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Die Dinge sind nicht immer wie sie scheinen. Das müssen auch die Protagonisten dieser Anthologie erkennen. Zwischen Leben und Tod, zwischen Liebe und Verderben blickt jeder von ihnen auf ganz spezielle Weise hinter den Schleier der Realität. Lesen auf eigene Gefahr!
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Seitenzahl: 164
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INHALT
* Großstadtvampire: Abenteuerliche Adventsfeier – Monika Schoppenhorst
* Ich bin vierzehn – Robin Li
* Der letzte Sonnenaufgang – Dana Müller
* Böse Welt – Robin Li
* Gustav – Martin Schoppenhorst
* Oh Navi – Monika Schoppenhorst
* Sonnenaufgang – Robin Li
* Der lesende Junge – Dana Müller
* Wenn Drachen lachen – Robin Li
* Der Wolf – Dana Müller
* Eine Bank namens Wanda – Monika Schoppenhorst
* Bindungsängste – Robin Li
* Anno 1349 – Dana Müller
*Süß und sauer – Monika Schoppenhorst
© Monika Schoppenhorst 2018
*
»Wo sind wir?«, fragt Egon.
»Im Schloss Versailles, auf der Adventsfeier von König Ludwig XIV. Dieser Tage hat sein Bruder Philippe d’Orléans die liebreizende Lieselotte von der Pfalz geheiratet.« »Ach, Sie drehen einen Historienfilm«, sagt Egon. »Deshalb die Kostüme und alles. Aber ich dachte immer, Kulissen sind Pappwände.«
»Sie hätten vielleicht fragen sollen, wann wir angekommen sind, ma chère amie.«
»Was für’n Ami?«
*
Seit einer halben Stunde schreibt Egon Wächter alias Iiigen Guard Autogramme. »Nie wieder gleich nach einem Konzert Autogrammstunde«, stöhnt er und schüttelt seine Hand aus. »Das artet ja in Arbeit aus!«
Die Fans von Vampire Desire drängen sich um den Tisch, an dem die Gothik-Band sitzt, ihren Anhängern Goodies schenkt und Autogramme gibt. Die Lobby des Eventhotels in Neukölln ist brechend voll mit Menschen in allerlei schwarzen Kostümen. Egon ist durstig. Er hat noch keinen Schluck getrunken, seit dem halben Liter Biorindsblut vor dem Auftritt. Es herrscht lautes Stimmengewirr und die Menschen duften appetitlich. Leider ist das Salbeiöl auf seinem Taschentuch verflogen. Es nützt nichts mehr, es sich vor die Nase zu halten.
»Halt durch«, teilt ihm Blacky telepathisch mit. Der junge Rabe wohnt seit Kurzem bei ihm und seinem Lebensgefährten Herbert Höhberg, dem Bandleader von Vampire Desire. Der Vogel sitzt auf einer Stange neben dem Tisch. Er hat Egon Herberts Antwort übermittelt.
Eine eindrucksvolle Dame strebt dem Tisch zu. Sie überragt die meisten Fans, die um Vampire Desire herumstehen, und schiebt sie mit dem grünseidenen Reifrock ihres Barockkostüms beiseite. »Monsieur Guard«, begrüßt sie ihn. Sie spricht sein Pseudonym »Gar« aus. »Es hat nie eine authentischere Vampirband gegeben, nischt wahr?« Sie bietet ihm ihre Rechte zum Handkuss an.
Seltsam berührt erfasst er sie, neigt seinen Kopf zu ihr und wird vom Geruch eines Parfums abgestoßen. Was riecht er da? Campher und Rosenöl, brr. Die Kombination ist ekelhaft. Der Appetit auf ihr Blut vergeht ihm sofort. Eigentlich wäre es gut, wenn sich alle Menschen so einnebeln würden, denkt er. Dann wäre es viel leichter, abstinent zu bleiben.
Die Worte, die die Höflichkeit von ihm verlangt, quetscht er mühsam hervor und richtet sich in Rekordzeit wieder auf. »Danke für das Kompliment, Madame. Wir geben uns die allergrößte Mühe, echt zu wirken.«
»Woher wissen Sie, dass Großstadtvampire silberne Augen haben, Monsieur?«
»Das haben wir uns so ausgedacht.«
Sie lacht dezent hinter dem Fächer. »Oh ja. Natürlisch – so wie die Fangzähne. Die sind ein Mythos. Um den Menschen Vampire vorzuspielen, brauchen Sie sie. Wissen Sie, echte Vampire besitzen gar keine verlängerten Eckzähne.« Nur die zum »sch« verlängerten »ch«s verraten ihre französische Muttersprache.
Es kostet Egon Kraft, zu lächeln. Woher weiß sie das? Verdammt noch mal. Er funkt in Gedanken den Raben an: Herbert, die Frau weiß zu viel von uns, komm her!
Die Antwort lautet: Ich kann jetzt nicht. Er sieht zu ihm hinüber und erkennt, dass sein Freund von einer Horde junger Mädchen umringt ist. Natürlich ist er in Gegenwart solch geballter Anziehungskraft voll konzentriert. Egon muss ohne Herbert die Situation mit der seltsamen, zu gut informierten Dame meistern. Irritiert schaut er sie wieder an.
»Darf isch Sie auf eine ganz besondere Adventsfeier einladen?« Sie zückt ein auf edlem Büttenpapier mit goldener Tinte handgeschriebenes und bemaltes Ticket, neigt sich ihm entgegen und überreicht es ihm zierlich. »Isch möschte Sie einem guten Freund vorstellen.«
Egon ist besorgt. Kein Mensch darf wissen, dass Vampire unter ihnen leben und diese Frau tut so, als sei das die normalste Sache der Welt für sie. Ihre graugrünen Augen blitzen ihn durch eine goldene Halbmaske an. Doch ihr blasses Gesicht lächelt.
»Isch bin eine Eingeweihte«, flötet sie leise und kommt näher. »Monsieur Kapür hat zu früheren Zeiten meine Dienste in Anspruch genommen. Das war gut für einen blassen Teint …« Sie zwinkert ihm zu. »… doch nischt für die Gesundheit, wie Sie sisch vorstellen können.«
Egon begreift, dass sie den goldenen Vampir Kapur alias Edward von Schwinhusen meint. Den kennt sie? Seinen Erzfeind, der seine geliebte Olga erschaffen hat? »Ich verstehe nicht«, antwortet er geistesgegenwärtig. Er darf nicht verraten, dass ihm der Name nicht neu ist.
Seine Besorgnis steigt. Sie ahnt offenbar, dass er und Herbert Großstadtvampire sind. Egon spürt sein träges Herz einmal kräftig schlagen. Er muss mehr über sie und ihre Verquickung mit dem goldenen Vampir herausfinden. Deshalb schaut er die Einladung an. »Übermorgen?«
»Nun …« Sie zögert und lächelt geheimnisvoll. »… ja und nein. Es ist kompliziert und …« Sie legt ihren Kopf schief, was Egon befürchten lässt, ihre weiße, turmartige Perücke würde der Schwerkraft folgen. »… ein wenig magisch. Sie als Vampir wissen, was isch meine.«
»Ich glaube nicht an Magie, Madame.« Obwohl, dass die Perücke an Ort und Stelle bleibt, ist schon irgendwie magisch, denkt er.
»de Villeneuf«, sagt sie mit entschuldigendem Unterton in der Stimme, »verzeihen Sie. Isch habe misch nischt vorgestellt: Louise Baronesse de Villeneuf.« Sie lächelt überlegen. »Sie sind ein magisches Wesen und glauben nischt an die Magie?«
»Ich bin ein Mensch. Und nein, mein Verstand sagt: Es gibt keine Magie.«
»Oh, non!« Sie lacht dezent und versteckt ihren rot geschminkten Mund hinter einem schwarzen Fächer. »Beides wissen Sie besser, Iiigen.«
Egon zieht die Augenbrauen hoch, weil er diese Reaktion nur von Vampiren kennt. Er war bisher überzeugt, dass Menschen nicht an Magie glauben. Sie aber ist ein Mensch. Allerdings weiß sie, wie Vampire ticken. Was außer einer Menschenfrau kann sie sein? Sie ist warm und parfümiert sich stark, damit er ihren Duft nicht wahrnimmt.
Nun ist er sicher, dass er der Einladung folgen wird. Er muss diese rätselhafte Person mit unechtem Lächeln dringend kennenlernen. Abenteuerlust regt sich in ihm.
Langsam verläuft sich die Menge, denn es ist schon spät. Bald beginnt die After-Show-Party und Herbert hat die Kühltasche mit einem ordentlichen Vorrat an Biorindsblut griffbereit. Egon spricht in Gedanken Blacky an und teilt so Herbert die wichtigsten Fakten über Frau de Villeneuf mit. Schwinhusens Erwähnung lässt er lieber aus. Herbert liebt es nicht, an ihn erinnert zu werden.
»Darf ich Sie zu einem Meet-and-Greet mit Vampire Desire einladen, Frau de Villeneuf?«, fragt Egon galant und bietet ihr seinen Arm an, um sie zu führen.
»Sehr gern, Egon.« Madame sagt Ägòne, mit betontem kurzen o wie in Bonn und einem angedeuteten e am Ende. Das hört sich exotisch an. Sie legt ihre Hand zierlich auf Egons Unterarm und lässt sich führen.
Die Party ist gut besucht. Die meisten Künstler sind angestrengt damit beschäftigt, sich locker zu geben. Es fließt viel Alkohol und Egon sieht, dass Kokain geschnupft und bunte Pillen geschluckt werden. All diese Drogen verträgt er nicht. Einen hübschen Rausch könnte ihm Madames Blut verschaffen. Doch er mag es, über einen klaren Verstand zu verfügen.
Seine menschlichen Bandkumpels haben ihm und Herbert Kirschsaft besorgt, den die beiden unauffällig gegen ihr Rinderblut austauschen. Endlich kann Egon seinen Blutdurst stillen. Heute schmeckt ihm das sonst so kräftige und würzige Blut schal.
Egon bittet Blacky, der auf einer künstlichen Palme sitzt, den Gedankenaustausch mit Herbert zu vermitteln.
»Das sind die menschlichen Düfte, hier sind sie besonders streng und ein Mädel dort drüben …« Sein Lebensgefährte wendet seinen Kopf nach links. »… hat ihre Tage bekommen. Das ist so verlockend.« Er stößt mit Madame de Villeneuf an, die ein Glas Sekt in der Hand hält.
»Wissen Sie eigentlisch«, fragt Madame, »wo Monsieur Kapür wohnt?«
»Wer?«, entgegnet Herbert verblüfft.
»Schwinhusen, also der alte Kapur, mein Schatz«, antwortet Egon, der die Verwirrung seines Freundes gut nachvollziehen kann.
»Sie sind ein Mensch«, flüstert Herbert und beugt sich zu ihr hinüber, »was wissen Sie vom Ältesten?«
»Früher einmal hat er mein Blut geliebt. Doch ich entzog misch ihm, weil isch vom Blutverlust zu schwach geworden bin.« Ihr Blick verliert sich einen Moment. Sie zieht ihre Nase kraus, nippt an ihrem Sekt und seufzt.
Das hat sie geschafft, fragt sich Egon. Das fällt selbst uns verdammt schwer. Wie macht sie das?
»Gehen Sie ihm lieber aus dem Weg«, warnt Herbert.
»Er ist ein bisschen unleidlich, seit wir ihm seine Mädchenherde entführt haben«, ergänzt Egon und grinst. »Auf keinen Fall sollten Sie uns erwähnen, falls Sie ihn treffen.«
»Oh! Sie waren das?«
»Herbert, zusammen mit der Polizei. Ich habe Schwinhusen derweil abgelenkt.«
»Weshalb wissen Sie so gut Bescheid über uns und unsere Welt?« Herbert runzelt die Stirn.
»Isch bin eine Eingeweihte, sagte isch doch. Und isch kann misch jederzeit über alles Wischtige informieren.« Sie zwinkert.
»Welche Art Magie üben Sie aus, Madame? Sind Sie eine Hexe?«
»Mann, es gibt doch keine Hexen«, stöhnt Egon.
Madame de Villeneuf lächelt ihn wissend an. »Sie sind so uninformiert wie die meisten Menschen, Ägòne.«
Herbert lacht. »Er ist der menschlichste und zugleich talentierteste Vampir, den ich kenne. Allerdings akzeptiert er nicht, dass er zur magischen Welt gehört.« Er wendet sich Madame de Villeneuf zu. »Und? Sind Sie eine Hexe?«
»Non. Isch bin eine gewöhnlische Sterblische mit einem Geheimnis.« Sie zückt ihren Pompadourbeutel, holt einen goldenen Füllhalter hervor, legt ein Büttenpapier auf den Tisch und schreibt. Dann wedelt sie das Papier, bis die goldene Tinte trocken ist, und überreicht es Herbert.
Aufmerksam liest er die Zeilen und zieht seine Augenbrauen bis fast zum Scheitel. »Eine Einladung ins Jahr 1671?«
»Was?«, fragt Egon entgeistert und holt das Blatt hervor, das er von ihr erhalten hat. Tatsächlich: In zwei Tagen soll er Madame de Villeneuf zur Adventsfeier von Monsieur Phillipe d’Orléans im Jahre 1671 begleiten.
Sie genießt sichtlich die Verwirrung der Vampirfreunde. »Kommen Sie übermorgen um zehn Uhr morgens nach Potsdam, die Adresse steht auf der Einladung. Dann sehen Sie, was isch meine.«
Am Abend vor der Adventsfeier bei Madame de Villeneuf rätseln die Vampirfreunde darüber, was sie erwartet.
»Das wird bestimmt eine Mottoparty«, sagt Egon. »Alle kommen in Barockkostümen und es gibt seltsame Sachen zu essen, Wein …«
»Ich hoffe auf einen ordentlichen Schluck leckeres Blut.« Herbert schüttelt den Kopf. »Und, dass Schwinhusen nicht bei ihr auftaucht, ich will lieber nicht in seine Nähe geraten.«
»Ich glaube nicht, dass sie ihn eingeladen hat. Sie wirkte so, als wäre er ihr auch unangenehm.«
»Der braucht keine Einladung. Wenn er will, kommt er einfach.«
Stimmt, denkt Egon und zweifelt, ob er wirklich die Adventsfeier besuchen soll. Doch dann fällt ihm ein: »Aber er zeigt sich nicht unter Menschen, jedenfalls nicht gern.«
Herbert steht seufzend vor seinem Kleiderschrank, der ein nicht unerhebliches Volumen hat. »Du musst nicht allein gehen, mein Schatz. Ich komm mit.«
»Was ziehen wir nur an?«
»Soll ich mal googeln?«
»Brauchst du nicht. Ich weiß, wie man sich damals angezogen hat. Da habe ich schon gelebt, mein Schatz, eine ganze Weile. Aber was Authentisches zu besorgen wird schwierig.« Herbert kramt herum und holt verschiedene Hemden hervor, alle mit Volant oder Spitzen, eine schwarzseidene Kniebundhose und einen langen schwarzen Gehrock. Er sucht noch eine Weile und findet eine kurze schwarze Jacke und eine weiße Kniebundhose. »So, das reicht. Wir werden tun, was wir können. Mit den Farben wird es schwierig. Aber was soll’s, ist nur eine Party. Weißt du, was mich wundert? Dass ich Madame de Villeneuf noch nie gesehen habe. Sie wohnt gleich um die Ecke. Irgendwann müsste sie mir doch mal über den Weg gelaufen sein.«
»Vermutlich wird sie im Alltag nicht ihr Barockkostüm anziehen«, erwidert Egon.
Die Nacht verbringen sie in zärtlicher Zweisamkeit, stärken sich und machen sich um zehn vor zehn auf den Weg zu Madame de Villeneufs Haus. Herbert drückt auf den Klingelknopf. Nichts geschieht. Egon bemerkt den altertümlichen Türklopfer mitten auf dem Türblatt. Ein bronzener Löwenkopf hält einen gewaltigen Ring im Maul. Er ergreift ihn, hebt ihn nach oben und lässt ihn auf die Tür fallen. Hallendes Löwengrollen ertönt und eine Sekunde später öffnet ein Dienstmädchen die Tür.
»Madame erwartet Sie«, ist das Einzige, was sie sagt. Schweigend dreht sie sich um und die Vampire folgen ihr in einen Barocksalon.
Heute ist Frau de Villeneufs Kleid golden. Sie hält einen goldenen Fächer in der Hand, den sie zumacht, als sie auf die Männer zuschreitet. »Isch freue misch, Sie zu sehen, meine Herren!« Ihre Perücke zieren Rosen und eine wunderbar glänzende Perlenkette liegt um ihren Hals. »Giselle, isch gehe aus. Schließen Sie die Tür wie immer ab und öffnen Sie sie um Mitternacht wieder.«
Das Dienstmädchen macht einen Knicks, schließt die Tür hinter sich und man hört, wie sich ein Schlüssel im Schloss dreht und dann herausgezogen wird.
Erstaunt blicken ihr die Vampire hinterher.
»Meine Herren«, sagt Madame, als sie sie wieder anschauen, »isch weiß natürlisch, dass eine verschlossene Tür Sie nischt aufhält. Sie soll ungebetene menschlische Gäste fernhalten. Giselle behält den Schlüssel bei sisch.«
Sie geht zu einem zierlichen Tisch, auf dem ein Sektkübel mit einem Kristallkelch steht und eine Rotweinkaraffe mit – Egon schnuppert – Schafsblut. Sie kennt sich wirklich aus.
»Darf isch Sie zu einem Begrüßungstrunk einladen, meine Herren? Isch weiß, dass Sie sisch an Tierblut halten, obwohl ich Ihnen gern ein wenig von meinem Blut anbieten würde.«
»Vielen Dank, Madame«, erwidert Herbert und macht eine elegante Verbeugung, wie sie Egon aus Musketierfilmen kennt. »Aber wir sollten einen klaren Kopf behalten, wenn wir unter Menschen gehen. Menschenblut führt bei uns zu Übermut.«
Sie lacht hinter ihrem Fächer. Dann schenkt sie den Vampiren in blinkende Kristallgläser Blut ein, sich selbst ein Gläschen Sekt und sie stoßen an.
»Auf eine schöne Adventsfeier, Monsieurs!«
Wenig später befinden sich die Vampire im Umkleidekabinett von Madame de Villeneuf, die ihnen Kostüme herausgesucht hat.
Herbert zieht die Augenbrauen hoch und fragt: »Madame, gefällt Ihnen unser Outfit nicht? Ich finde, wir sehen ziemlich authentisch aus.«
Sie lacht dezent und antwortet mit einem Zwinkern: »Nun ja, rescht hübsch, aber isch fürschte, die Stoffe entsprechen nischt ganz der Zeit. Viskose und Polyester. Das harmoniert nischt. Schauen Sie, isch habe eine schöne Auswahl von Kleidung der damaligen Zeit bereit.«
Herbert nickt lächelnd und stimmt zu, sich noch einmal umzuziehen. Egon wundert sich über Madames Barockfimmel. Aber es macht ihm Spaß, in eine ganz neue Rolle zu schlüpfen.
Im Spiegel erblickt er sich mit Kniebundhosen aus goldfarbener Seide, einer grauseidenen Weste, einem weißen Hemd, dessen Ärmel in weiten Volants enden. Am Hals hält eine Gemme einen weißen Kragen fest, der die Krawatte durch Rüschen ersetzt. Darüber trägt er eine rote lange Jacke. Seine schwarz gefärbten Haare werden von einer weiß gepuderten Lockenperücke verborgen. Herbert sieht atemberaubend schön aus in grauen Hosen, weißem Hemd, roter Weste, grauer Jacke und seinen silbernen Haaren in einem Pferdeschwanz, der mit einer schwarzen Samtschleife zusammengehalten wird.
»Isch denke«, empfiehlt Madame, »Sie sollten Ihr Make-up entfernen. Zu Ihren Anzügen passt blasse Haut besser.«
Also schminken sie sich ab. Was für Outfits! Sie passen gut zu Frau de Villeneufs goldenem Barockkleid.
Madame postiert sich und ihre Gäste direkt vor dem Spiegel. »Na, dann geht es los«, sagt sie, hakt sich bei den Männern unter und tritt zierlich auf ein Fußpedal am Fuß des goldenen Spiegelrahmens. Im nächsten Moment wirbelt eine bunte Spirale um sie herum und ein Alarmsignal ertönt.
Egon zieht den Kopf ein und bemerkt, dass Herbert seinen Blick sucht. Hat er sich auch so erschreckt? Sein Herz tut einen Donnerschlag. Er will fragen: »Was, verdammt, geschieht hier?«, doch seine Worte verlieren sich im Nichts. Madame steht ruhig und lächelt die beiden wie eine abgeklärte Oma an.
Als die Farben verglühen und das sirenenartige Geräusch abgeebbt ist, befinden sie sich vor dem gleichen Spiegel, aber in einer winzig kleinen, nur mit einer flackernden Kerze beleuchteten Kammer.
Egon wundert sich und beugt sich zu Madame. Er hört ihren Puls unter der Haut pochen, was ihm Schauer über den Rücken treibt. Zaghaft atmet er ein. Puh! Sie hat wieder das schreckliche Parfüm aufgetragen, das ihm schlagartig jeden Appetit nimmt. Kein Vampir wird sich ihr auf weniger als zwanzig Zentimeter annähern.
Er fährt zurück und fragt dann lauter als gewollt: »Was ist passiert?«
»Wir sind zu der Adventsfeier gereist, zu der ich Sie gebeten habe.«
»Komische Reise, wir haben das Haus gar nicht verlassen.«
»Für diese Art zu reisen ist das auch nischt erforderlisch. Schauen Sie!«
Herbert öffnet auf ihre Geste hin die Tür und linst skeptisch hinaus. »Ach, nanu? Wo sind wir denn gelandet?«
Madame lächelt geheimnisvoll und fordert sie auf hinauszugehen. Sie gelangen auf einen langen Flur. Er verbindet eine riesige Küche, in der eine Hundertschaft Köche allerlei Speisen zubereitet, mit einem roten Samtvorhang. Sie gehen leise die rund zwanzig Meter bis zum Vorhang. Madame de Villeneuf öffnet ihn mit einer anmutigen Handbewegung und bittet die Vampire hindurch.
Am Rande einer großen Empfangshalle bleiben sie staunend stehen. Es zieht unangenehm. Etliche Bedienstete in blutroter Livree wuseln herum. An den Wänden und von der Decke hängen Kerzenleuchter, die den Raum mit flackerndem Licht erhellen. Es müssen hunderte Kerzen sein.
»Wo sind wir?«, fragt Egon.
»Im Schloss Versailles, auf der Adventsfeier von König Ludwig XIV. Dieser Tage hat sein Bruder Philippe d’Orléans die liebreizende Lieselotte von der Pfalz geheiratet.«
»Ach, Sie drehen einen Historienfilm«, sagt Egon. »Deshalb die Kostüme und alles. Aber ich dachte immer, Kulissen sind Pappwände.«
»Sie hätten vielleicht fragen sollen, wann wir angekommen sind, ma chère amie.«
»Was für’n Ami?«
Herbert drückt ihm den Ellenbogen in die Seite und verkneift sich offenbar ein Lachen. Madame de Villeneuf verdeckt ihren Mund mit einem Fächer. »Ich sagte: ma chère amie, mein lieber Freund.«
»Und was heißt das? Ich kann kein Französisch.«
»Ach Egon, das heißt: mein lieber Freund«, erwiderte Herbert, »nichts weiter.«
»Oh, isch werde übersetzen.«
»Das kann ich auch«, erklärt Herbert. »Aber, was heißt eigentlich: Wann wir angekommen sind?«
»Gerade eben. Ich bin doch nicht knülle«, sagt Egon verwirrt.
»Dies ist das Jahr 1671, liebe Gäste. Wir sind in der Zeit gereist. Und an einen anderen Ort, ich gebe es zu. Aber meine kleine Zeitmaschine ist ein universelles Fahrzeug.«
»Ei Donner!« Heißt das nicht, dass ich noch gar nicht geboren bin, fragt sich Egon. Wie kann ich dann hier sein?
»Nehmen Sie bitte meine Hand, Egon, und führen Sie misch zum Zeremonienmeister.« Sie reicht ihm eine kunstvoll beschriftete Karte aus Pergament. Er versteht nicht ein Wort. Nur ein Name kommt ihm vage bekannt vor: Egon Gardien. Das ist fast sein Künstlername Guard. »Herbert, bitte folgen Sie uns. Für Sie habe isch auch eine Karte.« Sie gibt sie ihm und er ergreift ihre Hand, küsst sie anmutig und legt sie in Egons Linke.
»Ah, diese Kühle«, flüstert Louise ihren Begleitern zu, »isch liebe die kühle Haut von Vampiren.« Sie schenkt Egon ein ehrliches Lächeln, das in ihren Augen Widerhall findet.
Als sie beim gestrengen Zeremonienmeister ankommen, übernimmt Madame das Reden und Egon ist hilflos, denn er versteht gar nichts. Doch der livrierte Mann weicht vom Eingang und weist den Weg mit der rechten Hand. Er nickt dem Bediensteten höflich zu und sie treten in den übervoll mit Fresken, Bildern und goldenen Ornamenten, hohen Spiegeln und dutzenden Kronleuchtern verzierten riesigen Ballsaal.
Obwohl nur Kerzen brennen, ist es taghell. Viele Paare bevölkern den Saal. Rechts sieht er einen großen Tisch und Stühle. Kaum jemand sitzt dort. Die Menschen schwitzen. Kein Wunder. Sie tummeln sich allesamt in schweren Perücken und Barockkostümen.