Familienglück - Leo Tolstoi - E-Book

Familienglück E-Book

Leo Tolstoi

0,0

Beschreibung

Die junge Mascha heiratet nach dem Tode ihrer Mutter ihren älteren Vormund Sergeij. Gemeinsam beziehen sie ein Landgut. Doch schon bald beginnt sich Mascha zu langweilen. Sie will zurück nach Petersburg, wo sie sich dem Rausch der Bälle und des Adels hingeben kann. Ihre Vergnügungssucht belastet die Ehe zunehmend. Ein fesselnder Roman, der entgegen Tolstois manchmal moralisierenden Ausführungen, beim Leser Mitleiteid mit der lebenshungrigen Heldin weckt. Null Papier Verlag

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 188

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Leo Tolstoi

Familienglück

Ein Roman

Leo Tolstoi

Familienglück

Ein Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: August Scholz 1. Auflage, ISBN 978-3-954188-35-2

null-papier.de/399

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ers­ter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

Zwei­ter Teil

1.

2.

3.

4.

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

die Neu­er­schei­nun­gen aus dem Pro­gramm

Neu­ig­kei­ten über un­se­re Au­to­ren

Vi­deos, Lese- und Hör­pro­ben

at­trak­ti­ve Ge­winn­spie­le, Ak­tio­nen und vie­les mehr

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Erster Teil

1.

Wir hat­ten Trau­er nach un­se­rer Mut­ter, die im Herbst ge­stor­ben war, und leb­ten zu Drei­en – Kat­ja, Son­ja und ich – den gan­zen Win­ter still für uns auf dem Lan­de.

Kat­ja war eine alte Freun­din un­se­res Hau­ses, un­se­re Gou­ver­nan­te, die uns alle er­zo­gen hat­te. So­weit ich zu­rück­den­ken konn­te, hat­te ich sie ge­kannt und ge­liebt. Son­ja war mei­ne jün­ge­re Schwes­ter. Wir ver­leb­ten einen düs­te­ren, trau­ri­gen Win­ter in un­se­rem al­ten Hau­se in Po­krow­sko­je. Das Wet­ter war kalt und win­dig, der Schnee war zu­wei­len bis über un­ser Fens­ter hin­auf an­ge­weht; die Fens­ter wa­ren fast im­mer zu­ge­fro­ren und trü­be, und den gan­zen Win­ter hin­durch wa­ren wir kaum ein­mal aus­ge­gan­gen oder aus­ge­fah­ren. Nur sel­ten ein­mal be­such­te uns je­mand. Und wenn schon je­mand kam, trug er je­den­falls nicht dazu bei, daß Lust und Fröh­lich­keit in un­se­rem Hau­se herrsch­ten. Alle hat­ten be­trüb­te Ge­sich­ter, alle spra­chen lei­se, als fürch­te­ten sie je­man­den zu we­cken, ver­mie­den das La­chen, seufz­ten und wein­ten häu­fig, wenn sie mich oder die klei­ne Son­ja im schwar­zen Klei­de sa­hen. Es war, als füh­le man im Hau­se noch die An­we­sen­heit des To­des; die Trau­er und der Schre­cken des To­des schie­nen un­sicht­bar in der Luft zu schwe­ben. Ma­mas Zim­mer war ver­schlos­sen, und wenn ich an ih­rer Tür vor­über­kam, um mich im Zim­mer ne­ben­an schla­fen zu le­gen, ward mir ganz un­heim­lich zu­mu­te. Zu­gleich aber zog mich et­was dort­hin und dräng­te mich, in den öden, kal­ten Raum einen Blick zu wer­fen.

Ich zähl­te da­mals sieb­zehn Jah­re; und ge­ra­de in dem Jah­re, als Mama starb, hat­te sie nach der Stadt zie­hen wol­len, um mich in die Ge­sell­schaft ein­zu­füh­ren. Der Ver­lust der Mut­ter war für mich ein großer Schmerz ge­we­sen, doch muß ich be­ken­nen, daß ne­ben die­sem Schmerz mich auch das Ge­fühl be­drück­te, daß ich jung und, wie man mir sag­te, auch schön war und nun schon den zwei­ten Win­ter nutz­los in länd­li­cher Ein­sam­keit zu­brin­gen muß­te. Ge­gen Aus­gang des Win­ters hat­te die­ses Ge­fühl der Trau­er und Ver­ein­sa­mung oder, kurz ge­sagt, der Lan­gen­wei­le sich so in mir ge­stei­gert, daß ich gar nicht mehr aus dem Zim­mer ging, nicht mehr das Kla­vier öff­ne­te und kein Buch mehr in die Hand nahm. Wenn Kat­ja mir zu­re­de­te, mich doch mit die­sem oder je­nem zu be­schäf­ti­gen, ant­wor­te­te ich: »Ich habe kei­ne Lust, ich kann nicht« – in mei­nem Her­zen aber sag­te ich mir: »Wozu? Wel­chen Zweck hat es, über­haupt et­was zu tun, wäh­rend doch mei­ne bes­te Le­bens­zeit so nutz­los da­hin­geht? Wozu also über­haupt et­was tun?« Und auf die­ses »wozu?«, fand ich kei­ne an­de­re Ant­wort als Trä­nen.

Man hat­te mir ge­sagt, ich sei wäh­rend die­ser Zeit ma­ger und häß­lich ge­wor­den, doch auch das ließ mich völ­lig gleich­gül­tig. »Wozu? Für wen?«, sag­te ich mir. Es war mir, als müs­se mein gan­zes Le­ben in die­ser ein­sa­men Ab­ge­schie­den­heit, die­ser hilflo­sen Schwer­mut ver­ge­hen, der mich zu ent­win­den ich nicht die Kraft, ja nicht ein­mal den Wunsch be­saß. Kat­ja hat­te ge­gen Ende des Win­ters wirk­lich schon Angst um mich und war ent­schlos­sen, mich um je­den Preis ins Aus­land zu brin­gen, um mich mei­ner trost­lo­sen Stim­mung zu ent­rei­ßen. Aber dazu war Geld nö­tig, und wir wuß­ten gar nicht, was uns ei­gent­lich nach dem Tode der Mut­ter zu­ge­fal­len war. Tag und Nacht er­war­te­ten wir den Vor­mund, der doch ein­mal kom­men muß­te, um un­se­re An­ge­le­gen­hei­ten zu ord­nen.

Im März kam der Vor­mund end­lich an.

»Nun, Gott sei Dank!«, sag­te ei­nes Ta­ges Kat­ja zu mir, als ich ohne Be­schäf­ti­gung, ohne Ge­dan­ken, ohne Wunsch wie ein Schat­ten von ei­nem Win­kel zum an­dern irr­te. »Ser­geij Micha­j­lytsch ist auf sei­nem Gute an­ge­kom­men, er hat her­ge­schickt, um nach un­se­rem Er­ge­hen zu fra­gen, und woll­te zum Mit­ta­ges­sen hier blei­ben. Du mußt dich auf­raf­fen, mei­ne klei­ne Ma­scha«, füg­te sie hin­zu – »was soll er denn sonst von dir den­ken? Er liebt euch alle so sehr.«

Ser­geij Micha­jlo­wi­tsch war ein Nach­bar von uns, und er war ein Freund mei­nes ver­stor­be­nen Va­ters ge­we­sen, ob­schon er weit jün­ger ge­we­sen war als die­ser. Ab­ge­se­hen da­von, daß sei­ne An­kunft un­se­re Plä­ne än­der­te und uns die Mög­lich­keit ge­währ­te, vom Lan­de weg­zu­zie­hen, hat­te ich von Kind­heit an Lie­be und Ach­tung für ihn emp­fun­den, und als Kat­ja mich jetzt er­mahn­te, ich sol­le mich auf­raf­fen, war dies si­cher in der Er­war­tung ge­sche­hen, daß ich un­ter al­len un­se­ren Be­kann­ten mich am we­nigs­ten vor Ser­geij Micha­jlo­wi­tsch in un­güns­ti­gem Lich­te wür­de zei­gen wol­len. Ich war ihm nicht nur, wie alle im Hau­se, von Kat­ja und sei­nem Pa­ten­kind Son­ja bis zum letz­ten Kut­scher, aus blo­ßer Ge­wohn­heit zu­ge­tan – es lag da viel­mehr noch ein be­son­de­rer Grund vor, wes­halb ich sei­nem Er­schei­nen mit Span­nung ent­ge­gensah. Eine Äu­ße­rung, die Mama ein­mal in mei­ner Ge­gen­wart ge­tan, war hier mit im Spie­le: sie wün­sche sich solch einen Gat­ten für mich, hat­te sie ge­sagt. Ihre Wor­te wa­ren mir da­mals son­der­bar vor­ge­kom­men, ja so­gar pein­lich ge­we­sen: mein Held sah ganz an­ders aus. Mein Held war ein schlan­ker, ha­ge­rer, blei­cher, me­lan­cho­li­scher Jüng­ling. Ser­geij Micha­jlo­wi­tsch da­ge­gen war nicht mehr jung, er war groß, un­ter­setzt und, wie mir schi­en, im­mer ver­gnügt; gleich­wohl hat­ten jene Wor­te Ma­mas auf mei­ne Phan­ta­sie stark ein­ge­wirkt, und schon da­mals, vor sechs Jah­ren, als ich eben elf Jah­re zähl­te, als er mich noch duz­te, mit mir spiel­te und mich ein »klei­nes Veil­chen« nann­te, hat­te ich mir bis­wei­len nicht ohne Ge­fühl der Angst die Fra­ge vor­ge­legt, was ich wohl tun wür­de, wenn er plötz­lich um mei­ne Hand an­hiel­te.

Kurz vor dem Es­sen, zu des­sen Menu Kat­ja noch ein Spi­nat­ge­richt und eine süße Spei­se hin­zu­ge­fügt hat­te, kam Ser­geij Micha­jlo­wi­tsch an. Ich sah durchs Fens­ter, wie er in ei­nem klei­nen Schlit­ten sich un­se­rem Hau­se nä­her­te. Als er je­doch um die Ecke bog, eil­te ich in den Sa­lon: ich woll­te mir den An­schein ge­ben, als hät­te ich ihn gar nicht er­war­tet. So­bald ich aber im Vor­zim­mer das Geräusch sei­ner Schrit­te, sei­ne lau­te Stim­me und Kat­jas Schrit­te ver­nahm, hielt ich es nicht län­ger aus und ging ihm selbst ent­ge­gen. Er hielt Kat­jas Hand in der sei­nen, sprach laut und lä­chel­te. Als er mich er­blick­te, schwieg er und be­trach­te­te mich eine Wei­le, ohne mich zu grü­ßen. Ich wur­de ver­le­gen und fühl­te, daß ich er­rö­te­te.

»Ach, sind Sie es wirk­lich?«, sag­te er in sei­ner be­stimm­ten, schlich­ten Art, wäh­rend er mit ei­ner Be­we­gung der Hän­de, die sei­ne Über­ra­schung aus­drück­te, auf mich zu­trat. »Ist eine sol­che Wand­lung denn mög­lich? Wie groß Sie ge­wor­den sind! Das ist nun das Veil­chen von einst­mals – Sie sind ja zu ei­ner vol­len Rose er­blüht!«

Mit sei­ner großen Hand er­griff er die mei­ne und schüt­tel­te sie so bie­der und kräf­tig, daß es mir fast weh tat. Ich dach­te, er wür­de sie mir küs­sen, und hat­te mich be­reits zu ihm vor­ge­neigt, doch er drück­te sie mir nur noch ein­mal und sah mir mit sei­nem si­che­ren, kla­ren Blick ge­ra­de in die Au­gen.

Ich hat­te ihn seit sechs Jah­ren nicht ge­se­hen. Er hat­te sich sehr ver­än­dert: er war äl­ter ge­wor­den, sein Teint war dunk­ler, und er trug einen Ba­cken­bart, der ihn gar nicht klei­de­te; aber sei­ne schlich­ten Ma­nie­ren, das of­fe­ne, ehr­li­che Ge­sicht mit den kräf­ti­gen Zü­gen, die klu­gen, glän­zen­den Au­gen und das lie­bens­wür­di­ge, fast kind­li­che Lä­cheln wa­ren un­ver­än­dert ge­blie­ben.

Nach fünf Mi­nu­ten be­reits hat­te er auf­ge­hört, nur schlecht­weg ein Gast zu sein – er war ein­fach für uns alle, selbst für die Die­ner­schaft, die durch ihre Be­reit­wil­lig­keit ihre Freu­de über sei­ne An­kunft an den Tag leg­ten, ein lie­ber Haus­freund ge­wor­den.

Er be­nahm sich durch­aus nicht so wie die üb­ri­gen Nach­barn, die nach dem Tode der Mut­ter bei uns vor­ge­spro­chen und es für ihre Pf­licht ge­hal­ten hat­ten, schwei­gend da­zu­sit­zen und mit uns zu wei­nen; er war im Ge­gen­teil ge­sprä­chig und ver­gnügt und er­wähn­te die Mut­ter nicht mit ei­nem Wor­te, so daß ich an­fangs die­se Gleich­gül­tig­keit von­sei­ten ei­nes uns so na­he­ste­hen­den Man­nes ein we­nig son­der­bar und so­gar un­pas­send fand. Dann aber be­griff ich, daß dies nicht Gleich­gül­tig­keit war, son­dern Auf­rich­tig­keit, für die ich ihm dank­bar war. Am Abend ser­vier­te uns Kat­ja den Tee an der al­ten Stel­le im Sa­lon, ganz so, wie es zu Ma­mas Zei­ten ge­we­sen war; ich saß mit Son­ja ne­ben ihr; der alte Die­ner Gri­go­rij brach­te ihm Pa­pas Pfei­fe, die er ir­gend­wo ge­fun­den hat­te, und er be­gann ganz so wie in frü­he­ren Zei­ten im Zim­mer auf und ab zu ge­hen.

»Wenn ich so be­den­ke, wel­che furcht­ba­ren Ver­än­de­run­gen in die­sem Hau­se vor sich ge­gan­gen sind!«, sag­te er ste­hen­blei­bend.

»Ja«, ent­geg­ne­te Kat­ja mit ei­nem Seuf­zer, leg­te den De­ckel auf den Sa­mo­war und sah den Gast an, wäh­rend ihr die Trä­nen in die Au­gen stie­gen.

»Ihres Va­ters wer­den Sie sich wohl noch er­in­nern?«, wand­te er sich an mich.

»Ja, ein we­nig«, ant­wor­te­te ich.

»Wie schön wäre es, wenn Sie ihn jetzt noch hät­ten!«, sag­te er lei­se, wäh­rend er nach­denk­lich über mei­ne Au­gen hin­weg auf mei­nen Schei­tel blick­te. »Ich hat­te Ihren Va­ter sehr gern«, füg­te er noch lei­ser hin­zu, und es schi­en mir, daß der Glanz sei­ner Au­gen bei sei­nen Wor­ten noch zu­nahm.

»Und nun hat Gott auch un­se­re Mut­ter zu sich ge­nom­men!«, sprach Kat­ja, und gleich dar­auf leg­te sie ihre Ser­vi­et­te auf die Tee­kan­ne, zog ihr Ta­schen­tuch her­vor und be­gann zu wei­nen.

»Ja, es sind furcht­ba­re Ver­än­de­run­gen, die hier statt­ge­fun­den ha­ben«, wie­der­hol­te er, wäh­rend er sich ab­wand­te. »Son­ja, zeig' mir doch ein­mal dei­ne Spiel­sa­chen«, füg­te er nach ei­nem Weil­chen hin­zu und ver­ließ das Zim­mer. Die Au­gen vol­ler Trä­nen, blick­te ich, wäh­rend er hin­aus­ging, auf Kat­ja.

»Ach, welch ein treff­li­cher Freund«, sag­te Kat­ja.

Und in der Tat ward mir warm und wohl ums Herz an­ge­sichts der Teil­nah­me die­ses gu­ten, wenn auch mir fern­ste­hen­den Men­schen.

Aus dem Zim­mer ne­ben­an ver­nah­men wir Son­jas fei­nes Stimm­chen und ihr La­chen – sie un­ter­hiel­ten sich of­fen­bar gut mit­ein­an­der. Ich schick­te ihm den Tee hin­ein. Gleich dar­auf hör­ten wir, wie er sich ans Kla­vier setz­te und Son­jas Händ­chen auf die Tas­ten los­häm­mer­ten.

»Ma­ria Alex­an­drow­na!«, ließ er sei­ne Stim­me ver­neh­men – »kom­men Sie doch her­ein und spie­len Sie et­was!«

Es war mir an­ge­nehm, daß er in die­ser ein­fa­chen, freund­schaft­lich be­stimm­ten Wei­se sich an mich wand­te; ich er­hob mich und ging zu ihm hin­ein.

»Spie­len Sie doch ein­mal das hier«, sag­te er, ein Heft von Beetho­ven bei dem »Ada­gio qua­si una fan­ta­sia« auf­schla­gend. »Wir wol­len ein­mal se­hen, wie Sie spie­len«, füg­te er hin­zu und trat mit sei­nem Gla­se in eine Ecke des Zim­mers.

Ich hat­te die Emp­fin­dung, daß es mir un­mög­lich sein wür­de, ihm die­se Bit­te ab­zu­schla­gen oder mich zu zie­ren, un­ter dem Vor­wan­de, daß mein Spiel nicht weit her sei; ich setz­te mich folg­sam wie ein Kind an das Kla­vier und be­gann zu spie­len, so gut ich es ver­stand. Da­bei war mir ins­ge­heim doch vor sei­nem Ur­teil ban­ge, denn ich wuß­te, daß er die Mu­sik lieb­te und ein Ken­ner war. Das Ada­gio war im Tone je­ner Emp­fin­dun­gen ge­hal­ten, die durch das Ge­spräch beim Tee und all die wie­der le­ben­dig ge­wor­de­nen Erin­ne­run­gen in mir ge­weckt wor­den wa­ren, und so spiel­te ich auch, wie mir schi­en, gar nicht übel. Das Scher­zo je­doch ließ er mich nicht spie­len.

»Nein, das wer­den Sie nicht gut spie­len«, sag­te er, zu mir tre­tend, »das las­sen Sie lie­ber. Das ers­te aber war nicht übel. Es scheint, daß Sie Ver­ständ­nis für Mu­sik ha­ben.«

Die­ses ge­mes­se­ne Lob er­freu­te mich so sehr, daß ich so­gar er­rö­te­te. Es war mir so neu und so an­ge­nehm, daß er, der Freund und Ver­trau­te mei­nes Va­ters, mit mir so ganz ernst­haft sprach und nicht mehr in halb­scher­zen­dem Tone, wie frü­her, als ich noch ein Kind ge­we­sen. Kat­ja be­gab sich nach oben, um Son­ja zu Bett zu brin­gen, und wir blie­ben al­lein im Sa­lon zu­rück.

Er er­zähl­te mir von mei­nem Va­ter, wie er ihm nä­her­ge­tre­ten sei, und wie ver­gnügt sie da­mals, als ich mich noch mit mei­nen Schul­bü­chern und Spiel­sa­chen be­faß­te, zu­sam­men ge­lebt hät­ten; und in die­sen Schil­de­run­gen er­schi­en mir mein Va­ter zum ers­ten­mal als ein ein­fa­cher, lie­bens­wür­di­ger Mensch, wie ich ihn bis­her nicht ge­kannt hat­te. Er frag­te mich über dies und das aus, wo­für ich eine be­son­de­re Nei­gung hät­te, was ich läse, wel­che Plä­ne ich für die Zu­kunft hät­te, und gab mir Ratschlä­ge. Er war jetzt für mich nicht mehr der fröh­lich scher­zen­de Ka­me­rad, der mich neck­te und Spiel­zeug für mich ver­fer­tig­te, son­dern der erns­te, of­fe­ne Mann, der mir freund­lich ge­sinnt war, und für den ich un­will­kür­lich Hochach­tung und Sym­pa­thie emp­fand. Es war mir so leicht und so wohl ums Herz, als ich so mit ihm sprach, zu­gleich je­doch emp­fand ich eine ge­wis­se Be­klem­mung. Ich wog gleich­sam je­des Wort, das ich sprach; es lag mir so­viel dar­an, mich sei­ner Zu­nei­gung zu ver­si­chern, die er mir schon dar­um ent­ge­gen­brach­te, weil ich die Toch­ter mei­nes Va­ters war.

Als Kat­ja Son­ja zu Bett ge­bracht hat­te, kam sie wie­der zu uns und klag­te ihm ge­gen­über über mei­ne Apa­thie, von der ich ihm gar nichts ge­sagt hat­te.

»Wie denn? Von der Haupt­sa­che hat sie mir also gar nichts er­zählt?«, sprach er lä­chelnd und schüt­tel­te, wäh­rend er mich an­sah, miß­bil­li­gend den Kopf.

»Was hät­te ich auch da­von er­zäh­len sol­len?«, sag­te ich. »Das ist doch so lang­wei­lig, und dann wird's ja auch vor­über­ge­hen.« Ich hat­te in der Tat jetzt das Ge­fühl, daß mei­ne schwer­mü­ti­ge Stim­mung schwin­den wer­de, ja daß sie be­reits ge­schwun­den sei und nicht mehr wie­der­keh­ren wer­de.

»Es ist nicht gut, wenn je­mand die Ein­sam­keit nicht zu er­tra­gen weiß«, sag­te er. »Sie sind doch ein ge­bil­de­tes jun­ges Fräu­lein, nicht wahr?«

»Ich hal­te mich we­nigs­tens da­für«, ant­wor­te­te ich lä­chelnd.

»Nun denn – es ist kein Zei­chen wirk­li­cher Bil­dung, wenn eine jun­ge Dame nur so lan­ge klug und geist­reich ist, als sie von an­dern be­wun­dert wird, sich da­ge­gen ge­hen läßt und ge­gen al­les gleich­gül­tig wird, wenn sie al­lein ist. Al­les nur des Schei­nes we­gen, nicht um sei­ner selbst wil­len und für sich selbst tun – nein, das ist nicht das Rich­ti­ge!«

»Sie ha­ben ja eine schö­ne Mei­nung von mir!«, be­merk­te ich, um über­haupt et­was zu sa­gen.

»Nein«, ver­setz­te er nach ei­ni­gem Schwei­gen – »nicht um­sonst se­hen Sie Ihrem Va­ter ähn­lich, in Ih­nen steckt et­was!« Und sein gu­ter, auf­merk­sam be­ob­ach­ten­der Blick ruh­te wie­der freund­lich auf mir und ver­setz­te mich in eine freu­di­ge Er­re­gung.

Jetzt erst fiel mir die­ser nur ihm al­lein ei­ge­ne, zu­erst hell leuch­ten­de, dann im­mer ein­dring­li­cher wer­den­de, ein we­nig schwer­mü­ti­ge Blick auf, der gleich­sam hin­ter dem ers­ten, hei­te­ren Aus­druck sei­nes Ge­sich­tes auf­tauch­te.

»Sie dür­fen um kei­nen Preis die Lan­ge­wei­le auf­kom­men las­sen«, sag­te er – »Sie ha­ben die Mu­sik, für die Sie Ver­ständ­nis be­sit­zen, Sie ha­ben Ihre Bü­cher, Ihre Stu­di­en, Sie ha­ben ein gan­zes Le­ben vor sich, auf das Sie sich nur jetzt vor­be­rei­ten kön­nen, wenn Sie spä­ter kei­ne Reue emp­fin­den wol­len. In ei­nem Jah­re schon wird es dazu zu spät sein.«

Er sprach mit mir wie ein Va­ter oder wie ein äl­te­rer Ver­wand­ter, und ich fühl­te, wie er sich fort­wäh­rend Mühe gab, um sich nach Mög­lich­keit mei­nem Stand­punk­te an­zu­pas­sen. Aber es ver­letz­te mich ei­ner­seits, daß er der Mei­nung war, ich ste­he geis­tig un­ter ihm, wäh­rend es mir and­rer­seits schmei­chel­te, daß er sich über­haupt die Mühe mach­te, von sei­ner Höhe zu mir her­ab­zu­stei­gen.

Den Rest des Abends ver­brach­te er da­mit, mit Kat­ja über ge­schäft­li­che An­ge­le­gen­hei­ten zu re­den.

»Nun le­ben Sie wohl, mei­ne lie­be Freun­din«, sag­te er, sich er­he­bend, kam auf mich zu und er­griff mei­ne Hand.

»Wann se­hen wir uns wie­der?«, frag­te Kat­ja.

»Im Früh­jahr«, ant­wor­te­te er, noch im­mer mei­ne Hand hal­tend. »Jetzt fah­re ich nach Da­ni­low­ka« – so hieß un­ser zwei­tes Gut – »sehe mich dort um, ord­ne al­les, so­weit ich das ver­mag, und gehe dann in mei­nen ei­ge­nen An­ge­le­gen­hei­ten nach Mos­kau. Im Som­mer wer­den wir uns wie­der­se­hen.«

»Wa­rum wol­len Sie uns denn so lan­ge fern blei­ben?«, sag­te ich auf­rich­tig be­trübt – ich hat­te wirk­lich schon ge­hofft, ihn von nun an täg­lich zu se­hen. Es ward mir plötz­lich so trau­rig ums Herz, und ich fürch­te­te, daß mei­ne Schwer­mut und Lan­ge­wei­le wie­der­keh­ren wür­de. In mei­nem Blick und mei­ner Stim­me muß das wohl zum Aus­druck ge­kom­men sein.

»Su­chen Sie sich so viel wie mög­lich zu be­schäf­ti­gen, wer­den Sie nicht zur Gril­len­fän­ge­rin!«, sag­te er in ei­nem Tone, der mir all­zu kühl und gleich­gül­tig klang. »Im Früh­jahr wer­de ich Sie dann ex­ami­nie­ren«, füg­te er, ohne mich an­zu­se­hen, hin­zu und ließ mei­ne Hand los.

Im Vor­zim­mer, wo­hin wir ihm das Ge­leit ge­ge­ben hat­ten, zog er ei­lig sei­nen Pelz an. Auch hier wür­dig­te er mich kei­nes Blickes.

»Er strengt sich ganz ver­geb­lich an«, dach­te ich. »Meint er viel­leicht, ich emp­fin­de es schon als ein be­son­de­res Glück, wenn er mich nur an­sieht? Er ist ein gu­ter Mensch, ein sehr gu­ter Mensch, ge­wiß – aber wei­ter auch nichts …«

Wir konn­ten an die­sem Abend lan­ge nicht ein­schla­fen und plau­der­ten mit Kat­ja – nicht so­wohl von ihm, als da­von, wie wir den Som­mer ver­le­ben, und wo wir den nächs­ten Win­ter zu­brin­gen woll­ten. Die schreck­li­che Fra­ge: »Wozu?«, be­drück­te mich nun nicht mehr. Ich sag­te mir ganz ein­fach und klar, man müs­se le­ben, um glück­lich zu sein, und ich stell­te mir eine Zu­kunft voll hel­len, freu­di­gen Glückes vor. Le­ben und Licht war gleich­sam plötz­lich in un­ser al­tes, düs­te­res Haus in Po­krow­sko­je ein­ge­zo­gen.

2.

Es war Früh­ling ge­wor­den. Mei­ne schwer­mü­ti­ge Stim­mung war ver­schwun­den, und an ihre Stel­le war je­nes schwär­me­ri­sche Seh­nen und Hof­fen ge­tre­ten, das der Früh­ling in der See­le er­weckt. Ich führ­te nun nicht mehr das­sel­be Le­ben wie im Be­ginn des Win­ters, son­dern be­schäf­tig­te mich mit Son­ja, trieb Mu­sik, las viel, ging häu­fig im Park spa­zie­ren und mach­te lan­ge Pro­me­na­den in den Al­leen, oder ich saß auf ei­ner Bank und träum­te, hoff­te und schwärm­te Gott weiß, wo­von. Zu­wei­len brach­te ich, na­ment­lich wenn der Mond schi­en, die gan­ze Nacht bis zum frü­hen Mor­gen am Fens­ter mei­nes Zim­mers zu; mit­un­ter ging ich ganz lei­se, da­mit Kat­ja nichts merk­te, in der blo­ßen Nacht­ja­cke in den Gar­ten hin­un­ter und lief über das taui­ge Gras nach dem Park­teich, und ein­mal wag­te ich mich so­gar aufs Feld hin­aus und ging mit­ten in der Nacht ganz al­lein um den gan­zen Park her­um.

Es fällt mir jetzt schwer, mir jene Träu­me­rei­en, die da­mals mei­ne Phan­ta­sie be­schäf­tig­ten, ins Ge­dächt­nis zu­rück­zu­ru­fen und sie zu ver­ste­hen. Und wenn sie mir wie­der ein­fal­len, kann ich es kaum glau­ben, daß dies wirk­lich mei­ne Träu­me­rei­en sind, so selt­sam und le­bens­fremd schei­nen sie mir.

Ge­gen Ende Mai kehr­te Ser­geij Micha­jlo­wi­tsch, wie er ver­spro­chen hat­te, von sei­ner Rei­se zu­rück.

Das ers­te­mal be­such­te er uns am Abend, zu ei­ner Zeit, da wir ihn gar nicht er­war­te­ten. Wir sa­ßen auf der Ter­ras­se und woll­ten so­eben Tee trin­ken. Der Gar­ten prang­te be­reits in fri­schem Grün, und in den dicht­be­laub­ten Bos­ketts lie­ßen die Nach­ti­gal­len schon ihre Lie­der er­klin­gen. Die bu­schi­gen Flie­der­sträu­cher wa­ren da und dort mit et­was Weißem oder Lila­far­bi­gem be­streut – es wa­ren die Blü­ten, die je­den Au­gen­blick auf­bre­chen konn­ten. Das Laub der Bir­ken­al­lee er­schi­en ganz durch­sich­tig in den Strah­len der un­ter­ge­hen­den Son­ne. Auf der Ter­ras­se lag ein küh­ler Schat­ten. Ein dich­ter Abend­tau hat­te sich auf den Ra­sen ge­senkt. Vom Hofe her ver­nahm man das Brül­len der ein­ge­trie­be­nen Her­de und die letz­ten Geräusche des schwin­den­den Ta­ges. Der schwach­sin­ni­ge Ni­kon fuhr mit dem Was­ser­faß auf dem Wege vor der Ter­ras­se vor­über, und der küh­le Was­ser­strahl sei­ner Gieß­kan­ne zeich­ne­te schwar­ze Krei­se auf dem frisch ge­lo­cker­ten Bo­den um die an Stä­be ge­bun­de­nen jun­gen Ge­or­gi­nen. Vor uns blink­te und bro­del­te auf dem wei­ßen Tisch­tuch der blank­ge­putz­te Sa­mo­war, da­ne­ben stand die Rahm­kan­ne, und Bre­zeln und sons­ti­ges Ge­bäck fehl­ten nicht. Kat­ja spül­te als sorg­sa­me Haus­frau mit den run­den, wei­chen Hän­den die Tas­sen aus. Ich konn­te den Tee nicht er­war­ten und aß, da ich nach ei­nem Bade Hun­ger hat­te, eben eine mit fri­scher, di­cker Sah­ne be­stri­che­ne Brot­schnit­te. Ich trug eine lei­ne­ne Blu­se mit of­fe­nen Är­meln und hat­te das feuch­te Haar mit ei­nem Tu­che um­hüllt. Kat­ja war die ers­te, die den Gast durch das Fens­ter kom­men sah.

»Ah, Ser­geij Micha­jlo­wi­tsch!«, rief sie aus. »Wir ha­ben so­eben von Ih­nen ge­spro­chen.«

Ich stand auf und woll­te fort­ge­hen, um mich um­zu­klei­den, doch traf er mich ge­ra­de in der Tür und such­te mich zu­rück­zu­hal­ten.

»Nun, was für Um­stän­de ma­chen Sie hier auf dem Dor­fe«, sag­te er lä­chelnd, mit ei­nem Blick auf das Tuch, mit dem ich den Kopf be­deckt hat­te. »Sie ge­nie­ren sich doch auch vor Gri­go­rij nicht, und ich bin doch für Sie, denk' ich, eben­so­viel wie Gri­go­rij.« Doch ge­ra­de in die­sem Au­gen­blick schi­en es mir, als bli­cke er mich so ganz an­ders an als Gri­go­rij, und ich ward ein we­nig ver­le­gen.

»Ich bin gleich wie­der hier«, sag­te ich und ent­fern­te mich.

»Was ist denn an Ih­nen aus­zu­set­zen?«, rief er hin­ter mir her – »Sie se­hen ganz wie eine jun­ge Bäue­rin aus!«

»Wie selt­sam er mich an­sah!«, dach­te ich, wäh­rend ich mich oben in mei­nem Zim­mer rasch um­zog. »Nun, Gott sei Dank, daß er ge­kom­men ist, es wird jetzt hier bei uns lus­ti­ger wer­den.«

Ich warf einen Blick in den Spie­gel und eil­te ver­gnügt die Trep­pe hin­un­ter. Ich gab mir durch­aus kei­ne Mühe zu ver­heim­li­chen, daß ich mich be­eilt hat­te, und kam ganz atem­los auf die Ter­ras­se zu­rück. Er saß am Ti­sche und sprach mit Kat­ja über un­se­re An­ge­le­gen­hei­ten. Als er mich er­blick­te, lä­chel­te er, fuhr je­doch fort zu spre­chen. Un­ser Ver­mö­gens­stand war, wie er sag­te, in bes­ter Ord­nung. Wir soll­ten nach sei­ner Mei­nung noch den Som­mer auf dem Lan­de zu­brin­gen und dann nach Pe­ters­burg zie­hen, um Son­jas Er­zie­hung zu vollen­den, oder ins Aus­land rei­sen.

»Ja, wenn Sie mit uns ins Aus­land rei­sen woll­ten!«, sag­te Kat­ja. »Aber so wer­den wir uns dort wie im Ur­wal­de vor­kom­men.«

»Ach, wie gern möch­te ich mit Ih­nen um die gan­ze Welt her­um­rei­sen!«, sag­te er halb scher­zend, halb im Ernst.

»Nun denn«, sag­te ich, »so ma­chen wir also zu­sam­men eine Rei­se um die Welt!«

Er lä­chel­te und schüt­tel­te den Kopf.

»Und mein Müt­ter­chen? Und mei­ne Ge­schäf­te?«, sag­te er. »Re­den wir nicht da­von. Er­zäh­len Sie lie­ber, was Sie in der letz­ten Zeit ge­trie­ben ha­ben. Ha­ben Sie wie­der Gril­len ge­fan­gen?«