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!!! Teil 2-4 der ersten Wegner-Reihe zum Sparpreis !!!
»Feuerprobe«: Der endlose Winter 1978/79 ist vorbei. Wegners Hoffnungen auf einen geruhsamen Lenz in der Hamburger Mordkommission platzen jedoch spätestens in dem Moment, als eine zerstückelte Leiche auf dem Fischmarkt gefunden wird. Schnell wird klar, dass dieser Mord nur Teil eines raffinierten Plans ist, denn schon bald folgen weitere Tote. Um die Täter dingfest zu machen, muss Wegner auch seine letzten Grenzen überschreiten ...
»Blinde Wut«: Herbst 1979. Während Wegner noch seine beiden ersten Fälle in den Knochen stecken, zieht neues Ungemach auf. Die Leiche einer jungen Frau wird am Elbstrand gefunden. Als sich herausstellt, dass es sich bei der Toten ausgerechnet um die Tochter des Hamburger Justizsenators handelt, wittert man im weit entfernten Bonn sofort terroristische Hintergründe. Wegner und Kallsen sehen sich nicht nur einem verstrickten Netzwerk von Intrigen gegenüber, sondern haben auch mit inneren Widerständen zu kämpfen. Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick scheint.
»Auge um Auge«: Dezember 1979. Als mitten auf dem Kiez die Leiche eines jungen Mannes gefunden wird, stört das die vorweihnachtliche Ruhe in der Hamburger Mordkommission doch erheblich. Was auf den ersten Blick noch wie eine typische Bluttat im Milieu wirkt, zieht schnell deutlich weitere Kreise. Je mehr Wegner im Zuge seiner Ermittlungen gräbt, desto tiefer versinkt er im Sumpf der Korruption, die bis ganz nach oben reicht. Am Ende muss der junge Kommissar alles auf eine Karte setzen, nicht nur, um einen Mörder zu finden
Lektorat/Korrektorat: Michael Lohmann
Aus der Reihe Wegners erste Fälle:
Aus der Reihe Wegner & Hauser (Hamburg: Mord)
Aus der Reihe Wegners schwerste Fälle:
Aus der Reihe Wegners letzte Fälle:
Aus der Reihe "Hannah Lambert ermittelt":
Aus der Reihe "Zwischen Mord und Ostsee":
Weitere Titel aus der Reihe Auftrag: Mord!:
Unter meinem Pseudonym „Thore Holmberg“:
Weitere Titel:
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Fantrilogie I
Wegners erste Fälle
(Teile 2-4)
In diesem Sammelband sind enthalten:
»Feuerprobe« ... kaum richtig bei der Mordkommission angekommen, steht Wegner vor seiner bis dahin härtesten Bewährungsprobe (Teil 2)
»Blinde Wut« ... am Elbestrand wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Dabei handelt es sich ausgerechnet um die Tochter des Hamburger Justizsenators … (Teil 3)
»Auge um Auge« ... vorweihnachtliche Besinnlichkeit in der Hamburger Mordkommission. Doch daran will sich das Verbrechen auf dem Kiez offensichtlich nicht halten … (Teil 4)
Feuerprobe
Wegners erste Fälle (2. Teil)
von Thomas Herzberg
Alle Rechte vorbehalten
Fassung: 2.0
Die Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und/oder realen Handlungen sind rein zufällig. Sämtliche Äußerungen, insbesondere in Teilen der wörtlichen Rede, dienen lediglich der glaubhaften und realistischen Darstellung des Geschehens. Ich verurteile jegliche Art von politischem oder sonstigem Extremismus, der Gewalt verherrlicht, zu selbiger auffordert oder auch nur dazu ermuntert!
Ein großes Dankeschön geht an:
Lektorat, Korrektorat: worttaten.de – Michael Lohmann
Bärbel (für ein weiteres Korrektorat)
Während Kallsen im Krankenhaus liegt, platzen Wegners Hoffnungen auf einen geruhsamen Lenz spätestens in dem Moment, als eine zerstückelte Leiche auf dem Fischmarkt gefunden wird. Schnell wird klar, dass dieser Mord nur Teil eines raffinierten Plans ist, denn schon bald folgen weitere Tote. Um die Täter dingfest zu machen, muss Wegner auch seine letzten Grenzen überschreiten ...
Feuerprobe ist Teil 2 der neuen Serie Wegners erste Fälle. Wer zuvor schon seine schwersten Fälle mitverfolgt hat, möchte sicherlich wissen, wie es mit dem Raubein angefangen hat. Begleiten wir Manfred Wegner, damals noch blutjung, auf seinem Weg an die Spitze der Hamburger Mordkommission ...
»Kannst du mir mal sagen, was ich mit der Leiche anstellen soll?«
»Ist mir egal … Hauptsache, du schaffst mir den Mistkerl aus den Augen. Dieser Idiot hätte es fast fertiggebracht, alles kaputtzumachen, was wir in den letzten Jahren aufgebaut haben.«
»Trotzdem verstehe ich nicht, warum du ihn gleich umbringen musstest. Vielleicht hätte es ja auch gereicht, wenn du ihm gedroht hättest oder … ’ne Hand abgehackt. Aber so?«
»Wir reden über gegessenen Käse! Schaff die Leiche weg! Und sieh zu, dass man keine Spuren findet, die zu uns führen!«
»Der Kerl ist komplett steifgefroren. Wenn ich den in Einzelteilen entsorgen soll, brauch ich ’ne Axt.«
»Nimm ’ne Säge und beeil dich! Ich will, dass der Kerl vor Sonnenaufgang Geschichte ist.«
Wie eine Lokomotive raste Manfred Wegner über die Gänge der Intensivstation. Vor dem Schwesternzimmer angekommen, hätte er fast einen Rollwagen umgerissen, der mit Bechern und Thermosflaschen beladen war. Als nach dem ersten Klopfen nicht sofort etwas geschah, wirkte das zweite schon, als ob er die Tür einreißen wollte. Trotzdem vergingen nochmal Ewigkeiten, bis ihm eine verschlafen aussehende Schwester öffnete.
»Wo ist er?«
Die Frau schüttelte nur verwirrt den Kopf und zupfte nervös an ihrem Kittel, der verrutscht war. Ihr Gesicht verriet, dass sie keinen Schimmer hatte, was dieser Störenfried von ihr wollte.
»Kallsen … Gerd Kallsen!«
Nur eine Minute später standen Wegner und die Krankenschwester vor einer riesigen Glasscheibe. Dahinter zwei Betten, direkt nebeneinander.
»Welcher von beiden ist es?« Unzählige Schläuche, Kabel und haufenweise medizinische Apparaturen verdeckten die Sicht. Wegner konnte tatsächlich nicht erkennen, bei welchem der Männer es sich um seinen Chef handelte.
»Der rechte … der linke kämpft schon seit ein paar Tagen um sein Leben«, gab die Schwester trocken zurück. Ihr Kopfschütteln verriet, welche Erfolgsaussichten sie diesem Kampf einräumte.
Wegner hatte schon auf seinem Sofa gelegen und auf die Tagesschau gewartet, als ihn ein Anruf aus seiner Feierabend-Planung gerissen hatte. Zwei Minuten später saß er im Auto und raste Richtung Eppendorf zum Hamburger Universitätskrankenhaus.
Kallsens Operation, die vollständige Entnahme der Gallenblase, eine Routine-OP, lag über eine Woche zurück. Anstatt sich mit der Möglichkeit von Komplikationen zu befassen, hoffte Wegner auf die schnelle Rückkehr seines Chefs. Bis jetzt war es in der Mordkommission ruhig geblieben, aber das könnte sich schnell ändern.
Was war nur geschehen?
Noch immer stand Wegner wie gelähmt vor dem Fenster und starrte auf die blinkenden Maschinen, als er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter spürte. Wie in Zeitlupe drehte er sich um und schaute direkt in die Augen seines Freundes Christian Teichmann, seines Zeichens Oberarzt der Chirurgie am Universitätskrankenhaus.
Eine ganze Weile sprachen die beiden Männer kein Wort. Dann gab sich der Arzt einen Ruck und begann mit gedämpfter, jedoch fester Stimme: »Es gab Komplikationen …«
»Das hab ich mir gedacht«, gab Wegner ebenso leise zurück. »Aber was ist passiert und warum liegt er plötzlich auf der Intensivstation?«
Christian Teichmann grinste breit, was in dieser Situation mehr als unpassend wirkte. »Mein Gott, Manfred! Der Kerl frisst für drei! Einer meiner jungen Kollegen ist ihm auf den Leim gegangen und hat innere Blutungen diagnostiziert.«
»Aber es waren keine, sondern ...«
»... nur Blähungen, genau!«, vollendete Teichmann den Satz kopfschüttelnd. »Als mein Dienst anfing, bin ich mit der Oberschwester ins Zimmer und habe seinen Nachttisch gefilzt.«
»Und?«
»Wenn der Kiosk am Empfang davon wüsste, dann würde der Inhaber wegen der neuen Konkurrenz vermutlich auf eine Mietminderung pochen. Brote, Wurst, bergeweise Bonbons ... und sogar zwei Stück Torte.«
Wegner atmete schwer. Seine Blicke fixierten sich wieder auf Gerd Kallsen, der, zwischen Schläuchen und Kabeln gefangen, wie eine Marionette nach Feierabend wirkte. »Also kommt er wieder auf die Beine, ja?«
»Natürlich! Nur, dass er ohne Galle eben nicht so – Entschuldigung – weiterfressen kann wie bisher. Das muss ihm einer klarmachen! ...« Der Arzt lachte bitter. »Ich habe ihn nur auf Intensiv verlegt, weil ich nichts riskieren wollte. Ich kenne doch deine poltrige Art, wenn mal was nicht so läuft, wie du es dir vorstellst.«
Wegner und Teichmann kannten sich seit Jahren vom Boxen. Nach einigen Monaten gemeinsamen Trainings waren sie dazu übergegangen, sich auch privat zu treffen und fortan regelmäßig die Kneipen rund um St. Pauli unsicher zu machen.
»Dann ist es also gar nicht so schlimm, wie es aussieht?« Wegner brauchte wohl noch eine letzte Bestätigung, damit er beruhigt nach Hause fahren konnte.
»Eine Garantie würde ich für niemanden und keinem geben. Erst recht nicht in deinem Fall«, gab der Arzt tonlos zurück. »Aber ich bin mir sicher, dass er die Nacht bestens übersteht und in ein paar Tagen zumindest wieder auf den Beinen ist – vielleicht sogar ganz der Alte.«
»Das hab ich befürchtet!«
Auf seinem Heimweg fuhr Wegner absichtlich einige Umwege. Mit weit geöffnetem Fenster umrundete er nun schon zum zweiten Mal die Binnenalster und genoss die Lichter und das Treiben rundherum. Die Luft war kalt, aber sie roch auch nach Frühling. Die Stimmung wischte außerdem die trüben Gedanken aus seinem Kopf.
Endlich, nachdem ganz Norddeutschland monatelang unter Schneemassen geschlummert hatte, waren die Straßen wieder frei. Der Winter 1978 auf 1979 dürfte sicher in die Geschichtsbücher eingehen. Jetzt war es Anfang April und an manchem Tag schaffte es die Sonne sogar, die Wolken zu vertreiben. Nach und nach erwachte die Bevölkerung der schönen Hansestadt aus ihrem Winterschlaf und widmete sich alltäglicher Routine, die nicht nur aus Eiskratzen oder Schneeschieben bestand.
Wegner bog wenig später in die Hohe Weide ein und blieb vor dem Haus stehen, in dem Heidi Wichura wohnte. Sie waren seit einigen Wochen ein richtiges Paar und trafen sich meistens in ihrer Wohnung. Dieses winzige Zwei-Zimmer-Idyll, direkt unter dem Dach, versprühte einen seltsamen Charme, den man erst bei genauerem Hinsehen erkannte. Darüber hinaus war Heidis Dachwohnung um Längen komfortabler als Wegners chronisch unaufgeräumte Junggesellenbude.
Er saß regungslos hinter dem Lenkrad und überlegte, ob er klingeln und zu ihr hochsteigen sollte. Aber wie das enden würde, konnte er sich lebhaft vorstellen. Ganz sicher müsste er am nächsten Tag im Büro wieder mit Streichhölzern nachhelfen, um die Augen offenhalten zu können. Deshalb schob er jetzt energisch den ersten Gang rein und gab Gas.
Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps! Einer von Kallsens Lieblingssprüchen, den er selbst allerdings nur selten beherzigte.
Zuhause angekommen, legte sich Wegner direkt ins Bett, konnte aber natürlich nicht sofort einschlafen. Morgen war erst Dienstag, seine zweite Ganz-Allein-Woche im Büro der Mordkommission – also ohne Kallsen. Nur Irmgard und er selbst hielten die Stellung.
Aber es gab Grund zur Hoffnung, dass auch die kommenden Tage ohne besondere Ereignisse verstreichen würden und die Verbrecher sich mit weiteren Taten Zeit ließen, bis Kallsen einsatzbereit zurückkehrte.
Wenn Wegner in diesem Moment gewusst hätte, wie sehr er sich damit täuschte, hätte er es vielleicht doch vorgezogen, eine letzte, unbeschwerte Nacht in Heidis Heim zu verbringen.
»Sie war schon wieder da.« Irmgard saß mit betretener Miene an ihrem Schreibtisch und knetete mit ihren Fingern zwei Gummibälle, die Wegner ihr ein paar Wochen zuvor mitgebracht hatte. Seitdem klagte sie nur noch selten über die Nebenwirkungen ihrer Arthrose und verschonte darüber hinaus auch ihre Schreibmaschine mit überflüssigem Gehämmer.
Wegner zog seine Brotdose und die Thermosflasche aus der Tasche und stellte sie auf dem Schreibtisch ab. Danach ließ er sich in seinen Stuhl fallen und stöhnte laut. »Und … was war dieses Mal?«
»Sie ist sich immer noch sicher, dass der Kerl von gegenüber sie umbringen will. Gestern hat sie beschlossen, dass sie ihr Haus nicht mehr verlassen wird.«
»Und wie ist sie dann hierher gekommen?«, fragte Wegner und konnte sich dabei ein Grinsen nicht verkneifen.
Irmgard hingegen sprang auf und funkelte ihn wütend an. »Du bist selten dämlich, Manfred! Ein typischer Kerl … ohne Verständnis, geschweige denn Feingefühl.«
Wegner wich ihrem Blick aus und griff zu seiner Thermosflasche. »Für dich! Der Hagebuttentee, den meine Mutter selbst macht. Weil ich ja so wenig Feingefühl habe«, äffte er seine Kollegin nach.
»Ihr Männer seid doch alle gleich: Ein Dach über dem Kopf, warmer Tee … und dann ist die Welt in Ordnung.« Irmgard schnaufte wütend. »Frau Fuchs hat einfach nur Angst! Außerdem hast du doch gehört, was Kallsen gesagt hat …«
»Jaja«, unterbrach Wegner. »Wir sind nicht nur für Mord, sondern auch für Prävention verantwortlich. Und danach hat sich der Alte elegant ins Krankenhaus verabschiedet und mich mit dem ganzen Mist allein gelassen.«
»Bislang sah das so aus, als ob du seine Zeitung liest und auch noch die Stullen futterst, die er sonst verputzt. Mehr habe ich bis jetzt nicht gesehen.«
»Das ist Polizeiarbeit, Irmielein ... davon verstehst du nichts.«
Bevor die Schreibkraft antworten konnte, unterbrach das Telefon diesen Austausch von Freundlichkeiten.
Nicht mal eine Minute später ließ Wegner den Hörer auf die Gabel krachen und vergrub sein Gesicht in den Händen.
»Verdammte Scheiße!«
»Was ist los?«, erkundigte sich Irmgard, nachdem ihr Kollege offensichtlich nicht fortfahren wollte.
»Ich hab’s befürchtet. Nein … ich wusste es!«
»Was wusstest du? Rede, verflucht!«
»Eine Leiche … unten am Fischmarkt.«
»Das ist Polizeiarbeit«, frotzelte Irmgard. »Davon verstehst du doch was.«
Der Fischmarkt war auch an diesem Vormittag von reger Betriebsamkeit erfüllt. Zahlreiche Lkw und Gabelstapler fuhren kreuz und quer, Männer in Overalls stapelten Paletten zu Bergen auf. Überall standen Lieferwagen herum, die nur darauf warteten, endlich mit ihren bestellten Waren davonzubrausen.
Rechts sah Wegner einen Streifenwagen und parkte seinen Audi einfach direkt daneben, auch wenn er damit eines der Tore versperrte. Auf wackeligen Beinen, ohne Frühstück im Bauch, schaute er sich um und versuchte herauszufinden, wo sich der Eingang befand.
Vor ihm schnellte ein Tor hoch, aus dem ein riesiger, fetter Kerl mit blutverschmierter Gummischürze herausgeschossen kam, der sofort zu pöbeln anfing: »Haste `se nicht mehr alle, Jungchen? Hier kommt gleich der nächste Lkw und will dreißig Paletten Fisch laden. Mach dich mit deiner Karre vom Acker, du Schwachkopp!« Dieser Bud Spencer für Arme wankte Wegner entgegen und fuchtelte dabei mit seinen Werkzeugen herum, einem ellenlangen Messer und einem mächtigen Fleischerbeil.
Als nur noch ein paar Meter zwischen den beiden Männern lagen, zog Wegner seine Jacke ein kleines Stück beiseite und gab damit den Blick auf seine Dienstwaffe frei, was den Fleischberg zu einer Vollbremsung veranlasste. Seine Arme sackten herunter, sein Gesicht verzog sich zu einem gequälten Grinsen.
Wegner, der in diesem Moment keine Lust auf überflüssige Debatten hatte, schob sich wortlos an dem Kerl vorbei, um in das Innere der Halle zu gelangen. Mit immer kürzeren Schritten – gebremst von der Last zentnerschwerer Verantwortung – stapfte er zwischen Euro-Paletten, Packtischen und herumwieselnden Arbeitern bis zum Ende der Halle. Schon beim Betreten des Gebäudes hatte er ein kleines Büro in der ersten Etage ausgemacht.
Vor der massiven Metalltreppe stand ein älterer Uniformierter, der seinem jungen Kollegen zur Begrüßung nur zunickte. Wegner schaute die Treppe empor. Er hätte nie geglaubt, dass Selbstzweifel einen derart lähmen konnten. Schritt für Schritt, mit immer weicher werdenden Beinen, nahm er eine Stufe nach der anderen und fühlte sich mit jeder weiteren noch kraftloser als zuvor.
Oben angekommen, blieb er zunächst stehen und sah in die riesige Halle hinunter.
Hätte ihm das Schicksal nicht wenigstens einen etwas intimeren Mord schenken können? Vielleicht eine Einzimmerwohnung am Volkspark oder einen Kellerverschlag in Altona?
Wegner riss seinen Blick von den Arbeitern los und schaute auf den kleinen Glaskasten, hinter dessen halboffener Tür ein grimmig dreinschauender Mann in einem Berg von Papieren wühlte. Er setzte ein paar Schritte nach vorn und versuchte, seinen Kopf von überflüssigem Ballast und Sorgen zu befreien.
»Wegner … Mordkommission. Moin!«
»Moin.« Der Mann hielt es nicht mal für nötig aufzuschauen und wühlte stattdessen nur noch energischer in den Stapeln herum.
»Sie haben ’ne Leiche gefunden?« Das war nicht als Frage gemeint. Wegner wollte vielmehr den Fokus seines Gegenübers auf das Wesentliche lenken.
»Dieser ganze Mist legt mir seit Stunden den Betrieb lahm«, fauchte der Mann zurück, wobei er zwischenzeitlich den Blick gehoben hatte und seinen Besucher feindselig anfunkelte.
»Wenn Sie nicht kooperieren wollen, dann mach ich Ihnen die Bude in ’ner halben Stunde dicht.« Wegner hatte eine ähnliche Reaktion erwartet und war darauf vorbereitet. »Und wenn Sie nicht gleich Ihren Ton ändern, dann sorg ich dafür, dass Sie vor Ende nächster Woche hier keinen Hering mehr vor die Tür schieben. Ist das klar?«
Im Gesicht des Mannes war zu erkennen, dass er sein Gegenüber gründlich unterschätzt hatte. Jetzt erhob er sich flink, schob sich an seinem Schreibtisch vorbei und streckte Wegner die Hand entgegen. »Paul Hansen … ich verwalte den Haufen hier.«
»Dann lassen Sie Ihren Papierkram erst mal liegen und zeigen mir, wo Sie die Leiche gefunden haben.« Auch Wegners Stimme hatte einen etwas zahmeren Ton angenommen.
Bereits auf dem Weg die Stahltreppe hinunter begann Hansen damit, die Fakten in kurzen Sätzen herunterzurattern: »Heute Morgen, etwa halb fünf wird’s gewesen sein. Die erste Schicht musste so schnell wie möglich ’ne komplette Ladung Dorsch für einen Holländer packen, der mit seinem Kühler schon die ganze Nacht vor dem Tor gewartet hatte.«
»Und wo hat man die Leiche gefunden?«
»Mitten im Eis, auf drei Kisten verteilt.«
Unterdessen waren die beiden Männer vor einem weiteren Tor angekommen. Ein Thermometer auf der rechten Seite verriet, dass in der nun folgenden Halle mindestens 18° minus herrschten. Hansen reichte Wegner eine dicke Daunenjacke, die der dankbar annahm.
Weißer Nebel schlug ihnen entgegen, als sie den ersten Fuß durch die kleine Seitentür neben dem Tor setzten.
»Atmen Sie nicht zu tief ein!«, mahnte Hansen, während er sich eine Hand vor den Mund hielt. »Wir müssen ganz bis zum Ende durch und dann nach links, zur TK-Packstation.«
Wegner beobachtete erstaunt das Treiben rundherum. Die Arbeiter hier wirkten wie Eskimos, die mit Ameisen oder Gabelstaplern unaufhörlich mannshoch gepackte Euro-Paletten umhermanövrierten. Vor dem Tor zum Versand standen zwei Streifenbeamte, deren Aufgabe es war, den Tatort vor Unbefugten abzuschirmen. Trotz ihrer Jacken und Mützen bibberten die beiden Uniformierten, was vermutlich in erster Linie ihrer Regungslosigkeit geschuldet war.
Auch hinter dem nächsten Tor wartete ein weiterer Kollege, der schon seit Stunden in der Eiseskälte ausharrte. Wegner gab dem Mann ein Zeichen, dass der – zumindest für ein paar Minuten – vor die Tür gehen und sich aufwärmen könne.
»Die drei waren es!«, brüllte Hansen gegen den Lärm der Kühlmaschinen an. »In der links liegt der Körper, in der Mitte Arme und Beine und rechts der Kopf.«
An den mächtigen Kondenswolken vor Wegners Gesicht war zu erkennen, dass ihm schon diese ersten Informationen gründlich zusetzten. Naserümpfend trat er ein paar Schritte vor und hob den Deckel der ersten großen Kiste ein Stück an um hineinzulinsen. Ebenso abrupt ließ er ihn wieder fallen und drehte sich mit gequältem Grinsen in Hansens Richtung um.
»Irrtum!«, quetschte er heraus. »Hier links liegt der Kopf drin.«
Wegner hatte die Kisten und deren abscheulichen Inhalt nur flüchtig inspiziert und sich danach vor die Tür gerettet. Er brauchte Luft, Wärme, aber hauptsächlich ein paar Minuten, um die ersten Eindrücke wenigstens ansatzweise zu verarbeiten.
Paul Hansen stand neben ihm und stieg unruhig von einem Bein aufs andere. »Ich muss heute noch mindestens dreihundertfünfzig Tonnen Fisch ausliefern. Hier ist nicht alles tiefgekühlt, da verrottet mir der ganze Mist schneller als Sie Makrele sagen können.«
Wegner überlegte einen kurzen Moment und begann dann relativ selbstsicher: »Zuerst mal verriegeln Sie das Tor zur Auslieferung, damit ich meine beiden Kollegen dort rausholen kann ... bevor sie steif frieren.«
Hansen schien dieser Anweisung nichts entgegensetzen zu wollen.
»Wir versuchen, bis Mittag die Kisten abzuholen, um sie in die Rechtsmedizin zu bringen«, fuhr Wegner fort. »Wenn wir hier auf nichts Weiteres stoßen, dann können Sie Ihren Betrieb spätestens am frühen Nachmittag wieder ungestört aufnehmen. Aber bis dahin bleibt der Laden dicht und keine Sprotte, die ich nicht selbst freigegeben habe, rollt hier raus. Ist das klar?«
Hansen nickte und machte schon den ersten Schritt nach vorn. »Lassen Sie uns wieder in mein Büro gehen … Sie wollen doch sicher wissen, woher der ganze Fisch kommt.«
Zurück an seinem Schreibtisch begann Hansen erneut damit, in seinen Papierbergen herumzuwühlen. »Das waren Dorsch, Kabeljau und Heringe. Davon kommen täglich über fünfhundert Tonnen an. Das wird nicht leicht …«
»Wieso?« Wegner nahm ein paar Blätter entgegen und überflog die, ohne wirklich etwas vom Geschriebenen zu verstehen.
»Die großen Trawler kommen meist mitten in der Nacht und laden Berge von Fischen ab. In den Kisten landet der Kram erst, wenn alles vorsortiert ist. Sonst würden hier bei uns ein Butt neben einem Dorsch und ein Hering neben einer Makrele ankommen. Das geht nicht … können wir personell gar nicht stemmen.«
»Also könnte es im Prinzip überall passiert sein.« Wegner rieb sich das Kinn und nahm einen Schluck Kaffee, der seinem Magen hoffentlich dabei half, das Erlebte besser zu verdauen. »Auf dem Schiff, hier im Hafen oder …« Seine Stimme nahm einen geheimnisvollen Tonfall an, »… sogar bei Ihnen?«
»Das stimmt!«, gab Hansen relativ unbekümmert zurück. »Aber, als einer der Packer den Kopf gefunden hat, sind meine Leute natürlich wie die Hühner zusammengelaufen. Jeder wollte sehen, ob es sich um einen von uns handelt.«
»Und?«
»Fehlanzeige! Ich hab den Kerl auch noch nie gesehen und Sie können mir glauben: Ich kenne meine Leute.«
»Wird der Fisch schon auf den Trawlern eingefroren?«, erkundigte sich Wegner, nachdem er eine ganze Weile in den Unterlagen herumgeblättert hatte, ohne dabei auf irgendetwas Hilfreiches zu stoßen.
»Na, klar! Die Kühlkette muss durchgängig sein, ansonsten können wir den Kram hier nicht mehr verwerten. Da gibt es exakte Vorschriften.«
»Und wo, meinen Sie, hat sich dann die Leiche zum Fisch gesellt?« Wegner unternahm einen letzten Vorstoß. Er glaubte ohnehin nicht, dass Paul Hansen ihm wirklich helfen konnte. Dem Mann war letztendlich nur wichtig, dass sein Betrieb so schnell wie möglich wieder ungestört voranginge.
»Wenn Sie mich fragen, dann muss es irgendwo zwischen einem der Trawler und unserer Firma passiert sein. Wir verpacken nur und das in jeder Größe, die unsere Kunden wünschen: vom Schuhkarton bis zur Euro-Palette.«
Als Wegner eine halbe Stunde später wieder vor dem Tor zum Tiefkühlversand eintraf, waren auch die beiden Kollegen der Rechtsmedizin bereits vor Ort. Einer von ihnen schob die letzte Kiste mit einer Ameise in den isolierten Kofferwagen hinein.
»Wir bringen alles zu Kruse rüber«, informierte einer der Männer Wegner atemlos.
»Onkel Hjalmar wird sich bestimmt freuen, wenn er sich seinen Kunden zwischen den ganzen Fischen zusammensuchen muss«, ergänzte der andere lachend. »Das haben wir auch nicht alle Tage.«
Kurz darauf trat Hansen wieder hinzu. Sein fragender Blick sprach Bände.
Wegner überlegte eine Weile. Was sollten sie hier noch finden, um der Lösung dieses Falles näher zu kommen? Er ließ einige von Kallsens Weisheiten Revue passieren, wobei er in diesem Moment für keine davon Verwendung fand. Wenn Hansen wirklich recht hatte und die Leichenteile hier letztendlich nur gefunden wurden, dann gab es in diesem Kühlhaus ohnehin nichts Brauchbares, was ihn auf die Spur des Täters führen würde. Außerdem könnte er jederzeit zurückkehren, um an Ort und Stelle weiter zu ermitteln.
Nach heftigem Schnaufen und Kopfschütteln traf Wegner dann eine Entscheidung: »Sie können weitermachen.« Seine Stimme klang dünn und das war kein Wunder, denn er wusste selbst nicht, ob er einen Fehler machte und den im Nachhinein womöglich bitter bereuen würde. Spätestens dann, wenn Kallsen ihm die Resultate seines Handelns auf die übliche unsympathische Weise um die Ohren schlug und ihn wie einen dummen Jungen im Regen stehen ließ.
»Wir rücken ab!«, informierte Wegner auch seine wartenden Streifenkollegen, die ihn dafür mit erleichterten Gesichtern belohnten.
»Ich hab da noch eine Liste der Trawler, die heute Nacht entladen haben«, begann Hansen bereitwillig, während er den davonfahrenden Peterwagen hinterherschaute. Er zog einen ganzen Stapel Papiere aus seiner Jackentasche.
Wegner nahm die Liste und überflog sie kurz. »Das ist ein guter Anfang. Ich fahr gleich zum Hafen runter und red mit den Leuten. Vielleicht hat einer was gesehen und …«
»Da werden Sie sich wohl ein paar Tage gedulden müssen«, unterbrach Hansen. »Die meisten sind längst wieder auf hoher See und hoffen, dass sich die Netze randvoll füllen.«
»Gibt es da oft Streit an Bord?«, wollte Wegner wissen. Natürlich kannte er sich als Sohn eines Kapitäns mit Seeleuten gut aus, aber er wusste auch, dass jede Branche ihre Eigenheiten aufwies.
»Was denken Sie denn? Das sind Fischer. Ein sonderbarer Schlag Menschen. Die sind alles, nur nicht zimperlich. Da landet manch einer im Hafenbecken und fragt sich hinterher, wie er dorthin gekommen ist.«
Die Männer verabschiedeten sich wortlos voneinander. Jeder hatte genug mit seinen eigenen Dingen zu tun: Der eine musste bergeweise Fisch auf die Reise bringen, während der andere mittlerweile hinter seinem Lenkrad hockte und nicht nur an seiner Entscheidung, sondern auch gründlich an sich selbst zweifelte.
Wegner überflog ein weiteres Mal die Liste mit Schiffen und Liegeplätzen. Alleine dieser Teil dürfte Tage in Anspruch nehmen und vermutlich am Ende doch zu nichts führen. Unverändert ratlos startete er den Motor und rollte die Rampe hinunter.
Es wurde Zeit, einen Schritt nach vorne zu machen und Kallsen mit Ergebnissen, statt Fragen zu beeindrucken – nur wie? Aber er war schließlich bei der Mordkommission und nicht in der Abteilung für Hühnerdiebe oder Handtaschenräuber …
»Und … wie war’s?« Irmgard goss gerade die Blumen, als Wegner das Büro der Mordkommission betrat.
»Ich hab eine erste Spur.« Er deutete auf die Liste. »Hier sind alle Fisch-Trawler, die heute Nacht im Hafen angekommen sind. Zum Beispiel die Angela II«, fügte er stolz hinzu.
»Wer nennt denn ein Schiff Angela?«
»Was weiß ich denn? Wie würdest du ein Schiff taufen, wenn du eins hättest?«
Irmgard überlegte, schien jedoch zu keinem brauchbaren Ergebnis zu kommen.
»Man hat die Leiche in einem Kühlhaus gefunden, in Einzelteilen«, fuhr Wegner fort. »Und ich hab gedacht, dass ich die Scheißkälte endlich hinter mir hätte.«
»Was hast du erwartet, Manni? Dass in Zukunft nur noch Leute bei Sonnenschein am Elbestrand umgebracht werden, weil der junge Herr Kommissar genug gefroren hat?«
Wegner verneinte die Frage kopfschüttelnd und griff zu einem Zettel, den jemand auf seine Wählscheibe geklebt hatte. »Was ist das? Heißt das da oben Krankenhaus?«
Irmgard nahm den Zettel und betrachtete ihr eigenes Werk mit zusammengekniffenen Lidern. »Das kann man doch ganz klar erkennen! Natürlich steht da Krankenhaus … du sollst deinen Freund anrufen, diesen Teichmann oder wie der heißt.«
»Danke, Irmie!« Wegner hatte zum Hörer gegriffen und wählte eilig die Nummer.
»Was ist los, Christian?«, fragte er mit nervösem Unterton, als der Arzt endlich abnahm.
»Wann holst du deinen Chef ab? Der macht mir hier die ganze Station verrückt.«
»Also ist er wieder einigermaßen aufm Damm.« Wegner atmete erleichtert aus. »Geht es ihm gut? Haben sich seine Probleme ... aufgelöst?« Jetzt konnte er ein Lachen nicht verkneifen.
»Der hat schon in der Nacht die Schwester zehnmal aus dem Schlaf geklingelt. Ich habe ihn wieder auf die Station verlegen lassen, für Intensiv gibt es wirklich keinen Grund mehr.« Christian Teichmann atmete schwer, lachte dann aber vorsichtig. »Ist der auf der Arbeit auch so?«
»Nö, schlimmer!«
»Wie geht’s ihm?«, erkundigte sich Irmgard, nachdem Wegner aufgelegt hatte.
»Offensichtlich ganz gut … er nervt schon wieder die Schwestern.«
»Ich fahr nach Feierabend zu ihm rüber und bring ihm neuen Kuchen. Aber ich sag ihm auch, dass er sich in Zukunft zurückhalten muss, sonst ist Sense mit den Lieferungen ...«
»Das wird ihm vermutlich auch piepegal sein. Er lässt sich doch nicht mal von ärztlichen Ratschlägen abschrecken.«
Irmgard schüttelte den Kopf und nahm ein Blatt von Wegners Notizen. »Das ist ja widerwärtig!«, stieß sie in ersticktem Ton hervor, nachdem sie die Zeilen überflogen hatte. »Wenn du die Fotos hast, dann lass sie bloß nicht hier rumliegen. Ich will so was nicht sehen!« Ihrem Gesicht war jegliche Farbe entwichen. »Hier der Kopf, da die Beine und woanders der Körper. Was gibt es nur für Menschen?«
Wegner ignorierte ihre Frage und fuhr stattdessen ungerührt fort: »Wenn du heute Nachmittag zu ihm gehst, dann fahr ich heut Abend wieder hin. Vorher muss ich in die Rechtsmedizin …«
Am Mittag steckte Heidi Wichura ihren Kopf zur Tür herein. »Kantine?«, fragte sie fröhlich.
Wegner schaute auf seine Stullendose, die er bis zu diesem Zeitpunkt nicht mal angerührt hatte. Nach den Eindrücken des Morgens weigerte sich sein Magen immer noch beharrlich, so etwas wie Appetit zu entwickeln. »Ohne mich … aber ich könnt ’nen Kuss vertragen.«
»Du warst unterwegs! Ich war zum Frühstück schon mal hier, da hat mir Irmie alles erzählt.« Die beiden Frauen wechselten gequälte Blicke. »War’s schlimm?«
Wegner nickte nur und drückte seiner Heidi einen weiteren Kuss auf.
»Vielleicht sollte mein großes Sensibelchen doch lieber zur Wirtschaft wechseln und Steuersünder jagen. Da hat man es selten mit Leichen zu tun«, prustete Heidi lachend heraus, während sie erneut vielsagende Blicke mit Irmgard tauschte.
»Ich hab mich gerade an den Scheiß hier gewöhnt, da werd ich wohl kaum die Biege machen und Kallsen damit allein lassen. Das kannst du vergessen!«
Nachdem Heidi in Richtung Kantine abgezogen war, schnappte Wegner seine Jacke und verabschiedete sich in nachdenklichem Ton: »Ich fahr zur Rechtsmedizin rüber. Das wird länger dauern, also schönen Feierabend.« Er hatte bereits die Klinke in der Hand. »Grüß Kalle und sag ihm, dass ich später vorbeikomme.«
Auf dem Weg zum Ausgang lief ihm ausgerechnet der Präsidiumsleiter Paul Franke vor die Füße.
»Ich hab`s schon gehört, Kollege!«, begann Wegners Oberboss munter. Seine Stimme dröhnte durch die leeren Flure. »Haben wir eine erste Spur?«
»Zuerst mal muss ich darauf warten, was Kruse herausfindet. Ende der Woche kommen die Trawler zurück … schätze, dort finden wir auch den Täter.« Er konnte nur hoffen, dass diese ersten Happen ausreichten, um zu verdeutlichen, dass er am Ball war.
»Und Kallsen?« Wegners Informationen schienen an Paul Franke völlig vorbeigegangen zu sein. »Kommt der alte Haudegen wieder auf die Beine?«
»Das hoffe ich. Er ist zäh wie Leder …«
»… und bockig wie ein Esel!«
Vor dem rechtsmedizinischen Institut musste Wegner ein paar Minuten warten, weil ein Lkw gerade einen Container direkt vor der Tür absetzte. Er parkte seinen Wagen und betrat das Gebäude durch die Hintertür. Mittlerweile kannte er sich aus und bevorzugte es, den kleinen Dienstweg zu wählen.
Doktor Kruse saß in seinem Büro und studierte eine Akte. Wegner klopfte an die offene Tür und begrüßte den Chef der Pathologie mit festem Händedruck.
»Endlich mal ein freundliches Gesicht«, presste Kruse schwer atmend heraus und warf die Akte auf seinen Schreibtisch. »Was führt unseren hoffnungsvollen Kommissar zu mir? Wollen Sie sich ein paar Fische fürs Abendessen abholen?«
Wegner schüttelte den Kopf und lachte. Er wollte den deutlich älteren und erfahreneren Kollegen nicht unter Druck setzen und wartete stattdessen lieber darauf, dass Kruse fortfuhr.
»Wir haben Ihre Kisten erhalten und meine Studenten sortieren seit zwei Stunden Fische. Eine schöne Schweinerei haben Sie uns da eingebrockt. Wenn wir uns nicht beeilen, dann stinkt es hier noch in drei Wochen wie in einer Fischbratküche ...«
»Das hab ich mir kaum ausgesucht«, gab Wegner trocken zurück. »Wenn’s nach mir gegangen wäre, dann hätte ich Ihnen lieber einen Kunden am Stück und in ’ner sauberen Schachtel geliefert.«
»Haben Sie den Container vor der Tür gesehen?«
»Hab ich! Ist der für die …?«
»Wofür sonst?«, gab Doktor Kruse mit verzogenem Gesicht zurück. »Essen kann man die Dinger wohl kaum noch.«
Wegner beschloss, die Flucht nach vorn anzutreten: »Konnten Sie schon irgendwas herausfinden?«
»Junger Freund! Ich habe die Leiche noch keine zwei Stunden und Sie erwarten bereits Wunder. Kallsens raues Gemüt scheint abzufärben.«
»War doch nur ’ne Frage«, gab Wegner mit beschwichtigender Geste zurück. »Ich hab ansonsten keine Spur und hoffe, dass die Autopsie irgendwas zutage fördert.«
»Bis jetzt kann ich Ihnen nur die Ergebnisse meiner ersten Besichtigung mitteilen.«
»Und die wären?«
»Es handelt sich um einen Mann und der ist tot.«
Wegner konnte kaum an sich halten und versuchte bewusst, seinen Blick auf ein paar furchterregende Bilder von Autopsien zu lenken, die an den Wänden rundherum hingen. Ansonsten wäre er am Ende womöglich vom Stuhl gefallen.
»Sie lachen, junger Mann. Aber man hat uns hier tatsächlich schon Leichen gebracht, die gar keine waren. Vor zwei Monaten ist uns einer vom Tisch gesprungen und hat als Erstes gefragt, wo seine Zigaretten geblieben sind.«
»Und gibt es sonst noch was?«, stieß Wegner prustend hervor. Er musste vom Thema ablenken oder es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Flucht zu ergreifen.
»So wie ich es sehe, wurde der Körper des Mannes mit einer Säge zerlegt. Post mortem … also nach Eintritt des Todes.« Derart trocken konnte bei einem solchen Thema nur jemand referieren, der seit Jahrzehnten tagtäglich auf Du und Du mit dem Tod stand. »Eine Säge mit sehr feinen Zähnen. Außerdem – das dürfte Sie interessieren – war der Körper, als er zerlegt wurde, bereits tiefgefroren. Das erkennt man ganz deutlich an den Wunden.«
Wegner schrieb und schrieb. Die letzten Monate hatten gezeigt, wie wichtig es war, jedes noch so kleine Detail schriftlich festzuhalten, bevor es einem durch die Maschen schlüpfte.
»Aber da ist noch eine Sache …«
Wegner schaute Doktor Kruse nur fragend an.
»Ein Arm fehlt.«
»Wie jetzt … fehlt?«
»Er fehlt! Wir haben den Torso in der einen, den Kopf in einer anderen und zwei Beine sowie einen Arm in der letzten Kiste gefunden. Der zweite Arm ist verschwunden.«
Zimmer 17, Abteilung Innere Medizin. Seitdem Wegner den Fahrstuhl verlassen hatte, murmelte er die Zimmernummer vor sich hin, weil seine Gedanken mit allen möglichen Dingen beschäftigt waren. Schon am frühen Morgen hatte er das Gefühl, als ob sein Schädel jeden Moment platzen wollte. Die Last der Verantwortung und ebenso der Druck, den er sich selbst machte, nahmen von Stunde zu Stunde rasant zu.
Auf der Station angekommen, bog Wegner wie gewohnt in einen Flur nach rechts, fand die Tür zu Zimmer 17 jedoch offen vor. Aus dem Inneren des Raums drang Gemurmel, deshalb blieb er zunächst stehen und lauschte.
»Ich weiß auch nicht, wo Ihre Prothese geblieben ist, Herr Kallsen«, krähte eine Frauenstimme, die zu einer Vierzig-, vielleicht Fünfzigjährigen passte. »Außerdem … was wollen Sie denn damit? Sie dürfen ohnehin nicht aufstehen.«
Jetzt hörte Wegner auch Kallsen, dessen höhnischen Unterton er nur zu gut kannte: »Das lassen Sie mal schön meine Sorge sein. Soll ich hier vielleicht auf einem Bein herumspringen, Oberschwester Rabiata?«
»Ich heiße Sperber!«, protestierte die Frau energisch.
»Na, das passt ja auch. Einen wehrlosen Krüppel verarschen … das gefällt euch wohl.«
Kurz darauf sah Wegner die Frau im weißen Kittel mit wütendem Gesicht hinausstürmen. Vermutlich hätte sie am liebsten die Tür hinter sich zugeknallt, schaute ihn aber nur giftig an und entschwand stöhnend.
Wegner schob sich in den Raum und begrüßte seinen Chef mit skeptischer Miene. »Du solltest freundlicher zu den Damen sein, sonst weiß man nie, was die einem abends in die Tablettendose packen. Und dein zweites Bein wird sich schon wieder anfinden.«
Kallsen grunzte nur, was in erster Linie daran lag, dass er sich kurz zuvor eine ganze Scheibe Brot in den Mund gestopft hatte.
»Darfst du so was schon wieder essen?«
»Ist mir doch egal«, antwortete Kallsen, nachdem er heruntergeschluckt hatte. »Hast du noch Stullen übrig?«
»Hab ich alle selbst verputzt. T`schuldigung!«
»Macht nix«, gab der Hauptkommissar grinsend zurück und griff in die Schublade seines Nachttisches. »Mutti war schon hier und hat mir welche gebracht.«
Wegner weigerte sich seit Wochen beharrlich, zu dem Verhältnis zwischen seiner Mutter und seinem Chef Stellung zu nehmen. Er hoffte unverändert, dass sich diese seltsame Liaison mit der Zeit von selbst auflösen und seine Mutter endlich wieder Vernunft annehmen würde.
»War heute was los?«, erkundigte sich Kallsen, während er schon an der nächsten Stulle kaute.
»Wir haben ’ne Leiche!«
»Nicht wir, Jungchen … du hast ’ne Leiche. Der Arzt sagt, dass ich noch mindestens für zwei bis drei Wochen ausfalle, eher länger.«
»Was soll das bedeuten?«, hinterfragte Wegner. »Wie soll ich denn den ganzen Mist alleine schaffen?«
»Du hast doch Irmgard!«, gab Kallsen unbekümmert zurück. »Ihr müsst euch aufteilen: Sie erledigt den Schreibkram, während du die Ermittlungen übernimmst. Außerdem merkst du jetzt auch mal, was ich für Heldentaten vollbracht habe, bevor du gekommen bist.«
Wegner schwieg und beschränkte sich auf ein mechanisches Kopfschütteln.
»Wenn du mich nett darum bittest, dann hör ich mir die Sache mal an und geb dir gern den einen oder anderen Ratschlag«, durchbrach Kallsen die Stille. »Fang an, Jungchen … sonst musst du noch mit ansehen, wie ich hier auf der Bettpfanne hocke und mir ’nen Aal aus der Reuse drücke.«
Wegner schüttelte sich angewidert, holte dann aber ein kleines Büchlein aus der Tasche und ratterte die Fakten tonlos herunter. Am Ende angekommen, sprach sein hilfloser Blick Bände.
Kallsen, der das Rückenteil seines Bettes fast senkrecht gestellt hatte, schien von diesen Informationen derart unbeeindruckt, dass er zuerst nur gähnte. »Hast du geprüft, wem das Kühlhaus gehört?«
Wegner verneinte und kritzelte etwas in sein Notizbuch.
»Nimm dir auch mal die größeren Kunden vor und ruf bei der Bank an, um herauszufinden, wie’s dem Laden finanziell so geht!«
Erneut notierte sich Wegner ein paar Punkte.
»In erster Linie aber musst du herausfinden, wer der Tote ist. Solange du nicht weißt, mit wem du es zu tun hast, ist es schwierig, den Täter zu finden.«
»Und noch schwieriger, wenn jemand sämtliche Zähne herausgebrochen und die Finger abgehackt hat«, ergänzte Wegner niedergeschlagen. »Dein Freund Hjalmar meint, dass es am Körper nichts gibt, was auf die Identität der Leiche hinweist.«
»Der alte Schwarzmaler könnte uns nicht mal helfen, wenn er den Ausweis des Toten in seiner Hosentasche gefunden hätte. Also lass dich von seinem Geschwätz nicht entmutigen!«
»Und was soll ich machen? Durch die Kneipen marschieren und fragen, ob mir einer helfen kann?«
»Vermutlich liegt die Lösung in dem Teil, das wir nicht haben«, sinnierte Kallsen leise vor sich hin.
»Dem fehlenden Arm?«
»Richtig! Aber bevor du dich in irgendeine Sache verrennst, solltest du zuerst herausfinden, wo die Leiche in die Fischkisten gekommen ist. Das dürfte zumindest erste Hinweise liefern. Außerdem …«
»Ja?«
»Du musst dir Zeit für etwas viel Wichtigeres freihalten.«
»Wofür?« Wegners Miene wurde noch ernster.
»Für deine Mutter. Sie will am Wochenende die Küche und das Wohnzimmer tapezieren … und du hilfst ihr. Ich zähl auf dich, Jungchen! Eine Hand wäscht die andere …«
Vom Krankenhaus war Wegner direkt zu Heidis Wohnung gefahren. Selten hatte er sich so zerschlagen und mutlos gefühlt. Sein Besuch bei Kallsen hatte ihn unterm Strich kein Stück weitergebracht – ganz im Gegenteil. Seine Liste war vielmehr um einige Punkte angewachsen, die einen großen Haufen zusätzlicher Arbeit und Probleme mit sich brachten. Da dürfte ein bisschen Ablenkung kaum schaden.
Aber schon als Heidi ihm ein paar Minuten später die Tür öffnete, verhieß ihr Gesicht nichts Gutes. Sie drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und bat ihn, mit eher zögerlicher Geste, herein.
Kurz darauf saß Wegner auf dem Sofa und beobachtete Heidi, die vor ihrer kleinen Küchenzeile stand und Tee kochte. In fast jeder Ecke des Wohnzimmers glimmten Räucherstäbchen oder es verdunstete irgendein orientalisches Öl über einem Teelicht. Ein fürchterlicher Gestank, von dem er regelmäßig Kopfschmerzen bekam.
»Wir müssen reden, Manfred.« Heidi hatte zwischenzeitlich zwei Becher auf dem Couchtisch abgestellt und saß Wegner jetzt in einem Sessel gegenüber. Ihr Gesicht wirkte fast so, als ob ihr diese Distanz noch immer nicht reichte.
»Was heißt das, reden?«
Heidi presste die Lippen zusammen und schien noch nach den richtigen Worten zu suchen, deshalb begann Wegner aufs Neue, um es ihr leichter zu machen: »Du willst sagen, dass Schluss ist?« Er griff zu dem Teebecher und verbrühte sich schon mit dem ersten Schluck gründlich den Mund. Mit verzogener Miene fuhr er fort: »Quäl dich doch nicht so, mein Mädchen!« Sein Ton war – im Gegensatz zu seiner sonst bärbeißigen Art – ganz ruhig, fast gefühlvoll.
»Wir passen irgendwie nicht zusammen, Manfred, also … langfristig.« Sie stotterte. »Ich mag dich, kann sogar mit deinen Ausbrüchen leben, aber … aber …« Den Rest verschluckte sie zunächst.
Wegner rieb sich die Schläfen. Die Kopfschmerzen waren schon wieder da und er spürte in diesem Moment, dass er eigentlich nur noch eins wollte: weg ... schlafen … Kraft tanken.
»Weißt du …« Heidi schien zum finalen Streich auszuholen. »Ich interessiere mich für Kultur, für fremde Länder und deren Gebräuche.« Sie deutete auf den kleinen Buddha auf ihrer Fensterbank und danach auf ein paar Bilder mit ähnlichen Motiven. »Und du interessierst dich fürs Boxen, Fußball und Gott weiß was. Das passt einfach nicht zusammen.« Sie holte tief Luft. Jetzt folgte der Todesstoß: »Außerdem will ich Kinder.«
Wegner starrte auf seine gefalteten Hände und nickte ausdruckslos. Als er seinen Blick hob, sah er, dass Heidi weinte. Deshalb erhob er sich eilig, wanderte zum Sideboard hinüber und kehrte mit einem Taschentuch zurück.
Nachdem Heidi sich geräuschvoll geschnäuzt hatte, sagte er ganz ruhig und völlig beherrscht: »Wir hatten es doch ein paar Wochen sehr schön, meine Kleine. Mein Vater hat immer gesagt: Was nicht sein soll, soll nicht sein.«
»Ich dachte, dein Vater ist ein Arsch?« Heidi lachte schniefend.
»Stimmt! Aber manchmal haben auch Ärsche recht. Außerdem weißt du, wie ich über Kinder denke. Das ist mir zu früh … deutlich zu früh!«
***
»Wir dürfen gerade jetzt, wo’s so gut läuft, nichts riskieren. Wann kommt die nächste Lieferung?«
»Am Wochenende! Freitag … spätestens Samstag.«
»Wird auch Zeit, sonst laufen unsere Leute noch mit leeren Taschen rum und müssen Knallfrösche verkaufen.«
»Die Leiche hat man übrigens schon vor dem Frühstück gefunden. Genau dort, wo du es wolltest.«
»Dann lassen wir die Spürhunde laufen und schauen einfach zu, was passiert. Ist doch schön, wenn die Bullen unsere Arbeit erledigen.«
***
»Ich weiß, dass du gestern bei ihm warst! Er hat’s mir doch selbst erzählt.« Wegner hatte auf dem Weg ins Präsidium bei seiner Mutter Station gemacht. Warum er ausgerechnet an diesem Morgen das Bedürfnis verspürte, klare Kante zu machen, konnte er selbst nicht erklären.
»Ich wüsste nicht, was dich das angeht, Manfred!« Auch seine Mutter schien bereit zu sein, diesen Konflikt bis zum bitteren Ende auszufechten. »Ich war im Krankenhaus und hab’ ihm ein bisschen Gesellschaft geleistet. Das lasse ich mir von niemandem verbieten, auch nicht von dir!«
»Weiß der Alte davon?«
»Wovon?« Wegners Mutter lief rot an. »Ich treffe mich hin und wieder mit einem Freund. Wir essen zusammen, unterhalten uns und lachen viel. Muss ich mich dafür vor deinem Vater, der von zwölf Monaten elf auf hoher See verbringt, vielleicht rechtfertigen? Kalle und ich haben Spaß, na und!«
»Spaß?«
»Du denkst doch nicht etwa, dass wir …?«
»Bis jetzt habe ich es gedacht!«
Wegners Mutter lief kopfschüttelnd durch die Küche und ballte die Fäuste, als ob sie ihrem Sohn am liebsten eine Tracht Prügel verpassen wollte. »Ich würde deinen Vater niemals betrügen«, begann sie in einem Ton, der keinen Zweifel am Inhalt ihrer Aussage zuließ. »Wenn ich so ein Bedürfnis hätte, dann würde ich es deinem Vater sagen und ihn verlassen.«
»Das macht auch kaum einen Unterschied«, fügte Wegner verbittert hinzu. »Eure Ehe ist ein Haufen …«
»… Gewohnheit!«, ergänzte seine Mutter schnell, weil sie genau wusste, was er sagen wollte. »Wir haben uns arrangiert und jeder weiß, was er am anderen hat.«
Wegner schnappte sich sein Frühstück, drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Stirn und machte sich ohne ein weiteres Wort davon. Diese alten Debatten führten am Ende zu nichts und hinterließen nur eine noch tiefere Leere.
Im Präsidium angekommen, erwartete ihn schon die nächste unangenehme Überraschung.
»Frau Fuchs! Sie sind es ... wieder«, presste er gequält heraus. »Was kann ich heute für Sie tun?«
Auch Irmgard schaute auf und schenkte Wegner zuerst nur ein missbilligendes Kopfschütteln, das dann jedoch von einem schadenfrohen Grinsen abgelöst wurde.
»Er hat gestern wieder den ganzen Abend am Fenster gestanden und zu mir rübergeschaut«, begann die Frau mit verzweifeltem Gesicht. »Es wird nicht mehr lange dauern …«
»Was wird nicht mehr lange dauern?« Wegner hatte sich gesetzt und schob die Papiere auf seinem Schreibtisch zu einem Stapel zusammen. »Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass der Mann Ihnen etwas antun will? Warum sollte er?«
»Ich weiß nicht, warum, aber er wird ...« Die Stimme der Frau erstarb und machte, wie schon so oft zuvor, Tränen Platz. Ihr Kopf sackte auf die Brust. Außer einem Schniefen gab sie nichts mehr von sich.
Wegner ruderte mit den Armen herum, um Irmgard zu signalisieren, dass er schon wieder ein Taschentuch benötigte. Kurz darauf reichte er Frau Fuchs das zweifellos erforderliche Utensil und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. Von einem schweren Seufzen begleitet, informierte er die beiden Frauen dann über seine nächsten Schritte: »Ich werd dem Kerl heute Abend mal einen Besuch abstatten.«
Wegner schaute in zwei Paar große Augen. »Was?«, blaffte er mit dröhnender Stimme. »Das ist es doch, was ihr wolltet.«
»Und was willst du ihm sagen?«, bohrte Irmgard mit hochgezogenen Brauen. Auch das Gesicht von Frau Fuchs schien dieselbe Frage zu stellen.
»Mein Gott!« Mittlerweile lief Wegner unruhig von einer Ecke des Büros in die andere. »Ich frag ihn, warum er den ganzen Abend am Fenster steht und zu Frau Fuchs rüberschaut. Versuche herauszufinden, was er will und was der ganze Schabernack soll.«
»Und wenn er dir keine Antwort gibt oder Dummtüch erzählt?«, bohrte Irmgard weiter.
»Dann ist das zumindest ein Warnschuss und er wird sich gut überlegen, ob er irgendwas anstellt. Schließlich weiß er dann ganz genau, dass wir ihn auf dem Radar haben.«
Frau Fuchs schnaubte geräuschvoll aus und erhob sich danach langsam. Kurz darauf drückte sie Wegner vorsichtig die Hand und schaute ihm dabei fest in die Augen. »Danke«, flüsterte sie und warf einen erleichterten Blick zu Irmgard hinüber. »Mehr wollte ich gar nicht. Danke!«
Nachdem Frau Fuchs das Büro verlassen hatte, saß Wegner wieder am Schreibtisch. Irmgard schwieg beharrlich, deshalb wühlte er erneut in seinen ganzen Aufzeichnungen und fühlte sich hilfloser denn je.
Die Fisch-Trawler kehrten erst zum Wochenende in den Hamburger Hafen zurück. Blieb also die Frage, welchen Spuren er bis dahin folgen sollte, um mit den Ermittlungen voranzukommen. Als sein Telefon klingelte, war er dankbar für die Ablenkung: Nur für ein paar Sekunden dieser Welt entkommen, die aus nichts als toten Fischen, abgehackten Gliedmaßen und übernervösen Frauen bestand.
»Franke … Moin, Herr Wegner. Ich sitz hier mit Horst Schüler, kommen Sie doch mal zu uns rüber.«
Schon auf dem Weg zum Büro des Präsidiumleiters rasten Hunderte von Gedanken durch Wegners Kopf.
Was wollte der Boss von ihm?
Ging es um den aktuellen Fall?
Und warum hatte sich auch der stellvertretende Polizeipräsident eingefunden?
Selbst als er vor Paul Frankes Bürotür angekommen war, hatten sich sein Verstand und seine düsteren Vorahnungen noch immer auf kein brauchbares Ergebnis geeinigt. Deshalb klopfte er einfach vorsichtig an die Tür und schob sich in den Raum.
»Nehmen Sie Platz, Wegner!« Horst Schüler war sogar aufgestanden und streckte ihm die Hand entgegen. Paul Franke beschränkte sich dagegen nur auf ein freundliches Nicken.
Als alle saßen, begann der stellvertretende Polizeipräsident in routiniertem Ton: »Da ist er also – unser Held.«
»Ich verstehe nicht …« Wegner schüttelte heftig den Kopf. »Was meinen Sie mit Held? Im Moment verfolge ich nur ein paar Spuren und es sieht ganz gut aus. Vielleicht kann ich am Wochenende schon den ersten Verdächtigen verhaften.« Das war eine glatte Lüge! Oder eher eine Flucht nach vorn, die mit erheblichem Risiko behaftet war.
»Er redet noch von Ihrem letzten Fall«, klärte Paul Franke Wegner lachend auf. »Ihre Idee mit Eduard Zimmermann und seinen Aktenzeichen. Das hat den Täter mächtig unter Druck gesetzt und am Ende dazu geführt, dass sich die Sache von ganz allein erledigt hat.«
»Und ohne Sie hätte Kallsen vielleicht noch bis Ostern gebraucht, um endlich den Schuldigen aus der Tasche zu ziehen«, ergänzte Horst Schüler mit gezwungener Miene.
»Ohne Kalle hätten wir nicht mal gewusst, dass es sich bei dem Mörder um einen Türken handelt«, gab Wegner energisch zurück. »Die Lorbeeren kann ich nicht für mich allein einheimsen, das steht fest.«
»Bescheiden ist er auch noch, Paul.« Horst Schüler griff in seine Aktenmappe und zog ein einzelnes Blatt heraus. »Wie’s auch sei, Kollege … das ist Ihre Beförderung. Von heute an sind Sie nicht mehr Anwärter, sondern Kommissar. Und dafür gibt es viele gute Gründe, ganz gleich, welchen Anteil unser einbeiniger Dinosaurier an den Erfolgen auch hatte.«
Wegner schaute die beiden Männer abwechselnd verwirrt an. Sein Sprachzentrum schien ausgefallen zu sein, obwohl sich sein Mund immer weiter öffnete.
»Glückwunsch, Kollege!« Paul Franke war aufgesprungen und schüttelte Wegner kraftvoll die Hand. »Enttäuschen Sie unser Vertrauen nicht, sonst stehen wir nach so einer Entscheidung schnell im Regen und müssen uns unangenehme Fragen gefallen lassen.«
Wegner war nicht ins Büro der Mordkommission zurückgekehrt, sondern stand in diesem Moment mit verträumtem Gesicht mitten in der Kantine. Ohne wirklich etwas wahrzunehmen, wanderte sein Blick durch die Auslage.
»Brauchst du Hilfe, Manfred?« Es war Heidi, die sich unbemerkt von hinten angeschlichen hatte und ihm jetzt einen Klaps auf den Hintern verpasste. »Übrigens: Glückwunsch!«
»Seit wann weißt du’s schon?«
Heidi versuchte ganz unschuldig dreinzuschauen und zog die Mundwinkel nach oben. »Auch noch nicht lange. Vielleicht … zwei Wochen.«
Wegner packte sie mit beiden Händen am Hals und tat so, als ob er zudrücken wollte. »Und wann wolltest du es mir sagen?«
»Heute! ... aber die hohen Herren sind mir wohl zuvorgekommen.«
Ein paar Minuten später saßen die beiden an einem der Tische und genossen ihr Frühstück. Es schien fast, als ob das Gespräch am vorangegangenen Abend nicht stattgefunden hätte.
»Ich lad dich nächste Woche zum Essen ein.« Heidi lachte ganz offen und klatschte mit der flachen Hand auf den Tisch. »Das hast du dir verdient, du … Superbulle!«
»Aber …« Wegner zögerte einen Moment und versuchte seine Gedanken zu sortieren. »… wir sind nicht mehr zusammen, oder?«
»Stimmt! Aber das hat damit doch gar nichts zu tun. Wir bleiben Freunde …«
»Wenn man Freunde bleiben kann, dann kann man auch zusammenbleiben«, entgegnete Wegner in seltsamem Ton. »Irgendwie macht das für mich alles keinen Sinn.«
»Manfred!« Heidi tätschelte ihm die Wange und lächelte milde. »Man kann gemeinsam auf einem Turm stehen und Händchenhalten, muss dabei aber nicht in dieselbe Richtung schauen.«
»Ist das so eine Weisheit aus deinem Buddhismus?«, erkundigte sich Wegner verbittert.
»Das ist eine Weisheit aus dem Leben«, entgegnete Heidi unverändert fröhlich. »Auch wenn du es nicht verstehen willst, ich bleibe deine Freundin – nur anders als vorher.«
Mit gemischten Gefühlen verließ Wegner kurze Zeit später die Kantine. Auf der einen Seite schob sich die Freude über seine unerwartete Beförderung nach vorne. Auf der anderen nagten Heidis Worte und darüber hinaus ein Mordfall, der ebenso hartnäckig nach weiteren Schritten verlangte.
Im Büro angekommen, erwartete ihn Irmgard mit vielsagender Miene. »Da war ein Anruf für dich«, platzte es aus ihr heraus. »Dieser Kruse, aus der Pathologie.« Sie verzog das Gesicht. »Das ist aber auch ein widerlicher Kerl … mit seinen ganzen Leichen.«
»Was wollte er?«
»Keine Ahnung!«, gab Irmgard entrüstet zurück. »Ich bin hier nur die Tippse und hab keine Ahnung von Polizeiarbeit.« Sie zögerte kurz. »Er hat nur gesagt, dass du rüberkommen sollst. Sie haben das letzte Teil gefunden, meinte er. Weiß auch nicht …«
Wegner griff nach seiner Jacke. Auf dem Weg in die Gerichtsmedizin versuchte er, seine Gedanken auf den Fall zu fokussieren. Er hoffte, dass Kallsen mit seiner Vermutung Recht behielt und der Arm des Toten tatsächlich einen entscheidenden Hinweis lieferte.
»Ist ziemlich mitgenommen, der fehlende Flügel«, begann Doktor Kruse, nachdem Wegner ihn im Obduktionssaal gefunden hatte. Rund um den blanken Metalltisch hatte sich auch eine Handvoll Studenten versammelt, die den Mediziner aufmerksam bei seiner Arbeit beobachteten.
»Was sind das für Wunden?«, wollte Wegner wissen. Er betrachtete den muskulösen Arm und verzog mehr und mehr das Gesicht.
»Ich schätze mal, dass sich ein paar Krähen an dem üppig vorhandenen Fleisch zu schaffen gemacht haben«, gab Hjalmar Kruse unbekümmert zurück und lächelte dabei seine Studenten irgendwie verschmitzt an. »Aber, das hier wird Sie vermutlich interessieren.« Der Pathologe drehte den Arm um und gab damit den Blick auf eine Tätowierung frei, die vom Handgelenk bis fast zum Ellenbogen hochreichte.
Wegner betrachtete das gestochene Kunstwerk. Es handelte sich um einen Anker, darüber ein rotes Herz in Flammen, dessen Farbe schon seit Jahren verblasste. Entscheidend allerdings war ein Name, der mit schwarzen Buchstaben dieses Herz zu durchbohren schien: Seeperle. Der zweite Name auf der Liste mit den Fisch-Trawlern, direkt unter Angela II.
Das war der Hinweis, den der oder die Mörder zu vertuschen versucht hatten. Eine Spur, an deren Ende womöglich die Lösung dieses Falles lag oder zumindest ein großer Teil davon.
»Wo hat man den Arm gefunden?«, erkundigte sich Wegner tonlos.
»Direkt am Alster-Wanderweg. Da hat ihn ein Hund aus dem Gebüsch gezerrt. War sicherlich ein schöner Schock für sein Herrchen. Hoffe, das hilft Ihnen, Kollege?« Hjalmar Kruse kannte vermutlich die Antwort auf seine Frage, schien es aber trotzdem hören zu wollen.
Wegner nickte jedoch nur und verabschiedete sich per Handschlag. Die Studenten schauten einem frischgebackenen Kommissar verwirrt hinterher, der ebenso eilig entschwand, wie er gekommen war.
»Wir haben den Arm!« Wegner setzte sich auf den Stuhl neben Kallsens Bett und beobachtete ihn beim Mittagessen.
»Der Fraß ist echt kaum auszuhalten. Am Ende ist es noch ein Wunder, wenn ich die Tage hier überlebe.«
Wegner hatte natürlich nicht mit überschäumender Begeisterung gerechnet, aber dass sein Chef derart gleichgültig reagierte, verwunderte ihn dann doch.
»Wir haben eine Spur, den Namen von diesem Kutter ... und wenn alles glattgeht, dann nehme ich am Freitagabend schon unseren Mörder fest.« Wegner donnerte mit der Faust auf Kallsens Matratze, was sogar das Tablett ins Wanken brachte.
»Pass doch auf, du Hornochse! Oder willst du, dass mir die Roulade auf die Decke purzelt?« Der Hauptkommissar funkelte Wegner grimmig an und verzog genervt das Gesicht. »Außerdem hast du eine Spur und kannst deinen Mörder bald verhaften. Ich bin krank und muss erst mal wieder zu Kräften kommen, nachdem mich dein schöner Freund, dieser Teichmann, fast umgebracht hätte.« Kallsen stopfte sich eine halbe Roulade auf einmal in den Mund und schnaufte nur noch.
»Ist gut … ich hab verstanden. Danke!« Wegner schwieg zunächst und wartete darauf, dass der riesige Happen endlich seinen Bestimmungsort erreichte. »Kannst du mir wenigstens sagen, wie ich am besten vorgehen sollte?«
Kallsen wischte sich mit der Serviette den Mund ab und parkte das Tablett auf dem Nachttisch. Seine Miene wurde nachdenklich und Wegner hoffte, dass sein Chef zur Vernunft gefunden hätte und schließlich bereit wäre, ihm ein paar Tipps zu geben.
»Hast du schon die Tapeten und Farbe für deine Mutter besorgt?«
Wegners Kopf sackte auf die Matratze. Er keuchte und schnaufte. Es schien so, als ob er sich am liebsten aus dem Fenster geworfen hätte, um diesem Elend ein Ende zu bereiten.
»Ist ja gut, Junge … sag mir, was du vorhast und ich verrate dir, wie ich darüber denke.« Kallsen hatte sich ein Stück aufgesetzt und wirkte jetzt ehrlich interessiert.
»Ich nehme ein paar Streifenbesatzungen und wir erwarten den Kutter schon, wenn er am Dock anleint.«
»Mindestens zwanzig Männer«, ergänzte Kallsen. »Man kann nie wissen, was euch dort erwartet.«
Wegner nickte. In diesem Fall war es überflüssig, den Kommentar zu notieren. »Wir nehmen die komplette Mannschaft mit und verhören sie auf der Wache.«
»Außerdem lässt du die Ladung sicherstellen, damit wir wissen, worum es geht«, fügte Kallsen erneut hinzu. »An der Sache ist was faul, das spür ich.«
»Okay!« Wegner kritzelte wieder in seinem Buch herum. »Ehrlich gesagt …« Seine Miene verzog sich zu einem jämmerlichen Grinsen. »… weiter reicht mein Plan noch nicht.«
Kallsen überlegte eine Weile und Wegner befürchtete schon, dass er ihn als Nächstes fragen würde, ob er bereits für einen vernünftigen Tapeziertisch gesorgt habe. Wider Erwarten begann sein Chef in nachdenklichem Ton von Neuem: »Du solltest auch die Wasserschutzpolizei benachrichtigen, die euch von der Wasserseite aus unterstützt.« Kallsen griff nach seinem Dessert und schnupperte mit gerümpfter Nase daran. »Außerdem braucht ihr ein paar Hunde, damit ihr nicht zu lange in den Fischen herumgraben müsst.«
Wegner schaute fragend, notierte aber trotzdem einige Dinge in sein Büchlein. »Da telefoniere ich mit meinem Bruder, der ist bei Bell und Beiß …« Eine Bezeichnung, die fast jeder erfahrene Polizist für die Hundestaffel gebrauchte.
»Wenn du die Kerle erst mal zum Verhör am Tisch hast, dann lass sie schmoren und verwende meinen ...«
»… alten Trick«, vervollständigte Wegner grinsend.
Kallsen nickte.
Erst als Wegner sich einige Zeit später verabschieden wollte, fiel ihm schlagartig, die mit Abstand wichtigste Neuigkeit ein: »Ich bin übrigens Kommissar«, berichtete er mit stolzgeschwollener Brust. »Seit heute!«
»Ich weiß«, gab Kallsen gewohnt gleichgültig zurück.
»Woher?«
»Ich hab dich schließlich vorgeschlagen, du Dummkopf. Und jetzt raus … ich hab noch Kuchen von Irmie und nicht vor, den mit dir zu teilen.«
***
»Den Arm haben sie nun auch gefunden. Kam schon heute früh in den Nachrichten.«
»Perfekt! Wenn die Bullen nicht allzu blöd sind, dann sollten selbst die eins und eins zusammenzählen können.«
»Und werden sich darum kümmern, dass wir in Zukunft einen Konkurrenten weniger haben.«
»Wozu zahlen wir denn unsere Steuern? Die können auch ruhig mal was für uns tun!«
»Unsere Lieferung kommt definitiv am Freitag an. Die Männer scharren schon mit den Hufen.«
»Lass sie scharren. Wir machen weiter, wie geplant.«
***
Wegner war während der Fahrt zweimal falsch abgebogen, steuerte seinen Wagen jetzt aber endlich in eine Parklücke vor dem Haus, in dem sein Ziel lag. Eilig stapfte er die Treppen hinauf und schaute auf das Klingelschild, um sicherzugehen, dass er vor der richtigen Wohnungstür stand.
Er drückte den Knopf tief durch. Innen hörte er es Schrillen und wenig später auch Schritte, die sich der Tür näherten. Durch den Spion fiel einen kurzen Moment Licht, dann wurde er wieder dunkel, bevor sich der Schlüssel im Schloss drehte.
Durch einen schmalen Spalt, den die Türkette freigab, schaute ein Gesicht in den schummrigen Flur hinaus. »Wer sind Sie?«, erkundigte sich ein Mann, dessen Miene zwar misstrauisch, aber nicht unfreundlich wirkte, mit erstaunlich warmer Stimme.
»Wegner, Kripo Hamburg.« Er holte seinen Dienstausweis hervor, auf dem noch immer Kommissaranwärter stand. Es dürfte vermutlich noch einige Wochen dauern, bis ein neues Dokument das alte ablöste. »Sind Sie Walter Krämer?«
Der Mann nickte nur. Zuvor hatte er Wegners Ausweis neugierig beäugt, der ihm offensichtlich ausreichte, denn er öffnete jetzt die Tür ganz. »Ich weiß zwar nicht, was Sie wollen, aber Sie können gern reinkommen.« Herr Krämer deutete mit einladender Geste in seinen Flur.
Es dauerte eine Weile, bis die beiden Männer im Wohnzimmer Platz nahmen und vorerst nur wortlose Blicke tauschten. Langsam wurde es Zeit, zur Sache zu kommen. Das verdeutlichten beide Gesichter übereinstimmend.
»Wie kann ich Ihnen helfen?« Herr Krämer zögerte einen Moment lang. »Wollen Sie etwas trinken … Tee oder Kaffee?«
»Nein, danke.« Wegner überlegte immer noch, wie er anfangen sollte. Es gab weder einen konkreten Vorwurf noch irgendeinen – auch nur vagen – Hinweis, dass sein Gegenüber ein Verbrechen plante.
»Sie wundern sich vermutlich, was ich von Ihnen will.«
»Allerdings! Ich habe nichts verbrochen …«
»Kennen Sie Frau Fuchs … Ihre Nachbarin gegenüber?« Es wurde Zeit, in die Offensive zu gehen, was blieb Wegner auch anderes übrig? »Frau Fuchs war bei uns und hat sich …«, er zögerte kurz, »… besorgt geäußert.«
»Worüber?« Krämers Gesicht wirkte aufrichtig erstaunt. Er lachte kurz und schüttelte den Kopf. »Sie sind hier, weil meine Nachbarin in Sorge ist?«
»Sie hat uns erzählt, dass Sie manchmal den ganzen Abend am Fenster stehen und in ihre Wohnung hinunterschauen.« Wegner zuckte mit den Schultern und lächelte entschuldigend. »Ich weiß, dass das kein Verbrechen ist! Aber vielleicht können Sie mir sagen, warum Sie das tun?«
Krämers Gesicht verfinsterte sich für einen kurzen Augenblick. Ihm war anzusehen, dass er seine nächsten Worte gründlich überdachte, bevor ihm etwas Unüberlegtes entfuhr.
»Ich glaube, ich kann Ihnen nicht helfen, Herr Wegner.« Der Mann rutschte unruhig auf seinem Sessel herum. »Es wird doch wohl kaum verboten sein, abends an seinem Fenster zu stehen und hinauszuschauen. Außerdem ist das mit diesem ganzen Abend kompletter Blödsinn«, fügte er giftig hinzu. »Wenn sich diese … Frau Fuchs oder wie auch immer sie heißt, davon gestört fühlt, dann sollte sie ihre Vorhänge zuziehen, statt die Polizei mit ihren lächerlichen Vermutungen zu belästigen.«
»Ich kann Ihre Haltung ja verstehen, aber …«
»Sie sollten jetzt besser gehen«, fuhr Walter Krämer in entschlossenem Ton fort. »Ich berufe mich auf meine staatsbürgerlichen Rechte und wer nichts getan hat, wird in unserem schönen Land wohl auch kaum mit einer Strafe zu rechnen haben. Oder irre ich mich?«
Wegner erhob sich stöhnend und reichte seinem Gegenüber zum Abschied die Hand. »Sie müssen entschuldigen – es war nur ein Versuch, die Sache ohne großes Tamtam aus der Welt zu schaffen.«
»Welche Sache?«
Wegner zuckte nur mit den Schultern und schob sich kurz darauf in den stockdunklen Hausflur. »Ich behalte die Angelegenheit im Auge, Herr Krämer. Schönen Abend noch!«
Voller Tatendrang erreichte Wegner an diesem Morgen das Büro der Mordkommission, wo Irmgard ihn schon neugierig erwartete.
»Und?«
»Was, und?«
»Na, was wohl?«, moserte sie. »Wie war’s gestern Abend, bei dem Typen … diesem Spanner?«
»Nix, außer überflüssigem Gelaber.« Wegner setzte sich an seinen Schreibtisch und versuchte Irmgards Blicken auszuweichen. »Ich hab ihm gesagt, dass wir Bescheid wissen und ihn im Auge behalten«, fuhr er genervt fort. »Was soll ich denn tun, verdammt? Ihn verhaften, weil er abends mal einen Blick aus dem Fenster wirft und sich die liebe Frau Fuchs davon gestört fühlt? Die soll ihre Vorhänge zuziehen, wenn sie’s nicht mehr aushält.«
»Schon gut, Manni.« Irmgard stand auf und bewegte ihren massigen Körper erstaunlich flink um die Schreibtische herum. Sie bremste abrupt vor Wegner und legte ihm sogar eine Hand auf die Schulter. »Das hast du gut gemacht, mein Lieber. Mir ist klar, dass wir im Moment nicht mehr tun können.« Sie stand immer noch an seiner Seite und streckte ihm jetzt ihre Hand entgegen.
»Was willst du, Irmielein? Bist du pleite?«
»Du Quatschkopf!«, polterte sie zurück. »Ich will seinen Namen und seine Adresse. Es wird Zeit, dass Kommissarin Block zur Tat schreitet und mal einen Blick hinter die Fassaden wirft.«
Wegner zog die Brauen hoch und musterte Irmgard mit skeptischem Blick. »Was hast du vor? Willst du dir ’nen Waffenschein besorgen und Selbstjustiz üben?«
»Lass mich das mal schön machen. Und jetzt rück die Sachen raus, sonst werd ich ungemütlich!«