Fangspiele - Ursula Fricker - E-Book

Fangspiele E-Book

Ursula Fricker

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Beschreibung

Ines und Lenni, eine über Jahrzehnte gefes­tigte Liebe, eine vertrauensvolle Partner­schaft. Sie Dermatologin und er Landarzt, leben sie mit ihrer Tochter, die Cello spielt, im Berliner Umland. Von ihrem Haus aus ist in der Senke der schieferfarbene See zu sehen, kein großer See, ein fehlendes Puzzle­teil, wie Ines immer sagt, als fehlte ausge­rechnet dort das letzte Puzzleteil der Erde. In ihr Leben, das der beste Freund eindeutig zu kitschig findet, platzt die charismatische Edda hinein. Mit ihrer Idee von absoluter Kunst wird sie für Ines zunehmend zum Faszi­nosum. Die spricht plötzlich von unerfüllten Jugendträumen und vernachlässigt alles, was ihr einmal wichtig war – ihre Tochter, ihren Beruf, Lenni. Als Edda sie für ein innovatives Theaterprojekt gewinnen will, lässt Ines ihr altes Leben fallen und stiehlt sich einfach davon.

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Seitenzahl: 258

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Ursula Fricker

Fangspiele

Roman

atlantis

Ines’ Mantel! Er streicht mit der flachen Hand über die Zeitung. Wieder und wieder. Das Foto eines Mantels. Ausgebreitet liegt er auf einem Edelstahltisch. Derber Wollwalk, mittleres Blau. Ein öliger Fleck auf dem Papier, genau dort, wo der Kopf sein müsste. Küstriner Vorland. Auf freiem Feld, liest er, sei eine Frau gefunden worden, erfroren. Keine Hinweise auf Fremdverschulden, die Tote sei noch nicht identifiziert, es werde um Mithilfe der Bevölkerung gebeten, Alter um die fünfzig, sie habe diesen blauen Mantel getragen.

 

Bis auf die Virologen am Tisch neben der Salatbar und ihm ist noch niemand in der Kantine; um nicht die halbe Mittagspause an der Kasse anstehen zu müssen, kommt er gern früh, früher als die anderen. Unter lautem Palaver drängt soeben die Biomedizin durch die Tür, gleich dahinter folgen die Seltenen Erkrankungen.

Er hat ihr den Mantel zum dreißigsten Geburtstag geschenkt. Jeden Winter hat sie ihn getragen, alle Moden waren an ihm vorübergegangen; wie um die Jahre zu behexen, hat sie ihn getragen und getragen, bis er an manchen Stellen dünn, an anderen schon faserig, bald wirklich nur noch ein Lappen war. Gelegentlich zog sie ihn noch im Garten an – da sieht er sie im Beet stehen; den blauen Mantel offen, säbelt sie verdorrte Stängel ab. Ines, ruft er, dein Handy, er muss gar nicht sagen, wer dran ist. Sie richtet sich auf, fährt sich mit dem Unterarm über die Stirn, in der einen Hand das alte Brotmesser, in der anderen ein Bündel trockene Stängel. Er sieht ihr Gesicht aufleuchten. So hell, denkt er, hat ihr Gesicht schon lange nicht mehr geleuchtet.

Wie hätte er ahnen können, dass alles bereits in Unordnung war. Wäre sie einfach verliebt gewesen. Eine Verliebtheit, einen Seitensprung hätten sie mit links überstanden. Aber es war viel simpler und zugleich viel komplizierter als das.

 

Warm ist ihm plötzlich, zu warm, zu eng, er zieht sich den Kittel aus, den Pullunder unter dem Kittel, knöpft das Hemd auf. Quatsch, denkt er, warum sollte diese Frau ausgerechnet Ines sein. Zuhauf solcher Mäntel gibt es vermutlich da draußen, blaue Mäntel mit breitem Kragen und Perlmuttknöpfen. Weil sie es tatsächlich sein könnte, wird ihm erschrocken bewusst, diese unbekannte Tote könnte Ines sein.

Einen Schlussstrich hat er gezogen.

Für Lea und für sich selber.

Neubeginn. Nichts als ein schlechtes Foto von einem alten blauen Mantel braucht es offenbar, und alles kommt wieder hoch. Er trennt die Seite aus der Zeitung heraus, faltet sie, schiebt sie in seine Kitteltasche. Hätte er etwas tun können, hätte er mehr tun können? Was hat er übersehen? Wie ist es gewesen, wirklich gewesen. Von Anfang an. Oder hat alles ohne Anfang angefangen?

 

 

Verbirgst du etwa auch etwas vor mir, fragt Ines mit einem schelmischen Seitenblick, das alle unsere gemeinsamen Jahre, schnippt sie mit den Fingern, in nichts auflöst? Kurz nach eins ist es, als sie an der Aral-Tankstelle in Strausberg vorbeikommen, Lea schläft bei Peggy, sie haben Besorgungen in der Stadt gemacht, sind essen und hinterher im Kino gewesen, 45 Years, vielleicht stöbere sie dann auch mal in seinen alten Kartons und entdecke einen ihr vollkommen fremden Lenni. Mach nur, lacht er. Aber Charlotte Rampling ist einfach toll, sagt sie. Bumm, bumm, bumm. Was ist das? Und so viel Verkehr um die Zeit? Dieses Techno-Festival, sagt er, drüben auf dem Flugplatz, ziemlich groß, glaube ich, er schließt das Fenster. Schon seit Wochen war vor der Praxis ein Stromkasten mit den Plakaten überklebt gewesen.

Gleich nach dem Ortsausgangsschild gibt er Gas, was meinst du, sagt er, was Pablo und Monika wohl machen? Mitte der Neunziger hatten sie zusammen viele Nächte in Techno-Clubs verbracht, die damals wie Pilze aus dem Boden schossen, Praxis Dr Mc Coys, Tresor, Der Eimer, und wie sie alle hießen, wahrscheinlich fällt ihm deswegen Pablo jetzt ein, wegen der Musik, schon damals hat er diese Musik nicht leiden können. Ines auch nicht. Aber sie wollten dabei sein, teilhaben an diesem verheißungsvollen Aufbruch, der wohl jeden in der Stadt erfasst hatte. Die letzten Straßenlaternen bleiben zurück, vor ihnen liegt die Landstraße, die schnurgerade Strecke bis zum Wald, eine Kette entgegenkommender Lichter, er muss sich konzentrieren, mehrere haben nicht abgeblendet. Wir wollten sie doch längst mal besuchen, sagt Ines, wie oft haben wir das jetzt schon verschoben. Ja, ich weiß, sagt er … und sieht das Warnlicht. Hinter dem Wald, schon oben auf der Höhe, steht mitten auf der rechten Spur ein Auto, daneben eine kurze, stämmige Person, ein Mann? Oder eine Frau? Er bremst. Was ist, fragt Ines, du willst doch jetzt hier nicht anhalten? Aber statt den Blinker links zu setzen und wieder Gas zu geben, bleibt sein Fuß auf der Bremse, sachte rollt der Wagen auf dem Grasstreifen aus. Du kannst ja sitzen bleiben, sagt er. Sie steigt trotzdem mit aus. Eben rasen mehrere Autos vorbei, offene Fenster, voll aufgedrehte Stereoanlage, johlende Menschen.

Sie komme gerade aus Polen, sagt die Person, habe sich verfahren, und jetzt auch noch … der Motor sei ausgegangen, einfach so, sie scheint ehrlich entrüstet zu sein über die Unzuverlässigkeit des Motors. Selbst hier sind die Bässe der Musik noch zu hören, oder eher zu spüren, Fichtner und Eppert, stellt er sie beide vor, Edda Pratt, sagt die Frau. Das sei wirklich nett, dass sie angehalten hätten, aber unnötig, sie habe schon den Pannendienst gerufen. Er ist sich nicht sicher, ob man einen solchen Satz arrogant sagen kann, kurz ist ihm so, und gleichzeitig fragt er sich, warum er nicht einfach vorbeigefahren ist. Doch, doch, sagt er, das sei nötig bei dem Verkehr, und vor allem sollten sie den Wagen von der Straße schieben. Okay, sagt Frau Pratt jetzt sehr freundlich, wenn sie ehrlich sei, sei sie doch ganz froh, nicht allein hier warten zu müssen. Irgendwie erleichtert nimmt er ihre Freundlichkeit zur Kenntnis. Sie setzt sich hinters Steuer, löst Handbremse und Gang, Ines und er schieben das kleine Auto hinter ihres. Liegt es am Blinken des Pannenlichts, liegt es an ihrem Kurzhaarschnitt, eine Art Undercut – jedenfalls fällt ihm plötzlich Tilda Swinton ein, er hat sie vor Jahren einmal auf dem roten Teppich auf der Berlinale gesehen, eine verblüffende Ähnlichkeit, allerdings ganz ohne Tilda Swintons Eleganz und Schönheit.

Sie plaudern noch dies und das, soso, Dermatologin, sagt Frau Pratt, das treffe sich gut, sie habe da einen Ausschlag am Hals. Er wundert sich, dass Ines sich die Stelle ansieht; wenn sie sonst privat um medizinischen Rat gefragt wird, kann sie zuweilen sogar schroff werden, aber vielleicht tut ihr die Frau einfach leid. Bei diesem Licht könne sie leider nicht wirklich was sehen, sagt sie und kramt eine ihrer Visitenkarten aus der Jackentasche, kommen Sie doch einfach zu mir in die Praxis, hier, sie tippt auf die Karte, Marzahn, direkt neben dem UKB, dem großen Krankenhaus. Sobald der Pannendienst mit seinen orange kreiselnden Leuchten am Waldrand auftaucht und sich schnell nähert, verabschieden sie sich.

 

 

Jasper sitzt am Mikroskop und telefoniert, doch, sagt er, in der aktuellen Kohorte haben wir eine signifikante … Er selbst klemmt sich hinter den PC. Unter endlose Zahlenkolonnen schreibt er weitere Zahlen, eine ausufernde, eine langweilige Arbeit, normalerweise macht das der Assistent, der aber liegt mit einer Grippe im Bett.

Hätte er doch auf Ines gehört in jener Sommernacht. Wenn er auf Ines gehört hätte, wäre all das nicht passiert. Nein, fahr weiter, hört er sie sagen, ich will nach Hause. Den Bruchteil einer Sekunde nur hat es gebraucht, diese Entscheidung zu treffen, die er den Rest seines Lebens bereuen würde. Wie oft hat er die letzten hundert Meter Strecke vor dieser Stelle in Gedanken schon durchkämmt, jedes Detail ließ er sich durch den Kopf gehen, wie oft schon hatte er nicht angehalten, wenn jemand irgendwo liegen geblieben war, warum, warum denn ausgerechnet in jener Nacht? Bevor er aussteigt, haargenau sieht er die Szene noch vor sich, legt er Ines seinen Handrücken an die Wange, ein kurzer Blick. Sie nimmt seine Hand, zieht sie vor den Mund und drückt einen Kuss auf seine Finger. Ich bin nicht sauer, bedeutet diese Geste, nur müde. Du kannst ja sitzen bleiben, sagt er leise. Oder: Bleib doch sitzen.

 

Er hebt den Blick. Weit sieht er nicht. Auf die Fassade des Gebäuderiegels auf der anderen Seite des Innenhofes. Die Sicht aufs Wasser ist wichtigeren Disziplinen vorbehalten. Lichter brennen in den Büros, es wird früh dunkel zu dieser Jahreszeit, ihm genau gegenüber liegt das Sekretariat der Virologie; die junge Frau, die seit zwei Wochen dort arbeitet, steht am Kopierer. Lea, warum hat Lea ihm keine Nachricht geschickt, den ganzen Tag noch nicht, er ruft sie an. Am Morgen hatte sie verschlafen, zweimal ist er in der Nacht aufgestanden, weil sie wieder diesen Albtraum hatte. Sie stürze, immer sei es der gleiche Traum, sie fliege, über Land, über die Stadt, und dann gerate sie in diese Stromleitungen, und die Stromleitungen seien eigentlich Saiten, Cellosaiten. Nach dem fünften Klingeln geht sie ran, ob alles in Ordnung sei, ob es noch gereicht habe am Morgen, fragt er. Gerade so, sagt sie. Ich mache heute etwas später Feierabend, schaffst du das allein? Papa! Sie ist sechzehn, fast siebzehn.

 

Krampfhaft versucht er, den Mantel zu vergessen. Sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er reibt sich die Stirn, die Augen, streckt sich. Zieht dann die Zeitungsseite heraus. Wie der Mantel daliegt. Auf dem kalt glänzenden Edelstahltisch. Eine der Taschen ist ausgestülpt, rechts ein Riss. Die Ärmel schräg nach unten, die Hände fehlen, der Kopf fehlt, Beine und Füße.

 

 

Ines’ dreißigster Geburtstag. Ein Sonntag. Er hat Theaterkarten besorgt, Murx den Europäer! von Marthaler. Seit Monaten spricht die halbe Stadt von diesem Stück, Pablo und Monika sind hell begeistert aus der Volksbühne gekommen; unbedingt müsse sie den Murx nun auch endlich sehen, sagte Ines, unbedingt.

Sie liegen im Bett bis weit in den Vormittag, irgendwann steht er auf, holt Brötchen und Blumen vorne beim Kiosk am Hackeschen Markt und deckt dann den Tisch in der Küche. Durch die undichten Fenster dringt die Stadt herein. Das metallische Schleifen und Schaben einer S-Bahn, die unten auf dem Damm vorüberfährt, das sich schnell entfernende Hämmern eines Hubschraubers, Glockengeläut. Über die Brachen sieht man bis zum Alexanderplatz. Zum Heizen macht er den Backofen an und rückt den Tisch in die Nähe der offenen Klappe. Überall in der Küche verteilt er Teelichter, das Geschenk legt er auf ihren Teller.

Der Kaffee ist durchgelaufen, schön warm ist es mittlerweile in der Küche, Monika und Pablo kommen auf einen Sprung vorbei, Monikas Bauch ist jetzt deutlich zu sehen, wievielter Monat noch mal, fragt er. Ines, schlaftrunken, steht mitten im Raum und sieht versonnen auf eins der zuckend brennenden Teelichter. Nein, auf gar keinen Fall, hatte sie sofort gesagt, als er einmal von Kindern angefangen hat. Sechster erst, lacht Monika.

Endlich nimmt Ines das Geschenk in die Hand.

Soll ich es jetzt auspacken, fragt sie, dreht und wendet das unförmige Paket, drückt ein wenig, weich, sagt sie, sehr weich, ein Kissen? Vorsichtig löst sie das Packpapier, zum Vorschein kommt rotes Seidenpapier, ihre Finger beginnen schneller zu arbeiten, wühlen das Seidenpapier beiseite, und in ihren Händen hält sie den Mantel, sie kann es, er sieht es an ihrem Gesicht, gar nicht fassen, nein, murmelt sie, nein. Wie kindlich sie mit einem Mal wirkt. Wie wild und zart und hell. Über das Nachthemd zieht sie den Mantel gleich an. So schön warm, sagt sie. Und die Farbe erst!

 

Abends trägt sie den Mantel zusammen mit ihrer alten blauen Bommelmütze. Auf dem Weg zur Volksbühne gehen sie Hand in Hand; als könnte ihr in dieser Umhüllung nichts mehr irgendetwas anhaben, marschiert sie neben ihm her, und nicht einmal im Foyer zieht sie den Mantel aus.

Selten hat er, haben sie zusammen so sehr gelacht im Theater. Ein trauriges Stück. Ein komisches Stück. Die schmutzigen Witzchen und die Lieder. Danke, singen die Schauspieler, für diesen schönen Morgen, danke, für jeden neuen Tag, danke … mit falsettfeinen Stimmen, mit ausdruckslosen Gesichtern singen sie diese Seelenfänger-Hymne, und dann zieht sie den Mantel doch aus. Auf der Bühne an der Wand hängt eine Uhr, stehen geblieben, »Damit die Zeit nicht stehen bleibt«, ist daneben zu lesen, ab und zu fällt ein Buchstabe herunter, übrig bleibt ein Satzwrack, eine entstellte, kuriose Zeile fehlenden Sinns. Wie geheißen stehen die Figuren auf, tun dies, tun das, setzen sich wieder hin. Ab und zu kichert eine hämisch, eine andere stellt der nächsten aus dem Nichts ein Bein.

Als sie wieder auf die Straße treten, nieselt es. Myriaden winzigster Wassertröpfchen funkeln im Blau des Walkstoffes von Ines’ neuem Mantel, er legt den Arm um ihre Schulter, mitten auf der Straße gehen sie die Alte Schönhauser hinunter, ich glaube, sagt sie, ich wäre lieber tot als so.

Wie, so?, fragt er.

So tot.

 

Und am nächsten Tag bricht Ines’ Vater, mitten in einer Operation am offenen Herzen, zusammen, Schlaganfall, und stirbt drei Tage später, ohne dass er das Bewusstsein noch einmal erlangt hätte. Er, der Messias der Herzchirurgie, dass ihm so etwas passiere, enttäusche sie maßlos, sagt Ines sarkastisch, während ihr die Tränen die Wangen herunterlaufen, er nimmt sie in den Arm. Sie habe ihren Vater gehasst, sagt sie, weil er, solang sie denken könne, auf ihrer Mutter herumgetrampelt habe, und trotzdem sei Grete bei ihm geblieben, das habe sie nie verstanden. Und sie hasse ihn selbst jetzt, im Tod, weil er ihre Träume zunichtegemacht habe. Nicht dass er sie gezwungen habe, Medizin zu studieren, fährt sie fort, nein, das hätte er nie getan. Sie habe einfach gewusst, dass er etwas anderes niemals akzeptieren würde, und alles, was sie wollte, war, ihren Vater zufriedenzustellen. Auch wenn ihr das erst heute so richtig klar sei.

Lenni hat gedacht, Ines sei aus freien Stücken Ärztin geworden, es sei ihre Berufung, so wie es seine ist. Es ist überhaupt das erste Mal, dass Ines von ihrem Elternhaus erzählt, Fragen ist sie jeweils ausgewichen, er hat sich zwar gewundert, es aber hingenommen. Weißt du, sagt sie. Angst habe sie gehabt, dass er zu vergleichen beginnen würde. Dass er Ähnlichkeiten entdecken könnte, entdecken müsste zwischen ihrer Mutter und ihr und sie dann damit behängen würde. Ausgeliefert den Ähnlichkeiten mit ihrer Mutter. Dabei, sagt sie, bin ich wirklich ganz anders.

Aber ich kenne sie ja nicht einmal, sagt er.

Zum Glück, sagt sie.

Auf der Beerdigung lernt er Grete dann kennen, eine kernige Frau, die ebenfalls Ärztin ist, unangenehm, wie sie ihn ansieht: überheblich, herablassend, als hätte ihre Tochter eindeutig etwas Besseres verdient.

Und er kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass diese Frau jemanden auf sich herumtrampeln lässt. Während der Zeremonie bleibt ihr Gesicht steinern, blass, er fragt sich die ganze Zeit, ob sie erleichtert oder erschüttert oder einfach leer ist.

 

 

Lenni, du bleibst doch noch, ruft Jasper, stellst du mir den Rest Material nachher bitte in den Kühlschrank? Kurz darauf fällt die schwere Tür ins Schloss. Ist es wirklich, fragt er sich, die richtige Entscheidung gewesen, seine Hausarztpraxis abzugeben. Zurück in die Forschung zu gehen, zurück in die Stadt. Oder ist Jaspers Angebot einfach in einem Moment gekommen, in dem er glaubte, keine Wahl mehr zu haben. Sieh es doch mal anders, hatte Jasper gesagt, vielleicht musste all das passieren, damit du endlich in die Forschung zurückgehst. Lachen. Schulterklopfen. Bis heute kann Lenni in nichts von dem, was geschehen ist, auch nur den Hauch eines Sinnes entdecken, nicht alles ergibt Sinn, sagte er, ich weiß, sagte Jasper.

Jedenfalls.

Jedenfalls fühlt es sich noch immer fremd an, dass Jasper Bloom nun sein Chef ist. Und gleichzeitig fühlt er sich endlich am genau richtigen Platz. Ehrlich. Ist das nicht krass? Hat er sich fast ein halbes Leben mit Dingen beschäftigt, mit denen er sich eigentlich nicht beschäftigen wollte. Nichts interessiert ihn doch brennender, als die Frage, warum bittere Pillen besser wirken als süße, rote besser als blaue, Injektionen besser als orale Verabreichung. Warum bereits die Teilnahme an einer Studie, die Erwartung einer Intervention, Ethnie, soziokulturelle Aspekte, Design die Wirkung einer Substanz verändern, aber nie bei allen in gleichem Maß.

Was er eigentlich mache an seiner neuen Stelle, hat Lea gefragt, worum geht es da? Die Reproduzierbarkeit des Placebo-Effektes in der evidenzbasierten Medizin. Hä? Er muss lächeln, als er sich an ihr verständnislos-empörtes Gesicht erinnert. Placebo? Dann gebt ihr den Leuten Fake? Dürft ihr das überhaupt? Stell dir vor, versuchte er ihr zu erklären, jemand hat weniger Schmerzen durch ein harmloses Placebo, dann braucht er doch weniger Chemie, fändest du das nicht gut? Auch Natur ist Chemie, lachte sie, das sagst du doch immer. Du wirst es nicht glauben, sagte er, aber der Placebo-Effekt ist hirnphysiologisch und anatomisch nachweisbar, das weiß man seit Jahren. Erwartung und Konditionierung. Und wie immer, wenn er von seiner Arbeit erzählte, fiel es ihm schwer, die Medizinsprache in normale Sprache zu übersetzen, Lea schien ihn trotzdem zu verstehen. Oder vielleicht tat sie auch nur so, weil sie nicht wollte, dass er noch länger derart unverständliches Zeug redete. Okay, sagte sie, okay.

Schon verrückt, wie der Glaube Berge versetzt, erinnert er sich, hat neulich Kurt, der Psychologenkollege, gesagt, da kannst du selbst als alter Hase nur staunen. Oder in die Tischkante beißen, fügte die Neurologenkollegin hinzu.

Also ja, im Grunde ist es die richtige Entscheidung gewesen. Diese Nähe von Wissenschaft und Wahn. Den Wahn berechenbar machen, daran arbeiten wir, das hätte er Lea sagen können, das wäre einigermaßen verständlich gewesen, wir versuchen mit Logik die Unlogik zu erklären.

 

Eine der Zentrifugen piept, blinkt, piept. Laut. Lauter als sonst, drängender, fordernder. Er lädt sie neu, schließt den Deckel, programmiert Zeit, Temperatur und Drehzahl, startet sie. Kaum etwas deutet darauf hin, dass im Innern dieses Geräts ein Rotor mittels wahnwitziger Geschwindigkeit Teile separiert. Nur die nach unten zählende Zeit und ein leises, wie von ferne kommendes Summen. Dann geht er zum Fenster. Er sieht, wie Herr Bloom den Innenhof durchquert, eilig, zielstrebig. Und gleich springt ihn Ines’ Kichern an, sieht er ihr pfiffiges Gesicht vor sich, sie hingegen bleibe lieber bei »Herr Bloom,« sagt sie, als er Jasper an ihrem allerersten Abend das Du anbietet. Bald schon stellt sich heraus, dass Herr Bloom, dieser steife, reservierte Jungwissenschaftler, auch ganz andere Seiten hat, Ines muss das sofort gespürt haben. Nach spätestens zwei Gläsern Wein verwandelt er sich in ein unterhaltsames, fast kindlich begeisterungsfähiges Wesen. Was haben sie gelacht, wenn Herr Bloom sich in einer plötzlichen Anwandlung das sorgsam frisierte hellblonde Haar raufte, bis es wie ein punkiger Kamm mittig auf seinem Kopf stand. Wenn er Witze erzählte, die nicht witzig waren.

Es ist bizarr, aber er kann Ines’ Kichern heute noch hören, ihr etwas hüpfendes Lachen, wie konserviert lagert es offenbar in irgendeinem abgelegenen Winkel seines Gehirns.

Noch nicht ein einziges Mal, fällt ihm auf, hat er Jasper Herr Bloom genannt, seit sie wieder zusammenarbeiten.

 

Still liegt der Campus Mitte im frühen Abend.

Ein leichter Wind ist aufgekommen, und schon wieder beginnt es zu schneien, Flocken stöbern gegen die Scheiben, trudeln nach unten, bleiben liegen auf dem Sims. Allmählich verlassen auch die anderen Kollegen ihren Arbeitsplatz, einzeln tröpfeln sie aus der Drehtür, warten auf jemanden oder gehen allein, gehen nach Hause oder noch auf ein Feierabendbier ins Speisekombinat, vorne an der Chausseestraße. Kurt. Mit ihm arbeitet er am engsten und am liebsten zusammen, Kurt schlurft über den Innenhof, langsam, zögernd, immer wieder bleibt er stehen. Als ob er etwas vergessen hätte, sich aber nicht erinnert, was. Kurt hat zwei Töchter. Die jüngere, Karla, sei letzte Woche fünfzehn geworden, hat er erzählt, als sie gestern nach dem Wochenmeeting auf dem Flur noch zusammenstanden, und wolle von nun an Carlo genannt werden.

Lange blickt er auf das Display der Zentrifuge, die verrinnenden Sekunden 53-52-51-50. Bei früheren Modellen konnte man noch die Rotation sehen, die Kolben, deren Geschwindigkeit das Auge nur noch als Stillstand wahrzunehmen in der Lage war, als weich konturierten Ring. Hat sie angerufen und ihn nicht erreicht? Hat sie es irgendwann aufgegeben, ihn erreichen zu wollen, so wie er es zuvor aufgegeben hat, sie erreichen zu wollen. Wie bloß ist es möglich, dass eine Frau auf einem Feld einfach erfriert? Hatte sie sich verlaufen? War sie obdachlos? Fortgejagt oder fortgegangen? Verstört, verwirrt, verraten?

 

 

Er kommt zu spät und muss mit dem letzten freien Platz am Ende der obersten Reihe vorliebnehmen. Die Frau neben ihm trägt eine blaue Bommelmütze, sie wendet den Kopf, als er sich setzt, und lächelt. Hallo, flüstert er. Unter dem Rand der Mütze hervor schauen ihn blaue, ernste Augen an, vor dem Ohr auf seiner Seite, beinahe schon auf der Wange, prangt ein großer Leberfleck in Form einer Birne. Frierst du nicht, fragt er leise. Abgesehen von der Mütze ist sie leichtsinnig dünn angezogen. Sie sei eben aus Stockholm zurückgekommen, sagt sie, dort sei es noch viel kälter gewesen. Was hast du denn in Stockholm gemacht? Die Herrschaften, bitte!, kommt es von unten. Praktikum, flüstert sie, im Hörsaal ist es ziemlich kühl, er zumindest hat Jacke und Schal nicht ausgezogen. Ihre langen Finger liegen auf einer Mappe, die Nägel sind dunkelblau lackiert, fast schwarz. Sie bleibt auch in der Pause bei ihm; bestimmt nur, vermutet er, damit sie sich nicht so allein fühlt unter all den unbekannten Leuten.

Sie haben keine Eile mit nichts.

Sie reden, sie schweigen, und jede Äußerung, auch das Schweigen, scheint ihm so plausibel und leicht, als müsste nichts, aber auch gar nichts bewiesen werden. Ines erzählt gern von Stockholm. Nicht von ihrem Praktikum, sondern von den faszinierenden Inszenierungen, die sie dort gesehen hat, Norén, Beckett, von dem kleinen, verwinkelten Kellertheater, das sie schon in ihrer ersten Woche zufällig entdeckte, von der sensationellen Wirkung dieser neuartigen Inszenierungen und vor allem von der kleinen Clique eingeschworener Theaterleute, mit denen sie auf Proben und Partys mehr Zeit verbracht habe als im Krankenhaus.

 

In den nächsten Wochen und Monaten lernt er nach und nach auch Ines’ Marotten kennen, ihr akribisches Festklopfen des Kaffees in der Espressomaschine, die Art, wie sie mit dem Fahrrad an der Ampel anfährt, im kleinsten Gang, rasch beschleunigend, um sich vor alle andern zu setzen, das stille Lächeln, ungeachtet ihrer Abneigung, ja. Panik, vor der »Falle der Ehe«, wenn zum Beispiel in einem Film geheiratet wird. Und ihren Drang zu verschwinden. Zu Fuß aus der Stadt herauszuwandern, allein, unbedingt allein, das erste Mal war er sicher, sie habe ihn verlassen, und als sie nach ein paar Tagen dann doch wieder vor seiner Tür stand, war er überglücklich und beleidigt und verletzt. Bis in den Frühsommer hinein trägt sie ihre Mütze, so lange, bis ihr Haar, das sie sich in Stockholm an einem finsteren Wintertag raspelkurz geschnitten und schwarz gefärbt hat, wieder nachgewachsen ist.

Und nach einem Jahr etwa zieht er mit ihr zusammen. In ein möbliertes winzig-dunkles Kabuff im Wrangelkiez. Ein paar Schritte nur sind es bis zur Mauer, und als die Wende kommt, sind sie beide mit dem Studium beinahe durch.

 

 

Sein Smartphone plingt. Lea? Alarmiert greift er danach. Warum, fragt er sich, bin ich eigentlich so nervös? Ist doch nichts passiert. Ist doch nur ein Mantel. Eine Whatsapp von Pablo. Wolkenloser Himmel über Havanna. Seit Lea und er letzten Sommer auf Kuba waren und er in einer Bar in Havannas Altstadt, nach Mitternacht, betrunken, sich von Lea hat überreden lassen, endlich Whatsapp zu installieren, schicken Pablo und er sich Fotos und manchmal kurze Filmchen hin und her. Bis heute versteht er nicht, warum Pablo an einen Ort zurückgegangen ist, wohin er nie zurückwollte. Lenni macht ein Foto vom Labor und schickt es samt Tränen lachendem Smiley nach Kuba.

 

 

Mein Zuhause ist hier, kannst mir glauben! Pablo und er sitzen in der Teeküche auf der HNO-Abteilung im Krankenhaus am Friedrichshain, erste Pause, Lenni packt seine Brotzeit aus, Pablo nippt an seinem pechschwarzen Kaffee, eine Schwester steht an der Spüle und wäscht Teller und Tassen ab. Erster Tag seines praktischen Jahrs. Endlich geht’s richtig los, endlich arbeiten! Pablo hat ihn am Morgen auf der Station in Empfang genommen, ihn allen vorgestellt und ihm alles gezeigt. In den Siebzigern, hört er Pablo erzählen, seien seine Eltern als Vertragsarbeiter aus Kuba in die DDR gekommen und kurz nach der Wende zurückgegangen, nie, sagt er, nie werde er dorthin zurückgehen, kannst mir glauben. Und nächstes Mal, ruft die Schwester lachend, spülst du deinen Kram selber, sonst, kannst mir glauben …

 

Ein halbes Jahr später hockt er mit Ines in einer saukalten riesigen Wohnung in der Neuen Schönhauser Straße 16 auf zwei Umzugskisten, zwischen ihnen, auf der dritten Kiste, eine Kerze, zwei Gläser und eine Flasche Rotwein. Prost, sagt Ines, sind wir jetzt wirklich Wohnungsbesetzer, das kann ja heiter werden mit dir. Dabei hat er das gar nicht gewollt. Er hat Schiss gehabt. Wäre es nach ihm gegangen, säßen sie noch immer drüben in Kreuzberg in ihrem finsteren Kabuff. Ines hingegen war sofort Feuer und Flamme.

So sauteuer und so laut und so feucht und soo finster …, äffte Pablo ihn nach, mit der linken Hand wischte er sich elegant eine imaginäre Träne von der Wange. Lenni, im Ernst, da steht alles leer bei mir im Haus, jammer nicht die ganze Zeit rum, sucht euch eine Wohnung aus, setzt euch rein, macht doch heute jeder so, kannst mir glauben, er fasste ihn am Arm, kannst mir glauben, keiner blickt da noch durch, fügte er hinzu, wem was wo und vor allem warum überhaupt gehört. Finde ich auch, sagte Ines, als er ihr von Pablos Vorschlag erzählte.

Es war nicht einmal nötig, einzubrechen. Die Tür stand offen, weil jemand die schönen alten Messingbeschläge abgeschraubt und mitgenommen hatte. Er holte im Baumarkt ein billiges neues Schloss und setzte es ein. Jaja, sagt er, prost, auf unsere erste und hoffentlich letzte Wohnungsbesetzung. Sie lachen. Wenn Pablo einen Mietvertrag bekommen hat, sagt Ines, schaffen wir das doch auch.

 

Es scheint, als wollte Pablo ihnen möglichst viel von dem Land zeigen, das es nicht mehr gibt. Bevor womöglich auch die Landschaft dieser abgelebten DDR plötzlich verschwunden sein würde, nicht mehr da, verschenkt oder verscherbelt. Eines Freitagmittags fahren sie mit Pablos altem Benz auf die Insel Poel. Sonntag beim Frühstück prahlt Pablo damit, dass er gar keinen Führerschein habe, und der Benz sei ja auch, na ja, nicht richtig … hüstel, hihi. Findest du das etwa lustig? Er will mit dem Zug zurück. Hör doch auf, sagt Ines, Pablo fährt doch super, ich habe gar nicht gewusst, dass du so ein Korinthenkacker bist.

Im Regen machen sie sich auf den Heimweg, die Stimmung ist angespannt, wie immer läuft das Radio, DT64, Herman van Veen, Pablo dreht die Lautstärke hoch und kräht mit, »Eiinsaam-zweeisaam-dreisam …«, passt doch, lacht Ines, er hingegen würde am liebsten aussteigen. Plötzlich biegt Pablo scharf in eine Tankstelleneinfahrt ab. Mann, sagt er, musste das jetzt sein.

Er geht zur Toilette, und als er wiederkommt, sitzt eine komplett durchnässte fremde Frau auf der Rückbank neben Ines. Pablo dreht die Heizung bis zum Anschlag auf, sie alle, außer der Frau, Monika, schwitzen wie blöd, gegen Abend erreichen sie die Stadt. Pablo bietet Monika an, bei ihm auf dem Sofa zu übernachten. Auf dem Sofa!, lacht Ines.

 

 

Kurt ist weg. Diffus beleuchten verdeckte Strahler das Atrium. Weiterhin fällt Schnee. Wenn er an diese ersten Jahre nach der Wende zurückdenkt. An diese Zwischenzeit. Diese Leerzeile. Zerfall einer gesellschaftlichen Ordnung, bevor eine neue Fuß fassen konnte. Er hatte einfach nicht glauben können, dass diese ganze forsche Illegalität ohne Konsequenzen bleiben würde, und so verpasste er es, die Zeiten zu genießen, sich treiben zu lassen, es zu nehmen, wie es kommt.

Pling! Zwei doppelt Tränen lachende Smileys und ein Bizeps-Icon unter dem Foto eines riesigen Fisches, der von einer strahlenden Monika in die Höhe gehalten wird. Er schaltet auf stumm und schiebt das Telefon in die Schublade.

 

Waren es acht oder zehn Jahre, die sie an der Neuen Schönhauser 16 wohnten? Er versucht, sich an prägnante Ereignisse zu erinnern, seine Post-doc-Zulassung, Leas Geburt, die Gerichtsverhandlung, sein Abschied von der Forschung, die Weiterbildung zum Allgemeinmediziner, zählt die Jahre an den Fingern ab. Zwei Praxen standen zur Auswahl, eine in Prenzlauer Berg und eine in Strausberg.

Strausberg, sagte Ines, ich will aufs Land, schon wegen Lea. Okay. Bis sie etwas anderes finden würden, zogen sie in einen Fünfziger-Jahre-Block, hinten Parkplätze, vorne eine stark befahrene Straße, sie suchten weiter und fanden schließlich ihr Haus am Hang, diese Ruine, draußen in Bollersdorf, Märkische Schweiz. Er hat es nicht kaufen wollen, ihm war das alles zu viel. Aber Ines wollte es kaufen.

Ein knappes Jahr lang lebten sie provisorisch, halb in Strausberg, halb schon im Haus, jedes Wochenende schuften, Ines wollte die Holzverkleidung der Fassade unbedingt im ursprünglichen Blau streichen, eher ein Graublau, ein Taubenblau, wo es denn überhaupt noch zu erkennen war. Viel Geld hatten sie für Fensterläden ausgegeben, ohne Fensterläden, sagte Ines, ist ein Haus kein Haus. Punkt. Und dann war endlich alles fertig renoviert, frisch, unverbraucht, unverfallen.

 

 

Pablo, Monika und die Jungs kommen als Letzte. Monika ist hochschwanger mit dem dritten Kind, die Nachhut, wie sie augenzwinkernd sagt. Krügers und Roloffs sind da. Und Herr Bloom. Auf dem Tisch unter dem krüppligen Apfelbaum stehen Schüsseln mit Salaten, eigentlich ist es zu kühl, um draußen zu essen, aber mit der großen Feuerschale wird das schon gehen, hat er gedacht. Ines richtet in der Küche das Fleisch, die Jungs sind im Wäldchen verschwunden; während er die Gäste herumführt, trägt er Lea huckepack. Das Haus steht lichtdurchflutet im Abend. Unten, in der Senke, schimmert schieferfarben der See, kein großer See, ein fehlendes Puzzleteil, wie Ines immer sagt, als fehlte ausgerechnet hier das letzte Puzzleteil der Erde.

Wer soll das denn alles essen, lacht Herr Bloom und zeigt auf die Salate. Lenni setzt Lea in ihren Bollerwagen und mummelt sie fest in die Wolldecken, wie sieht’s mit dem Feuer aus, ruft Ines von drinnen. Er nimmt den Scheuerhaken, stochert in der Glut, gut, ruft er, und da kommt sie auch schon mit dem Grillrost aus dem Haus, bestückt mit Steaks, Spießen und Würsten. Grün und gelb und rot schaukeln die Lampions im kühlen Wind, der vom See heraufweht.

Sie stoßen an – auf das fertig renovierte Haus, auf Monikas und Pablos Nachhut, auf die Zukunft. Ines trägt ihren blauen Mantel, sie hat das Haar hochgesteckt, einen Schal um den Hals geschlungen, er bläst mit dem Blasebalg in die Glut, wendet das Fleisch, er könnte, sagt da Herr Bloom, nie auf dem Land leben, ob sie nicht Angst hätten, dass ihnen irgendwann die Decke auf den Kopf falle. Welche Decke, sagt Ines und blickt hinauf in den hohen Himmel. Alle lachen.

 

Außerdem, fährt Jasper nach einem weiteren Glas Punsch fort, sei dieser ganze Kitsch vollkommen unerträglich, fehle nur noch der Hund, ein Albtraum, was denn da noch kommen solle, wollt ihr es euch nicht noch mal überlegen? Roloffs und Krügers stehen etwas abseits, lass gut sein, Jasper, sagt Pablo, typisch Herr Bloom, sagt Ines und stößt ihn an. Irgendwie ist