Tod seines Vaters zieht Avid mit seiner Mutter, einer Polizistin, in eine andere Stadt. Hier wollen die beiden einen Neustart wagen. Doch dann wird Avids Laptop mit all den Erinnerungen an seinen Vater gestohlen. Die Spur führt Avid zu einer Gruppe Jugendlicher rund um das selbstbewusste Mädchen Vulkan. Ihre Mission: Sie wollen die Erde zu einem gerechteren Ort machen, indem sie Reichtum umverteilen. Und dafür ist Vulkan und ihren Freunden fast jedes Mittel recht. Denn wie kann man es einfach hinnehmen, dass man als Jugendlicher so machtlos ist gegenüber den Ungerechtigkeiten auf der Welt? Zunächst macht Avid nur mit, um seinen Laptop zurückzubekommen. Mit der Zeit kann er sich jedoch immer mehr für ihre Pläne begeistern und beginnt, Grenzen zu überschreiten …

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 372

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch

Nach dem Tod seines Vaters zieht Avid mit seiner Mutter, einer Polizistin, in eine andere Stadt. Hier wollen die beiden einen Neustart wagen. Doch dann wird Avids Laptop mit all den Erinnerungen an seinen Vater gestohlen. Die Spur führt Avid zu einer Gruppe Jugendlicher rund um das selbstbewusste Mädchen Vulkan. Ihre Mission: Sie wollen die Erde zu einem gerechteren Ort machen, indem sie Reichtum umverteilen. Und dafür ist Vulkan und ihren Freunden fast jedes Mittel recht. Denn wie kann man es einfach hinnehmen, dass man als Jugendlicher so machtlos ist gegenüber den Ungerechtigkeiten auf der Welt? Zunächst macht Avid nur mit, um seinen Laptop zurückzubekommen. Mit der Zeit kann er sich jedoch immer mehr für ihre Pläne begeistern und beginnt, Grenzen zu überschreiten …

Zur Autorin

In Nina Wegers Leben zeichneten sich schon früh zwei Leidenschaften ab: für das Schreiben und den Zirkus. Mit 13 Jahren begann sie in einem Kinderzirkus Seil zu tanzen und tourte nach dem Abitur ein Jahr lang als professionelle Seiltänzerin. Dann widmete sie sich der Ausbildung an einer Journalistenschule, arbeitete als Drehbuchautorin und fand schließlich den Weg zum Kinderbuch, wo sie sich mit Büchern wie »Ein Krokodil taucht ab« und »Club der Heldinnen« einen Namen gemacht hat. Parallel leitet sie gemeinsam mit zwei Freundinnen den Kinderzirkus Giovanni, der mit dem Deutschen Kinderpreis ausgezeichnet wurde.

Nina Weger

Fair

Ohne Kompromisse

dragonfly

Originalausgabe

© 2025 Dragonfly in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH

Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Coverillustration: Adams Carvalho

Covergestaltung: Frauke Schneider

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN9783748803164

www.dragonfly-verlag.de

Facebook: facebook.de/dragonflyverlag

Instagram: @dragonflyverlag

Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Urheber und des Verlags bleiben davon unberührt.

Für Rolando

1.

Dienstag, 8. August

»Hast du eine Idee, wann es angefangen hat?«

Avid hob den Kopf und schaute die Polizeibeamtin fragend an.

»Es gibt immer diesen einen Punkt, an dem man das erste Mal falsch abbiegt, an dem man die erste falsche Entscheidung trifft. Kannst du sagen, wann das bei dir war?«

Avid strich sich das verklebte Haar aus dem Gesicht.

In seinem Hirn flammten Bilder auf. Das Blaulicht … Der Schuss … Scherbenklirren … Immer schneller rasten seine Gedanken rückwärts. Das Solardorf. Das Lager. Die Einbrüche. Die Prüfung. Das Laptop. Und dann stoppte die Bilderflut abrupt. An dem Abend des Einzugs. Dem ersten Abend in der neuen Wohnung, in der neuen Stadt, als der Regen gegen das Fenster trommelte. Und nur eine Glühbirne unter der Decke seines Zimmers baumelte. Als die Umzugskartons in einem chaotischen Durcheinander herumstanden – aber in seinem Kopf noch Ordnung herrschte. Als er noch gewusst hatte, was richtig oder falsch war. Oder zumindest glaubte, es zu wissen.

2.

Montag, 3. Juli

Avid stand ratlos zwischen den Bergen von Umzugskartons. Er hatte absolut keine Ahnung, wo er anfangen sollte. Gleichgültig öffnete er die erste Kiste. Sie war bis an den Rand mit T-Shirts und Hoodies vollgestopft. Mit einem Kick schickte er den Karton über den Dielenboden Richtung Schrank. Den konnte er morgen noch ausräumen. Im nächsten fand er Bücher – aber dafür müsste er erst das Regal aufbauen. Dann entdeckte er die Kiste mit dem Werkzeug. Seinem Werkzeug. Behutsam hob Avid den Karton an und trug ihn zum Fenster, zu der Kommode mit den vielen kleinen Schubladen. Sie war auch seine. Gewesen. Nur ein einziges Wort mehr, dachte er, für so viel weniger. Er setzte die Kiste ab und schaute durch den Regen auf die andere Straßenseite. Aus der Dunkelheit ragte die riesige Bauruine auf. In der Nacht war sie noch hässlicher als am Tag. Die Fassade mit den düsteren Löchern sah wie ein zahnloses, grinsendes Maul aus. Hatte seine Mutter den Schuppen bei der Besichtigung übersehen? Oder hatte sie einfach nur das Talent, alles immer noch schlimmer zu machen? Neuanfang hatte sie das hier genannt. Er wollte keinen Neuanfang. Er wollte, dass alles so war wie früher. Als er noch da war und sie so etwas wie eine Familie.

Mechanisch zog Avid die Schublade auf, die mit Elektro-Werkzeug I beschriftet war. Gerade wollte er sich zu der Kiste nach unten beugen, als sein Blick noch einmal die Straße streifte und er da draußen zwei Schatten wahrnahm. Geduckt huschten sie an der Reihe parkender Autos entlang. Neugierig lehnte er sich vor, näher an die Scheibe. Jetzt löste sich der eine Schatten vom anderen, verschwand hinter einem Wagen – und gleich darauf flog die Fahrertür auf. Avid schnappte nach Luft. Die brachen ein Auto auf! Und in dem Moment, in dem er begriff, dass es sich um ihren Wagen handelte – den großen Kombi, den seine Mutter extra für den Umzug angemietet hatte –, begannen die beiden Diebe auch schon, die Rückbank auszuräumen!

»Hey!« Avid schlug mit der flachen Hand gegen das Fenster. Der größere Dieb schaute kurz auf und zerrte noch hektischer Taschen und Tüten aus dem Wageninneren. Avid fuhr herum und stürzte aus seinem Zimmer. Er sprang über Kisten und Regalbretter, den Flur entlang, Richtung Wohnungstür.

»Avid?!« Seine Mutter streckte den Kopf aus der Küche.

»Autoknacker!« Er stolperte aus der Wohnung, die Treppe hinab, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Erster Stock, Erdgeschoss. Mit Wucht riss er die Haustür auf. Krachend schlug sie gegen die Wand. Im selben Moment schnappten die Diebe ihre Beute und flüchteten die Straße hinunter. Ohne zu zögern sprintete Avid ihnen nach. Die Sackgesichter entkamen ihm nicht!

Er stemmte sich gegen den nassen Asphalt, rannte so schnell er konnte – und fiel trotzdem Stück für Stück zurück. Der größere Dieb war schnell. Zu schnell. Mit weiten Schritten jagte er die Straße entlang. Avid würde ihn nie einholen. Aber dem Kleineren ging allmählich die Puste aus – er verlor an Tempo. Den würde er packen! Avid gab alles. Der Regen klatschte ihm ins Gesicht, seine Lungen brannten – doch er holte auf. Der kleinere Dieb – oder war es eine Diebin, sie war zierlich – schaute jetzt panisch über die Schulter und schleuderte eine Tasche nach hinten. Der Beutel knallte gegen Avids Schienbeine. Für einen Moment verlor er sein Gleichgewicht, ruderte mit den Armen, strauchelte wie ein Flugzeug, das ins Trudeln gekommen war, fing sich in letzter Sekunde … doch als er wieder aufschaute, war der größere Dieb verschwunden! Und zu dem kleineren hatte er wertvolle Meter verloren. Er konnte gerade noch sehen, wie er vor ihm zwischen den parkenden Autos auf die rechte Straßenseite hetzte – und dann auf den nassen Steinen wegrutschte. Mit einem dumpfen Knall schlug der schlanke Körper auf das Pflaster. Das war seine Chance! Avid jagte los, er kam näher, noch zehn Meter, acht – hastig rappelte sich die Diebin, Avid war sich inzwischen ziemlich sicher, dass es ein Mädchen war, auf und verschwand um die Straßenecke. Er spürte, wie seine Kräfte nachließen, er presste die Kiefer aufeinander, hastete ihr nach und schlidderte um die Biegung.

Die Diebin rannte die schmale Seitenstraße hinunter. Seine Beine wurden schwerer – wurde die denn niemals müde? Da warf sie sich in einer scharfen Rechtskurve zur Seite! Sie versuchte, ihm durch eine Toreinfahrt zu entwischen!

In langen Sätzen erreichte er die Durchfahrt, tauchte ihr nach, in die Dunkelheit – und war mit einem Mal völlig orientierungslos. Vorsichtig tastete er sich vorwärts, seine linke Schulter streifte raue Wand – in diesem Augenblick flammte am Ende des Tunnels eine Lampe auf! Avid eilte auf das Licht zu – und fand sich plötzlich auf einem kleinen, menschenleeren Hinterhof wieder.

Verwirrt sah er sich um. Das asphaltierte Stück war ringsum von hohen Häusern umschlossen. Rechts ein Fahrradständer, links ein Müllhäuschen mit mehreren Türen – wo war die Diebin? Das Licht kam von einem Strahler mit Bewegungsmelder, der über der Tür des Hinterhauses befestigt war. Jemand musste in den Bereich des Sensors getaucht sein. Avid eilte auf die Tür zu und drückte die Klinke. Es war abgeschlossen. Perplex starrte er auf das Schloss. Unmöglich, dass die Diebin Zeit gehabt hatte, aufzuschließen. Er drehte sich um. Die mittlere Tür des Müllhäuschens stand einen Spalt offen.

Langsam ging Avid auf das Häuschen zu. Sein Atem rasselte. Er spürte seinen Herzschlag bis zum Hals. Kurz schloss er die Augen, dann beugte er sich hinunter, streckte den Arm weit aus, legte lautlos die Finger um den Eisengriff, holte tief Luft – und riss die Tür auf. Bis auf die verschiedenfarbigen Plastiktonnen war der Verschlag leer. Das konnte nicht sein!

Er fuhr herum. Er hatte es doch genau gesehen: Die Diebin war in diese Toreinfahrt gerannt! Der Bewegungsmelder war angesprungen! Das Miststück konnte doch nicht vom Erdboden verschluckt sein?! Er strich sich die nassen Strähnen aus der Stirn und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Erschöpft ließ er den Oberkörper nach vorn fallen und bemühte sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. An seinen Hosenbeinen kroch das Regenwasser hinauf. Erst jetzt bemerkte er, dass er keine Schuhe trug.

3.

Als Avid zurück in ihre neue Straße bog, kam ihm seine Mutter entgegeneilt. »Bist du wahnsinnig geworden, die zu verfolgen?«

»Sollte ich sie laufen lassen?«

»Die hätten bewaffnet sein können! Wie oft habe ich dir ge…?«

»Die haben das Auto aufgebrochen, mit unseren Sachen!«, fuhr er sie an.

»Und?« Elena sah ihn fassungslos an. »Das ist alles ersetzbar. Aber wenn dir …«

Eine Hitzewelle fuhr durch seinen Körper. »War mein Rucksack noch im Wagen?«

Sie zuckte unsicher mit den Schultern. »Keine Ahnung … ich … kann mich nicht erinnern, ihn hochgetragen zu haben.«

Er ließ sie stehen und rannte wieder los, sprang über die Tasche, die ihm der Dieb entgegengeschleudert hatte. Der Stoff war von dem Aufprall aufgeplatzt, ein Ordner hing heraus.

»Ich habe den Notruf alarmiert. Die Kollegen sind gleich da«, rief sie ihm nach.

Avid rannte weiter. Die hintere linke Tür des Leihautos stand immer noch offen. Auf dem Gehweg lagen Tüten und kleinere Kisten verteilt – aber kein Rucksack.

Er kletterte auf die Rückbank und wühlte zwischen den verbliebenen Sachen, tauchte hinter die Sitze, kramte im Fußraum – der Rucksack war weg.

Geklaut.

Geraubt.

Avid ließ sich aus dem Auto gleiten, sackte auf dem Gehweg zusammen und vergrub sein Gesicht zwischen den Knien. In dem Rucksack war das Laptop. Und die Festplatte, auf der er alle Daten zusätzlich gesichert hatte. Die Festplatte, die sonst immer an einem anderen Ort stand als der Rechner. Für den Notfall. Falls es brannte oder das Laptop vom Tisch fiel. Oder jemand einbrach. Die Festplatte, auf der alle Erinnerungen gesammelt waren. Der Klang seiner Stimme. Die Clips mit seinem Lachen, die Fotos mit seinem Gesicht, seinen Händen, all den Bildern, die in seinem Kopf langsam, aber stetig an Schärfe verloren.

Elena trat neben ihn. Einen Moment stand sie unschlüssig da, dann hockte sie sich zu ihm hinunter. »Wir finden den Rucksack wieder, bestimmt, manchmal gibt es schon eine Spur und die Kollegen müssen nur noch eins und eins zusammenzählen …«

Etwas in ihrer Stimme verriet ihm, dass sie selbst nicht daran glaubte.

»Wie hoch ist die Aufklärungsrate bei Auto-Einbrüchen?«, fragte er leise.

Sie zögerte. »Das hängt von der Stadt, vom Bundesland ab. Die Daten weichen stark voneinander …«

»Ungefähr? Hier?«

Sie antwortete nicht.

»Wie hoch?«, wiederholte er ungeduldig.

»Etwa zwölf Prozent.«

Er sackte noch ein bisschen mehr in sich zusammen. »Das ist gar nichts.«

»Zwölf Prozent sind zwölf Prozent – nicht nichts.« Sie klang hilflos. »Komm, lass uns die Sachen einsammeln, bevor ihnen der Regen den Rest gibt.«

Es dauerte 18 Minuten, bis das Polizeiauto mit den Kollegen, wie seine Mutter sie nannte, eintraf. In der Zeit hatten sie alles zusammengetragen, was die Diebe zurückgelassen hatten, und nach oben in die Wohnung gebracht. Elena bat ihn, die Küche etwas freizuräumen, sodass sie sich für das Protokoll an den Tisch setzen konnten. Dann eilte sie wieder nach unten, um gemeinsam mit den Uniformierten den Tatort zu besichtigen.

Avid warf die Küchenutensilien, die verstreut auf dem Tisch lagen, zurück in eine der Kisten. Unter den Kochlöffeln, Pfannenhebern und Schneebesen blitzten ihm die Fotos entgegen, die in der alten Wohnung am Kühlschrank gehangen hatten: sie, alle drei, bei dem Ausflug in das Technik-Museum. Mit dem selbst gebauten Gokart. Sie beide in der Werkstatt beim Löten. Er wühlte auf dem Boden des kleinen Kartons nach den Magneten mit den Städte-Motiven: Amsterdam, Paris, Prag. Mitbringsel von ihren Reisen. Dann trat er zum Kühlschrank und pinnte die Fotos vorsichtig an die Metalltür. Sie waren an den Rändern ein wenig nach innen gewölbt, und eins der Bilder hatte bereits einen Gelbstich. Avid strich sie sorgsam glatt und platzierte die Magnete so, dass sie die Fotoecken an das Metall drückten.

Da hörte er, wie sich der Schlüssel in der Wohnungstür drehte, und trat auf den Flur.

»Das ist Avid«, stellte Elena ihn vor. »Und das sind Polizeikommissar Krüger und Polizeioberkommissarin Henkel.« Sie benutzte immer den genauen Dienstgrad. Avid vermutete, um Respekt zu zeigen. Sie selbst war Polizeihauptkommissarin und stand damit weit über den beiden Streifenpolizisten. Ab morgen würde sie im Präsidium arbeiten. Nicht auf irgendeiner Wache.

»Hallo«, sagte Avid.

»Du hast die Tat beobachtet?«, fragte die Polizistin freundlich. Avid nickte.

Seine Mutter legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich gucke jetzt noch einmal alles durch, damit wir nichts vergessen, auch für die Versicherung. Du kannst die Fragen allein beantworten, oder?«

Avid nickte wieder.

Er setzte sich mit der Polizistin an den Küchentisch, senkte den Kopf und betrachtete sie unauffällig. Alles an ihr war zu lang und dünn, selbst der Zopf im Nacken. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sie einen Einbrecher aufhalten wollte. Ihr Kollege stellte sich ans Fenster und schaute hinaus. Es schien, als wollte er überprüfen, ob man von hier auch wirklich das Auto und die Straße überblicken konnte.

»Also, als Erstes muss ich dich belehren, dass du die Wahrheit sagen musst«, erklärte die Polizistin. »Tust du das nicht, machst du dich strafbar.«

Avid nickte. »Klar. Weiß ich.«

»Gut. Also, du hast das Ganze von deinem Fenster aus beobachtet?«

»Genau.« Dann beschrieb er präzise, wie die beiden Diebe ausgesehen hatten, was er gesehen hatte, wie er ihnen nachgerannt und wie die Diebin plötzlich auf dem Hinterhof verschwunden war. An dem Punkt drehte sich der Polizist abrupt um. Er zog eine Augenbraue hoch und legte den Kopf etwas schief. So, als wollte er sagen: Verschwunden?

Avid spürte, dass er ihm nicht glaubte. Weil sich ja niemand einfach in Luft auflösen konnte. Das wusste er selbst. Warum also sollte er sich so einen Mist ausdenken?

»Das nächste Mal lässt du das bitte, ja?«, sagte die Polizistin in diesem Moment und verzog ihre schmalen Lippen zu einem Lächeln. »Man weiß nie, wie solche Leute reagieren.«

»Beide – der Lange und die Kleinere – also ich glaube, dass das ein Mädchen war – waren keine Erwachsenen. Da bin ich mir ziemlich sicher.«

Die Polizistin schaute überrascht.

»Das bezweifle ich«, mischte sich nun ihr Kollege ein. »Das Vorgehen war ziemlich professionell.«

»Ich sollte Ihnen sagen, was ich beobachtet habe. Und ich glaube, dass das keine Erwachsenen waren«, beharrte Avid, diesmal etwas lauter. Der Polizist ging ihm auf die Nerven. »Das Mädchen, das war so alt wie ich. Und der Größere war so ein langer, dünner Typ. Wie die Jungs, die Basketball spielen.«

»Kann auch ein Drogenabhängiger gewesen sein.«

»Der war supersportlich. Durchtrainiert, schnell. Der macht garantiert irgendeinen Sport«, entgegnete Avid scharf.

»Okay.« Die Polizistin hob beschwichtigend die Hände. »Ich habe das zu Protokoll genommen. Jetzt bräuchte ich noch dein Alter …«

»Vierzehn.«

»Gut.« Sie klappte ihren Block zu. »Dann hoffen wir mal, dass etwas von den geraubten Sachen auftaucht und wir es rückverfolgen können. Oder dass wir die Täter auf frischer Tat ertappen.«

Avid schaute sie perplex an. »Sie wollen diesen Hof oder das Hinterhaus nicht durchsuchen?«

Die Polizistin räusperte sich, als suchte sie nach einer Erklärung.

Er kam ihr zuvor. »Also, soll das heißen, wenn Sie nicht zufällig jemanden erwischen oder nicht zufällig etwas auftaucht – dann kommen die einfach davon?«

Sie hob mit einer entschuldigenden Geste die Arme, als wollte sie zeigen, wie leid ihr das tat.

Avid sprang auf. »Die haben unser Auto aufgebrochen! Die haben unsere Sachen geklaut! Das ist eine Straftat!«

»Eine Hausdurchsuchung ist nur bei einem begründeten Verdacht möglich. Das hat deine Mutter dir doch sicher schon mal erklärt«, mischte sich der Polizist wieder ein.

Avid schnellte herum und funkelte ihn an. »Ich habe genau gesehen, wie die in diesen Hof reingerannt ist! Mit unseren Sachen! Reicht das nicht als Begründung?«

»Es ist leider so, dass jeden Tag unzählige Autos aufgebrochen werden«, versuchte die Polizistin zu erklären. »Wir müssten eine Armee einstellen, um jeden Einbruch aufzuklären. Und selbst wenn wir die Leute erwischen, heißt das noch lange nicht, dass die dein Laptop noch haben. Die gestohlene Ware wird ruckzuck weiterverkauft.«

»Sie meinen, dann können Sie es auch gleich sein lassen?« Avid hob herausfordernd das Kinn.

»Hast du denn die Daten von deinem Laptop nicht noch irgendwo anders gespeichert?«

Avid stieß laut die Luft aus. Konnte dieser verdammte Polizist nicht einfach die Schnauze halten?! Er sah dem Mann provozierend in die Augen. »Meine Festplatte war auch in dem Rucksack! Und falls Sie es nicht bemerkt haben: Wir ziehen gerade um!« Ruckartig ließ er seine Hand vorschnellen und zeigte auf die Kisten, die überall herumstanden. »Bis vor einer Stunde war hier alles noch voller wildfremder Umzugshelfer! Darum waren einige wichtige Sachen noch im Auto! Und wenn Sie Ihre Arbeit machen würden, hätten die nicht die Eier, um neun Uhr abends an einem ganz normalen Wochentag in einer Straße voller Wohnhäuser ein Auto aufzubrechen! Die tun das, weil sie es können!«

Seine Mutter eilte aus dem Flur herein. »Avid! Mäßige dich bitte in deinem Ton.«

Er spürte, wie ihm Tränen der Wut in die Augen schossen. »Dann soll der diese Klugscheißer-Sprüche lassen!«

»Avid!«

»Die können mich mal.« Er lief aus der Küche in sein Zimmer, knallte die Tür zu und schmiss sich aufs Bett. Aus dem Flur drangen Stimmen, er hörte, wie Elena sich entschuldigte. »Sein Vater, mein Mann, ist vor einem halben Jahr verstorben. Auf dem Laptop und der Festplatte waren alle Bilder und Videos. Sie bedeuten ihm sehr viel.«

Das ging die nichts an! Wieso erzählte sie das?

»Oh, das tut mir leid.« Die Polizistin klang ehrlich betroffen. »Das ist schrecklich. Wirklich.«

»In letzter Zeit mehren sich diese Einbrüche. Es ist immer sehr gezielt«, auch die Stimme des Polizisten klang nun viel freundlicher. »Autos, Büros, Lieferwagen. Immer Laptops, Tablets, Telefone. Alles, was man leicht mitnehmen und schnell wieder loswerden kann. Es ist vor einem guten Jahr losgegangen. Bis jetzt haben wir keins der Geräte wiedergefunden. Die müssen gut organisiert sein. Darum können es auch nicht ein paar Kinder sein.«

»Verstehe«, sagte seine Mutter. »Es fehlen leider noch ein paar mehr Dinge, etwas Schmuck, ein Fotoapparat, habe ich gerade festgestellt … das müssten wir noch auf der Liste ergänzen.«

Fünf Minuten später hörte Avid einen Stuhl rücken, und die Polizisten verabschiedeten sich. Aus dem Flur erklangen Schritte, das Klacken der Wohnungstür, dann klopfte es.

»Ja?«, fauchte er.

Elena kam herein und setzte sich auf die Bettkante. »Wir haben noch Fotos auf meinem Computer.«

»Toll.« Avid schnaufte verächtlich. »Du hast nicht mal die Hälfte.«

»Ich weiß.« Sie holte Luft und atmete lang aus. Das tat sie immer, wenn ihr die Worte fehlten. »Es tut mir so leid.«

»Klauen … ist … nicht … richtig.« Er betonte jedes einzelne Wort, genau so, wie sie selbst diesen Satz unermüdlich predigte.

»Ja.«

»Du sagst ständig, dass du länger im Präsidium bleibst, damit die Falschen nicht davonkommen.«

»Ja. Aber das funktioniert leider nicht immer.«

»Das ist nicht fair!«

Sie seufzte. »Nein, das ist es nicht.«

Avid schwieg einen langen Moment. Dann sagte er mit aller Entschlossenheit: »Ich hole mir mein Laptop zurück. Und dann kriegen die ihre gerechte Strafe.«

4.

Dienstag, 4. Juli

Sonne durchflutete sein Zimmer und tauchte alles in ein gelbes, warmes Licht. Es fühlte sich fast wie ein normaler erster Ferientag an – wenn in den schräg einfallenden Strahlen nicht Staubkörner über Umzugskisten getanzt wären. Wenn nicht Bücher, Anziehsachen und Werkzeug wild verteilt vor halb aufgebauten Regalen herumgelegen hätten. Wenn da nicht sofort, vom Traum hinübergleitend ins Hier und Jetzt, der Gedanke an sein Laptop, die Festplatte und all die unwiederbringlichen Bilder gewesen wäre.

Avid rappelte sich in seinem Bett auf. Es roch nach Buchweizenpfannkuchen und Ahornsirup. Die gab es sonst nur sonntags. Oder wenn seine Mutter freihatte. Er rieb sich die Augen, gähnte und streckte sich. Sie versuchte, alles so schön wie möglich zu machen. Seit einem halben Jahr ging das so, und sie merkte nicht, dass sie damit alles nur schlimmer machte. Dass unter dieser dünnen Kruste gespielter Normalität der Verlust und der Schmerz nur noch greller hervorschienen.

Avid schob die Decke beiseite, stand auf und schlappte in die Küche.

»Hey, Großer!« Elena drehte sich vom Herd um. »Wie hast du geschlafen?« Sie sah gut aus. Sie hatte sich sorgfältig geschminkt, ihr kastanienbraunes Haar war gewaschen und geföhnt. Er hatte die Farbe so gemocht. Weil sie in Kontrast zu ihren grünen Augen stand. Das hatte er jedenfallsimmer gesagt.

»Okay«, antwortete Avid. »Und du?«

»Wie ein Stein. Ich glaube, ich war von der ganzen Räumerei und der Fahrt einfach total erschöpft. Hast du etwas geträumt?«

Er ließ sich auf den Stuhl fallen und strich sich müde das Haar aus dem Gesicht. »Ich kann mich nicht erinnern.«

Sie lächelte. »Ich auch nicht. Schade. Das, was man in der ersten Nacht in einer neuen Wohnung träumt, soll in Erfüllung gehen.«

Sie füllte eine weitere Kelle des Breis in die Pfanne, und das heiße Öl zischte.

»Riecht gut.«

Sie drehte sich wieder um und lächelte. Es sollte aufmunternd sein. Sie gab sich so verdammt viel Mühe, dass es schon wehtat. Avid fragte sich, ob sie vergessen hatte, was am Abend zuvor passiert war? Was überhaupt in den letzten sechs Monaten geschehen war? Manchmal kam es ihm vor, als ob sie einfach alles verdrängte. Wie ein kleines Kind, das sich die Augen zuhält und dann glaubt, die anderen könnten es nicht sehen, weil es ja selbst nichts sehen kann.

Schon wieder lächelte sie. »Ich dachte, wir beide machen uns ein richtig gutes Frühstück. Bevor wir hier heute ganz neu starten.«

Und da tat sie ihm plötzlich leid. Mit all ihrer Anstrengung hinter dem Frohsinn. Ihrer Hilflosigkeit. »Gute Idee«, sagte er extra lieb und stand auf. »Hast du eine Ahnung, wo die Teller sind?«

»In einer der Kisten da drüben.«

Er öffnete einen Karton und hatte Glück: Er zog zwei Teller hervor, wickelte sie aus dem Zeitungspapier und fischte aus der Tiefe das Besteck, während sie die große Platte in die Mitte des Tischs stellte. Der Ahornsirup triefte aus dem Pfannenkuchenberg. Er hatte Süßes zum Frühstück geliebt. Im Urlaub hatte er manchmal morgens schon Torte gegessen.

»Ich habe noch einmal nachgedacht. Meinst du nicht, dass es vielleicht doch eine gute Idee wäre, wenn du für die erste Zeit zu Oma und …«

»Nein«, unterbrach Avid sie harsch. »Ich bleibe hier. Das haben wir doch geklärt.«

Sie nickte stumm und legte erst ihm und dann sich einen Pfannkuchen auf den Teller.

Avid holte tief Luft, dann sah er sie bittend an. »Es ist alles gut. Ehrlich. Ich brauche nur … ich muss ein bisschen allein sein, verstehst du? Um zur Ruhe zu kommen, ja?« Den Satz hatte er von seinem Therapeuten. Er klang gut. Und irgendwie stimmte es auch: Er wollte nur seine Ruhe – keine mitleidigen Blicke oder Trost. Bloß keinen Trost mehr.

»Okay. Ich weiß nicht, wie lang es heute bei mir dauert. Und ich muss auch noch den Leihwagen in der Werkstatt abgeben …« Es klang wie eine Entschuldigung.

»Kein Problem«, sagte Avid. »Ich kann ja schon mal Lampen anbringen.«

»Das können wir später auch zusammen machen.«

Einen Moment aßen sie beide schweigend.

»Avid?«

Bestimmt wollte sie jetzt fragen, wie es ihm ging – hier, mit all dem Neuen. »Elena?«, entgegnete er schnell, denn er hatte keine Lust zu antworten.

Sie sah ihn an und legte den Kopf schief. »An der Ecke ist ein italienisches Restaurant. Ich dachte, wenn ich später vom Präsidium zurückkomme, könnten wir vielleicht meinen ersten Tag in dem neuen Job feiern? Und deinen Ferienanfang – auch wenn es in diesem Jahr …«

»Super Idee!«, fiel Avid ihr ins Wort.

Sie nickte erleichtert.

»Und du kannst meinen Computer benutzen. Wenn du willst. Ich telefonier nachher gleich mit der Versicherung. Sie werden das Laptop garantiert ersetzen. Also, ich meine, so weit es geht, du weißt, was ich mei…?«

»Schon klar«, unterbrach er sie abermals.

»Und noch etwas …« Plötzlich klang ihre Stimme entschieden. Unmissverständlich. »Du versuchst nicht, auf eigene Faust dein Laptop zu finden oder diese Leute zu suchen. Klar? … Avid?«

Er blickte auf.

»Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

»Ja.«

»Ich muss dir vertrauen können. Mir hat nicht gefallen, was du da gestern gesagt hast. Und wenn ich das Gefühl habe, dass ich dich nicht allein lassen kann, dann …«

»… muss ich zu Oma und Opa. Verstanden.«

»Gut.« Sie sah erleichtert aus, und er nickte sicherheitshalber noch einmal zur Bestätigung.

Schweigend aßen sie weiter, bis sie aufstand, ihre Tasche schnappte, ihn flüchtig aufs Haar küsste und kurz darauf die Wohnung verließ.

Avid blieb noch einen Moment sitzen, dann verließ auch er die Küche, ging in sein Zimmer und zog sich an.

Einen Moment lang stand er unschlüssig im Raum. Er hatte es versprochen.

Aber er konnte auch nicht hier rumsitzen und warten, bis die Polizei vielleicht irgendwann mal etwas unternehmen würde. Dann, wenn die mit seinem Laptop über alle Berge waren. Und seine Bilder und Videos längst gelöscht hatten.

Er musste diese verdammten Diebe suchen. Bevor es zu spät war.

Als er aus der Haustür trat, parkten kaum noch Autos auf der Straße. Die meisten Menschen waren zur Arbeit gefahren. Avid ging den Gehweg hinunter, bis zu dem Punkt, wo ihm die Diebin die Tasche entgegengeschleudert und er den größeren Dieb aus den Augen verloren hatte. Er maß die Entfernung zum Ende der Straße. Eigentlich schwer zu glauben, dass der Größere es in der Kürze der Zeit bis um die Ecke geschafft hatte … Er drehte sich zur gegenüberliegenden Seite und ließ den Blick über den Bauzaun streifen, der das Grundstück mit der Ruine umgab. Glaubte man den zerfetzten Bannern, die an den Streben hingen, hatte der Kasten mal ein Hotel werden sollen. Langsam schlenderte Avid weiter. Da entdeckte er, ein ganzes Stück, bevor die Gitter der Straße in einem Neunzig-Grad-Winkel folgten, eine Lücke. Er stockte: Hatte sich der Größere vielleicht da hindurch in Sicherheit gebracht? Das würde sein plötzliches Verschwinden erklären …

Zielstrebig überquerte Avid die Straße und ging auf den breiten Spalt zwischen den Zaunteilen zu. Am Boden steckten die Metallrohre in einem Betonfuß, aber oben, wo sie normalerweise von einer Schelle zusammengehalten wurden, klafften sie auseinander. Er zwängte sich durch den Spalt und fand sich auf einem verwilderten Grundstück wieder. Zögernd sah er sich um. Rund um die Ruine zog sich ein etwa sechs Meter breiter, modriger Streifen, der von Inseln wild wuchernder Grasbüschel und Unkraut durchsetzt war. Dazwischen verteilten sich aufgeplatzte Müllsäcke, Glasscherben und Reste von Isoliermaterial. Es schien, als sei die Baustelle ohne Vorwarnung, mitten während der Arbeiten, verlassen worden. In dem vom nächtlichen Regen aufgeweichten Boden waren Fußspuren. Sie liefen alle auf eine große Rampe zu, die in zwei geschwungenen Bögen rechts und links zum Eingang des Gebäudes führte. Avid überlegte. Wahrscheinlich hätte das mal die Auffahrt zur Empfangshalle werden sollen … sodass man bequem mit dem Auto vorfahren konnte und unter der Überdachung auch bei Regen trocken in das Hotel gelangte.

Er folgte den Abdrücken bis zum Beginn der breiten Betonschräge, machte zwei Schritte hinauf – und blieb dann zögernd stehen. Unsicher drehte er sich um und schaute noch einmal zurück. Über den Zaun hinweg sah er die Fenster der gegenüberliegenden Häuser. Sie waren nah, und gleichzeitig ziemlich weit weg … würde ihn da jemand hören, wenn er um Hilfe schrie? Er lauschte in das Innere des Gebäudes. Außer einer Plastikfolie, die sich knisternd im Wind blähte, hörte er nichts. Nur den typischen Geräuschteppich der Stadt.

Langsam machte er noch ein paar Schritte vor, reckte den Hals und spähte in das Innere des Rohbaus. Er entdeckte nichts Verdächtiges und stapfte weiter die Schräge hinauf, bis er direkt vor dem großen, hohen Eingang stand. Vor ihm erstreckte sich ein riesiger Raum. Vermutlich hätte hier mal der Empfangstresen stehen sollen … und schwere Sessel … eine Bar … mit einem Flügel in der Ecke, auf dem jemand herumklimperte … Er holte Luft und trat mit einem großen Schritt in die Halle. Es stank nach Pisse und Verbranntem. Der Betonboden war von Dreck, Scherben und Müll übersät. Bei jedem Schritt knirschten Glassplitter unter seinen Sohlen. Hinter einem Betonpfeiler lagen verkohlte Äste und Bretter. Jemand hatte ein Feuer gemacht …

Avid bemühte sich, genau in der Mitte der Halle zu bleiben, mit größtmöglichem Abstand zu den Wänden. Wer wusste schon, was hinter den Mauern alles lauerte? Durch die großen Durchbrüche konnte er in zwei weitere große Säle spähen. Die nackten Betonwände waren mit Graffitis besprüht, auf dem Boden verteilten sich Schnapsflaschen, Bierdosen, Spritzen. In einer Ecke lag ein speckiger Schlafsack. Er legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Über ihm in der Decke klaffte ein riesiges Loch ... wohl für die Treppe ins nächste Stockwerk … Ganz sicher sogar … denn gegenüber von ihm führten zwei Schächte hinauf und hinunter, hundertpro für die Fahrstühle. Avid schätzte die Höhe zur nächsten Etage auf mindestens fünf Meter. Eher mehr. Um in den nächsten Stock zu kommen, bräuchte man eine Leiter oder wenigstens ein Klettertau. Langsam drehte er sich einmal um die eigene Achse.

Und plötzlich musste er über sich selbst lachen: Diese Ruine war ein Rückzugsort für Obdachlose und Drogenabhängige! Ganz sicher kein Diebeslager! Was hatte er erwartet? Ein Podest, auf dem sein Laptop zur Abholung bereitstand? Welcher Idiot würde hier irgendwelche wertvollen Dinge deponieren?! Das Gemäuer stand zu allen Seiten offen! Jeder konnte rein und raus! Das war viel zu riskant. Wenn sich der größere Dieb tatsächlich durch die Lücke im Zaun gerettet hatte – dann nur, um kurz zu verschnaufen. Oder um auf der anderen Seite des Gebäudes seine Flucht fortzusetzen!

Nein, das hier brachte ihn nicht weiter. Er drehte sich noch einmal um sich selbst – und hielt inne. Aber wenn alles dagegensprach – warum wurde er dann das verdammte Gefühl nicht los, dass dieses Gemäuer irgendetwas mit den Dieben zu tun hatte?

5.

Avid ging zurück auf die Straße, zu dem Punkt, an dem die Diebin während der Verfolgungsjagd gestürzt war. Schritt für Schritt folgte er noch einmal seinem Weg vom Abend davor: um die Ecke, in die Querstraße, am Bauzaun entlang. Jetzt sah er – was er zuvor in der Dunkelheit nicht hatte erkennen können –, dass sich direkt hinter der Ruine ein zwei Meter breiter Grünstreifen entlangzog. Er vermutete, dass dort die Zufahrt für die Lieferanten geplant gewesen war, der Hinterausgang für das Personal.

Avid ging weiter. Nach weiteren fünfzehn Metern hatte er den Durchgang erreicht, der zu dem Hinterhof führte. Im Tageslicht kam er ihm viel kürzer vor. Mit ein paar Schritten hatte er den Tunnel durchquert und fand sich auf dem kleinen asphaltierten Platz vor dem Hinterhaus wieder. In der warmen Sonne des Vormittags wirkte der Hof freundlich. Von den Balkonen leuchteten bunte Markisen, und an den Balustraden hingen liebevoll bepflanzte Blumenkästen. Wie am Tag zuvor ging Avid auf die Tür des Hinterhauses zu und drückte die Klinke. Verschlossen! Auch tagsüber, wie es aussah. Er zog sein Handy aus der Tasche und fotografierte die Klingelschilder mit den Namen. Spuren sichern. Das hatte er von seiner Mutter gelernt: Manchmal musste man nur die scheinbar nichtigen Dinge zusammenzählen – und tada! hatte man die Lösung!

Er drehte sich zu dem Müllhäuschen um. Absolut nichts daran wirkte ungewöhnlich: Die Wände waren aus Waschbeton mit hellen Kieseln, die drei Metalltüren – zwei die sich nach links und eine, die sich nach rechts öffnete – dunkelgrün gestrichen. Avid öffnete die mittlere Tür. Ihm bot sich das gleiche Bild wie am Abend: zwei graue, zwei gelbe, eine blaue Tonne. Genügend Platz für eine sechste …

Frustriert stieß er die Luft aus, drehte sich im Kreis und überflog noch einmal jeden Winkel des Hofes.

Er war zu allen Seiten zugebaut … Es gab nur den Zugang von der Straße …

»Verdammt!«, zischte Avid zwischen den Zähnen hervor. Der Dieb konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben?! So etwas gab es nur in blöden Sci-Fi-Serien! Aus einem Impuls der Verzweiflung heraus riss er die grauen Tonnen aus dem Häuschen, dann die gelben – und dann sah er die Metallklappe im Boden. Sie war etwa 50 Zentimeter breit, aus geriffeltem Blech und in einen Rahmen eingelassen. Stand eine Tonne darüber, war sie komplett verdeckt. Er hockte sich vor die Klappe. Warum baute jemand so etwas in ein Müllhäuschen? Einen Moment zögerte er, dann fasste er den Metallbügel und hob die Klappe an.

Darunter lag eine schmale Treppe. Wieder zog er sein Handy aus der Tasche, schaltete die Lampe an und leuchtete in den Schacht. Das Ende der Treppe entzog sich seinem Blickfeld … aber auf den Stufen waren die Abdrücke von Turnschuhen zu erkennen. Eine Hitzewelle durchfuhr ihn. Er hatte sich das nicht eingebildet: Der Dieb war in den Hinterhof gerannt und durch diese Klappe entkommen! Und irgendwo da unten, am Ende dieser Treppe – da war sein Laptop! Mit all den Fotos und Videos! Mit seiner Stimme. Die Stimme, die in Avids Kopf immer schwächer wurde. Die er sich immer angestrengter in Erinnerung rufen musste und die er wahrscheinlich bald ganz verlieren würde.

Er brauchte sein Laptop.

Er musste da runter.

Entschlossen schob er eine Tonne nach der anderen zurück in das Häuschen – aber diesmal so, dass die geöffnete Klappe frei blieb. Dann setzte er sich auf den Hintern, rutschte vor, bis seine Füße in den Schacht tauchten – und hielt inne. Er sah sich um. Auf den Balkonen über ihm war niemand zu sehen, auch nicht hinter den Fenstern des Hinterhauses … Kein Schwein würde ihn hier suchen, wenn er nicht wiederauftauchte … Und ganz sicher konnte ihn auch niemand hören, wenn er da unten um Hilfe schrie …

Was sollte er tun? Eine SMS an Elena senden? Sie würde komplett ausrasten und ihn heute noch zu Oma und Opa schicken. Doch wem sollte er sonst Bescheid sagen? Er kannte niemanden in dieser Stadt … das Sicherste war, er schickte seiner Mutter einen Standort. Die Wohnung war nicht weit weg. Sie würde es erst mal für ein Versehen halten, aber wenn er nicht nach Hause kommen würde, wäre es ein entscheidender Hinweis … Er fotografierte den Hinterhof, das Häuschen, die Klappe. Elena würde im Notfall seine Cloud auf Hinweise durchsuchen. Sie war Polizistin und wusste, wie man Menschen aufspürte. Er checkte, ob die Nachricht mit seinem Standort durchgegangen war, dann rutschte er entschlossen weiter vor, hangelte sich tiefer in das Loch hinein, bis er an der Kante saß – und zog die Tür des Müllhäuschens zu. Mit einem Klack fiel sie ins Schloss.

Dürre Lichtstreifen drangen durch die Ritzen des Metallrahmens und tauchten alles in ein gespenstisches Licht. Langsam ließ sich Avid weiter in den Schacht gleiten. Mit seinen Füßen tastete er nach Halt auf den Stufen, dann streckte er die Hand nach dem Griff der Klappe aus, duckte sich und zog das Blech über sich zu. Scheppernd rastete die Eisenplatte in den Rahmen ein.

Finsternis umschlang ihn. So schwarz, dass er die Hände nicht vor den Augen sehen konnte. Mit flattrigen Fingern fischte er nach seinem Handy, wischte über den Screen und schaltete die Lampe an. Licht! Vorsichtig, als könnte ihm jeden Moment etwas entgegenspringen, richtete er den Strahl auf das Ende der Treppe. Dann setzte er langsam den Fuß auf die nächste Stufe und lauschte. Es war so still, dass es in seinen Ohren summte. Schritt für Schritt, immer wieder innehaltend und horchend, bewegte er sich nach unten. Nun sah er, dass sich direkt an die Treppe ein ebenso schmaler Gang anschloss. Sein Atem ging schneller. Noch fünf Stufen, vier, drei, zwei – endlich hatte er den Boden erreicht.

Sein Handylicht verlor sich in einem langen, leeren Tunnel. Er atmete auf und ließ den Strahl der Lampe über die Wände gleiten. Der Schacht war gerade mal so hoch, dass er aufrecht stehen konnte. Er war staubig, trocken – und erstaunlich sauber. Nicht einmal Spinnenweben hingen unter der Decke. Trotzdem zog er instinktiv die Schultern hoch, als könnte sich jeden Moment etwas von oben herablassen und in seinen Nacken kriechen. Er musste Ruhe bewahren. Konzentriert atmete er ein und aus, richtete das Licht in die Tiefe des Gangs und setzte sich in Bewegung.

Schon nach wenigen Schritten hatte er das ungute Gefühl, als pralle der Lichtstrahl des Handys gegen eine Wand – endete dort der Gang? Oder machte er einen scharfen Knick? Hinter dem sich alles verbergen konnte?

Avid drosselte das Tempo. Elena hatte ihn immer vor unübersichtlichen Straßenunterführungen und einsamen U-Bahn-Stationen gewarnt. Regelmäßig fütterte sie ihn mit Geschichten, was da alles passierte. Gruselig sind nicht Monster, schloss sie ihre Berichte gern. Gruselig sind die Menschen. Er sollte sich nie, niemals in ausweglose Situationen bringen. An Orte ohne Fluchtweg. Was also, in aller Welt, tat er hier unten?! War er bekloppt?!

Abrupt blieb er stehen. Sein Herzschlag trommelte gegen die Rippen. Sein Puls pochte im Hals. Sollte er doch besser umdrehen? Aber: Worauf sollte er hoffen? Er brauchte sein Laptop … Er konnte nicht warten, bis die Diebe alle Daten gelöscht oder das Gerät vertickt hatten. Die Polizisten hatten gesagt, dass das ruckzuck ginge! Und dass er von ihnen keine Hilfe zu erwarten hatte. Er durfte keine Zeit verlieren.

Mit einem Ruck schlug er die Ellenbogen gegen die Rippen, als ob er so die Angst aus sich herauspressen könnte. »Los!«, befahl er und setzte sich wieder in Bewegung. Ganz fest dachte er an ihr letztes gemeinsames Video. Als er erklärt hatte, wie ein Arduino funktionierte. Er war da schon sehr schwach gewesen. Die Stimme brüchig … Er musste es wiedersehen … Unbedingt. Mechanisch setzte Avid den nächsten Schritt. Dann noch einen. Und weiter. Das Ende des Gangs – nein, es war tatsächlich eine scharfe, uneinsichtige Biegung! – kam näher. Seine Hände flatterten. Seine Zunge klebte wie ein trockener Schwamm am Gaumen. Er schloss die Augen, machte einen letzten, blinden Schritt, bog um die Ecke – und öffnete die Lider.

Im zitternden Licht des Handys lag ein langer, gerader, komplett leerer Gang vor ihm.

Für einen Moment musste Avid sich an der Wand abstützen. Als sein Herzschlag wieder in einem einigermaßen normalen Rhythmus klopfte, richtete er sich auf und versuchte, das Ende auszumachen. Doch das Licht der Handylampe verlor sich irgendwo im Nichts. Langsam setzte er sich wieder in Bewegung. Er fragte sich, ob es weitere, rechts oder links abzweigende Gänge gab. In denen ihm jemand auflauerte? Wie alt mochten die Gänge sein? Wer hatte sie gebaut? Und wofür? Er fühlte, wie ihn jede dieser Fragen ein Stück von seiner Furcht ablenkte. Das war gut, also weiter: Wo führte der Gang hin? War da ein Geräusch? Er riss den Kopf herum und leuchtete zurück. Doch da war niemand. Er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Er musste einfach nur an sein Laptop denken – an nichts anderes. Um sich vorwärts zu zwingen, begann er, im Kopf seine Schritte zu zählen, immer von eins bis vier. Erst folgten die Zahlen seinen Bewegungen, aber dann begann er, die Nummern laut auszusprechen. Er zog das Tempo an, und plötzlich begannen die Schritte, den Ziffern zu folgen. Eins, zwei, drei, vier. Er marschierte zügig weiter. Eins, zwei, drei, vier. Seine Schultern streiften die rauen Betonwände. Eins, zwei, drei, vier. Der Lichtstrahl wippte im Takt seiner Schritte. Eins, zwei, drei, vier. Der Tunnel nahm eine leichte Kurve, eins – zwei – drei – vier –, er folgte dem Bogen – eins, zwei – und prallte gegen eine weiße Eisentür. Erschrocken machte er einen Schritt zurück. Mit der Lampe leuchtete er den Metallrahmen ab. Es war eine 08/15 Kellertür. So, wie man sie vor Heizungsräumen fand. Waren dahinter sein Laptop? Die Diebe?

Er schloss die Hand um die Klinke. Jetzt war sowieso alles egal. Wenn sie da waren, dann hatten sie ihn garantiert schon gehört.

Mit einem Ruck drückte er die Klinke hinunter und riss die Tür auf.

Vor ihm lag ein zwei mal zwei Meter großer, leerer Raum. Er atmete lang aus, merkte erst jetzt, dass er den Atem angehalten hatte, und überflog mit dem Licht die Wände. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine identische Tür. Wahrscheinlich diente diese … Kammer … als Feuerschutzmaßnahme? Eine Art Schleuse, bevor sich der Gang fortsetzte. Avid setzte seinen Fuß über die Schwelle und eilte mit drei großen Schritten durch den kleinen Raum, griff die Klinke der gegenüberliegenden Tür, drückte sie – und in dem Moment, als er begriff, dass sie verschlossen war, fiel hinter ihm die andere Tür ins Schloss. Avid schnellte herum, sprang zurück, packte die Klinke der Eingangstür – doch die war jetzt verschlossen! Wie die andere! Er ruckelte, zog, riss, stemmte sich mit aller Kraft dagegen, er versuchte es langsam, besonnen, nachdrücklich – doch das Schloss gab keinen Millimeter nach.

Er saß in der Falle.

Mit bebenden Fingern drehte Avid sein Handy und tippte auf den Bildschirm. Kein Empfang. Er konnte keine Hilfe rufen. Und niemand würde ihn erreichen. Elena konnte ihn nicht tracken. Er saß hier fest – so lange, bis sie misstrauisch wurde und zu recherchieren begann. Wie lang würde es dauern, bis sie ihn fand? Stunden? Bis morgen? Wie lang behielt er ohne Wasser einen klaren Kopf?

Er ließ sich mit dem Rücken gegen die raue Betonwand fallen und sackte auf dem Boden zusammen.

6.

Avid hatte jedes Gespür für die Zeit verloren. Er hatte das Gefühl, seit Stunden hier festzusitzen, doch als er das zweite Mal die Uhr checkte, waren gerade mal vierzig Minuten verstrichen. Vierzig Minuten, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten. Er versuchte, runterzukommen. Klar zu werden.

Langsam ließ die Panik nach, und ganz allmählich schaffte er es, einen Notfallplan in seinem Hirn zu entfalten. Er musste sich doch nur seine Sätze in Erinnerung rufen: systematisch vorgehen, das hatte er ihm immer eingebläut: Stehst du vor einem scheinbar unlösbaren Problem, musst du Ordnung in deinen Gedanken schaffen. Entwickele eine Struktur. Beginn mit dem, was du sicher weißt.

Avid rappelte sich auf. Sicher wusste er im Moment nur, dass er durch die eine Tür hineingegangen war. Dass er sie von außen problemlos mit der Klinke geöffnet hatte und dass das Gegenstück auf der Innenseite ins Leere lief. Das ergab keinen Sinn. Außen- und Innenklinken waren stets durch einen viereckigen Bolzen miteinander verbunden. So ein Türschloss war simpelste Mechanik. Jemand musste den Schließmechanismus also bewusst verändert haben. Er hockte sich vor die Klinke und leuchtete mit dem Handy die Unterseite ab. Sie war – wie bei fast allen Türen – mit einer kleinen Inbus-Schraube befestigt … wahrscheinlich hatte jemand den Metallbolzen, der Außen- und Innenklinke verband, manipuliert … vielleicht mit einer ringförmigen Mulde? Die dafür sorgte, dass die Klinke innen keinen Widerstand fand … aber gleichzeitig nicht einfach abzuziehen war …?

So etwas benötigte technisches Verständnis – und es bedeutete auch, dass er ohne Werkzeug hier nicht weiterkam. Er untersuchte die gegenüberliegende Tür. Dort schien es genauso zu sein.

Avid setzte sich wieder auf seinen Platz am Boden und löschte das Licht. Er durfte jetzt nicht durchdrehen. Er musste nur warten. Mehr nicht. Irgendwann würde seine Mutter nach ihm suchen. Er hatte ihr ausreichend Hinweise hinterlassen. Es war nur eine Frage der Zeit. Es sei denn – schoss es ihm plötzlich durch den Kopf – die Diebe würden ihn vorher finden. Die Spuren hatten ja hinein-, aber nicht hinausgeführt … es waren nur Fußabdrücke einer Person gewesen, nicht groß, wahrscheinlich von dem Mädchen … Aber auch die musste – wenn es keinen zweiten Ausgang gab – irgendwann auf diesem Weg zurück. Und dann?