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In den einsamen Tälern abseits des Appalachian-Trails verbirgt sich etwas Schreckliches. Ken, ein junger Mann auf der Flucht vor seiner Vergangenheit, will den berühmten Fernwanderweg nutzen, um sich seinen inneren Dämonen zu stellen. In einem Hostel begegnet er Mallorie – einem Mädchen, das ihn mehr fasziniert, als ihm lieb ist. Kaum hat seine Reise jedoch begonnen, verirrt sich Ken in einen uralten, wilden Landstrich, in dem die Natur seit Jahrhunderten ihre ganz eigene, düstere Geschichte schreibt. Birgit Arnolds vierter Roman ist ein packender Psychothriller, der das fragile Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur in eine verstörende neue Perspektive rückt. Ein unbarmherziger Trip in die Abgründe der Wildnis – und der menschlichen Seele
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Seitenzahl: 181
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Impressum
Vorab einige Fakten zum Appalachian Trail
Prolog
Teil 1 Appalachian Trail
Kapitel 1 Urlaubspläne
Kapitel 2 Aufbruch
Kapitel 3 Wegbegleiter
Kapitel 4 Unwetter
Kapitel 5 Mit neuer Kraft
Kapitel 6 Auf Abwegen
Kapitel 7 Vergessene Stätte
Kapitel 8 Endlich ein echter Kerl
Kapitel 9 Befreiung
Teil 2 Die Lichtung
Kapitel 10 Der Lauf der Zeit
Kapitel 11 Abwehrmechanismen
Kapitel 12 Erste Attacke
Kapitel 13 Beratschlagung
Kapitel 14 Atempause
Kapitel 15 Die zweite Welle
Kapitel 16 Waldmenschen
Teil 3 Malorie
Kapitel 17 Auf halber Strecke
Kapitel 18 Suchaktion
Teil 4 Die Lichtung – heute
Kapitel 19 Eliminierung
Teil 5 Malorie
Kapitel 20 Das Ende der Suche
Kapitel 21 Letzte Gewissheit
Epilog
Nachwort
Birgit Arnold
Fall Silent
Copyright © Yellow King Productions 2025
Mario WeißNeuöd - Gewerbepark 12aD - 92278 IllschwangE-Mail: [email protected] Web: www.yellow-king-productions.de
Autor: Birgit ArnoldLektorat: Mario Weiß
Cover: Tom Jay – bookcover4everyone – www.tomjay.de
ISBN: 978-3-98901-078-9
Damit Sie wissen, wohin Sie dieses Buch entführt, kommen hier einige Fakten zum Schauplatz. Die Handlung bedurfte einer Gegend, in der es viel unberührte Natur mit Bäumen gibt. Die Wahl fiel auf die Appalachen.
Der Appalachian Trail bietet eine einzigartige Kombination von Natur, Geschichte, Kultur und Outdoor-Erlebnis. Er führt ganze 3 524 Kilometer durch vierzehn Bundesstaaten im Osten der USA. Dabei durchquert er verschiedenste Landschaften, wie Wälder, Berge und Felder. Auch kann man unterwegs zahlreiche seltene und geschützte Tier- und Pflanzenarten entdecken.
Unter anderem gibt es in den Appalachen eine große Population von Schwarzbären. Insbesondere im nördlichen Bereich kann man auf Elche treffen. Auch Wölfe verstecken sich hier. Die Appalachen sind eines der wenigen Gebiete in den USA, wo Luchse noch in freier Wildbahn leben. Und in den Lüften entdecken wir vielleicht Adler, insbesondere Weißkopfseeadler. Der Nordamerikanische Fischotter, der Virginia-Uhu und die Indiana-Fledermaus sind geschützte Arten, die hier leben.
Im Frühjahr wandert man durch Rhododendron und Azaleen, aber auch eine große Anzahl fleischfressender Pflanzen wächst hier.
Offiziell wurde der Trail 1937 eröffnet.
Man kann auf ihm kleine Tageswanderungen unternehmen. Die große Herausforderung ist jedoch ein Thru-Hike, die komplette Durchwanderung von Springer Mountain in Georgia bis Mount Katahdin in Maine – oder in entgegengesetzter Richtung.
Jährlich begeben sich ungefähr 3.000 Wanderer auf diese Monstertour, für die man zwischen vier und sechs Monate einplanen sollte. Das Ziel erreichen jedoch nur etwa 25 Prozent von ihnen.
Man muss sich auf unterschiedliche Herausforderungen, wie steile Anstiege, unvorhersehbares Wetter und verschiedenste Wildtiere einstellen. Aber auf jeden Fall ist seine Begehung ein einzigartiges Erlebnis!
Dieser Wald war so still. Kein Vogelgezwitscher, kein verstohlenes Tapsen kleiner, flinker Pfoten, kein Rascheln der Blätter im Wind. Er verharrte reglos und beobachtete, was die Gestalt, welche soeben sein Terrain betreten hatte, unternahm.
Es war lange her, dass die Bäume ein solches Wesen wahrgenommen hatten. Damals hatte es Gefahr bedeutet. Und Gefahr musste eliminiert werden. Rasch. Gnadenlos. Endgültig.
»Hey, hast du was Größeres vor?«
Malories helle Stimme klang durch den Gemeinschaftsraum der Ferienanlage am südlichen Rand der Appalachen. Obwohl das Hostel voll belegt war, hatte das Mädchen noch keine neuen Kontakte knüpfen können. Doch sie hatte sich vorgenommen, am Ende dieser Urlaubsreise mit einem vollen Adressbuch nach Hause zurückzukehren.
Ken, der über seinen Rucksack gebeugt dastand, sah mit hochgezogener Augenbraue zu ihr auf. »Was meinst du wohl? Schon mal mitbekommen, wo wir hier sind? Ich geh den Appalachian Trail.«
»Du musst nicht gleich pampig werden. Es war nur eine Frage. Dein Name ist Ken, nicht wahr? Ich habe heute beim Frühstück gehört, wie dich jemand so nannte. Mein Name ist übrigens Malorie. Du willst echt den kompletten Trail gehen? Das sind ungefähr 3 500 Kilometer! Dafür brauchst du doch ewig.«
»Ja, den kompletten. Ich hab mir sechs Monate Auszeit genommen.«
Ken war genervt. Kurz richtete er sich auf und ließ seinen Blick über Malorie gleiten. Was wollte dieses aufgestylte Püppchen von ihm? Gesellschaft war das Letzte, wonach ihm im Moment war. Gerade interessierten ihn nur seine Vorbereitungen für die kommenden Wochen. Er verzog das Gesicht und konzentrierte sich wieder auf seinen Rucksack, sah sich dann aber suchend um.
»Hast du irgendwo ein Päckchen mit gepresstem Toilettenpapier rumliegen sehen?«, fragte er Malorie nach einer Weile.
»Nein.« Eine Ahnung machte sich in ihr breit, auf die ihr Körper schlagartig mit Abwehr reagierte. Sie schüttelte fassungslos und mit angewidert hochgezogener Nase den Kopf. »Herrje, du willst doch nicht sagen, dass du auch noch alles mitschleppen musst, was du in dem halben Jahr brauchst, oder?«Nun stemmte Ken seine Hände in die Hüften. Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Sag mal, was machst DU hier eigentlich? Anscheinend hast du absolut keinen Plan vom Trail. Ich hoffe ehrlich, dass du nicht auch wandern gehen möchtest.«
Sein Ton war herablassend, und gleichzeitig mit beißendem Spott ausstaffiert.
Malorie antwortete schnippisch: »Ich habe etwas Besseres vor, als über Monate hinweg durch den Dreck zu laufen.« Herausfordernd hob sie das Kinn an. »Wir machen eine Rundfahrt. Meine Freundinnen und ich. Erst die Küste hoch, dann rüber zu den Niagara-Fällen, und zu guter Letzt in einem großen Bogen wieder hinunter bis Washington.«
»Na, dann bin ich ja beruhigt. Ich nehme an, du hättest nicht einmal die erste Woche überstanden. Viel Spaß bei der Fahrt. Ich muss jetzt fertig packen. Morgen geht es früh los.« Mit diesen Worten wandte Ken dem Mädchen den Rücken zu und schenkte ihm keine weitere Aufmerksamkeit.
Malorie starrte ihn beleidigt an. Sie war es nicht gewohnt, links liegen gelassen zu werden. An ihrer Highschool hatte sie stets im Mittelpunkt gestanden. Aber hier interessierte sich niemand für sie. Langsam fühlte sie sich isoliert von all den abenteuerlustigen Hikern. Zudem empfand sie es als äußerst ärgerlich, dass er ihr nicht zutraute, eine längere Strecke zu wandern … auch, wenn er damit wahrscheinlich richtig lag. Kurz überlegte sie, ob sie ihm irgendeinen Spruch hinwerfen sollte, damit sie zumindest das letzte Wort gehabt hätte, doch ihr fiel nichts Passendes ein. Deshalb presste sie die Lippen zusammen und stürzte aus dem Raum, um nach ihren Freundinnen zu suchen.
Ken atmete tief durch, als sie draußen war. So eine Nervensäge! Eindeutig verwöhnt, selbstverliebt und viel zu sehr Prinzessin, um hierher zu passen. Die anderen Wanderer im Haus waren allesamt umgänglich. Jungen wie Mädchen. Die meisten hatten gerade die Schule abgeschlossen und wollten die nächsten Monate dazu nutzen, sich über ihre Pläne für die Zukunft klar zu werden. Während des Wanderns funktionierte das gut. Man hatte viel Zeit, um in sich zu gehen, verschiedene Möglichkeiten abzuwägen, vielleicht auch herauszufinden, was einem wirklich wichtig war. Was man vermisste, wenn man dort draußen auf sich gestellt war. Denn auch, wenn viele Hiker relativ gleichzeitig losgingen, verteilten sich die Leute recht schnell. Es dauerte nicht lange, bis man mit seinen Gedanken allein war. Manche Wanderer schafften zu Beginn kaum mehr als fünfzehn Kilometer am Tag, andere hingegen legten nicht weniger als das Doppelte zurück. Und nicht zu vergessen, brach der Großteil innerhalb der ersten beiden Wochen ab. An den Shelters traf man abends den ein oder anderen wieder, tauschte sich aus, half sich gegenseitig. Es war ein ganz besonderes Gemeinschaftsgefühl, das alle hier verband, die durchhielten. Die Teilnehmer gaben sich einander Trailnamen, mit denen sie sich ansprachen. Ken besaß schon einen. »Boondocks«. Er war den Trail bereits einmal gegangen. Vier Jahre war das nun her. Seine Mutter war gerade gestorben, und er wollte sich vor der ganzen Welt verstecken. Raus aus dem Alltag, in dem ihn alles an seine Mum erinnerte. Fort von den Menschen, die ihn mitfühlend musterten.
Kurz sammelte Ken sich und kehrte gedanklich zu seiner ersten Durchwanderung zurück.
Damals auf dem Trail hatte er es sich angewöhnt, abseits der Shelters zu schlafen. Alle paar Kilometer fand man auf dem Hauptweg Holzhütten, die entgegen der Wetterseite offen waren. Oft standen in ihrer Nähe auch Plumpsklos und eigentlich immer Feuerstellen. Die Wanderer kamen dort zusammen, um zu übernachten. Manche schliefen auf dem Holzboden der Hütten, andere bauten in der Nähe ihre Zelte auf. In der allerersten Nacht wollte Ken auch in einem solchen Unterstand schlafen. Doch kaum hatte er die Augen geschlossen, hörte er leises Tapsen hinter sich. Er erstarrte, lag regungslos da und horchte genauer hin. Seine größte Angst war, dass sich ein Schwarzbär anschleichen würde. Doch das Tier, das sich näherte, war wesentlich kleiner. Ehe er reagieren konnte, lief ihm eine Maus über das Gesicht. Blitzschnell sprang er auf und schrie. Mit den Händen schlug er wild um sich. Er erntete schallendes Gelächter von verschiedenen Mitreisenden. Nur vereinzelt wurden ihm auch mitleidige Blicke zugeworfen. Als Ken sich eingehender umsah, erkannte er, dass weitere Nager um die Hütte liefen. Im Schein des verglühenden Feuers blitzten ihre kleinen Knopfaugen auf. Von da an befestigte er seine Hängematte immer ein Stück abseits der Lager zwischen den Bäumen. Und so erhielt er seinen Namen »Boondocks« – die Wildnis, das Hinterland.
Seither war viel geschehen. Oder besser: Durch seine Hand war viel geschehen. Fürchterliche Dinge, von denen er niemals angenommen hätte, dass er ihrer fähig wäre. Und jetzt befand er sich wieder hier, hoffte auf die therapeutische Wirkung des gleichmäßigen Trotts, in den er nach einigen Kilometern des Gehens fallen würde.
Draußen wurde es langsam dunkel. Immer wieder riss die Wolkendecke für einen kurzen Moment auf, so dass der Mond silbriges Licht auf die Fensterscheiben werfen konnte. Ken hatte seinen Rucksack fertig gepackt, es gab nichts mehr für ihn zu tun. Er ging in sein Zimmer und legte sich aufs Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Zimmerdecke.
Vor vier Jahren hätte er nicht gedacht, nochmal hierher zu kommen. Der Tod seiner Mutter hatte ihn damals mehr mitgenommen, als er sich je hätte vorstellen können. Er war immer davon ausgegangen, dass es ihn kaltlassen würde, wenn sie nicht mehr unter ihnen wäre. Doch er musste erkennen, dass dem nicht so war. Nach endlosen Gesprächen mit Ärzten, Therapeuten und Bekannten begriff er, dass viele seiner seelischen Verletzungen noch immer schwelten. Er trauerte weniger um seine Mutter als um seine trostlose Kindheit, die unwiderruflich vorüber war. Heute wünschte er sich, das wären seine einzigen Sorgen.
Ken warf einen Blick auf die Uhr. Er lag nun schon eine knappe Stunde hier. Der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Aber es war auch noch sehr früh. Normalerweise ging er nicht vor Mitternacht zu Bett. Jetzt war es erst kurz vor neun. Er stemmte sich auf die Ellbogen, zögerte noch einen Moment, dann schwang er die Beine über die Bettkante und sprang mit einem Seufzer heraus. Vielleicht saßen noch ein paar Hiker im Aufenthaltsraum zusammen. Ein nettes Gespräch wäre besser, als hier zu grübeln.
Als er in den einfach gestalteten, aber gemütlichen Gemeinschaftsraum eintrat, saß nur eine andere Person vor dem künstlichen Kamin, der munter vor sich hin flackerte, und las in einem Buch. Ausgerechnet Malorie, diese Nervensäge, hatte sich hierher verirrt. Ken war verwundert, dass sie sich so allein ihre Zeit vertrieb. Wo waren denn ihre Freundinnen? Sie kauerte in einem Sessel, die Füße untergezogen, und bemerkte nicht einmal, dass sie Gesellschaft bekommen hatte. Kurz überlegte Ken, ob er still umkehren und wieder gehen sollte. Doch da blickte sie auf.
Sie lächelte ihn strahlend an. »Ken! Wie schön, dich nochmal zu sehen. Setz dich doch mit her.«
Da ihm keine höfliche Ablehnung einfiel, trat er zu ihr und setzte sich auf die Couch ihr gegenüber. Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen und das Mädchen richtete unbehaglich ihre Augen auf den Boden. Das Strahlen von soeben war verflogen und man kannte Malorie ihr Unbehagen an. Dann blinzelte sie ihn nervös an. »Es tut mir leid, dass ich vorhin so doofe Fragen gestellt habe. Weißt du, es ist das erste Mal, dass ich allein von zu Hause fort bin, und irgendwie bin ich ständig komplett überdreht. Ich rede, ohne vorher nachzudenken.« Verlegen lachend sah sie ihm nun offen ins Gesicht. »Hoffentlich legt sich das bald. Es ist mir selbst schon unangenehm. Verzeihst du mir?«
Ken betrachtete ihr Gesicht. Ihre großen Augen sahen ihn flehend an. Er konnte nicht verhindern, dass ihm ein Lachen entkam. Anscheinend machte sie sich wirklich Gedanken darüber, wie sie auf ihn gewirkt hatte. Ihr ehrliches Eingeständnis besänftigte ihn. Sie hatten wohl nur einen ungünstigen Start gehabt. »Ist schon in Ordnung. Die ganzen Eindrücke, die da über einen hereinbrechen, wenn man zum ersten Mal auf sich gestellt ist, können wirklich überwältigend sein. Wie lange werdet ihr denn unterwegs sein?« Erstaunt bemerkte Ken, dass ihn Malories Anwesenheit überhaupt nicht mehr so sehr störte. Es war vielleicht ganz nett, sich mit ihr zu unterhalten.
Malorie erzählte und erzählte. Ihre Augen leuchteten, als sie begeistert von den einzelnen geplanten Etappen berichtete. Sie gestikulierte und ging vollkommen in ihren Beschreibungen auf.
Ken bemerkte, dass er ständig lächelte. Ihm gefiel ihre Lebhaftigkeit, ihre Hingabe an die Sache. Er gestand sich widerstrebend ein: Sie gefiel ihm. Ziemlich gut sogar.
Nach einer Weile beendete Malorie ihren Monolog. »Jetzt hab ich aber lange genug gequatscht. Willst du mir etwas über den Trail erzählen? Man sieht hier überall Schilder und Prospekte, die auf ihn hinweisen. Aber um ehrlich zu sein, weiß ich tatsächlich nichts, außer seiner Länge, die ich irgendwo gelesen habe. Los, klär mich auf!«
Diesen Wunsch erfüllte Ken ihr gerne. So entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch. Fragen und Antworten gingen abwechselnd hin und her. Beide genossen den Abend. Sie lachten viel und rückten unvermittelt immer näher zueinander. Ehe sie sich versahen, war es bereits nach Mitternacht. Widerwillig verzog Ken das Gesicht. »Ich muss jetzt leider schlafen gehen, sonst schaffe ich morgen meine Etappe nicht. Der erste Tag ist ziemlich anstrengend. Aber es war wirklich nett, mit dir zu plaudern.« Er zwinkerte ihr zu. »Das hatte ich nicht erwartet nach heute Nachmittag.«
Malorie sah beschämt zu Boden. »Ja, ich fand es auch sehr nett. Es war ein schöner Abend.« Dann zuckte sie mit den Schultern. »Nun gut. Alles ist irgendwann vorbei. Ich wünsche dir, dass du den Trail schaffst.« Nach einem kurzen Zögern fügte sie hinzu: »Also dann, gute Nacht.« Sie drehte sich um und wollte zur Tür hinaus.
»Malorie!«
Schnell drehte sie sich nochmal um.
Er stand da und sah sie ernst an. Nach einem Moment des Schweigens sagte er nur leise: »Mach’s gut.«
Malorie schluckte. Sie hatte gedacht, dass er vielleicht fragen wollte, ob sie sich wieder sehen. Aber anscheinend hatte sie sich getäuscht. Andererseits, warum sollte nicht sie die Initiative ergreifen? »Meinst du … naja, willst du mir vielleicht deine Nummer geben? Keine Sorge, ich werde dich auf deiner Wanderung nicht stören. Aber ich fände es schön, wenn du mir irgendwann von deinem zweiten Thru-Hike erzählen würdest.«
Ken überlegte kurz. Er wusste, dass es dazu nicht kommen würde. Nach diesen kommenden sechs Monaten würde er lange mit gar niemandem sprechen. Doch sie sah ihn so hoffnungsvoll an, dass er einfach nicht Nein sagen konnte. »Klar. Warte, ich schreib sie dir auf.« Er nahm einen kleinen Zettel von dem Block, der auf einem Tisch lag, und notierte seine Nummer. In einigen Monaten würde es darunter keinen Anschluss mehr geben.
Ken schnürte seine Stiefel, schulterte den Rucksack und machte sich auf den Weg. Die Sonne war noch nicht richtig aufgegangen und ein diffuses Licht schälte langsam noch verschwommene Formen aus dem Dunkel der Nacht. Er wollte an diesem ersten Tag gleich eine längere Etappe zurücklegen. Es gab ihm ein gutes Gefühl, wenn er den Eindruck hatte, voranzukommen. Gewiss kämen genügend Tage, an denen er denken würde, er stünde praktisch auf einem Fleck.
Vom Hostel aus musste man erst ein gutes Stück gehen, ehe man an die Stelle kam, an welcher der eigentliche Trail startete. Vor vier Jahren hatte er staunend beobachtet, dass sich manche der Hiker tatsächlich mit einem Taxi zum Ausgangspunkt des ersten Aufstiegs bringen ließen. Ganz ehrlich: Wenn man vorhatte, 3 500 Kilometer zu Fuß zu gehen, dann kam es auf dieses erste Teilstück auch nicht mehr an.
Auch heute standen vor dem Hostel wieder einige Wanderer, die auf eine Mitfahrgelegenheit warteten. »Hey, meint ihr wirklich, dass diese paar zusätzlichen Kilometer den Ausschlag geben?«, rief er zu ihnen hinüber. Dabei verzog er süffisant das Gesicht.
Manche der Hiker fühlten sich wohl ertappt, denn sie blickten schnell zu Boden. Andere aber standen dazu, dass sie sich fahren ließen. Einer antwortete: »Wir wollen nur vor dir an die Plumpsklos kommen. Möchten deinen Duft nicht einatmen müssen.«
Ken winkte ihm flüchtig zu und sagte dann spöttisch: »Keine Sorge. Spätestens morgen habe ich zu euch aufgeholt und ziehe an euch vorbei. Dann habt ihr nichts gewonnen.«
Er ließ das Hostel hinter sich und ging die Straße entlang. Es dauerte eine Weile, bis er zu dem Schild am Straßenrand kam, auf dem der Appalachian Trail groß angeschrieben stand. Er atmete einmal tief durch, nahm einen Schluck aus seiner Trinkflasche, dann betrat er den schmalen gekennzeichneten Waldweg.
Der Pfad ging sofort in einen zackigen Anstieg über. Es war kalt. Ein leichter Nieselregen umfing ihn beständig. Die Schneeschmelze war gerade erst vorüber. Ken war froh, dass er aus den Erfahrungen der letzten Trailbegehung gelernt hatte, und anständige Klamotten dabeihatte. Irgendwann im Laufe der Wanderung war es einem fast egal, welches Wetter herrschte. Doch gerade zu Beginn der Strecke war man noch verwöhnt vom bequemen Alltag in der Zivilisation. Und wenn man dann gleich frierend in die Tour hineinstartete, brauchte es einen starken Willen, um länger als ein paar Tage durchzuhalten.
War der Weg damals vor vier Jahren auch schon so steil gewesen? Ken blieb schwer atmend stehend und wischte sich über die Stirn. Ein Stück hinter ihm kamen bereits die nächsten Wanderer. Ein Pärchen, mit dem er sich beim Frühstück noch unterhalten hatte. Die beiden sagten, wenn sie den Trail gemeinsam meisterten, wären sie auch bereit für eine Ehe. Jeder hat seinen eigenen Antrieb, sich der Herausforderung zu stellen. Als er an seinen dachte, breitete sich ein unangenehmes Ziehen in seinem Bauch aus, das er bis in die Eingeweide spürte.
Seufzend setzte er seinen Weg fort. Bald sollte der erste Anstieg geschafft sein.
Eine Kehre weiter richtete er den Blick nach oben und wurde von einem freundlich grinsenden Mann empfangen. Tiefe Furchen zeichneten sich in Many Sleeps Gesicht. Das war natürlich nicht der echte, sondern der Trailname des alten Herren. Früher hatte man die zu laufende Strecke nicht nach Kilometern benannt, sondern danach, wie häufig man übernachten musste, um an sein Ziel zu gelangen. Als Many Sleeps vor rund einem halben Jahrhundert den Trail von Norden nach Süden durchwanderte, überlegte er, wie oft er wohl schlafen müsste, um ihn zu bewältigen. So kam er zu seinem Namen. Der Mann campte das ganze Jahr über hier, saß bei jedem Wetter an seinem Platz und erfasste die Thru-Hiker in einem zerfledderten Notizblock. Er wusste, dass die meisten Wanderer nicht abbrachen, weil der Körper schlapp machte sondern weil der Geist aufgab. Um es zu schaffen, bedurfte es eines unbedingten Willens. Für jeden fand Many Sleeps ein paar aufmunternde Worte und er mochte es, wenn man sich die Zeit nahm, ein kleines Gespräch mit ihm zu führen. Gewiss kannte er unzählige Schicksale, unvorstellbare Gründe, weshalb die Leute hier waren. Ken durchströmte eine Wärme, die ihn überraschte. Es gab ihm ein heimeliges Gefühl, dass es immer noch derselbe Mann wie bei seinem ersten Trail war, der dort auf die Wanderer wartete. Er ging auf den Alten zu, begrüßte ihn herzlich und diktierte ihm seinen Namen. Dann erklärte er, dass er bereits einmal hier gewesen war und den Trail nun zum zweiten Mal abgehen wollte. Many Sleeps sah ihn an. In seinen Augen schimmerte tiefes Verstehen. »Ja, manche zieht es immer wieder hierher zurück. Du wirst sicher finden, was du suchst. Glaub daran.«
Ken steuerte einen Felsen an, der etwas abseits unter einem Baum lag, und setzte sich seufzend darauf. Es tat gut, den Rucksack abzunehmen. Auch, wenn er bereits Wochen zuvor geübt hatte, mit dem zusätzlichen Gewicht zu laufen, gewöhnt hatte er sich nicht daran. Von hier hatte er einen wunderbaren Blick über die Wälder. Er sog seine Umgebung förmlich in sich auf. Noch fühlte er sich mit der Zivilisation verbunden, der enge Takt des Alltags steckte ihm in den Gliedern. Doch er wusste, dass sich dies bald ändern würde. In einigen Tagen gäben nur noch seine Schritte den Rhythmus vor, in dem sein Leben sich bewegte. Das stete Heben der Füße, wieder und wieder. Alles löste sich darin auf. Die Ängste, Zwänge, Grenzen und auch Schuld zerflossen zu Nichtigkeiten. Es zählte lediglich der nächste Meter.
Im Hintergrund hörte er, wie auch das Pärchen ankam und stöhnend nach einer Pause verlangte. Er lächelte vor sich hin. Ja, man hatte das Gefühl, nach diesen ersten Meilen bereits einen riesigen Abschnitt hinter sich gebracht zu haben. Doch erst hier begann der eigentliche Trail. Ein bronzenes Bild am Boden markierte den offiziellen Start. Der Aufstieg bis hierher zählte nicht dazu. Manche mochte das frustrieren, da es das Gefühl vermittelte, den Höhenunterschied umsonst überwunden zu haben. Doch für ihn bedeutete er ein Abschiednehmen von seinem üblichen Leben, wie ein Übergang in eine andere Welt. Der Sprung in ein Paralleluniversum, in dem es eine eigene Zeitrechnung, eigene Entfernungen, eigene Bedeutungen und Schwerpunkte gab.
