Familie Marx und Mauritz - Gabriele Wibmer - E-Book

Familie Marx und Mauritz E-Book

Gabriele Wibmer

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Beschreibung

Isabelle Marx ist Mitte fünfzig, Mutter der 10-jährigen Zwillinge Tim und Tom, Ehefrau von Jens Mauritz und Autorin von Liebesromanen. Während Isabelle lustlos ihren neuen Roman überarbeitet, hinterlässt ihre Familie und alles, was dazu gehört, eine Schneise der Verwüstung in ihrem Alltag. Auch Isabelles halbherzige Maßnahmen, dieses Chaos in den Griff zu bekommen, ändern daran nichts. Und als wären die häuslichen Unruhen nicht genug, kündigt ihr Agent ein Fernsehteam an, das Isabelle und ihre Familie über ein halbes Jahr begleiten soll. Der familiäre Wahnsinn nimmt seinen Lauf ...

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Seitenzahl: 264

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für meine Familie

Inhaltsverzeichnis

Donnerstag, 19. Januar Das Skript

Dienstag, 31. Januar Glaubenssätze

Mittwoch, 1. Februar Neuanfänge

Montag, 6. Februar Dessous

Fortsetzung Montag, 6. Februar Mutter

Freitag, 17. Februar Big Brother

Montag, 20. Februar Punjab

Montag, 6. März Busch’sche Störung

Dienstag, 7. März Zuckerguss

Mittwoch, 8. März Nepal

Donnerstag, 9. März Vater

Freitag, 17. März Seite 43

Montag, 20. März Bob Marley

Dienstag, 4. April Kraniche

Montag, 17. April Paketboten

Dienstag, 25. April Onlineshopping

Freitag, 28. April Ferrari

Sonntag, 30. April Familie

Montag, 1. Mai Hotel

Dienstag, 2. Mai Glückseligkeit

Montag, 8. Mai Resilienz

Mittwoch, 10. Mai Knochige Ellbogen

Dienstag, 16. Mai Michelle

Donnerstag, 25. Mai Zwei Herzen

Freitag, 26. Mai Verzickte Situation

Samstag, 27. Mai Fußball

Dienstag, 30. Mai Harmonie

Donnerstag, 1. Juni Tattoos

Sonntag, 11. Juni Kulturfähig

Donnerstag, 15. Juni Schaumbad

Sonntag, 18. Juni Gewitter

Sonntag, 25. Juni Ziegereien

Dienstag, 4. Juli Corpus Delicti

Mittwoch 5. Juli Geständnis

Freitag, 7. Juli Positano

Montag, 17. Juli Abfahrt

Fortsetzung 17. Juli Isabelle Marx

Dienstag, 18. Juli Küstenstraße

Donnerstag, 20. Juli Vesuv

Freitag, 21. Juli Rizinusöl

Donnerstag, 27. Juli Abbitte

Freitag, 11. August Bobby

Montag, 14. August Gelbe Decke

Montag, 28. August Rauschender Schreibfluss

Donnerstag, 31. August Hindernisparcours

Samstag, 2. September Zirkusmanege

Sonntag, 3. September Lilafarbene Spitzenunterwäsche

Samstag, 9. September Kirchturm

Sonntag, 10. September Besinnung

Montag, 18. September Mitspracherecht

Montag, 25. September Endless Love

Montag, 16. Oktober Lehrerkorrekturrot

Sonntag, 22. Oktober Feuerteufel

Sonntag, 5. November Lesung

Dienstag, 7. November Ziegenbock

Mittwoch, 8. November Polizeirevier

Fortsetzung, Mittwoch 8. November Literarisches Quartett

Donnerstag, 9. November Kalter Luftzug

Freitag, 1. Dezember Sade

Sonntag, 3. Dezember Balsamierte Worte

Montag, 11. Dezember Aufsteller

Mittwoch, 13. Dezember Wackelnder Kuhschwanz

Donnerstag, 14. Dezember Orangeat

Sonntag, 24. Dezember Schiefe Tanne

Donnerstag, 19. Januar

Das Skript

Der Verlag hat mein Skript zurückgeschickt. Zu langweilig, zu langatmig und nicht authentisch. Was heißt hier nicht authentisch? Es ist ein Roman! Wer oder was soll hier authentisch sein? Ich als Person? Mein Schreibstil?

Dazu möchte ich nur so viel sagen: Wenn sie mich authentisch sein ließen, würde ich keine Liebesromane schreiben; jedenfalls nicht mehr – und allen Beteiligten bliebe dieses Drama erspart. Aber das will ja keiner wissen. Einmal Autorin von Liebesromanen, immer Autorin von Liebesromanen. So ist das.

Worüber wollen Sie denn schreiben, Frau Marx? Über die Emanzipation der Frau? Über Gewalt in der Ehe? Über die Folgen des Klimawandels? Über das Schicksal von Geflüchteten? Über Missbrauchsopfer? Aber nein, Frau Marx, darüber schreiben andere. Da lassen Sie mal schön die Finger davon.

Langsam scrolle ich durch die von mir mühevoll geschriebenen 375 Seiten Liebesroman. Die Kommentare der Lektorin am rechten Seitenrand meines Laptops starren mich fratzenhaft an – wie kleine, geschnitzte Larven sehen sie aus; in ihrer Vielzahl erschreckend, hinterhältig und unheilverkündend.

Und so kann ich im Moment beim besten Willen nicht sagen, welches meiner Gefühle überwiegt: das Entsetzen, die Enttäuschung oder die Wut?

Es ist eindeutig die Wut! Ich bin drauf und dran, meinen neuen Roman (noch ohne Titel) samt Laptop aus der geschlossenen Balkontür in den vorbeifließenden Fluss zu werfen.

Da mir durchaus bewusst ist, dass der Januar zu den kältesten Monaten des Jahres zählt und ein Durchlöchern der Glastür für empfindliche Kälte in meinen »heiligen Hallen« sorgen wird, bekommt nun mein Agent, der Überbringer der schlechten Nachricht, meinen – nennen wir es einmal temperamentvollen – Zorn ab. Thomas ist übrigens auch der Meinung, mein Genre sollte im Bereich des Verliebtseins angesiedelt sein, was mich grundlegend ihm gegenüber in eine latente Reizbarkeit versetzt.

Thomas hört sich meinen ungehaltenen Ausbruch am Telefon ruhig an; jedenfalls das, was er meint, sich davon anhören zu müssen. Dann, als ich eine kurze Pause einlege, um meine Lungenflügel mit frischem Sauerstoff für ein erneutes, verbales Ausatmen meines Zorns, meiner Empörung, meines »Ich-habe-es-doch-gleich-gewusst« zu versorgen, grätscht Thomas geschickt dazwischen. Er spricht mit mir wie mit einem trotzigen Kind, das die Schokolade an der Supermarktkasse nicht bekommt und sich nun zu einem lautstarken Sitzstreik zwischen Einkaufswagen und Süßigkeiten auf den Boden platziert.

»Meine liebe Isabelle, dein Buch hat das Potenzial zum Bestseller! Du bist eine geniale Schriftstellerin, eine Künstlerin der Worte. Nur einige Stellen müssen eben noch einmal ein klein wenig geändert werden. Das ist doch kein Problem für dich! Ich stehe dir auch gerne jederzeit mit meinem Rat zur Seite. Das weißt du doch! Also, wozu die ganze Aufregung, meine Liebe? Wir schaffen das!«

Das mag auf den ersten Blick sehr fürsorglich erscheinen, heißt aber im Klartext nichts anderes als: Korrigiere gefälligst deinen Text im Sinne des Verlags, und wenn der Verlag meint, dass alles komplett umgeschrieben werden muss, dann schreibe alles komplett um! Und lasse nicht im Entferntesten den Gedanken aufkommen, mir mit deinem Unmut, deiner Unlust, deinem Unvermögen meine Provision zu ruinieren! Da werde ich sehr, sehr ungemütlich. Das kannst du mir glauben!

Wenn es ums Geld geht, vergisst Thomas gerne mal unsere jahrzehntelange Freundschaft, da ist er dann nur noch Geschäftsmann. Im Übrigen entbehrt sein kaufmännisches Denken jeglicher Kreativität, denn irgendwo habe ich dieses »Wir schaffen das« schon einmal gehört …

Dienstag, 31. Januar

Glaubenssätze

Die letzte Woche ist zäh wie Honig dahingeschlichen. Genau genommen sind fast zwei Wochen ohne nennenswerte Neuerungen in meiner Einstellung zu meinem Roman sowie ohne nennenswerte Änderungen in meinem Roman verstrichen. Es ist nun wirklich an der Zeit, mich mit dem Thema Korrektur zu befassen respektive ein ausgeklügeltes Motivationsprogramm zu entwickeln.

Meine Freundin Tessa, begeisterte Hobbypsychologin, die mich gerne als Probandin für ihre Studien heranzieht, sagt, man müsse sich ständig selbst reflektieren. Seine Stärken und seine Schwächen herausarbeiten. Seine Vorlieben, seine Abneigungen kennen. Positive Glaubenssätze verfassen. Und ein Ziel vor Augen haben. Ganz wichtig. Nur mit einem klar definierten Ziel kann man erfolgreich sein! So sagt das Tessa.

Tessas Ziele sind offensichtlich nicht immer klar definiert, denn die einzigen konstanten Komponenten in ihrem Leben sind die berufliche Erfolglosigkeit (sie arbeitet für eine Zeitarbeitsfirma mit Einsätzen in vielen unterschiedlichen Firmen ohne Aussicht auf eine Festanstellung) und andere Dramen (Beziehungen). Diese Dramen zelebriert Tessa in stundenlangen Telefonaten mit mir, wonach es ihr dann besser geht, meine Stimmung aber auf den Nullpunkt absinkt. Manchmal nehme ich ihren Anruf erst gar nicht entgegen, wenn ich ihren Namen im Display sehe. Was, du hast angerufen? Keine Ahnung, warum mir deine Nummer nicht angezeigt wurde. Das tut mir echt leid. Wirklich ganz blöd, diese Technik. Natürlich fragt Tessa, warum allen anderen ihre Anrufe anzeigt werden, nur mir nicht? Ich zucke dann hilflos die Schultern.

Aber es geht jetzt nicht um Tessas Problematik, sondern um ein vernünftiges Definieren meines Ziels. Was ist überhaupt mein Ziel? Wieder ein Buch auf einer Bestsellerliste zu haben? Hm. Ja, sicherlich. Aber mit diesem Buch wird das nichts. Die ganze Mühe wird umsonst sein. Könnte Tessa meine Gedanken hören, würde sie ihr Gesicht verziehen, als hätte sie auf rohen Ingwer gebissen. Man muss an etwas glauben, man muss etwas wirklich wollen, man muss dafür brennen, sagt Tessa.

Ich höre nochmals in mich hinein und stelle fest, dass da nichts brennt, dass ich nicht die geringste Lust habe, mein Skript nach den Vorstellungen des Verlags umzuschreiben. Dass ich noch nicht einmal willens bin, mir die Anmerkungen der schlauen Lektorin genauer anzuschauen. Ich hole mir erst noch eine Tasse Kaffee … Danach fällt es mir sicherlich leichter, das Problem in einem anderen Licht zu sehen …

Ich nippe an meinem Kaffee, schaue aus der Balkontür auf den Fluss und kreiere positive Glaubenssätze:

Ich will wieder erfolgreich sein! Ich werde wieder erfolgreich sein! Ich arbeite kreativ! Ich arbeite strukturiert! Ich arbeite konsequent! Ich bin eine geniale Schriftstellerin! Ich werde Verben und Adjektive auf und ab sausen lassen wie die Enten, die gerade auf den Wellen des Flusses an mir vorüberschießen! Ich werde eine Domina der Worte sein! Ich werde meinen Roman auf die Bestsellerlisten dieser Welt peitschen …

Mittwoch, 1. Februar

Neuanfänge

Welch sonderbare Glaubenssätze habe ich gestern produziert? War da was im Kaffee?

Bin sehr früh aufgestanden, denn heute beginnt ein neuer Monat und ich beginne mit der Realisierung meines neuen Projekts: Umschreibung des Skripts nach den Wünschen des Verlags. Aber erst einmal etwas mehr Kaffee (stelle nach inzwischen zwei geleerten Tassen weder Sonderbares am Kaffee noch an meinem Denken fest) und noch etwas Selbstreflexion.

Ich mag Neuanfänge; neue Tage, neue Wochen, neue Monate, neue Jahre. Ich mag neue Kleider, neue Schuhe, neue Handtaschen … Lassen wir das; das klingt nun doch sehr oberflächlich …

Neue Menschen kennenzulernen bereitet mir allerdings größere Schwierigkeiten. Eigentlich ist es so, dass sich für mich jeglicher menschliche Kontakt mit Unbekannten höchst diffizil gestaltet. Lesungen vor Publikum, Interviews mit Journalisten und die Anwesenheit auf Buchmessen fallen in die Kategorie: Ich will nicht sein, wo ich bin. Und: Ich will nicht sein, wer ich bin. Man könnte sagen, ich habe kein offenes Verhältnis zur Öffentlichkeit.

Einmal wurde ich von einem Radiosender eingeladen. Eine nette Moderatorin stellte mir nette Fragen und ich saß wie eine Erstklässlerin unbequem auf einer bequemen blauen Couch. Meine Eloquenz hatte ich bereits beim Betreten des Studios verloren, aber dass ich nun – damals tatsächlich mit meinem Buch auf einer Bestsellerliste – keinen vollständigen Satz ohne »äh«, »mmm«, »ähäm« und »im Prinzip« herausbrachte, war ein gar trauriges Hörspiel. Über die Fernsehinterviews möchte ich erst gar nicht sprechen, und ich möchte auch nicht daran erinnert werden!

Im Prinzip – kleiner Joke – genügt mir meine Familie. Mein geliebter Mann Jens, unsere vor wenigen Tagen zehn Jahre alt gewordenen eineiigen Zwillinge Tim und Tom (teilzeitgeliebt) und unsere bereits etwas in die Jahre gekommene, höchst eigenwillige weiße Perserkatze Happy (teilzeitgeliebt).

Happy (von Mann und Kindern eher nur geduldet) residiert in unserem Haushalt wie eine alte Diva. Nicht selten katapultieren sie ihre Gemütskapriolen in Sekundenschnelle vom Schmusekätzchen zur Raubkatze. Das endet dann für uns schon einmal mit blutigen Kratzern oder tiefen Abdrücken ihrer Fangzähne auf unseren Handrücken. Kinder betrachtet Happy als Lebewesen, die die Welt nicht braucht.

Tim und Tom sind aber der Ansicht, dass Kinder durchaus ein Tier brauchen. Das brachte Jens und mich letztes Jahr im Frühsommer zu langwierigen Überlegungen, welches weitere Haustier für uns überhaupt infrage käme, da Happy natürlich keine anderen Götter neben sich duldet. Wir entschieden uns, die unerfüllte Tierliebe der Zwillinge mit zwei flauschigen schwarzen Hasen zu stillen.

Jens baute für die Langohren in wochenlanger Heimarbeit an seiner Werkbank im Keller (mein Mann ist gern im Keller, wenn er zu Hause ist; zu viel Unruhe in den oberen Räumen) ein herrschaftliches Landhaus mit vier! Zimmern, zwei separaten Eingängen und vielen runden Türmchen auf dem Dach.

Unser vierbeiniger Landadel verfügt natürlich auch über ein angemessenes Stück Land, in dem bei noch sommerlichen Temperaturen die Hasen lustig herumhoppelten und die Zwillinge ausgelassen herumsprangen. Dann kam ein nebliger, nasser Herbst. Die Besuche bei den schwarzen Vierbeinern wurden weniger. Jetzt ist es Winter. Die Hasen verlassen ihr (inzwischen) mit Zeitungspapier verkleidetes und mit Stroh ausgepolstertes Domizil nicht mehr. Parallel verlassen auch die Zwillinge ihre Zimmer nicht mehr, um sich um die Hasen zu kümmern. Ich hoffe, es handelt sich nur um eine saisonale Unlust; es ist im Moment wirklich verdammt kalt da draußen.

Sunny, unser kanadisches Au-pair, hat kein Problem mit der Kälte, weshalb die winterliche Hasenfürsorge nun in ihren Aufgabenbereich übergegangen ist. Sunny ist, wie ihr Name bereits aussagt, ein Sonnenschein. Fröhlich, zuversichtlich und hilfsbereit. Leider viel zu jung, viel zu hübsch und viel zu schlank. Wie all die Sunnys vor ihr.

Seit ich als Autorin einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht habe, gehört auch meine Mutter zu meiner Familie. Ex-Fotomodell. Es gibt kein Gespräch, in dem sie vergessen würde, das zu erwähnen. Optisch könnten wir gleich alt sein; sie ohne Falten und Mimik; ich mit Falten und Mimik. Meine Mutter wurde mit siebzehn Jahren schwanger, wusste nicht, wer der Vater ihres Kindes sein könnte, und parkte mich gleich nach meiner Geburt bei ihren Eltern. Das endete dann für mich als Dauerparkplatz. Dafür danke ich ihr. Ansonsten gibt es nichts zu danken. Jedenfalls nicht von meiner Seite.

Tatsächlich ist es meiner Mutter gelungen, sich bis auf drei Besuche im Jahr (jeweils mit neuen Vätern für mich) und die obligatorische Reise auf die Kanaren in den Pfingstferien (ebenfalls mit neuen Vätern, denen sie deutlich mehr Interesse entgegenbrachte als mir) komplett aus meinem Leben herauszuhalten.

Mutters Fokus lag und liegt ausschließlich auf ihrer Optik und auf Bekanntschaften mit Männern, die sie manipulieren kann. Ihre Enkelkinder behandelt sie, als hätten diese eine ansteckende Krankheit. Tim und Tom dürfen sie nicht mit »Oma« anreden, was meines Erachtens extrem albern von ihr ist. Meine Mutter heißt Klothilde! Dem ist nichts hinzuzufügen. Wenn Klothilde (sie nennt sich Cloé) ihre Enkelkinder, die sie natürlich heimlich »Oma Klo« nennen, zur Begrüßung flüchtig umarmt, hat man das Gefühl, dass sie lieber einen Schutzanzug tragen würde. Meinen Mann umarmt sie deutlich liebevoller. Ohne Schutzanzug.

Ich mag Zahlen. Jedenfalls, wenn man mich jünger als fünfundfünfzig schätzt und meinen Mann, der sieben Jahre jünger als ich ist, älter schätzt (ist noch nicht passiert). Ich mag Zahlen auf meiner Waage, wenn sie sich in der Abwärtstendenz befinden. Passiert auch relativ selten.

Könnte sein, dass es sich bei meinem Verhältnis zu Zahlen um ein eher selektives handelt. Ich verwechsle auch gerne Plus und Minus. Das ist auf Kontoauszügen erst einmal beruhigend, langfristig dann aber doch problematisch.

Obwohl ich Regeln und klare Strukturen in meinem Alltag präferiere (Tessa sagt, dass sich mein Eigenbild sehr vom Bild, das andere über mich haben, unterscheidet), stellt sich mein Terminkalender oftmals als verwirrendes Strickmuster dar (denke, ein Strickmuster könnte so aussehen, hatte noch mit keinem zu tun). Ich vergesse Geburtstage. Auch meinen eigenen, was aber auch nicht hilft, um mich jünger zu machen. Ich würde jeden Hochzeitstag verpassen, wenn mein Mann nicht bereits früh morgens mit einem riesigen Strauß roter Rosen vor mir stehen und mir sagen würde, dass er mich mit jedem Jahr, das er mit mir verbringen durfte, mehr liebt.

Na ja, in der Summe haben wir nicht so viele Jahre miteinander verbracht, denn Jens ist beruflich viel unterwegs. Sehr viel. Meine Mutter nennt ihn deshalb mit einem süffisanten Grinsen – soweit ein Grinsen in ihrem Botoxgesicht möglich ist – »Mrs Columbo« (womit sie sagen will, wozu ich einen Mann habe, wenn der nie anwesend ist) und Tessa spricht über »das Phantom« (womit sie sagen will, dass es besser ist, einen unsichtbaren Mann zu haben als gar keinen).

Manchmal übersehe ich Termine mit meinem Agenten Thomas (macht ihn sehr wütend) und Termine meiner Lesungen, was wiederum Thomas wütend macht, da er den Ärger mit den Inhabern der gebuchten Lokalitäten bekommt. Ich kann das nicht ändern; soll er mich doch am Tag davor anrufen und zwei Stunden vor Beginn des Termins nochmal, dann würde das vielleicht auch klappen. Er ist doch der Agent!

Bei der Zählung meiner Handtaschen unterläuft mir nie ein Fehler. Deren Anzahl kenne ich sehr genau. Egal, wie oft sich diese verändert (stetig ansteigend). Meine Handtaschen habe ich farblich, nach Stil und Materialien auf unterschiedlichen Etagen in einem Glasregal im Schlafzimmer angeordnet (um sie gleich nach dem Aufwachen sehen zu können, sagt mein Mann; das stimmt nicht!). Von meiner Freundin Tessa wurde ich einmal gefragt, ob mir meine Handtaschen oder meine Familie wichtiger wären? Was für eine Frage. Ich liebe Handtaschen!

Wenn ich jetzt so explizit über mich nachdenke, mag es tatsächlich sein, dass ich nicht ganz so strukturiert bin, wie ich es gerne wäre; dass es mir sogar gelingt, Abläufe, die bereits eine Struktur haben, umzustrukturieren und diese in einem fast heillosen Chaos enden zu lassen. Dieses Chaos findet sich auch in meinen Romanen. Es erschreckt mich sehr, wenn die Handlungsstränge meiner Geschichte selbst für mich undurchsichtig werden. Und es kostet mich viel Zeit, diese Knoten wieder zu lösen, wobei es passieren kann, dass dabei die Geschichte eine ganz andere wird.

Apropos Schreiben und Organisation: Irgendwie hat sich soeben die Realisierung meines Projekts auf morgen oder besser noch auf nächsten Montag verschoben. Wenn Neubeginn, dann schon richtig!

Übrigens, Tessas Frage bezüglich meiner Handtaschen und meiner Familie finde ich ziemlich bescheuert. Da sprach wohl etwas Missgunst aus ihr. Sie ist ungewollt mann- und kinderlos, was sich jedes Jahr zur Weihnachtszeit zu einem Drama entwickelt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Montag, 6. Februar

Dessous

Ich sitze an meinem Schreibtisch. Beim Überarbeiten meines Skripts. Es langweilt mich grenzenlos. Meine Augen sind mehr über dem Bildschirm als auf dem Bildschirm. Über dem Bildschirm sehe ich Erfreulicheres: Ein Schwanenpaar gleitet auf dem grauen, träge dahinfließenden Fluss; über dem Fluss ziehen Möwen ihre gefräßigen Kreise. Am gegenüberliegenden Ufer hohe schneebestäubte, blätterlose Bäume gefangen im Winterschlaf.

Aus meiner Sicht trennen mich vom Wasser nur ein kleiner Balkon, eine Glastür, mein Schreibtisch und mein Laptop, was mir das Gefühl gibt, Teil des Flusses zu sein: grau und träge. Und irgendwie auch Teil der Bäume: gefangen im Winterschlaf.

Happy liegt geräuschvoll vor sich hinträumend auf der altrosa Samtcouch. Ich kann weder Kopf noch Schwanz erkennen; ein weißes Fellbüschel auf einer altrosa Samtcouch.

Tim und Tom sind in der Schule und werden anschließend von Sunny abgeholt, um zum Klavierunterricht in den Nachbarort gefahren zu werden. Sunny, die eigentlich Suzanne heißt, paukt in einer Sprachenschule im Münchner Westen deutsche Vokabeln, deutsche Grammatik und die deutsche Aussprache. Dieses Konvolut der deutschen Sprache bietet für Sunny viel Raum an Kreativität, was aber keine große Rolle spielt, denn egal was sie sagt, so wie sie es sagt, klingt alles ausschließlich französisch.

Mein Mann hat sich heute sehr früh in Sachen Dessous auf den Weg nach Rom gemacht. Ich sehe gerade seine WhatsApp: »Bin gut angekommen. Die Models wieder sehr hübsch.« Dazu ein grinsender Smiley mit einem blauen Tropfen auf der Stirn … Das ist sein Humor. Das findet er lustig. Ich finde das nicht lustig! Ich bin sicherlich dreißig Jahre älter und sicherlich dreißig Kilogramm schwerer als diese Hungerhaken! Und ich trage nicht Größe XXS; weder in Unterwäsche noch in sonst etwas! Bemerke gerade, dass ich dermaßen in Rage gerate, dass meine Wortwahl wie die Sunnys klingt – nur ohne ihren liebreizenden französischen Akzent.

Bin mir wegen der Bedeutung des Smileys auch nicht sicher: Steht er für nochmal gutgegangen? Oder will mein Mann einfach nur witzig sein? Aber im Endeffekt ist das auch völlig egal. Ich hadere, seit ich Jens kenne, mit seinem Beruf. Das ist doch kein Job, sich ständig mit schönen Frauen zu umgeben, seine Dessous an die Frau zu bringen. Welcher Mann arbeitet denn für eine Wäschefirma? Und welcher Mann reist mit diesen Spitzenteilchen in allen möglichen Farben und Formen, die so winzig klein sind, dass sie in eine Kinderfaust passen, ohne dabei herauszuschauen, durch die Welt? Und trifft dort auf die hübschesten Models, ebenfalls jeglicher Couleur, aber immer der gleichen Form: unsäglich dünn und unsäglich lange Beine in ihren unsäglich hohen High Heels. Halbnackig. In klitzekleinster Unterwäsche.

Ich habe keine langen Beine; wie denn auch mit einer Körpergröße von knappen 160 Zentimetern; das wäre nur möglich, wenn meine Beine direkt aus dem Hals wachsen würden. Absätze von zehn Zentimetern helfen natürlich etwas bei der Streckung meiner Beine, aber seien wir doch einmal ehrlich; das bringt mich nicht annähernd auf die von Natur aus gegebene Höhe der Models.

Mein Mann trifft nicht nur auf hübsche Models. Seine Reisen führen ihn auch in viele exklusive Wäscheboutiquen. Zu vielen – vielleicht nicht ganz so dünnen, nicht ganz so langbeinigen, aber dennoch außerordentlich hübschen – Wäschegeschäftsbesitzerinnen, mit denen er aus kleinen Tässchen Espresso schlürft, aus zierlichen Schälchen am grünen Tee nippt oder mit prickelndem Champagner seine Kehle benetzt. Das ist davon abhängig, in welchem Teil der Welt er sich gerade befindet und in welcher Sprache er gerade Komplimente über die Schönen dieser Welt ergießt. So stelle ich mir den Job meines Mannes jedenfalls vor.

Ich werde seine Nachricht erst einmal ignorieren und dann irgendwann irgendetwas Flapsiges mit vielen Grinse-Smileys zurückschicken. Wenn ich auf seine Nachricht so reagiere, wie er es meines Erachtens verdient, schiebt er (wie in den letzten zwanzig Jahren, seit wir uns kennen) alles auf meine Hormone. Das ist Blödsinn. Demnach hätte mein Denken über seinen Beruf in früheren Jahren unter ständigem PMS gelitten, was dann kurzfristig von einer hormongesteuerten Schwangerschaft unterbrochen, ohne nennenswerte Zeitverzögerung, direkt in die Wechseljahre übergegangen wäre.

Mein Mann bezirzt nicht nur die Frauen dieser Welt (angeblich ausschließlich beruflich) mit seinem Lächeln wie frisch aus der Zahnpastatube, sondern da sind eben auch noch die sieben Jahre Altersunterschied zu seinen Gunsten. Ich erachte die Kombination aus Reisen, attraktiven Frauen und Altersunterschied als bedenklich. Noch bedenkenswerter wird diese Konstellation, wenn ich wie gerade eben unzufrieden untätig an meinem Schreibtisch vor dem Fluss sitze, das unveränderte Skript mich vorwurfsvoll fixiert, während mein Mann in Rom auf einer von weißen Säulen umrandeten Terrasse in der Februarsonne sitzt, mit einem weltmännischen Grinsen Cappuccino schlürft und sich anschließend den Schaum von den Lippen leckt. Natürlich umringt von den hübschesten Frauen, die Mütter dieser Erde jemals geboren haben. So stelle ich mir sein Leben jedenfalls vor.

Jetzt bin ich schon irgendwie entnervt und habe noch gar nicht die Sprachnachricht meiner Mutter von heute Morgen abgehört …

Fortsetzung Montag, 6. Februar

Mutter

Sie hat es wieder geschafft. Meine Mutter. Sprachnachricht über WhatsApp in weinerlichem Tonfall: »Schätzchen (sie spricht alle Menschen mit Schätzchen an), es ist etwas Schreckliches passiert. Ruf mich bitte sofort an.«

Ich sehe meine Mutter blutüberströmt nach einem Unfall aus ihrem Wagen steigen und völlig verwirrt auf der Fahrbahn stehen … Ich sehe sie weinend über ihren derzeitigen Lebenspartner gebeugt, der nicht mehr atmet … Ich sehe sie die Arztpraxis mit einer Krebsdiagnose verlassen … Ich bin eine schlechte Tochter. Ich bin ein schlechter Mensch. Ich hätte sie vor Stunden zurückrufen sollen.

Als ich dann endlich mein Telefon zur Hand nehme, zittern meine Finger dermaßen, dass ich Jens’ Handynummer erwische und meinen Mann anrufe. Dieser ist gleich hektisch alarmiert, dass den Kindern oder mir etwas zugestoßen sein könnte, da wir üblicherweise nur abends telefonieren. Nach Beruhigung meines Mannes und Sammlung meiner eigenen Kräfte erreiche ich tatsächlich meine Mutter. Bereits ihr »Hallo«, das sie lasziv in den Hörer haucht, klingt eher nach Sexhotline als dramenbehaftet. Dennoch frage ich sie angsterfüllt, was passiert sei.

»Die Welt ist so ungerecht, so gemein«, sagt sie.

Ich bemerke, dass aus dieser Anklage bereits das eine oder andere Glas Wein spricht, sage nichts dazu und lasse sie weitersprechen. »Es ist so furchtbar …«

Ich höre ein leises Quietschen beim Öffnen der Kühlschranktür, dem ein dumpfes Gluckern beim Befüllen ihres Glases folgt.

»… so furchtbar schrecklich«, sagt sie nun mit tränenerstickter Stimme. Dann mehrere Schlucke aus dem Weinglas und Schweigen. Mein Gott, sie hat doch Krebs!

»Mutter, was ist so schrecklich?«, frage ich nun schon fast panisch.

Meine Mutter zieht ganz undamenhaft die Nase hoch und mit brüchiger Stimme sagt sie: »Dass mir das Leben so etwas antun konnte. Das habe ich nicht verdient.«

Ich höre ein erneutes Quietschen sowie ein erneutes Gluckern. Wie kann das Glas denn schon wieder leer sein?

»Mutter, was ist los mit dir?«

Und dann trinkt meine Mutter noch einen großen Schluck Weißwein (ich kenne keine andere Flüssigkeit, die sie zu sich nehmen würde; bei einer Schnittverletzung blutet sie sicherlich Weißwein) und sagt diesmal mit fester, lauter Stimme: »Die wollen, dass ich Werbung für Blasenschwäche mache. Die sagen, dass es für mich sonst keine Angebote mehr gäbe. Die sagen, dass ich ein Alter habe …«

Sie bricht ab, kurzes Schweigen, dann schreit sie in das auf Lautsprecher gestellte Telefon, das nun erschüttert auf unserem neuen Designer-Couchtisch vibriert: »Denken diese Arschlöcher denn, ich bin zu nichts anderem mehr in der Lage, als mir in die Hose zu pinkeln?«

Ups. Erst einmal tief durchatmen. Sich nicht über Mutter aufregen. Dann etwas finden, was das Gute im Schlechten sein könnte und Mutter mit diesen positiven Argumenten (unter Beachtung von Tessas psychologischen Studien) überzeugen …

Finde nichts, womit ich Mutter überzeugen kann; befürchte, sie wird noch zorniger, wenn ich etwas Gutes finde … Bin froh über jegliche Schadensbegrenzung: Kinder sind beim Hallenfußballtraining (hoffe jedenfalls, sie sind dort und stellen keinen anderen Unfug an); das heißt, sie können das peinliche Geschrei ihrer Großmutter, das wie giftige Pfeile durch unser (meist) friedliches Wohnzimmer schießt, nicht hören …

Im Übrigen muss ich zu Mutters Drama im Moment auch keine Stellung beziehen, denn sie ist nun dermaßen in Rage, dass sie ihrem Zorn auf die Castingleute, auf das Alter, auf die Menschheit insgesamt und die ganze Welt obendrein unter Anwendung übelster Schimpfwörter freien Lauf lässt. Es scheint, als hätten meine Großeltern nur bei mir auf eine gute Ausdrucksweise geachtet …

Ich stelle die Lautstärke des Telefons leiser. Nach zwanzig Minuten, in denen ich die Wocheneinkaufsliste verfasst und den Terminkalender für morgen gecheckt habe, ist das Thema Ungerechtigkeit und Blasenschwäche für mich erledigt und ich schalte mein Handy einfach aus … Zur Sicherheit ziehe ich auch den Stecker vom Festnetz. Ich bin eine schlechte Tochter!

Freitag, 17. Februar

Big Brother

Ein wirklich schöner Tagesbeginn im Hause Marx und Mauritz. Meine Mutter hat sich bisher nicht wieder gemeldet. Scheint beleidigt zu sein. Oder peinlich berührt wegen der Kreativität ihrer Wortwahl. Denke aber, dass es kaum etwas gibt, was meiner Mutter peinlich ist.

Mein Mann befindet sich nach einigen Tagen, in denen er meine häusliche Organisation völlig auf den Kopf gestellt hat (Pappa ante portas), wieder auf Reisen. In Tokio. Für neun Tage. Das müsste reichen, um erneut Ordnung in das Chaos zu bringen.

Die Kinder und das Au-pair sind in ihren jeweiligen Instituten gut verräumt. Ich befasse mich nicht lange mit meinem zu korrigierenden Skript, werfe mich in Daunenmantel und Boots und spaziere im frühen winterlichen Sonnenschein am Flussufer entlang. In der Bäckerei am Hauptplatz kaufe ich fünf (warum eigentlich fünf?) Faschingskrapfen. Lecker! Viel zu lecker, denn ich belasse es dann nicht bei dem einen für mich angedachten Krapfen, sondern esse noch einen zweiten und schließlich verlässt mich jeglicher Anstand und ich vergreife mich noch an einem dritten Krapfen. Und das alles auf dem Nachhauseweg!

Wieder zu Hause wird mir bewusst, dass zwei Krapfen für Tim, Tom und Sunny ein rechnerisches Ungleichgewicht ergeben, was mich dazu veranlasst, das klebrige Gebäck mit Zuckerguss und Marmeladenfüllung in sechs gleiche Teile zu zerschneiden. Leider sieht der dabei entstandene maisgelbe Matschbrei nicht mehr sehr appetitlich aus. Stelle alles einfach einmal in den Kühlschrank und sage nichts dazu.

Inzwischen aber hat sich das fehlende Gebäckstück zu meinem kleinsten Problem entwickelt. Ich überlege gerade ernsthaft, während Thomas auf meine Antwort wartet, ob ich mir ein Glas Schnaps einschenken soll, wobei ich denke, dass Schnaps auch nicht helfen wird. Vielleicht einige Tropfen Klosterfrau Melissengeist. Denn mir ist gerade grauenhaft schlecht, was natürlich auch an den drei Krapfen liegen kann.

»Bist du noch dran?«, fragt Thomas, als er nichts von mir hört.

Natürlich bin ich noch dran, sage aber nichts, weil ich erstens nicht weiß, was ich sagen soll, und mir zweitens ernsthafte Gedanken um Thomas’ Geisteszustand mache; und in diesem Zusammenhang auch um mein weiteres Leben. Wie kann er auf eine solche Idee kommen? Wie kann er so ignorant, so gedankenlos, fast schon boshaft sein? Er kennt mein nicht offenes Verhältnis zur Öffentlichkeit zur Genüge. Er kennt mich zur Genüge. Schließlich haben wir fast ein halbes Leben miteinander verbracht (das ist in unserem Alter viel Zeit). Meist beruflich, aber auch als Freunde. Gute Freunde. Von seiner Seite viele Jahre mit dem Wunsch nach einer Beziehung mit mir. Na ja, bis zu dem Tag, als ich Jens kennenlernte und wusste, dass er der Mann ist, mit dem ich mein Leben verbringen will. Schonend und geschickt verpackt wollte ich Thomas beibringen, dass sich von nun an mein Leben und somit unsere enge Freundschaft verändern würde. Und dann ging die Fantasie mit mir durch.

Ich erzählte Thomas von einer Kartenlegerin, die mir prophezeit hätte, ich würde einen geschiedenen Mann ohne Kinder kennenlernen (was auf Jens zutraf) und mit diesem Mann den Rest meines Lebens verbringen. Leider war mir dabei entgangen, dass auch Thomas geschieden und kinderlos war. Und so führte die behutsame Interpretation der imaginären Tarotkarten einige Tage später zu einer herben Enttäuschung für Thomas; als er angetan mit einem Strauß roter Rosen vor meiner Wohnungstür stand – ich im Negligé öffnete und Jens aus der Küche rief, wie ich mein Frühstücksei haben wolle.

Aber das ist lange her.

»Isabelle?«

»Nein, niemals!«, sage ich bestimmt, während die kommenden Wochen und Monate meines Lebens wie düstere Episoden aus einem verstörenden Horrorfilm an mir vorüberziehen.

»Isabelle, ich weiß, dass das schwierig für dich ist. Ich würde dich nicht dazu drängen, wenn mich nicht der Verlag drängen würde.«

Aha, nun sind wir wieder so weit: Ich soll etwas tun, was ich nicht will, und Thomas muss das trotzige Kind von seinem Sitzstreik zwischen Einkaufswagen und Schokolade erlösen. Der Verlag ist böse. Sehr böse. Thomas ist gut. Er will mich retten und verspricht mir so viel Schokolade, wie in meinen Magen passt …

»Ich sehe einfach keine andere Möglichkeit. Du brauchst Präsenz. In allen Medien. Auch im Fernsehen. Die Zeit ist schnelllebig. Wer von den neuen Leserinnen kennt noch eine Isabelle Marx? Du hast einfach zu lange nichts geschrieben. Und deshalb gehen auch die Zahlen deiner Buchverkäufe enorm zurück.«

»Ah, so ist das. Keiner kennt mich, ich verkaufe keine Bücher und nun habe ich Schrott geschrieben«, lamentiere ich. »Aber es ist nicht meine Schuld. Der Verlag wollte einen Liebesroman von mir, der auch vor dreißig Jahren spielen hätte können. So haben sie es gesagt, so hast du es gesagt und so habe ich meinen Roman geschrieben. Eine smartphonefreie Zone. Was wollt ihr alle nur von mir? Sollen nun meine von der modernen Welt so glücklich verschonten Protagonisten über Facebook, Instagram und WhatsApp kommunizieren?«

»Was redest du da, Isabelle? Natürlich nicht. Das ist doch gar nicht der Punkt.«

Ich weiß sehr wohl, dass das nicht der Punkt ist, aber die Fakten, die Thomas soeben geschaffen hat, erschüttern mich dermaßen, dass ich lieber einen Nebenkriegsschauplatz errichte, um die Realität nicht kommentieren zu müssen. Einfach die Augen zusammenkneifen, die Fäuste ballen und dann aufwachen aus diesem Albtraum … Ausschließlich das fällt mir dazu ein …

Thomas wartet kurz, ob ich etwas zu sagen habe, aber ich habe nichts mehr zu sagen. Vielleicht werde ich nie wieder sprechen. Einfach stumm bleiben. Ein Leben lang. Einfach so.

»Es geht um deine Wiederauferstehung in den Medien. Das hat doch mit deinem neuen Roman nichts zu tun. Es geht um Marketing. Wir vermarkten dich und dein Leben! Dich und die Familie Marx und Mauritz im Reality-TV! Das wollen die Menschen sehen! Die Zuschauer werden dich lieben! Die Nachfrage nach deinem neuen Buch wird so groß sein, dass die Druckereien nicht mehr hinterherkommen!«

Thomas unterbricht seinen Wortschwall. Wahrscheinlich erschreckt er sich gerade selbst darüber, was er da von sich gibt. Ich sage nichts.

Werde nicht nur in diesem Leben nicht mehr sprechen; auch im nächsten nicht. Werde als Ameise wiedergeboren. Ameisen sprechen nicht. Fleißig und tonlos werde ich mein Tagwerk vollbringen … auch auf die schabenden Geräusche der Beine, die Ameisen angeblich zur Verständigung erzeugen, werde ich verzichten … völlig geräuschlos werde ich Tannennadel um Tannennadel auf den wachsenden Ameisenhaufen schaufeln …

»Es ist sinnlos, das jetzt am Telefon zu diskutieren. Ich bin gleich bei dir. Dann trinken wir eine Tasse Cappuccino und reden in Ruhe. So hätten wir das von Anfang an machen sollen.«