Falsche Schwestern - Cat Clarke - E-Book

Falsche Schwestern E-Book

Cat Clarke

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Beschreibung

Vor 13 Jahren verschwand meine Schwester. Jetzt ist sie wieder da. Nichts ist, wie es war. ›Falsche Schwestern‹ von Cat Clarke ist ein psychologischer Spannungsroman, der unter die Haut geht. Stell dir vor, du hast deine Schwester verloren. Kidnapping. Seit der Entführung vergehen deine Eltern vor Kummer. Das Loch, das deine Schwester in der Familie hinterlassen hat, ist immer schmerzhaft präsent. Alles fällt auseinander. Stell dir vor, deine Schwester taucht plötzlich wieder auf. 13 Jahre später! Bei deinen Eltern ist die Freude riesig. Alle scheinen glücklich, aber sie drängt sich so in den Mittelpunkt, dass für dich kein Platz mehr in der Familie ist. Sogar deinen Freund spannt sie dir aus. Doch dann passiert etwas, das alles verändert. Faith kennt ihre Schwester Laurel eigentlich nur von einem Foto. Ein lächelndes sechsjähriges Mädchen, das eines Tages spurlos aus dem Garten verschwand. Für Faith Familie beginnt ein Albtraum: Angst, Kummer, Pressekonferenzen, großangelegte Polizeisuche und Paparazzi. Doch dann, mehr als 13 Jahre später kommt ein Anruf. Eine junge Frau ist aufgetaucht. Und sie hat Laurels Teddy im Arm. Die Familie kann ihr Glück kaum fassen: Endlich hat Faith ihre große Schwester zurück. Dann aber schlägt ihre Freude um. Irgendetwas fühlt sich verdammt falsch an … In Faith wächst ein schrecklicher Verdacht. Jeder erinnert sich an den Fall Natascha Kampusch. ›Falsche Schwestern‹ ist in packender Was-wäre-wenn-Roman über eine Entführung, bei der das Mädchen nach 13 Jahren zurückkehrt. Das Drama was sich in der Familie und zwischen den Geschwistern anbahnt, ist aufwühlend und höchst berührend.

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Seitenzahl: 426

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Cat Clarke

Falsche Schwestern

Roman

Aus dem Englischen von Jenny Merling

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Inhalt

Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Danksagung

Kapitel 1

Sie weiß es. Ganz sicher.

Ich hatte gestern zum ersten Mal Sex in meinem Leben.

Keine Ahnung, wie sie es herausgefunden hat. Ich bin nicht so dumm, Tagebuch zu führen, und ich habe auch weiß Gott nicht so ein seltsames Mum-und-ich-sind-beste-Freundinnen-und-erzählen-uns-alles-Verhältnis zu ihr. Vielleicht haben Mütter einfach einen siebten Sinn bei dem Thema?

Ich sehe es an ihrem Blick. Das Problem ist nur, dass ich ihr leider nicht ansehe, was sie darüber denkt. Im Moment habe ich wirklich nicht die leiseste Ahnung. Ist sie böse? Enttäuscht? Findet sie es katastrophal? Ist es ihr egal? Ist sie vielleicht ein kleines bisschen stolz?

»Wie läuft’s eigentlich bei Marthas Mum auf der Arbeit? Hat die große Entlassungswelle schon angefangen?«

Ah, Themenwechsel. Ein klassischer Trick, auf den ich aber natürlich nicht hereinfalle. Ich zucke mit den Schultern. »Weiß nicht, sie ist gestern Abend erst spät nach Hause gekommen. Ich glaube, sie war nach dem letzten Kurs noch mit ihren Kolleginnen weg.« Ich trinke einen Schluck Tee. Ich bin die Ruhe selbst. »Martha macht sich aber ganz schön Sorgen.«

Mum nickt. Sie merkt, dass sie verloren hat. »Ist ja auch hart.«

»Aber die haben doch total viel Geld! Marthas Dad verdient genug für beide, ich versteh gar nicht, wieso ihre Mum überhaupt arbeiten geht.« Mist. Das hätte ich nicht sagen sollen. Normalerweise passe ich besser auf, aber heute bin ich zu müde. Feminismus, Gleichberechtigung und Unabhängigkeit der Frauen sind für Mum ganz große Themen. Heute springt sie jedoch nicht darauf an. Offensichtlich beschäftigen sie andere Sachen mehr.

»Alles in Ordnung, Mum?« Ich versuche, das nicht öfter als dreimal am Tag zu fragen, aber es ist nun mal eine Angewohnheit von mir. Wenn sie sich in diese Hölle in ihrem Kopf zurückzieht, muss ich sie einfach zum Reden bringen. Ihre Antwort war stets dieselbe, und ich habe sie kein einziges Mal geglaubt: »Klar, alles bestens, Schatz.«

Auch heute weicht sie nicht vom Drehbuch ab, und das fühlt sich irgendwie beruhigend an. Ich hatte schon halb damit gerechnet, dass sie mich stellt: »Nein, mit mir ist nicht alles in Ordnung, lieb, dass du fragst. Meine Tochter hat mich nämlich dreist darüber angelogen, wo sie gestern Abend war, um mit Thomas Bolt in einem Van ihr erstes Mal zu haben!«

Auf dem Küchentisch liegt eine zusammengefaltete Zeitung. Die ist mir bis jetzt gar nicht aufgefallen, weil meine Gedanken die ganze Zeit nur darum kreisen, dass ich gestern Abend in einem Van mit Thomas Bolt mein erstes Mal hatte.

Man kann nur die Sportseite der Zeitung sehen. Irgendein Team hat ein anderes besiegt, und ein paar Leute haben sich darüber gefreut, ein paar andere nicht. Aber es hat einen Grund, dass die Zeitung zusammengefaltet ist. Deshalb sieht mich Mum auch so komisch an. Deshalb hat sie die Zeitung weggelegt, als ich in die Küche gekommen bin. Sie will nicht, dass ich das sehe.

In einer normalen Familie – bei Martha oder Thomas zu Hause oder bei wirklich jedem anderen – ist eine Zeitung eben eine Zeitung: Papier, auf dem Nachrichten stehen. Kriege und Streiks und der Preis der Landwirtschaftsmesse für den größten Kürbis. In unserer Familie – die alles andere ist als normal – wird eine Zeitung schnell zur Zeitbombe.

Ich tue also so, als hätte ich sie gar nicht bemerkt. Mum macht sich an den Abwasch. Ihren Schultern ist die Last anzusehen, die täglich auf ihnen liegt. Sobald sie mit dem Rücken zu mir steht, ziehe ich die Zeitung zu mir heran und lege sie mir in den Schoß. Zeitbombe hin oder her, ich muss Bescheid wissen.

Selbst wenn es erst einmal gute Nachrichten sind, merkt man früher oder später, dass es leider doch etwas Schlechtes ist. Und das macht es noch viel schlimmer: Wenn die Hoffnung wieder zerstört wird. Mum trifft es immer am härtesten, sagen alle. Und wahrscheinlich haben sie recht, aber für Dad ist es auch schwer. Und für mich persönlich ist es auch nicht gerade leicht. Aber Dad hat Michel, und ich habe Thomas, und Mum hat niemanden.

Was auch immer sie diesmal geschrieben haben, hoffentlich sorgt es nicht wieder dafür, dass Mum komplett in ihren Schildkrötenmodus geht. Beim letzten Mal ist sie eine Woche lang nicht aus dem Schlafzimmer gekommen. Ich habe ihr ab und zu etwas zu essen gebracht, aber sie hat es kaum angerührt. Sie hat auch nicht mit mir geredet und ist nicht ans Telefon gegangen. Dad kam vorbei. Ich habe an der Tür gelauscht.

»Du musst dich zusammenreißen. Tu’s für Faith, die braucht dich jetzt.«

Das stimmt nicht. Ich bin sehr gut damit klargekommen, obwohl das Timing kaum ungünstiger hätte sein können – ich war damals gerade mitten in einer Prüfungsphase. Aber ich brauche sie nicht, zumindest nicht mehr so wie früher, als ich klein war. Es wäre nur schön, wenn sie begreifen würde, dass neben Komplett-Zusammenbruch und Alles-super-Lächeln noch andere Optionen existieren. Dass es einen Mittelweg gibt.

Ich schlage die Zeitung auf. Es ist schlimm.

ICH BIN LAUREL LOGANS MÖRDER!

Ich seufze. Mum dreht sich zu mir um. Sie reißt mir die Zeitung aus der Hand, knüllt sie zusammen und wirft sie in den übervollen Mülleimer. Der Mülleimerdeckel schwingt hin und her. Sie setzt sich und nimmt meine Hand. Ihre Finger sind eiskalt, aber das sind sie sowieso immer. Manchmal frage ich mich, ob sie jemals warm waren. Früher.

»Darüber wollte ich gerade mit dir reden. Ich habe schon mit der Polizei gesprochen, es ist nichts. Der Mann ist verrückt. Man sollte ihn dafür einsperren, aber er sitzt sowieso schon zweimal lebenslänglich ab.« Sie seufzt. »Typisch Regenbogenpresse – die schreiben irgendwo im Artikel sogar selbst, dass der Mann es gar nicht gewesen sein kann. Aber damit lässt sich ja keine Auflage machen. Es muss schon eine reißerische Überschrift sein.«

Mir steigen plötzlich die Tränen in die Augen, und ich weiß nicht einmal genau, warum. So was passiert ja nicht zum ersten Mal, solche Geschichten tauchen immer wieder in der Zeitung, im Fernsehen oder im Internet auf. Das geht schon mein ganzes Leben so, und man sollte meinen, ich müsste mich mittlerweile daran gewöhnt haben. Normalerweise fühle ich mich auch mehr oder weniger immun dagegen, aber heute habe ich anscheinend meinen Sentimentalen.

Mum mag es nicht, wenn ich weine. Das geht wahrscheinlich allen Müttern so, aber bei ihr geht es um mehr, wenn sie sagt: »Ach Süße, bitte wein doch nicht!« Es ist, als ob ich ihr damit alles noch schwerer mache. Deshalb versuche ich normalerweise, in ihrer Gegenwart nicht zu weinen. Es gibt einfach nichts Schlimmeres, als unglücklich zu sein und dann auch noch ein schlechtes Gewissen deshalb eingeredet zu bekommen. Also huste ich schnell und sage, ich sei ganz schön müde.

»Du und Martha, ihr habt bestimmt wieder die ganze Nacht gequatscht, hm?«

Ich muss lächeln. Manchmal kennt Mum mich wirklich kein bisschen.

Bevor ich ins Bett verschwinden kann, erzählt sie mir die Geschichte von dem Typen, der behauptet, er hätte meine Schwester umgebracht. Er hat vor zehn Jahren seine gesamte Familie getötet und sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis ein. In letzter Zeit hat er es sich zum Hobby gemacht, Morde zu gestehen, die er gar nicht begangen hat. Mum ist ziemlich gut darin, so zu tun, als wäre ihr das alles völlig egal, aber ich durchschaue sie natürlich sofort. In einem Interview hat sie sogar mal selbst zugegeben, wie es ihr immer das Herz zerreißt, wenn solche Geschichten in der Zeitung auftauchen.

Dad behauptet, er verachtet solche Interviews. Es ist nicht leicht für ihn, wenn die Zeitungen Details ihrer Ehe erörtern. Aber er kann nichts dagegen sagen, weil er ja weiß, dass wir das Geld echt brauchen. Und dann besteht auch nach wie vor die Chance, dass jemand diese Artikel liest, der vielleicht etwas über Laurel weiß und sich an die Polizei wendet. Wenn Dad zu Mums »Medienaktivitäten« befragt wird, ist seine Antwort immer dieselbe: Der Zweck heiligt hoffentlich irgendwann die Mittel.

»Wann holt dich Michel heute ab?« Mum sieht immer irgendwie seltsam aus, wenn sie seinen Namen ausspricht, als würde sie kurz die Nase rümpfen. Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein.

»Um zehn.«

»Aber du bist doch gerade erst seit einer Stunde zu Hause!« Einen Moment herrscht Schweigen, dann räuspert sich Mum, und ich weiß, jetzt kommt irgendetwas Unangenehmes. »Ich habe überlegt … dass es uns vielleicht gut tun würde, wenn wir zwei mal ein Wochenende zusammen verbringen. Wir könnten sogar wegfahren. Wie wär’s mit einem Städtetrip nach Prag oder nach Paris?«

»Ähm …« Eine SMS von Martha blinkt auf meinem Handy. Ich halte es so, dass Mum sie nicht lesen kann.

Und? WIE WAR’S?☺

Ich weiß nicht, was ich Mum antworten soll. Sie weiß doch ganz genau, dass ich die Wochenenden normalerweise bei Dad und Michel verbringe. So ist das schon seit sechs Jahren und wurde nicht vom Gericht entschieden, sondern von Mum und Dad. Sie sind trotz der Scheidung immer noch beste Freunde, das betonen sie immer.

Ich habe heute Morgen keine Lust auf Streit und will Mum bestimmt nicht sagen, dass ich mir kaum was Schrecklicheres vorstellen kann, als mit ihr zusammen durch Prag oder Paris zu latschen – oder auch jede andere Stadt, die mit P anfängt. Wir wissen beide genau, wie das endet: Sie würde so tun, als fände sie alles total toll, und würde mich von einer Touristenattraktion zur nächsten schleppen. Ich müsste mich von ihr vor dem Eiffelturm fotografieren lassen, ohne selbst fotografiert werden zu wollen, damit die Trauer nicht auch noch im Fotoalbum festgehalten wird. Die Augen enthüllen einfach alles, auch wenn jemand Fremdes ihr Grinsen vielleicht für ein echtes Lächeln halten würde. Aber ein Blick in ihre Augen macht klar, dass ein Teil von ihr schon vor langer Zeit gestorben ist.

In der Zeitung sieht man ständig Fotos von Mum, und auf keinem davon lächelt sie. Darauf achtet sie immer sehr. Sie meint, man würde ihr das bloß zum Vorwurf machen, und da hat sie wahrscheinlich recht. (Wieso lächelt die denn? Wie kann denn eine Mutter lächeln, deren Tochter als vermisst gilt?) Also lächelt sie nicht. Und das wird ihr dann genauso zum Vorwurf gemacht, man bezeichnet sie als ›kalt‹ und ›hartherzig‹. Sie kann einfach nicht gewinnen.

Also sage ich Mum, dass ich über das gemeinsame Wochenende nachdenken werde und dass wir ja vielleicht in ein oder zwei Monaten mal mit Dad und Michel darüber reden können. Sie nickt, aber ich merke genau, sie ist von meiner Reaktion enttäuscht. Verdammt, jetzt habe ich wieder ein schlechtes Gewissen. In diesem Haus lauern überall Fallen und Schuldgefühle, sie verstecken sich unter den Dielen und hinter der Tapete. Man kann sie nachts sogar flüstern hören.

Eigentlich hatte ich gehofft, dass wir sie in unserem alten Haus zurückgelassen hätten, als wir vor ein paar Jahren umgezogen sind, aber Mum hat sie anscheinend sorgfältig in Packpapier eingeschlagen, in einen Karton getan, den dann säuberlich mit schwarzem Filzstift beschriftet und mit in den Umzugstransporter gestellt. Die Schuldgefühle kommen immer mit, egal, wo wir hinziehen.

Ich stehe auf und umarme Mum. Einen Moment lang bleibt sie steif, dann entspannt sie sich ein wenig und umarmt mich auch. Sie ist so mager. Überall Ecken und Kanten. Früher hat sie mehr gewogen, das hat ihr viel besser gestanden. Wenn ich mich an die frühere Version meiner Mutter bloß besser erinnern könnte! Immerhin gibt es Fotos davon. Auf meinem Lieblingsfoto backen Mum, Laurel und ich zusammen Kuchen. Mum trägt eine rosa Schürze, ihre Wangen sind gerötet, und sie lacht – ein echtes Lachen. Ich stehe auf einem Stuhl, damit ich an die Arbeitsplatte heranreiche. Ich habe Mehl auf der Nase und strecke demjenigen, der das Foto macht, die Zunge heraus. (War das Dad? Ich weiß es nicht mehr.) Laurel rührt gerade mit konzentriertem Blick in einer Schüssel. Sie trägt eine Federboa und ich ein kleines Krönchen auf dem Kopf, wahrscheinlich sind das die Anziehsachen, die man als Vier- und Sechsjährige beim Backen eben so trägt.

Das Telefon klingelt. Mum steht auf und drückt mir einen Kuss auf die Wange.

»Hallo? Ja, das bin ich.« Sie klemmt sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter und wischt Krümel vom Küchentisch.

Ich gehe nach oben, um meine Tasche für das Wochenende bei Dad zu packen. Ich brauche nicht viel, ein paar Sachen und Kosmetikartikel lasse ich immer bei ihm. Manchmal nervt das, weil ich zum Beispiel ständig meine Lieblingsjacke bei Mum vergesse, wenn ich zu ihm fahre, und umgekehrt geht es mir mit anderen Sachen genauso. Trotzdem: Diese Unannehmlichkeiten sind es wert, wenn man dafür ein paar Tage zu Hause rauskommt. Bei Dad und Michel zu Hause fühle ich mich anders, da fällt das Atmen irgendwie leichter.

Als ich in die Küche zurückkomme, steht Mum mit dem Rücken zu mir. Sie hat immer noch das Telefon in der Hand, schweigt aber.

»Mum?«

Keine Reaktion.

»Mum? Alles okay?«

Das »Alles bestens, Schatz« kommt nicht.

Ich schiebe mich am Küchentisch vorbei und stelle mich direkt vor sie. Sie ist blasser als vorhin. Eine Träne läuft ihr die linke Wange hinunter, sie wischt sie nicht ab. Ich sehe der Träne dabei zu, wie sie die Kontur ihres Gesichts nachzeichnet und an ihrem Hals hinunterrinnt.

Schließlich sieht sie hoch. Ihr Blick ist anders als sonst. Ich kann nicht genau sagen, was anders ist, aber es macht mir Angst.

Mum setzt zum Sprechen an, verstummt dann aber wieder. Ich bin nicht sicher, ob ich hören will, was sie zu sagen hat. Aber habe ich eine Wahl?

»Das war gerade die Polizei.«

Nein. Bitte nicht. Nicht heute. Der Anruf, vor dem sie sich seit 13 Jahren jeden einzelnen Tag gefürchtet hat. Sie haben bestimmt ihre Leiche gefunden.

Mum schwankt ein wenig, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen, also ziehe ich sie zu einem Stuhl am Küchentisch. Sie sinkt darauf zusammen und lässt das Telefon auf den Tisch fallen. Sie nimmt meine Hände. Ich hocke mich vor sie hin.

»Sag’s schon, Mum. Bitte.«

Sie räuspert sich. »Sie haben ein Mädchen gefunden. In der Stanley Street.« In der Stanley Street haben wir damals gewohnt, als es passiert ist. »Es … es ist wahrscheinlich Laurel.« Sie drückt meine Hände so fest, dass es weh tut. »Ich soll gleich zur Polizeiwache und sie identifizieren.«

Meine Beine geben unter mir nach. Ich schwanke. »Mum, das tut mir so leid. Ich weiß gar nicht … o Gott.«

Da lächelt Mum plötzlich. »Nein, nein! Ich meinte doch nicht … aber das kannst du ja nicht wissen.« Sie lässt meine Hände los und streichelt mir über die Wange. »Sie sind sich schon ziemlich sicher, dass es Laurel ist. Und sie lebt. Laurel lebt!«

Kapitel 2

Ich kann das nicht glauben. Ich erlaube mir einfach nicht, das zu glauben. Mum versucht auch, ruhig zu bleiben, aber ich sehe es ihr an: Sie hat Hoffnung. Die hatte sie seit Jahren nicht mehr. Auch die Polizei muss davon ausgehen, dass es wahr sein könnte, sonst hätte man sie nicht angerufen. Nach Hunderten, vielleicht Tausenden von Falschmeldungen, die unter anderem meinten, Laurel würde in einem usbekischen Gebirge unter Ziegenhirten leben.

Aber das ergibt doch keinen Sinn, dass sie auf einmal vor unserem alten Haus auftaucht. Nach 13 Jahren? Ich habe sofort ein sechsjähriges Mädchen mit glänzenden, blonden Haaren im Kopf. Sie trägt ein neues Kleid, weiß mit bunten Punkten. Vorn ist ein kleiner Limofleck drauf, aber den sieht man unter den anderen bunten Punkten kaum. Das Mädchen lächelt. Ihr fehlt ein Vorderzahn. Sie hält einen Teddy im Arm und hat eine große Schramme auf der Wange. So sieht eine Schramme aus, die man sich zuzieht, wenn einen die kleine Schwester durchs Wohnzimmer jagt, man hinfällt und sich dabei am Couchtisch stößt.

Das Bild des blonden Mädchens namens Laurel Logan mit der Zahnlücke im gepunkteten Kleid und mit dem Teddy im Arm war weltweit in so gut wie jeder Zeitung abgedruckt (wahrscheinlich sogar in der Usbekistan Times, wenn ich so drüber nachdenke). Bei dem Anblick haben vermutlich alle gedacht, es könnte kein niedlicheres Mädchen auf der Welt geben. Na ja, jedenfalls: Zwei Stunden, nachdem Mum dieses Foto von Laurel geknipst hat, war sie verschwunden.

Ich bin auch mit auf dem Foto: vier Jahre alt, irgendwie ganz niedlich, aber nichts Besonderes. Nicht so wie sie. Krause, braune Locken, Knopfaugen, Secondhandklamotten. Ich spiele im Hintergrund im Sandkasten und bin auf dem Foto nur unscharf zu sehen. So geht das schon mein ganzes Leben lang: Ich bin immer im Hintergrund und irgendwie unscharf.

Laurel wäre jetzt 19. Eine Erwachsene. Schwer vorstellbar. Natürlich haben wir die digital gealterten Fotos von ihr gesehen, die die Polizei hat anfertigen lassen. Das letzte wurde vor vier Jahren gemacht: Laurel mit 15. Diese Bilder sehen aber immer irgendwie falsch aus. Man erkennt genau, dass sie einfach nur ein Foto – das Foto – genommen und damit irgendwelchen Computerkram angestellt haben. Das Ergebnis wirkt jedes Mal seltsam, es sieht nie nach einem echten Menschen aus.

 

Mum und ich sehen uns schweigend an. Sie versucht immer noch, sich nicht zu sehr zu freuen, das merkt man ihr an. Ein Teil von ihr erlaubt ihr nicht ganz den Glauben daran, dass dieser Albtraum tatsächlich zu Ende sein könnte. Sie hat sich schon so oft Hoffnungen gemacht, und sie sind ihr jedes einzelne Mal wieder genommen worden.

Mir fällt auf, dass sie zittert. Ich greife nach ihrer Hand. »Ist die Polizei wirklich sicher? Woher wissen die das denn so genau?«

»Ich muss gleich deinen Vater anrufen. Natalie meinte, sie kann das auch tun, aber ich dachte, ist bestimmt besser, wenn ich das mache. Meinst du, er ist zu Hause? Oder soll ich es erst mal auf seinem Handy versuchen?« Sie sieht auf die Uhr, die lose an ihrem Handgelenk baumelt. »Michel ist wahrscheinlich eh schon auf dem Weg hierher. Du solltest trotzdem das Wochenende dort verbringen, du kannst ja jetzt nicht hier allein bleiben. Und ich ruf dich dann an, sobald ich mehr weiß.«

»Mum, jetzt warte doch mal kurz! Woher wissen die so genau, dass … sie das ist?« Ich bringe es nicht über mich, ihren Namen auszusprechen.

»Weißt du noch, sie hatte sich doch an dem Tag weh getan, bevor sie … Natalie sagt, das Mädchen hat auch eine Narbe auf der Wange! Nach so vielen Jahren …« Sie schüttelt fassungslos den Kopf. Dann drückt sie meine Hand. »Ach, und da ist noch was: Sie hat Barnaby dabei!«

Sie ist es also wirklich. Meine Schwester ist wieder da. Ich habe eine Schwester.

 

Anfangs gab es in den Zeitungen viele Fotos von Barnaby. Ich selbst erinnere mich natürlich nicht mehr daran, aber ich habe mittlerweile so viel recherchiert, dass ich ein Buch darüber schreiben könnte, was damals passiert ist. Mum und Dad hatten Laurel ein halbes Jahr vor ihrer Entführung zu Weihnachten einen Teddy geschenkt. Ich habe auch so einen Teddy bekommen, der vermutlich jetzt in irgendeiner Gerümpelkiste liegt. Das besondere an den Teddys war ihr Aussehen. Mum und Dad sind mit uns zu so einem Laden gegangen, wo man sein Kuscheltier individuell gestalten kann. Laurel hatte ganz genaue Vorstellungen davon, wie ihr Teddy aussehen sollte. Man konnte auch eine Nachricht aufnehmen, die der Teddy abspielt, wenn man auf seinen Bauch drückt. Laurel hat sich nicht getraut, selbst etwas zu sagen. Deshalb haben Mum und Dad für sie »FROHE WEIHNACHTEN, LAUREL! ALLES LIEBE VON MUMMY UND DADDY!« draufgesprochen. Ich habe die Nachricht für meinen Bär selbst gesprochen, irgendeinen Quatsch über einen Teddy, der ein Picknick macht.

Laurels Bär war braun und ganz weich. Er trug eine Jeanshose, ein rotweißgestreiftes T-Shirt und eine blaue Mütze mit seinem Namen darauf. Laurel musste nicht lange überlegen, als es um seinen Namen ging: »Barnaby«, sagte sie sofort.

Barnaby den Bären gibt es nur einmal. Und selbst wenn es noch einen anderen Teddy mit der gleichen Jeanshose und dem gleichen T-Shirt gäbe, mit der gleichen Mütze und demselben Namen aufgestickt – es gibt auf der ganzen Welt nur einen, der die Nachricht von meinen Eltern spricht. Und als Laurel damals entführt wurde, verschwand auch Barnaby.

Das war ein winziger Trost für meine Eltern, glaube ich, dieses Wissen, dass Laurel nicht ganz allein war. Der Teddy war schon vorher ihr Ein und Alles gewesen. Sie nahm ihn überall mit hin und vertraute ihm alle ihre Geheimnisse an. An manchen Tagen bestand sie darauf, dass er mit uns am Abendbrottisch saß. Wenn ich die Augen schließe und mir ganz große Mühe gebe, kann ich diese Szene vor mir sehen. Aber dieses Bild vor meinem inneren Auge von Laurel und Barnaby nebeneinander am Tisch ist wie alle meine Erinnerungen an Laurel aus zweiter Hand.

Manchmal liege ich abends im Bett und versuche, meinen Kopf ganz leer zu machen. Ich leere mein Gehirn Stück für Stück – werfe Mum raus und Dad und Michel, die Schule und Thomas und Martha und was es zum Abendbrot gab. Ich lasse das alles aus meinen Ohren raus und auf mein Kissen tropfen, bis nichts mehr in meinem Kopf ist. Und dann warte ich auf sie. Auf eine echte Erinnerung, eine, die nur mir gehört und die ich nicht nur aus irgendeiner Zeitung oder aus dem Internet habe oder aus den Erzählungen meiner Großeltern und von einem der vielen anderen, die ständig mit mir über sie reden wollen.

Manchmal funktioniert es. Ich sehe sie lachen und weiß, das ist wirklich sie, das ist nicht aus einem der drei Videos, die ins Internet hochgeladen wurden und die ich so oft gesehen habe, dass ich sie mitsprechen kann. Wie das von ihr, als sie zum ersten Mal im Leben auf einem Pony saß und Angst hatte herunterzufallen. Dieses Lachen hier ist anders – es gehört nur mir. Ein geheimes Lachen zwischen zwei Schwestern.

Dieses Lachen war in den letzten 13 Jahren alles, was ich von ihr hatte. Aber jetzt ist sie wieder da.

Kapitel 3

Mum kommt nach dem Telefonat mit Dad zurück in die Küche. Sie hat geweint, ihr Gesicht ist ganz rot und fleckig.

»Ist Laurel verletzt?« Ich kann nicht fassen, dass ich da nicht früher draufgekommen bin.

»Was?« Mum sucht zerstreut nach dem Autoschlüssel. Der liegt auf dem Regal im Flur, wo er immer liegt.

»Ob sie verletzt ist! Stimmt irgendwas nicht mit ihr?«

»Nein. Die Polizei meint sogar, sie ist in überraschend guter Verfassung, wenn man bedenkt, dass sie …«

Ich warte darauf, dass Mum den Satz zu Ende spricht, aber sie ist mittlerweile damit beschäftigt, vor dem Flurspiegel ihr Make-up zu überprüfen.

»Mum? Ich hab Angst.«

Sie dreht sich zu mir. »Angst? Wovor denn, Faith? Das hier ist doch … na ja, es ist einfach ein Wunder!« Sie zieht ihre aufgesprungenen Lippen mit Lippenstift nach und betrachtet prüfend ihr Spiegelbild. »Meinst du, sie erkennt mich?«, fragt sie leise.

Es klingelt an der Tür. Es gibt mehrere Antwortmöglichkeiten auf Mums Frage, aber nur eine ehrliche.

Ich stelle mich hinter sie. Unsere Blicke treffen sich im Spiegel. Ich streiche ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. »Natürlich, Mum.« Mit Ehrlichkeit fährt man eben nicht immer gut.

Sie dreht sich mit einem strahlenden Lächeln zu mir herum und umarmt mich fest. »Meine Süße kommt zurück nach Hause«, flüstert sie.

Die gehässige Stimme in meinem Kopf flüstert mir etwas so Gemeines und Egoistisches zu, dass ich Mum besonders fest drücke: Und was ist mit mir? Bin ich etwa nicht deine Süße?

 

Michel weiß schon Bescheid, Dad hat ihn anscheinend unterwegs angerufen. Er sagt dreimal hintereinander: »Ich kann’s nicht fassen«, während Mum ihm die Details erzählt.

Mum hat anscheinend vergessen, dass sie Michel normalerweise nicht leiden kann. Sie umarmt ihn sogar, das erste Mal überhaupt. Michel ist genauso überrascht wie ich, als sie sich plötzlich auf ihn stürzt. Sie plappert ununterbrochen, holt kaum Luft. Normalerweise ist sie höflich aber distanziert ihm gegenüber, und das hasse ich. Besonders, weil er immer nur gut über sie spricht. Er lässt das einfach über sich ergehen und beschwert sich nie, als würde es ihm nichts ausmachen. Manchmal wäre ich gern mehr wie er (›ein bisschen französischer‹, wie er es nennt).

Eigentlich wollten Michel und ich zu einer Ausstellung, aber jetzt bleiben wir natürlich zu Hause und warten auf mehr Neuigkeiten. In die Ausstellung können wir ja auch noch nächste Woche oder die Woche darauf.

»Vielleicht könnt ihr ja mit Laurel zusammen hingehen, wenn sie wieder zu Hause ist.« Mum sagt das so, als wäre das ein ganz normaler Satz.

Michel legt unschlüssig den Kopf zur Seite, was Mum offensichtlich als Nicken interpretiert. Es war aber bestimmt keins. »Du musst mal langsam los, Olivia. John ist vielleicht schon da.«

Das war genau das Richtige, um Mum aus dem Haus zu bekommen: Sie will natürlich nicht, dass Dad vor ihr bei Laurel ist.

Die Verabschiedung ist wieder verkrampft. Mum ist Michel gegenüber distanziert und scheint auch nicht recht zu wissen, was sie zu mir sagen soll. Schließlich küsst sie mich auf die Wange und sagt, dass sie mich liebhat.

»Ich hab dich auch lieb, Mum. Ich hoffe …« Diesmal bin ich diejenige, die den Satz nicht zu Ende bringt.

Mum nickt, als wüsste sie ganz genau, was ich sagen wollte. Aber das tut sie nicht.

Ich hoffe, sie erkennen sich nach 13 Jahren wieder, aber ich glaube es eher nicht. Ich hoffe, dass sich unser Leben nicht völlig verändert. Ich hoffe, Mum vergisst nicht, dass es mich auch noch gibt, sobald sie die perfekte Tochter wieder hat.

Vielleicht war der Satz doch schon zu Ende: Ich hoffe.

 

Michel fährt vorsichtig, beide Hände am Lenkrad. Wenn er fährt, fühle ich mich immer viel sicherer als bei Dad. »Wie geht’s dir, ma chérie?« Michel weiß, dass ich es mag, wenn er Französisch spricht, und tut mir ab und zu den Gefallen.

Ich schließe die Augen und lausche in mich hinein. Ja, wie geht’s mir denn? Vor anderthalb Stunden stand noch ganz klar fest, was das Wochenende bringen würde: erst zur Ausstellung mit Michel, dann Mittagessen in einem Pub mit Dad, nachmittags gemeinsam backen, abends Pizza und eine DVD. Am Sonntagmorgen dann früh aufstehen und mit Michel auf den Wochenmarkt, wo er sich wie von Zauberhand in den französischsten Franzosen verwandelt, den man sich nur vorstellen kann. Er trägt sogar eine Baskenmütze, ehrlich jetzt, und er übertreibt seinen Akzent und betört die Frauen, damit sie unsere (zugegebenermaßen aber auch wirklich phantastischen) Macarons kaufen. Sonntagnachmittag dann wieder zurück nach Hause und den Rest des Tages mit Mum vor dem Fernseher abhängen.

Diese Wochenendrituale tun mir immer sehr gut. Michels und Dads Wohnung fühlt sich an wie zu Hause. Am liebsten wäre ich da schon vor langer Zeit ganz eingezogen, aber ich weiß, das würde Mum das Herz brechen. Außerdem wäre Dad bestimmt auch nicht allzu scharf darauf, mich die ganze Zeit da zu haben. Er ist ganz gern Wochenendvater, glaube ich.

Ich war elf, als sich meine Eltern scheiden ließen. Kindern macht es wohl immer sehr viel aus, wenn sich ihre Eltern trennen – bei mir war’s anders. Ich kann mich nicht daran erinnern, überhaupt geweint zu haben. Nicht mal, als Dad seine ganzen Sachen ins Auto gepackt hat und weggefahren ist. Mum findet es bis heute komisch, dass ich nicht wie ein normales Kind reagiert habe. Man sollte meinen, sie wäre erleichtert, dass es mir nicht so schlechtging. Ich hatte Verständnis dafür, dass meine Eltern nach der Sache mit Laurel nie wieder glücklich miteinander werden konnten.

Dad mochte schon immer Frauen und Männer. Mum wusste das, als sie sich an der Uni kennenlernten und ›sofort Hals über Kopf ineinander verliebten‹. Ich weiß das, weil Mum vor ein paar Jahren in einem Interview darüber gesprochen hat. Sie wollte die Wahrheit ans Licht bringen, weil in der Presse so viele gemeine Sachen über sie beide geschrieben worden waren (LAURELS VATER HAT SCHWULE AFFÄRE!). In den Zeitungen steht immer, er sei schwul und hätte meine Mutter nur geheiratet, weil er unbedingt Kinder wollte. Dabei war Laurel adoptiert. Und als das dann ans Licht kam, gab es wieder einen großen Wirbel in der Presse. Sie konnten einfach nicht verstehen, warum.

Ich war ein medizinisches Wunder. Dad hat wohl eine niedrige Spermienzahl (igitt) und mit Mums Eierstöcken stimmt auch irgendetwas nicht. Die Chancen standen schlecht, dass die beiden auf natürlichem Weg ein Kind zeugen. Eigentlich dürfte es mich also gar nicht geben. Mum behauptet immer, sie und Dad seien überglücklich gewesen, zwei wunderschöne Töchter zu haben. Ich habe nie weiter nachgefragt. Vielleicht war ich gar nicht erwünscht?

Mein Vater wurde jahrelang von den Zeitungen in sehr seltsamem Licht dargestellt. Dabei bezog sich die Überschrift mit der ›schwulen Affäre‹ auf ein Foto von Dad, wie er aus Michels Wohnung kommt. Es war schwer für Michel, und er spricht bis heute nicht gern über diese Zeit. Ich habe keine Ahnung, warum er überhaupt was mit meinem Dad angefangen hat. Jeder normale Mensch hätte sich bei unserer chaotischen Familiensituation sofort aus dem Staub gemacht. Aber Michel ist einfach ein toller Mensch. Er ist Tierarzt. Wahrscheinlich muss man nett sein, wenn man Tierarzt werden will. Man muss sich um andere kümmern wollen und darf kein Problem damit haben, wenn einem mal ein Papagei aufs T-Shirt kackt.

Michel sieht sehr, sehr gut aus. Er hat perfekte Haut, wuschelige schwarze Haare und trägt einen Dreitagebart. Wäre er ein paar Zentimeter größer und eitler, hätte er bestimmt Model werden können. Dad ist nicht etwa hässlich, er sieht nur eben sehr britisch aus. So, wie man sich einen Mann namens John vorstellt. Langweilige Haare, normales Gesicht, blasse Haut, ein bisschen zu dünn, immer gebeugte Schultern. Ich werde nie verstehen, was Michel an ihm findet.

»Faith? Alles klar bei dir?«

Ich habe immer noch keine Antwort darauf, deshalb schneide ich einfach ein neues Thema an. »Ich hatte gestern Sex mit Thomas.«

Kapitel 4

Ich habe meinen festen Platz auf der Couch bei Michel und Dad. Sie haben ein großes Ecksofa, und mein Stammplatz ist genau in der Ecke, von wo aus ich einen Blick aus dem Fenster habe. Ich versuche immer, in Ecken zu sitzen, wenn es irgendwie geht. Das war mir selbst nie aufgefallen, Michel hat mich mal darauf hingewiesen. Dad hat gelacht und meinte, ich hätte das schon als kleines Kind getan. Als ich daraufhin gesagt habe, dass ich einfach nicht gern mit dem Rücken zur Zimmermitte sitze, weil Fotografen gern mal aus dem Nichts auftauchen und einen knipsen, hat er aufgehört zu lachen.

Michel hat uns beiden Tee gemacht, und ich sitze auf meinem Lieblingsplatz. Die Sonne scheint ins Fenster. Tonks, die Katze, hat sich auf meinem Schoß zusammengerollt. Michel ist totaler Harry-Potter-Fan. Dad weiß nicht mal, wer Harry Potter überhaupt ist.

»Also, du und Thomas …?«

»Jep, ich und Thomas.«

»Wow! Und wie geht’s dir so damit?«

Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ganz gut, glaube ich. Es war … nett.«

»Was? Nett? Deine Welt wurde nicht etwa nicht aus den Angeln gehoben? Kein Feuerwerk?«

Ich schüttele den Kopf.

»Na ja, so ist das wohl meist beim ersten Mal. Mein Gott, wenn ich an mein erstes Mal denke …«

Ich halte mir die Ohren zu. »Nein, nein, nein, das will ich gar nicht hören! Erzähl mir bitte nichts von deinem Sexleben, sonst muss ich daran denken, dass Dad auch Sex hat, und das ist einfach …« Ich schüttele mich und mache Würgegeräusche.

Michel grinst. »Ach so, also ich muss mir anhören, wie du Sex hattest, aber ich darf dir nicht erzählen, wie Jean-Luc einmal nach dem Fußballtraining in der Umkleidekabine auf mich gewartet hat und …«

Ich muss lachen und werfe Michel ein Kissen an den Kopf. Tonks springt daraufhin beleidigt von meinem Schoß herunter und tappt davon, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Es tut so gut, mit Michel zu lachen, auch wenn ich weiß, dass er das alles nur sagt, um mich auf andere Gedanken zu bringen.

»Aber mal im Ernst, alles okay bei dir?«

»Weil ich jetzt nicht mehr Jungfrau bin oder weil Laurel zurück ist?«

Michel zuckt mit den Schultern. »Wegen beidem.«

»Ja, alles okay so weit.« Ich versuche, mich gerade ein wenig selbst zu überzeugen. »Doch. Ich glaube, ich liebe Thomas, und ich glaube, er liebt mich auch, also gab’s keinen Grund, nicht mit ihm zu schlafen. Und irgendwann wird’s mir bestimmt auch Spaß machen –, wir müssen nur noch ein bisschen üben. Und uns vielleicht einen besseren Ort suchen als seinen Lieferwagen.«

»Ja, echt romantisch!«, sagt Michel trocken.

»Und wegen Laurel … na ja, ich freu mich natürlich.«

Michel rückt ein Stück näher an mich heran. »Bei mir kannst du ehrlich sein, das weißt du doch.«

Ja, das weiß ich. Ihm gegenüber bin ich auch immer ehrlich. Ich weiß nicht genau, woran es liegt, aber ich habe Michel vom ersten Moment an vertraut. Ich kann ihm wirklich alles erzählen, und er würde es nie Dad verraten. Ich schließe die Augen und hole tief Luft. »Ich hab Angst.«

»Wovor denn?«

»Man sagt doch immer: ›Überleg dir gut, was du dir wünschst, es könnte in Erfüllung gehen!‹ Ich wünsche mir schon mein ganzes Leben lang, dass sie zurückkommt. Aber ich habe nie wirklich daran geglaubt. Also, ich dachte, dass ich daran glaube, aber jetzt ist mir aufgegangen, dass ich innerlich davon überzeugt war, es würde nie passieren. Weißt du, was ich meine?«

Michel nickt.

»Seit ihrer Entführung habe ich immer in ihrem Schatten gestanden. Und das hat mir weh getan. Du weißt ja, dass ich es nicht ausstehen konnte, dass es immer nur um Laurel ging. Und dass ich keine normale Kindheit hatte wie andere. Aber jetzt ist sie wieder da, und alles wird bestimmt ganz anders, oder? Und vielleicht … keine Ahnung … vielleicht ist mir grad aufgegangen, dass ich doch lieber im Schatten stehe.«

Michel legt mir den Arm um die Schultern. Ich lehne meinen Kopf gegen seinen. »Das ist vollkommen in Ordnung. Egal, was du fühlst – das ist alles in Ordnung. Es gibt in so einer Situation keine richtigen oder falschen Gefühle. Es ist ja beim besten Willen auch keine normale Situation.«

Normal. Das habe ich mir immer gewünscht. Und langweilig. Ich wäre dankbar gewesen für die normalste, langweiligste Kindheit, die man sich nur vorstellen kann. So wie bei Martha. Niemandem in Marthas Familie ist jemals was passiert, was man auch nur im Entferntesten als interessant bezeichnen könnte. Sie weiß wahrscheinlich nicht einmal, was für ein Glück sie damit hat.

Michels Handy klingelt. Es ist Dad. Michel sieht mich schuldbewusst an, wir denken beide dasselbe: Dad hätte mich zuerst anrufen sollen. Michel sagt nur »ja«, »okay« und »alles klar«, man wird nicht wirklich schlau daraus. Ich gehe Tonks suchen. Sie liegt auf meinem Bett unter der Decke. Ich kraule ihr den Kopf, bis sie mir verziehen hat, dass ich sie vorhin aufgeschreckt habe.

Nach einer Weile kommt Michel ins Zimmer und reicht mir das Telefon. Er geht wieder raus, um mir ein bisschen Privatsphäre zu lassen, und ich wünsche mir sofort, er wäre geblieben.

»Faith? Sie ist es. Sie ist es wirklich.« Dad weint. Ich habe ihn noch nie so weinen gehört, so laut schluchzend. »Der Bär … erinnerst du dich noch an ihren Teddy?« Er wartet meine Antwort nicht ab. »Sie haben es irgendwie geschafft, die Nachricht auf dem Chip abzuspielen! Sie haben uns die Aufnahme vorgespielt! Ist das zu fassen?« Wieder wartet er keine Antwort von mir ab. »Sie ist es wirklich! Laurel ist wieder da!«

»Das ist toll, Dad.« Meine Reaktion ist völlig unangemessen, ich klinge ja, als hätte er mir gerade erzählt, dass seine Lieblingsfußballmannschaft gewonnen hat. Ich versuche es noch mal. »Wirklich, phantastisch.« Nicht viel besser.

»Sie hat nach dir gefragt. Sie erinnert sich noch an dich. Ist das nicht wundervoll? Warte bloß, bis du sie siehst. Sie ist eine wunderschöne junge Frau. Genau wie du.«

Es ist offensichtlich, dass er das ›genau wie du‹ noch schnell hinterhergeschoben hat.

»Sie hat wirklich nach mir gefragt?«

»Ja! Sie wollte wissen, ob du immer noch so gern Sandburgen baust.« Dad lacht.

Ich habe damals gerade eine Sandburg im Sandkasten gebaut, als sie entführt wurde.

»Wir haben ihr ein Foto von dir gezeigt. Sie konnte gar nicht glauben, wie groß du geworden bist.«

Das ist ja alles schön und gut, aber irgendetwas verschweigt er mir doch. »Was ist denn nun passiert? Wo war sie die ganze Zeit?«

Ich höre gedämpfte Stimmen. Anscheinend hält Dad den Hörer zu. Ich frage mich, ob Mum eben die ganze Zeit mitgehört hat. »Darüber reden wir, wenn wir zu Hause sind, mein Schatz. Das Wichtigste ist, dass Laurel wieder da ist –, und sie ist gesund und munter.«

 

Laurel wird die nächsten Tage in einem Hotel schlafen. Mum bleibt bei ihr, Dad kommt nach Hause. Die Polizei muss mit Laurel reden, und dann soll sie noch von einem Arzt, einem Psychologen und ein paar anderen Leuten untersucht werden. Außerdem ist eine speziell geschulte Betreuerin aus London auf dem Weg hierher.

Ich darf bis morgen niemandem davon erzählen, nicht mal Thomas und Martha. (Aber natürlich werde ich mit den beiden sprechen.) Morgen Nachmittag soll es eine große Pressekonferenz geben. Ich frage mich, wie sie das alles so schnell organisiert haben.

»Morgen kannst du sie sehen, Schatz. Freust du dich schon auf deine große Schwester?« Dad redet mit mir wie mit einem kleinen Kind.

Ob ich mich freue? Ehrlich gesagt hatte ich noch nie so große Angst. »Ich kann’s kaum erwarten«, sage ich.

Kapitel 5

Michel überredet mich zum Backen, denn Macarons würden ganz bestimmt helfen. Wir verbringen schon seit Jahren jeden Samstagnachmittag gemeinsam in der Küche. Dad schaut in der Zeit meistens Fußball oder fährt eine Runde Fahrrad.

Anfangs war es nur aus Spaß. Meine traurigen Backversuche landeten meistens im Mülleimer, Michel hingegen nahm seine perfekten Macarons mit in die Tierarztpraxis und verteilte sie unter seinen Kollegen (nachdem wir Berge davon gegessen hatten, versteht sich). Es war Dads Idee, sie auf dem Wochenmarkt hier um die Ecke zu verkaufen. Michel und ich konnten uns nicht vorstellen, dass wir Abnehmer dafür finden würden, aber schon beim ersten Mal waren wir innerhalb einer Stunde komplett ausverkauft. Es war meine Idee, dass Michel so richtig schön den Franzosen raushängen lassen sollte. Wer würde nicht gern Original-Macarons von einem echten Franzosen kaufen, der auch noch sehr, sehr gut aussieht?

Als wir mit dem Backen loslegen, bekomme ich eine SMS von Thomas. Er fragt, warum ich mich den ganzen Tag noch nicht gemeldet habe, und macht sich Sorgen, dass ich nach dem, was gestern zwischen uns war, unglücklich bin. Unglücklich? Nach dem ganzen Sex, den wir hatten?!, schreibe ich zurück.

Thomas redet nicht gern über Sex. Bei ihm muss ich mir keine Sorgen machen, dass er vor seinen Freunden damit in der Umkleide angibt. Nicht, dass er sich jemals in die Jungenumkleide verlaufen würde, Sport ist nicht so seins. Thomas sieht sich selbst gern als verzweifelten Künstler. Er zeichnet und schreibt Gedichte und trinkt viel zu viel Kaffee.

Wo ich schon mal dabei bin, schreibe ich auch gleich Martha zurück. Die wartet bestimmt schon den ganzen Tag auf meine Antwort und hat Mühe, nicht alle zwei Minuten auf ihr Handy zu schauen.

Gestern Abend war super! Danke noch mal, dass ich angeblich bei dir war. Meld mich später. Hab Neuigkeiten (hat nichts mit Sex zu tun).

Martha schreibt zuerst zurück: NEUIGKEITEN?!

Dann Thomas: Vermiss dich.

Ich verdrehe die Augen, ich kann einfach nicht anders. Thomas schreibt immer so ernsthafte SMS, egal, wie sehr ich versuche, mal ein bisschen spaßig zu schreiben.

Ich werde den beiden heute Abend von Laurel erzählen. Sie verdienen es, darüber Bescheid zu wissen. Die zwei sind immer für mich da gewesen, wenn wieder irgendeine Lügengeschichte über uns in der Zeitung stand oder wenn mich die Mädchen in der Schule deshalb fertiggemacht haben, weil Mum wieder mal einen ihrer kleinen Zusammenbrüche hatte.

Meinen Teil der Macarons versaue ich heute so richtig, Michels sind aber gelungen wie immer, und er macht noch zwei Bleche (eins mit Himbeerfüllung und eins mit gesalzenem Karamell – meine beiden Lieblingssorten). Er merkt, dass ich heute nichts Vernünftiges mehr zustande bringen werde, und tröstet mich damit, dass wir morgen nicht zum Markt müssen, wenn ich nicht möchte. Er könne auch allein gehen, oder wir bleiben alle zu Hause – wie ich will.

Ich glaube, ich habe ihn in diesem Moment noch lieber als ohnehin schon. Ich sage, dass ich auf jeden Fall mit auf den Markt komme. Warum, sage ich ihm aber nicht: Es ist vielleicht das letzte Mal, dass nur wir beide hingehen. Vielleicht will Laurel ja ab nächster Woche mitkommen. Und vielleicht ist sie auf wundersame Weise die geborene Bäckerin, und ihre Macarons werden jedes Mal perfekt.

 

Dad kommt früher nach Hause als sonst. Er sieht erschöpft aus. Er umarmt erst Michel eine gefühlte Ewigkeit und dann mich noch mal eine halbe gefühlte Ewigkeit lang. Sie wechseln ein paar Worte auf Französisch, so schnell, dass ich keine Chance habe, etwas zu verstehen.

Wir setzen uns auf die Couch, und Dad erzählt. Laurel ist ein bisschen unterernährt und leidet an akutem Vitamin-D-Mangel, weil sie so wenig Sonnenlicht hatte, aber sonst ist körperlich alles in Ordnung mit ihr. Dem ersten Eindruck nach zu urteilen ist sie psychisch stabiler, als wir zu hoffen gewagt haben. Aber natürlich merkt man auch, dass sie Schlimmes hinter sich hat. Als ein Polizist für einen DNS-Test einen Abstrich in ihrem Mund machen wollte, ist sie richtig hysterisch geworden. Dafür hatten aber alle Verständnis, sagt Dad. Laurel hat schließlich unvorstellbar Schreckliches hinter sich.

Dad geht nicht ins Detail, erzählt nur, dass sie von einem sehr kranken Mann entführt worden war, der sie im Keller eingesperrt hat. Das hatten viele vermutet, aber Mum war immer davon überzeugt gewesen, dass sie vielleicht von einem Paar entführt worden war, das unbedingt eine kleine Tochter haben wollte. Es hat nie jemand widersprochen, wenn sie von dieser Theorie erzählt hat. Alle haben immer nur genickt und peinlich berührt gelächelt.

»Ist sie da weggelaufen?« Mir gefällt die Vorstellung, dass Laurel geflohen ist, Mut besitzt und sich gewehrt hat.

Dad schüttelt den Kopf. »Er hat sie freigelassen.«

»Wieso?«

»Das weiß keiner.«

»Aber das ist doch seltsam, oder? Warum sperrt er sie erst 13 Jahre lang ein, und dann lässt er sie einfach so gehen?«

»Ich bin einfach nur froh, dass er es getan hat.«

Bin ich ja auch. Klar bin ich das. »Hat die Polizei ihn festgenommen?«

Er schüttelt wieder den Kopf. »Nein. Wir wissen nicht mal, wo er Laurel gefangen gehalten hat. Der Kerl hat ihr die Augen verbunden, ist mit ihr zur Stanley Street gefahren und hat sie da rausgelassen. Die Polizei sucht natürlich nach Spuren, und Laurel gibt sich auch große Mühe zu helfen, aber es fällt ihr sehr schwer. Sie kann nicht mal genau sagen, wie lange sie mit dem Auto unterwegs waren. Und sie kann auch nicht viel darüber erzählen, wo er sie die ganzen Jahre lang gefangen gehalten hat. Dieses Arschloch war echt clever.« Dad flucht sonst nie, wenn ich dabei bin.

»Also ist dieser Psycho noch irgendwo da draußen? Was, wenn er zurückkommt?«

»Die Polizei geht davon aus, dass er sich versteckt halten wird, aber sie wollen natürlich kein Risiko eingehen. Sie werden uns Polizeischutz bieten, du musst dir also überhaupt keine Sorgen machen.«

Ich versuche, das alles zu verdauen. Die Polizei hat keine Ahnung, wer dieser Mann ist. Wie kann denn das sein? Ich versuche, mir vorzustellen, was das für ein Mensch sein muss, der so was tut. Der ein Mädchen jahrelang bei sich im Keller einsperrt. »Er hat sie missbraucht, oder?«

Dad sieht Michel an, und Michel nickt, und es macht mich unglaublich wütend, dass mein Vater anscheinend keine einzige Entscheidung allein treffen kann.

»Ja.« Dads Kiefer mahlen. »Er hat sie geschlagen. Und er hat sie immer wieder missbraucht.«

Mir wird schlecht. Ich blinzele die Tränen weg.

»Ich weiß, das ist nicht leicht für dich, aber ich muss dich darauf vorbereiten. Sie hat viel durchgemacht.« Er atmet tief ein und aus. Dann setzt er sich sehr aufrecht hin und klopft mir aufmunternd aufs Bein. »Aber das Wichtigste ist, dass sie jetzt in Sicherheit ist. Und wir können endlich wieder eine Familie sein.«

Ihm ist wohl nicht ganz bewusst, dass wir nicht einfach wieder die Familie sein können, die wir vor 13 Jahren waren.

Dad sagt, wir müssen Laurel Zeit geben, über alles hinwegzukommen, und dass sie dabei die beste Unterstützung haben wird, die es gibt. Therapien, Beratungsgespräche und so weiter.

Mum und Dad haben es so eingerichtet, dass ich sie morgen früh sehe. Also kann ich nicht mit Michel auf den Markt gehen. Es hat keinen Zweck, mit ihnen darüber zu reden, sie würden es eh nicht verstehen. Meine Eltern kommen nicht mal auf den Gedanken, dass ich vielleicht nervös bin, meine Schwester nach 13 Jahren zu sehen. Sogar Angst habe.

Kapitel 6

Michel rät Dad, er solle sich ein bisschen hinlegen und ausruhen.

Dad umarmt mich. »Ich kann nicht fassen, dass es wirklich vorbei ist. Ich hab nicht mehr daran geglaubt.« Er schüttelt den Kopf und murmelt etwas von einem Wunder. Dann geht er ins Schlafzimmer.

Michel will los und die Pizza holen. Er fragt, ob ich mitkommen will, aber ich möchte lieber ein bisschen allein sein.

»Das ist alles ganz schön viel, hm?« Seine braunen Augen sehen mich warm und verständnisvoll an.

Ich nicke. »Machst du dir gar keine Sorgen?«

»Worüber denn?«

»Weiß nicht … dass Mum und Dad jetzt vielleicht wieder zusammenkommen?« Ich sage das nicht, um gemein zu sein, ganz ehrlich nicht.

Michel lächelt nur. »Hey, willst du mir etwa Angst machen? Nein, ich mache mir keine Sorgen. Wieso? Hätte ich denn deiner Meinung nach Grund dazu?«

»Ich weiß es doch auch nicht! Aber Dad benimmt sich so seltsam.«

»Natürlich benimmt der sich seltsam, es war ja wohl auch ein ziemlich seltsamer Tag.«

»Haben sie Laurel schon gesagt, dass Mum und Dad nicht mehr zusammen sind? Weiß sie von dir?« Komisch, dass mir das jetzt erst einfällt.

Michel nimmt seine Jeansjacke, die bestimmt älter ist als ich. »Ja, sie weiß Bescheid. Deine Mum wollte damit noch ein paar Tage warten, aber John hat darauf bestanden, es ihr gleich zu sagen.«

»Und?«

»Nichts und! Sie hat überhaupt kein Problem damit. Also zerbrich dir nicht dein hübsches Köpfchen!« Er tut so, als wollte er mir die Haare zerwuscheln, was er nur macht, um mich zu ärgern.

Ich ducke mich lachend weg.

Ich versuche, mir vorzustellen, wie sich das anfühlen muss, wenn man nach so langer Zeit zu seiner Familie zurückkehrt. Man würde doch wollen, dass alles noch beim Alten ist, oder? Aber in 13 Jahren kann sich viel ändern. Da kann eine Mutter sich schon mal vor lauter Trauer fast auflösen, ein Vater mit einem tollen Franzosen zusammenziehen und eine kleine Schwester aufhören, Sandburgen zu bauen, und stattdessen anfangen, Mauern um sich herum zu errichten.

 

Ich gehe in mein Zimmer und schließe die Tür hinter mir, damit Dad nicht aufwacht. Zuerst rufe ich Thomas an. Er ist beleidigt, weil ich mich den ganzen Tag nicht gemeldet habe, also erzähle ich ihm gleich alles.

»Ist das dein Ernst? Du verarschst mich doch gerade, oder?« Er hat meinen Sinn für Humor noch nie wirklich verstanden, aber dass er es auch nur für möglich hält, dass ich bei diesem Thema Witze machen könnte, ist wie ein Schlag ins Gesicht.

Ich schweige.

»Ach du Scheiße. Du meinst das wirklich ernst. O mein Gott.« Er klingt fast so schockiert, wie ich selbst im ersten Moment war. »Was ist denn nun passiert? Wo war sie die ganze Zeit? Geht’s ihr gut?«

Ich erzähle ihm alles, was ich weiß. Es beruhigt mich irgendwie, dass er fast genau dieselben Fragen stellt wie ich. Dadurch fühle ich mich nicht mehr so sehr wie ein Freak. Und als er fragt, wie es mir mit der ganzen Sache geht, fühle ich eine Welle der Liebe zu ihm.

Ich weiß jetzt, dass es richtig war, gestern mit ihm zu schlafen. Ich war mir nämlich vorher gar nicht so sicher, ob ich das wirklich wollte. Ich hatte Angst davor. Das hätte ich aber weder vor Thomas noch vor Martha jemals zugegeben. Zum Glück gab es dann aber überhaupt keinen Grund, Angst zu haben. Es war größtenteils schön, wir waren nur ein bisschen unsicher miteinander, und ich fand es teilweise lustig (als Thomas zum Beispiel plötzlich einen Krampf im Bein hatte). Ich weiß wirklich nicht, wieso alle so eine Riesensache daraus machen.

Thomas kann toll zuhören. Er unterbricht mich nie und widerspricht nur ganz selten. Er ist einfach ein richtig guter Freund. Auch wenn ich seine Gedichte nie kapieren werde. Und er schreibt wirklich sehr viele Gedichte.

Ich sage ihm, dass wir uns in nächster Zeit wohl nicht so oft nach der Schule treffen können. Ich habe keine Ahnung, wie das alles mit Laurel wird. Kommt sie nach Hause und zieht einfach in ihr Zimmer? Sie hat nämlich ein eigenes Zimmer bei uns, darauf hat Mum nach dem Umzug bestanden. Wenigstens hat sie es nicht auch noch wie damals dekoriert, voller Rosa und Glitzer. Es sieht jetzt einfach aus wie ein hübsches Gästezimmer mit ein paar von Laurels Sachen darin. Mum hatte deswegen ein schlechtes Gewissen, weil nicht mehr alles so aussehen würde wie früher, wenn Laurel zurückkäme. (Es war immer »wenn«, nie »falls«.) Am Ende stimmte sie einem Umzug auch nur zu, weil wir dadurch mehr Geld für die Suche nach ihr hatten.

Thomas bietet an, dass ich mich immer melden kann, wenn ich reden will. Er sagt, dass er mich liebt, und ich sage ihm, dass ich ihn auch liebe, und dann lege ich auf und fühle mich zum ersten Mal heute wieder wie ein normaler Mensch.

Martha kreischt: »Ich glaub’s nicht.« Immer und immer wieder.

Ich fasse für sie zusammen, was ich weiß –, was nicht allzu viel ist, wenn man es genau betrachtet. Sie sagt noch ein paarmal: »Ich glaub’s nicht«, und fragt dann, wann ich Laurel denn kennenlernen werde.

In diesem Moment geht mir auf, dass kennenlernen in diesem Zusammenhang eigentlich das falsche Wort sein sollte. Man kann ja nur jemanden kennenlernen, den man noch nie gesehen hat, oder? Trotzdem fühlt es sich in diesem Zusammenhang genau wie das richtige Wort an. Ich kenne Laurel ja tatsächlich nicht.

Ich verspreche Martha, mich morgen wieder zu melden, und lege auf. Sie hat mich nicht gefragt, wie es mir geht. Warum sollte sie auch? Laurels Entführung hat mein ganzes Leben beherrscht (und ruiniert), und jetzt ist sie eben wieder da. Problem gelöst, könnte man meinen.