Fantrilogie II: Wegners erste Fälle (Teil 5-7) - Thomas Herzberg - E-Book

Fantrilogie II: Wegners erste Fälle (Teil 5-7) E-Book

Thomas Herzberg

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Beschreibung

!!! Teil 5-7 der ersten Wegner-Reihe zum Sparpreis !!!

»Das Böse«: Hamburg, Januar 1980: Das Böse schleicht durch die vereisten Straßen Hamburgs. Es entführt Kinder. Als die Leiche einer Elfjährigen gefunden wird, treibt allein das Wegner fast an den Rand des Wahnsinns. Selbst Hauptkommissar Kallsen verliert seine übliche Gelassenheit. Denn auch, wenn ein Schuldiger schnell gefunden zu sein scheint, schlägt das Böse erneut zu. Jeder Tag bringt neues Grauen mit sich, das anfangs noch völlig willkürlich erscheint. Aber ist das tatsächlich so …?
»Alte Sünden«: März 1980: Saure-Gurken-Zeit in Sachen Mord. Während Kallsen in erster Linie Augenpflege betreibt, widmet sich Wegner alten Fällen, an denen sich schon ganz andere die Zähne ausgebissen haben. Im Zuge neuer Ermittlungen werden die Kommissare immer weiter in einen Strudel aus Lügen, Intrigen und rücksichtsloser Gewalt gezogen. Nichts ist, wie es scheint. Höchste Zeit also für außergewöhnliche Methoden. Doch jeder neue Versuch endet in der nächsten Sackgasse. Sollten die Verantwortlichen dieses Mal tatsächlich davonkommen?
»Vergeltung«: November 1980: Das erste Herbst-Hochwasser hinterlässt auf dem Hamburger Fischmarkt nicht nur Treibholz und Verwüstung: Arbeiter finden die Leiche einer jungen Frau. Doch das ist nur der Anfang. Wegner und Kallsen bekommen es mit einem alternden Kiez-Boss zu tun, der bei seiner Suche nach Vergeltung für blutige Tatsachen sorgt. Ein neuer Fall, der die Kommissare vor eine folgenschwere Entscheidung stellt ... 

Lektorat/Korrektorat: Michael Lohmann

 

Aus der Reihe Wegners erste Fälle:

  • »Eisiger Tod« (Teil 1)
  • »Feuerprobe« (Teil 2)
  • »Blinde Wut« (Teil 3)
  • »Auge um Auge« (Teil 4)
  • »Das Böse« (Teil 5)
  • »Alte Sünden« (Teil 6)
  • »Vergeltung« (Teil 7)
  • »Martin« (Teil 8)
  • »Der Kiez« (Teil 9)
  • »Die Schatzkiste« (Teil 10)

Aus der Reihe Wegner & Hauser (Hamburg: Mord)

  • »Mausetot« (Teil 1)
  • »Psycho« (Teil 2)

Aus der Reihe Wegners schwerste Fälle:

  • »Der Hurenkiller« (Teil 1)
  • »Der Hurenkiller – das Morden geht weiter …« (Teil 2)
  • »Franz G. - Thriller« (Teil 3)
  • »Blutige Rache« (Teil 4)
  • »ErbRache« (Teil 5)
  • »Blutiger Kiez« (Teil 6)
  • »Mörderisches Verlangen« (Teil 7)
  • »Tödliche Gier« (Teil 8)
  • »Auftrag: Mord« (Teil 9)
  • »Ruhe in Frieden« (Teil 10)

Aus der Reihe Wegners letzte Fälle:

  • »Kaltes Herz« (Teil 1)
  • »Skrupellos« (Teil 2)
  • »Kaltblütig« (Teil 3)
  • »Ende gut, alles gut« (Teil 4)
  • »Mord: Inklusive« (Teil 5)
  • »Mörder gesucht« (Teil 6)
  • »Auf Messers Schneide« (Teil 7)
  • »Herr Müller« (Teil 8)

Aus der Reihe "Hannah Lambert ermittelt":

  • »Ausgerechnet Sylt« (1)
  • »Eiskaltes Sylt« (2)
  • »Mörderisches Sylt« (3)
  • »Stürmisches Sylt« (4)
  • »Schneeweißes Sylt« (5)
  • »Gieriges Sylt« (6)
  • »Turbulentes Sylt« (7)

Aus der Reihe "Zwischen Mord und Ostsee":

  • »Nasses Grab« (1)
  • »Grünes Grab« (2)

Weitere Titel aus der Reihe Auftrag: Mord!:

  • »Der Schlitzer« (Teil 1)
  • »Deutscher Herbst« (Teil 2)
  • »Silvana« (Teil 3)

Unter meinem Pseudonym „Thore Holmberg“:

  • »Marthas Rache« (Schweden-Thriller)
  • »XIII« (Thriller)

Weitere Titel:

  • »Zwischen Schutt und Asche« (Nachkrieg: Hamburg in Trümmern 1)
  • »Zwischen Leben und Tod« (Nachkrieg: Hamburg in Trümmern 2)
  • »E.S.K.E.: Blutrausch« (Serienstart E.S.K.E.)
  • »E.S.K.E.: Wiener Blut« (Teil 2 - E.S.K.E.)
  • »Ansonsten lächelt nur der Tod«

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Veröffentlichungsjahr: 2019

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Ähnliche


Thomas Herzberg

Fantrilogie II: Wegners erste Fälle (Teil 5-7)

Hamburg Krimis

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

In diesem Sammelband sind enthalten:

Fan-Trilogie

Wegners erste Fälle

(Teile 5-7)

 

»Das Böse« ... schleicht durch die vereisten Straßen Hamburgs. Ein Fall, der Wegner mehr als jeder vorherige an die Nieren geht … (Teil 5)

»Alte Sünden« ... verschlagen Wegner in die Hafenstraße. Doch die Verstrickungen reichen viel weiter in die Vergangenheit. Ein kniffliger Fall, der Wegner und Kallsen bis an den Rand des Wahnsinns treibt … (Teil 6)

»Vergeltung« ... auf der Suche danach hinterlässt ein alternder Kiez-Boss blutige Spuren in Hamburg. Im vorerst letzten Teil der ersten Wegner-Fälle müssen die Kommissare auch ihre letzten Hemmungen begraben, um die Verantwortlichen zur Strecke zu bringen … (Teil 7)

 

Eine Leseprobe von »Der Hurenkiller: Wegners schwerste Fälle (Teil1)« ... eine Prostituierte nach der anderen wird bestialisch ermordet. Der Start in eine weitere Wegner-Serie …

 

 

Die ersten Fälle beschreiben – wie der Name ja schon sagt – Wegners Anfänge bei der Hamburger Mordkommission. Wer seinen Werdegang von Beginn an verfolgen möchte, ist herzlich eingeladen.

 

 

 

 

 

 

Titel

Das Böse

Wegners erste Fälle (5. Teil)

von Thomas Herzberg

 

Alle Rechte vorbehalten

Fassung: 1.02

 

Die Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und/oder realen Handlungen sind rein zufällig. Sämtliche Äußerungen, insbesondere in Teilen der wörtlichen Rede, dienen lediglich der glaubhaften und realistischen Darstellung des Geschehens. Ich verurteile jegliche Art von politischem oder sonstigem Extremismus, der Gewalt verherrlicht, zu selbiger auffordert oder auch nur dazu ermuntert!

 

Ein großes Dankeschön geht an:

Michael Lohmann (Lektorat, Korrektorat: worttaten.de)

Meine lieben Testleser Birgit, Lia und Nicolas

 

 

Inhalt:

 

Hamburg, Januar 1980: Das Böse schleicht durch die vereisten Straßen Hamburgs. Es entführt Kinder. Als die Leiche einer Elfjährigen gefunden wird, treibt allein das Wegner fast an den Rand des Wahnsinns. Selbst Hauptkommissar Kallsen verliert seine übliche Gelassenheit. Denn auch, wenn ein Schuldiger schnell gefunden zu sein scheint, schlägt das Böse erneut zu. Jeder Tag bringt neues Grauen mit sich, das anfangs noch völlig willkürlich erscheint. Aber ist das tatsächlich so …?

(Jeder Wegner-Fall ist eine in sich abgeschlossene Geschichte. Es kann jedoch nicht schaden, auch die vorangegangenen Fälle zu kennen ...;)

 

Lektorat/Korrektorat: Michael Lohmann - worttaten.de

 

1

 

»Ich war gestern bei deiner Mutter.«

»Du warst was, bitte?« Wegner schaute seine Freundin Coco mit offenem Mund an. Zunächst wollte allerdings nichts mehr herauskommen. Auch weil die beiden in einem Restaurant saßen und zwei ältere Frauen am Nachbartisch schon lange Ohren bekamen.

»Wir haben zusammen Kaffee getrunken und uns unterhalten, mehr nicht.«

»Mehr nicht«, wiederholte Wegner mit gequälter Stimme. Seine Miene ließ keinen Zweifel daran, was er von diesem – zumindest für ihn – überraschenden Kaffeekränzchen hielt. »Und was ist dabei herausgekommen?«

»Seitdem du wieder bei ihr wohnst, weiß sie, dass du dich keinen Deut verändert hast. Du bist ein richtiger Pascha, sagt sie.« Coco lachte und bekam sich gar nicht wieder ein. »Außerdem hat sie kein Problem damit, dass ich Tänzerin bin.«

Wegner lachte ebenfalls, biss sich jetzt allerdings auf die Unterlippe, um schnell aufhören zu können. »Mädchen, du bist keine Tänzerin, du arbeitest in einem Stripladen.«

»Und … da … tanze ich!«, betonte Coco Wort für Wort. »Oder wie würdest du es nennen?«

Bevor er antworten konnte, störte der Kellner Wegners Ansinnen, eine exakte Definition zu liefern. Das war vielleicht auch besser so.

 

»Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte der Zwerg mit ausdrucksloser Stimme.

»Ich nehme vorweg den gemischten Salat, danach das Wiener Schnitzel und zum Nachtisch Eis mit heißen Kirschen.« Es war Sonntagabend. Coco hatte das ganze Wochenende gearbeitet und offensichtlich Bärenhunger. Jetzt fuhr sie sich mit der Zunge über ihre rot geschminkten Lippen. Ein Anblick, der dem winzigen Kellner sofort die Schamesröte ins Gesicht trieb. »Und falls ich hinterher noch mehr möchte, melde ich mich schon.« Sie kicherte albern und warf Wegner einen aufmunternden Blick zu. »Was ist denn mit dir los, Manfred? Du siehst ja fürchterlich aus, bist du plötzlich krank?«

»Krank nicht, aber fast pleite.« Wegner hielt dem Kellner seine Speisekarte entgegen. »Mir reicht das Schnitzel – vielleicht mit ein paar mehr Fritten als beim letzten Mal. Und am besten ’ne Lupe, damit ich das Gemüse finde.«

»Wir haben gerade erst Monatsmitte«, flüsterte Coco, nachdem der Kellner mit pikiertem Gesicht und der Bestellung das Weite gesucht hatte. »Was machst du denn mit deinem Geld?«

Wegner stöhnte geräuschvoll, hob dann aber doch zu einer Antwort an: »Schon vergessen? Ich bin Beamter, das ist geregelte Armut.« Er lachte, ohne dabei viel Freude zu versprühen. »Außerdem bin ich im Januar traditionell pleite.«

»Dann lade ich dich heute Abend ein.«

»So weit kommt’s noch!« Wegner sah tatsächlich aufrichtig empört aus. »Wenn mich mein Mädchen zum Essen einladen muss, dann gehe ich lieber los und überfalle ’ne Bank.«

Coco kicherte schon wieder. »Okay ... und falls sie dich schnappen, backe ich dir einen Kuchen mit ’ner Feile drin.«

Wegner verzichtete auf eine Antwort und nickte nur mit gequälter Miene.

»Ist sonst noch was?«, fragte Coco. In ihrer Stimme schwang ein misstrauischer Unterton mit. Das vorangegangene Thema hatte sie augenscheinlich völlig verdrängt und ging gleich zum nächsten über: »Du hättest nach deinem Wohnungsbrand lieber gleich bei mir einziehen sollen. Erst das Chaos bei deinem Freund Helge, dann die Tage auf Kallsens Sofa und jetzt ...«

»... lebe ich wieder bei meiner Mutter«, vervollständigte Wegner mit einer Stimme, die zu diesem Fazit bestens passte. Trotzdem zuckte er mit den Schultern. »Und?«

»Was soll das heißen, und?« Coco war auf Hochtouren. »Ich habe dir angeboten, dass du auch bei mir wohnen kannst. Aber du wolltest ja nicht!«

Erneut verzichtete Wegner auf eine Antwort. Diese Taktik war, im Rahmen derartiger Auseinandersetzungen, wohl die schlechteste Wahl. Und weil er beharrlich schwieg, setzte Coco umso energischer nach: »Du willst nicht mit einer Stripperin zusammen leben, richtig?«

»Das hat mit Wollen doch überhaupt nichts zu tun«, protestierte Wegner nach kurzer Bedenkzeit. »Ich bin Bulle ... da setzt man ein gewisses Verantwortungsbewusstsein voraus. Leider!«

»Wer?«

»Wer, was?«

»Wer setzt dieses Verantwortungsbewusstsein voraus?« Coco hatte offensichtlich nicht vor zurückzuziehen.

»Meine Vorgesetzten.« Wegner tat ein paar schwere Atemzüge und fuhr etwas leiser fort. Die beiden Frauen am Nebentisch lehnten sich mittlerweile in seine Richtung, um nichts zu versäumen. »Wenn ich Glück habe, dann werde ich irgendwann Chef der Mordkommission. Verstehst du?«

»Nö!« Coco schenkte ihm ein künstliches Lächeln. »Wie auch ... ich bin doch nur eine blöde Stripperin. Wie soll ich da ...?«

»Das habe ich weder gesagt, noch gemeint, verdammt!« Wegner wollte schon mit der Faust auf den Tisch donnern, schaffte es aber knapp, sich zu bremsen.

Eine ganze Weile beschränkten sich die beiden auf eisiges Schweigen. Am Ende war es Coco, die offensichtlich nicht bereit war aufzugeben. »Du bist Polizist, okay, aber deshalb kann man dich doch noch lange nicht zwingen, auf ein Privatleben zu verzichten. Außerdem vergeht kein Tag, an dem du nicht über deinen Job fluchst.« Sie schenkte Wegner ein halbwegs freundliches Lächeln. »Und vielleicht erinnerst du dich … bei deinem letzten Fall hat man sogar deine Bude angezündet. Wo sind denn jetzt deine tollen Vorgesetzten, die es am liebsten sehen würden, wenn du dir ’ne Freundin im Kloster aussuchst?«

Zuerst versuchte es Wegner erneut mit einem Schulterzucken. Als ihm klar wurde, dass es sich dabei um keine gute Idee handelte, lieferte er überhastet eine Antwort: »Wenn du so genau weißt, wie bei uns der Hase läuft, dann frage ich mich, warum du nicht in unserer Führungsetage sitzt.«

»Ist mir zu wenig Kohle!«, gab Coco ganz lapidar zurück. »Außerdem weichst du aus, Manfred. Aber ich hab dich schon verstanden – keine Antwort ist nämlich auch eine Antwort.«

Der Kellner brachte gleich zwei Schüsseln mit Salat. Wahrscheinlich hatte er Wegners Bankrotterklärung gehört und Mitleid mit einem abgebrannten Polizisten.

»Hat deine Hausratversicherung mittlerweile gezahlt?«, erkundigte sich Coco mit halb vollem Mund.

Wegner musste runterschlucken, bevor er antworten konnte: »Der Schwachkopf aus der Schadensregulierung hat irgendwas von Unterversicherung gefaselt. Was das am Ende bedeuten soll, weiß ich nicht.«

»Ganz einfach: Die wollen nicht zahlen. Was sonst?«

»Bei den Tomaten kann man froh sein, wenn man sich keinen Zahn daran ausbeißt.« Wegner schob die halb volle Salatschüssel von sich und schickte ein Lächeln über den Tisch. »Gilt dein Angebot eigentlich immer noch?«

Coco schaute verwundert auf. »Welches Angebot? Ach so ... ich zahle gerne, falls dein Stolz das zulässt.«

»Und ich meinte, ob ich bei dir einziehen kann?«

Wieder herrschte langes Schweigen. Wegner musste sich einige skeptische Blicke gefallen lassen, bevor seine Freundin zu einer Antwort anhob: »Willst du das denn wirklich?«

»Würde ich sonst fragen?«

Sie schüttelte vorsichtig mit dem Kopf. »Und was ist, wenn deine Vorgesetzten von dir verlangen, dass du mit mir Schluss machst?«

»Dann können sie mir mal den Hobel blasen.«

»Klingt gut.«

»Sag ich ja!«

2

Montagmorgen

»Du stinkst nach irgendeinem Parfum!«

»Nach Parfum stinkt man nicht«, korrigierte Wegner seinen Chef kopfschüttelnd. »Man riecht danach.«

»Egal ... halt da rechts hinter den Streifenwagen an!«, fauchte Kallsen.

»Hätte ich sowieso gemacht.« Wegner legte eine halbe Vollbremsung hin, zögerte aber noch damit, den Motor abzuschalten. »Mein Gott, du hast heute ja wieder eine Laune zum Weglaufen.«

»Ist das ein Wunder? Ich bin nicht mal zu meinem morgendlichen Sch...«

»Danke, das reicht schon!« Wegners guter Laune konnte an diesem Morgen nichts und niemand Abbruch tun. Er hatte eine traumhafte gemeinsame Nacht mit Coco hinter sich. Einzige negative Konsequenz war Schlafmangel, der sich allerdings erst gegen Mittag bemerkbar machen würde.

»Alles nur, weil du mich in diese Karre gezerrt hast und …« Kallsens Gezeter verstummte abrupt. »Verdammte Scheiße!«, zischte er jetzt.

Die Kommissare standen auf einem Waldweg mitten im Volkspark hinter zwei Peterwagen. Wegner hatte gerade den Zündschlüssel abgezogen und war mit seinen Habseligkeiten beschäftigt. »Wieso, was ist los?«, fragte er in abwesendem Ton.

»Siehst du die Gesichter unserer Kollegen?«

Wegners Blick wanderte von einem Uniformierten zum nächsten. Davon stand rund ein halbes Dutzend querbeet verteilt. Allesamt mit hochgestellten Kragen und tief heruntergezogenen Dienstmützen. »Denke, die frieren – oder was meinst du?«

»Das sicher auch«, gab Kallsen mit Grabesstimme zurück. »Aber so sehen sie nur aus, wenn’s um Kinder geht.«

»Mir hat man am Telefon nur gesagt, dass der Hund von einem Spaziergänger eine Strickjacke mitten im Wald gefunden hat«, verteidigte sich Wegner. »Und ...«

»Wann war das?«, fuhr Kallsen dazwischen.

»Heute Morgen, kurz vor sechs. Die Einsatzleitstelle hat mich aus dem Bett geklingelt. Ich hab denen die Nummer von Coco gegeben, damit ...«

»Lass gut sein!«, unterbrach Kallsen ihn. Danach warf der Hauptkommissar einen wütenden Blick auf seine Armbanduhr. »Es ist fast halb zehn!«

Wegner tat einen schweren Atemzug und holte von Neuem aus: »Was kann ich denn dafür, wenn du deinen Arsch nicht aus dem Bett bekommst?«

Sein Chef zuckte mit den Schultern. Damit schien zumindest dieses Thema abgehakt zu sein. »Auf jeden Fall haben wir es mit einem toten Kind zu tun. Darauf verwette ich meinen besten Zwirn.«

»Den will auch keiner haben! Aber falls du recht hast, dann …«

»Dann was?«

»Wäre es für mich das erste Mal«, gab Wegner kleinlaut zu. Er kämpfte mit einer Kröte, die sich in seinem Hals breitzumachen versuchte. »Ich hab gehofft, es würde länger dauern«, schickte er flüsternd hinterher.

»Kannst du mir mal sagen, wie ich hier aussteigen soll?« Kallsen hatte die Beifahrertür geöffnet und schaute direkt in einen Straßengraben hinunter. Dort stand das Wasser mindestens kniehoch. »Meinst du vielleicht, ich kann fliegen?«

»Wenn, dann wäre das wenigstens mal was«, erwiderte Wegner lachend. Kurzentschlossen startete er den Motor und setzte ein paar Meter zurück, bis neben der offenen Beifahrertür wieder halbwegs fester Boden zum Vorschein kam. »So recht, Euer Gnaden?«

Kallsen verzichtete auf eine Antwort. Stattdessen stieg er aus und humpelte davon. Ein Stück entfernt hob ein Mitarbeiter der Spurensicherung das weiß-rote Absperrband an, um den Hauptkommissar passieren zu lassen.

Neue Kunden, neue Runden, dachte Wegner und schaute seinem Chef kopfschüttelnd hinterher. So ein Blödsinn – ein paar grimmige Gesichter bedeuteten doch hoffentlich noch lange keine Kinderleiche.

Ein fataler Irrtum, der ihn in den nächsten Tagen nicht nur um seinen Schlaf, sondern auch fast um den Verstand bringen würde.

»Und, was haben wir hier?« Keine zwei Minuten später war Wegner an der Seite seines Chefs angekommen. Der stand zwischen einer Handvoll Birken, direkt vor einer frisch ausgehobenen Grube. Darüber hatten die Kollegen der Spurensicherung ein provisorisches Zelt gespannt.

»Hast du wenigstens meinen Schirm mitgebracht?«, knurrte Kallsen. Für Mitte Januar war es zwar nicht allzu kalt, dafür regnete es seit Tagen Bindfäden.

Wegner schüttelte nur mit dem Kopf. Er machte einen weiteren Schritt nach vorne, um ebenfalls einen Blick in die Grube werfen zu können. Mittendrin kniete Hjalmar Kruse, der Leiter der Rechtsmedizin. »Moin, Doktor!« Er ging in die Knie und reichte dem Kollegen die Hand.

Kallsen beließ es bei einem trägen Nicken und räusperte sich lautstark.

Hjalmar Kruse blinzelte nach oben. »Guten Morgen, die Herren!« Er wischte sich mit dem Handrücken Wasser und Schmutz aus dem Gesicht. »Legt ihr Wert auf meine erste Einschätzung?« Seine Stimme klang gequält. Der Teil seines Gesichts, der durch das Loch im Einmal-Overall herausschaute, lieferte den Rest dazu.

»Nö …«, erwiderte Kallsen mit bösem Lachen. »Wir sind nur mal so vorbeigekommen und fahren gleich wieder. Ist mir zu nass heute.«

»Er hat mal wieder ’ne Scheißlaune«, erklärte Wegner flüsternd und schickte ein vorsichtiges Grinsen hinterher.

»Da hat er auch allen Grund zu!« Hjalmar Kruse hatte sich hochgestemmt. Nur sein Kopf und seine Schultern ragten über den Rand der Grube hinweg. »Wir haben ein totes Mädchen …«

»Wie alt?«, wollte Kallsen sofort wissen.

»Zwischen zehn und zwölf«, kam es in genervtem Tonfall zurück. Die Miene des Doktors machte klar, was er von weiteren Unterbrechungen hielt. »Die Kleine hat nicht lange hier gelegen – höchstens ein paar Tage.«

Wegner stand auf der ersten Sprosse einer kurzen Leiter, deren Füße sich schon bedrohlich in den Boden der Grube bohrten. Er wollte gerade den zweiten Schritt machen, als er eine Hand an seinem Arm spürte.

»Wollen Sie sich das wirklich antun, Kollege?« Hjalmar Kruse schüttelte vorsichtig den Kopf, aber das hielt einen anderen, der sich die Sache mit eigenen Augen ansehen wollte, von nichts ab.

»Ist sein erstes Mal«, erklärte Kallsen in seltsamem Tonfall.

Wegner, der am Boden der Grube angekommen war, schaute wutentbrannt zu seinem Chef empor. Dieses Mal verzichtete er allerdings auf einen Kommentar. Seine Augen wanderten über das Erdreich und fanden eine dunkelgrüne Plane, unter der sich ein viel zu kleiner Umriss abzeichnete. »Meinen Sie wirklich, dass die Kleine schon zehn oder zwölf war? Sieht winzig aus.«

Kruse nickte zuerst nur, lieferte dann aber doch noch eine Erklärung. »Der Täter hat sie in eine Wolldecke gewickelt, ganz stramm. Und ich will das Paket erst richtig öffnen, wenn ich die Lütte auf meinem Tisch habe. Nicht, dass ich hier noch etwas übersehe.«

»Lass gut sein, Manni!«, bölkte Kallsen vom Rand in die Grube hinunter. »Das bringt sowieso nichts.«

Wegner ignorierte seinen Chef völlig. Er tat zwei schwere Atemzüge, bevor er in die Knie ging.

»Was die Todesursache betrifft, würde ich auf den ersten Blick von einer stumpfen Gewalteinwirkung gegen den Schädel ausgehen«, erklärte Hjalmar Kruse in routiniertem Tonfall. Trotzdem war auch dem Rechtsmediziner anzumerken, welche besondere Herausforderung ein totes Kind selbst für ihn darstellte. Sein nächster Satz machte das noch deutlicher: »Kann mir einer von euch sagen, wer so was anrichtet?«

Wegner hatte die Plane ein Stück weit gelüftet und fand den Kopf des Mädchens, der ein Stück aus der Wolldecke herausragte. Er sah lange Haare, die wohl mal strohblond gewesen waren. Jetzt waren sie klitschnass und vom Erdreich völlig verschmutzt. Er zog die Plane noch ein Stück weiter beiseite und legte damit einen geflochtenen Zopf frei. An dessen Ende hing eine leuchtend rote Schleife, mit einem Marienkäfer daran. Wegner griff nach einem der Stoffenden und ließ es durch seine Finger gleiten. Bei dem grenzenlosen Wahnsinn dieser Szenerie kam ihm dieses Teil wie ein Fremdkörper vor. Aber er hätte nicht sagen können, warum.

Kruse und Kallsen tauschten einen Blick. Der endete mit stummem Kopfschütteln.

Wegner schaute auf seine Finger, die zitterten. Er hatte diesen Moment natürlich kommen sehen. Sein erstes Mal. Und es war nie eine Frage gewesen, ob, sondern vielmehr wann ihn seine Arbeit bei der Mordkommission an diesen ultimativen Abgrund führen würde. Jeder Kollege sagte, es sei unmöglich, sich auf solche Situationen vorzubereiten – auf den Superlativ des Wahnsinns: ein totes Kind.

Sie hatten recht, musste Wegner auf bitterste Weise feststellen. In ihm machten sich Trauer und Wut breit. Eine Wut, wie er sie nie zuvor in seinem Leben verspürt hatte. Vorausgesetzt, dieses Monster würde im nächsten Moment auf der Bildfläche erscheinen – er würde keine Sekunde zögern, dem Mistkerl seinen Kopf herunterzureißen und den auf einen Ast zu spießen.

»Manni, bitte …« Kallsen klang ungewohnt sanft. Mit seiner Prothese konnte er zwar nicht in die Knie gehen, trotzdem streckte er Wegner seine Hand entgegen. »Lass es gut sein … komm da raus. Bitte!«

»Wann wissen wir Näheres über Todesursache und Zeitpunkt?« Wegner stand noch immer mitten in der Grube und starrte Hjalmar Kruse mit leerem Blick an. »Wir müssen uns das Schwein schnappen. Schnellstmöglich!«

»Spätestens heute Abend.«

»Tun Sie mir einen Gefallen …?«

Kruse nickte nur.

»Finden Sie eine Spur zum Täter. Irgendwas!«

»Ich tue mein Bestes – wie immer.«

3

Zur selben Zeit und nicht weit entfernt

Sarah hatte an diesem Montagmorgen erst zur dritten Stunde Unterricht. Ihre Kunstlehrerin war schon seit Monaten krank, das verhalf der ganzen Klasse zu einer willkommenen Doppel-Freistunde. Viele ihrer Mitschüler fanden sich trotzdem pünktlich um acht ein. Sie lachten, spielten oder stellten gemeinsam dummes Zeug auf dem Schulhof an.

Aber nicht Sarah.

Sie war neu an der Heinrich-Wolgast-Grundschule in St. Georg. Nicht neu in Hamburg. Nein! Nur dass sie bis vor Kurzem – genauer gesagt, bis zum Ende des ersten Halbjahrs der vierten Klasse – noch in Sasel zur Schule gegangen war. Im Gegensatz zur Innenstadt wirkte der noble Stadtteil im Hamburger Norden mittlerweile wie ein Märchenland auf sie. Hier in St. Georg, zwischen all dem Lärm, Gestank und all den fremden Leuten, hatte sie sich noch nicht eine einzige Minute wohlgefühlt.

»Mama und ich haben beschlossen, ab sofort getrennte Wege zu gehen.« Das waren die Worte ihres Vaters gewesen. Vor ein paar Monaten. Direkt nach dem Abendessen. Einfach so.

Zuerst hatte sie gar nicht verstanden, was das bedeuten sollte. Als dann aber Onkel Peter – Mamas Bruder – mit seinem Kastenwagen vorfuhr und Sarahs Kinderzimmer Stück für Stück aus dem Haus schleppte, schwante ihr langsam Böses. Ansonsten hatten sie die meisten Möbel zurückgelassen. Mama hatte unentwegt geweint und sich geweigert, während der ganzen Aktion auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Erst als sie mitten in St. Georg, unweit des Hauptbahnhofs, die Tür der winzigen Zweizimmerwohnung hinter sich zuzog, platzte es regelrecht aus ihr hervor: »Es wird alles gut, Liebes! Glaub mir, wir bekommen das schon hin.«

Sarah hatte geweint. Hauptsächlich, weil sie immer noch nichts mit dieser neuen Situation anzufangen wusste. Außerdem wollte sie ihrer Mutter helfen. Aber wie?

Dann kam die neue Schule. Gleich am ersten Morgen hatte sie ihr Frühstück wieder ausgespuckt. Die Jungs waren blöd, die Mädchen taten, als wären sie allesamt etwas Besseres. Prinzessinnen, die worauf auch immer warteten.

Und Sarah?

Sie hätte am liebsten unentwegt nur geheult.

Tage zogen ins Land, dann Wochen, am Ende Monate. Aber in all der Zeit wurde nichts besser, sondern immer schlimmer. Mama hatte nach langem Suchen einen Job gefunden. Sie fing schon morgens um halb sechs in einem Hotel am Berliner Tor an. Sarah hatte ihre Mutter neugierig gefragt, was sie dort machte und als Antwort nur ein einziges Wort bekommen. »Putzen!«

Von diesem Tag an musste Sarah alleine zur Schule marschieren. Im Prinzip störte sie das wenig. Schließlich hasste sie die nervigen Vorträge ihrer Mutter auf dem Schulweg und noch vielmehr die Küsse, bevor sie endlich ins Schulgebäude schlüpfte.

An diesem Morgen steckte kein Pausenbrot in ihrem Ranzen. Stattdessen hatte sie von ihrer Mutter eine Mark bekommen. Dazu den strengen Hinweis, die in etwas Vernünftiges zu investieren. Also stand Sarah in diesem Moment vor dem Schaufenster einer kleinen Bäckerei am Steindamm und betrachtete nachdenklich die Auslage. Für ihre Mark könnte sie leicht zwei Berliner, aber genauso auch zwei Negerkuss-Brötchen kaufen. Das schlechte Gewissen klopfte von innen gegen ihre Stirn. Ob Mama so etwas mit ›vernünftig‹ gemeint hatte?

Sei’s drum! Sie hatte Hunger und dazu einen Entschluss gefasst.

»Na … hast du dir schon was ausgesucht?«

Sarah zuckte zusammen. Ihr Kopf wirbelte herum und sie musste sehr weit nach oben schauen, um dort das Gesicht eines Mannes zu finden. Der lächelte ganz freundlich zu ihr hinunter. Viel freundlicher, als die meisten anderen es taten.

»Die Berliner sehen lecker aus«, stellte er etwas zu laut fest. »Ich mag die mit Pflaumenmus am liebsten.« Er schaute Sarah erwartungsvoll an. Vermutlich, um ihre Favoriten herauszufinden.

»Ich darf nicht mit Fremden reden!« Diese Antwort hatte ihr Mama tausend Mal eingebläut. Also schaffte sie es, die wie aus der Pistole geschossen zu präsentieren.

»Wie kommst du darauf, dass ich ein Fremder bin?« Der Mann wirkte nicht etwa wütend, sondern vielmehr erstaunt. »Dein Vater schickt mich. Ich soll dich …«

»Woher kennen Sie denn meinen Papa?«

»Wir arbeiten zusammen«, erklang es mit sonorer Stimme.

»Dann arbeiten Sie auch bei Elektro Schlothfeld?«

Der Mann zögerte kurz. Danach wurde sein Lächeln noch breiter. »Ganz genau, ich bin einer der Chefs bei Elektro Schloth…«

»…feld«, ergänzte Sarah eifrig, als nichts mehr folgen wollte. »Haben Sie oft mit Papa zu tun?«

»Jeden Tag!« Der Mann lachte. »Deshalb hat er mich ja auch geschickt, um dich abzuholen.«

»Abholen?« Sarah schaute erneut kopfschüttelnd empor. »Ich muss doch zur Schule.«

»Heute nicht.« Der Mann deutete auf die Berliner in der Auslage. »Komm, wir holen uns ein paar und danach fahren wir zu deinem Papa.«

»Können wir ihm auch einen mitbringen? Er mag am liebsten die mit Erdbeermarmelade.« In Sarah machte sich überschäumende Freude breit. Sie hatte keine Lust auf die Schule. Heute noch weniger, weil gleich in der dritten Stunde ein Diktat anstand. Und auf das verzichtete sie mit Freude.

»Erdbeermarmelade?«

Sarah nickte eifrig und machte schon den ersten Schritt in Richtung Eingangstür der Bäckerei.

»Kein Problem!«

***

»Halt an, Manni!«

»Wieso das denn? Wir sind doch noch nicht mal aus dem Volkspark raus.«

»Halt an, verdammt!«

Wegner bremste hart. Der rechte Vorderreifen des Audis versank im Morast.

»Ich halt’s nicht mehr aus«, fluchte Kallsen. »Haste Taschentücher dabei?«

Wegner musterte seinen Chef mit angewidertem Gesicht. »Soll das heißen, du willst hier …?«

»Was denn sonst, du Torfkopp? Du hast mich doch in aller Herrgottsfrühe verschleppt, bevor ich wenigstens …«

Wegners Hand schnellte empor und sorgte für Ruhe. Er wühlte in den ausgebeulten Taschen seines Parkas herum und fand dort ein zerknülltes Papiertaschentuch. Aber auch ein Exemplar aus Stoff, kunstvoll bestickt.

Kallsen langte sofort nach Letzterem.

»Das ist von meinem Vater«, erklärte Wegner. »Sind sogar seine Initialen drauf.«

»Dann passt’s ja.« Kallsen hatte die Tür aufgestoßen und versank mit seinem vorhandenen Fuß augenblicklich im Morast. »Verdammte Scheiße! Ich brauch Hilfe, Manni.«

»Was soll das genau bedeuten?«, erkundigte sich Wegner mit fast ängstlicher Stimme.

»Na, was wohl? Du musst mich festhalten!«

Nach minutenlangen Diskussionen und Flüchen erklärte sich Wegner bereit, seinem Chef zu helfen. Diese Hilfe beschränkte sich allerdings nur darauf, Kallsen bis zu einem Baumstumpf zu tragen und ihn dort zurückzulassen. Mit langen Schritten raste Wegner danach in Richtung Auto zurück und atmete zum ersten Mal erleichtert aus, als er wieder auf dem Fahrersitz angekommen war. Er musste lachen, weil er sich an die eine oder andere Anekdote im Zusammenhang mit Kallsens Unterschenkel-Prothese erinnerte. Langweilig wurde es in der Hamburger Mordkommission nie – selbst nach über einem Jahr nicht.

»Ich bin fertig, Manni!«, klang es irgendwann durch den offenen Spalt der Fahrertür. »Sieh zu, dass du mich hier wegholst!«

Eine halbe Minute später stand Wegner vor seinem Chef und konnte es kaum glauben. Schon aus einiger Entfernung hatte er Kallsens lange Unterhosen erkennen können. Gelbbrauner Feinripp, vermutlich ein Modell, das vor dem Ersten großen Krieg in Mode gewesen war. Kallsens Prothese hatte sich vom Knie gelöst und stand seltsam verdreht ab.

»Kannst du nicht wenigstens deine Hose hochziehen?«, erkundigte sich Wegner mit ungnädiger Stimme.

»Wie denn, du Volltrottel!« Kallsen deutete mit wütender Miene nach unten. Tatsächlich hatte sich seine ausgebeulte Cordhose in der Befestigung seiner Prothese verfangen.

»Boah, das stinkt hier wie …!«

»Halt’s Maul und wirf mich über die Schulter. Ich halt’s auch kaum mehr aus.«

»Was ist mit dem Taschentuch von meinem Vater?«

»Ist da, wo’s hingehört.«

Wegner packte seinen Chef kurzentschlossen und warf ihn sich über die Schulter. Kallsen fluchte wie ein Rohrspatz, weil er zweimal mit seinem Kopf gegen einen Ast donnerte.

»Das hast du absichtlich gemacht!«, moserte er, nachdem er auf dem Beifahrersitz angekommen war.

»Was?«

»Ach ... nichts. Schwing dich hinters Steuer. Du wirst schließlich nicht für Spaziergänge bezahlt!«

4

»Wie seht ihr denn aus?« Irmgard Maria Block – ihres Zeichens die gute Seele und Schreibkraft der Mordkommission – schaute ihre Kollegen entgeistert an. »Habt ihr euch im Wald verlaufen?«

»Frag nicht!« Wegner ließ sich in seinen Schreibtischstuhl fallen. Der wäre unter seinem Gewicht fast zusammengebrochen. Rex war aus seinem Korb aufgesprungen und beschnupperte neugierig seine Hosenbeine. Der Schäferhund liebte ausgedehnte Spaziergänge. Und wenn die irgendwo im Grünen stattfanden, umso besser.

»Manni hat schlechte Laune«, stellte Kallsen in hämischem Ton fest. »Liegt vielleicht an …«

»… einem toten Mädchen«, beendete Wegner gequält und schenkte seinem Chef einen wütenden Blick.

Auch Irmgards Miene hatte sich merklich verfinstert. »Die Sache im Wald – ich hab den Zettel auf deinem Schreibtisch gefunden, Manfred. Geht’s wirklich um ein totes Kind?«

Wegner nickte nur.

»Ist nicht mal Mittag – trotzdem Kaffee?« Irmgard schlurfte durchs Büro. »Ich hab einen Gugelhupf gebacken, mit Schokolade. Jemand Interesse?«

Die Kommissare nickten synchron.

»Wie alt ist das Mädchen?«, fragte Irmgard, während sie zwei Becher füllte.

»Zwischen zehn und zwölf, meint Doktor Kruse.« Wegner tat einen schweren Atemzug. »Nach dem Kaffee leg ich sofort los.«

»Womit?« Zum ersten Mal an diesem Morgen sah Kallsen ehrlich interessiert aus. »Womit willst du loslegen, Manni?«

»Zuerst mit den Vermisstenanzeigen. Wenn die Lütte tatsächlich seit ’ner Woche tot ist, muss doch jemand Alarm geschlagen haben.« Wegner zuckte mit den Schultern, um seine Ratlosigkeit zu verdeutlichen, was weitere Schritte betraf. »Hast du ansonsten ’ne Idee?«

»Ich knöpfe mir kürzlich entlassene Mörder und Vergewaltiger vor«, gab Kallsen ungewohnt energisch zurück. »Und wenn du mit deinen Vermissten fertig bist, fängst du an, unsere alten Fälle zu durchforsten.«

»Was soll das denn bringen?«, fragte Wegner mit wütender Stimme. »Du kannst von mir aus hier im Büro hocken – aber ich will raus an die Front!«

»Und was willst du da ausrichten, Kommissar Hitzkopf?« Kallsen lachte und holte sich mit Blicken Verstärkung bei Irmgard. »Bevor du jemanden verhaften kannst, solltest du wenigstens wissen, wen.«

»Verhaften?« Wegner lachte und schaute seine Kollegen abwechselnd an. »Du glaubst doch wohl nicht, dass ich so ein Schwein nur verhaften will?«

***

Später Nachmittag. Draußen wurde es bereits dunkel, als Doktor Kruse zwei seiner Studenten in ihren wohlverdienten Feierabend entließ. Hinter ihm lag eine von diesen ganz besonderen Obduktionen. Nicht, was das Ergebnis betraf. Vielmehr ging es um das Mädchen, das vor ihm auf dem Metalltisch lag. Im Licht der Neonröhren leuchtete ihr dürrer Körper schneeweiß. Hinzu kam ein typischer Y-Schnitt. Der reichte vom Bauchnabel bis zu beiden Schlüsselbeinen empor und brüllte selbst ihm, als erfahrenem Rechtsmediziner, den Wahnsinn und die Endgültigkeit der Situation förmlich entgegen. Ein blutroter Weg ohne Sinn und ohne Ziel. Nur das Ende stand unumstößlich fest. Und es waren genau solche Momente, in denen sich Hjalmar Kruse wünschte, er hätte sich doch für einen anderen Beruf entschieden. Vielleicht für die Lebenden, anstelle der Toten. Für ein Tagewerk, das jemandem half, womöglich sogar heilte. Für eine Aufgabe, bei der man nach Feierabend auch gerne ein Stück seiner Arbeit mit nach Hause nahm. Sich freute. Worüber auch immer.

Aber irgendjemand musste den Job ja machen.

Das Telefon riss Doktor Kruse aus seinen Gedanken. Eilig stapfte er an zwei weiteren Metalltischen vorbei und schob sich durch die halb offene Tür in den Glaskasten namens Büro. Fast wäre er noch über einen Karton mit Akten gestolpert, konnte sich jedoch am Schreibtisch festhalten und nach dem Hörer greifen. Und da er, was den Anrufer betraf, schon eine Vermutung hatte, legte er direkt los: »Wir sind gerade fertig geworden.«

Nach kurzem Zögern war Wegners Stimme zu hören. Und selbst wenn es nur ein einzelnes Wort war, verhieß allein das eine Mischung aus Verzweiflung, Wut, aber auch zaghafter Zuversicht: »Und?«

»Wäre vielleicht besser, wenn ich Ihnen das persönlich erkläre«, sagte Doktor Kruse leise. »Könnte sogar sein, dass wir einen ersten Hinweis haben.«

***

Wegner hatte gerade erst aufgelegt, da platzte die logische Frage aus Kallsen heraus: »Und, was sagt Jalle?«

»Er kommt gleich rüber.«

»Und?«

Wegner hob den Kopf und schaute seinen Chef ungnädig an. »Bist du schwerhörig? Er kommt gleich rüber!«, dröhnte es Wort für Wort durchs Büro.

Kallsen wartete mit seiner Antwort noch einen Moment ab. Irmgard war auf dem Weg ins Archiv, um dort ein paar verstaubte Akten aufzutreiben, die zum aktuellen Fall passen könnten. Erst als sich die Tür hinter der Schreibkraft geschlossen hatte, holte der Hauptkommissar tief Luft. »Pass mal auf, Jungchen!« Kallsens Gesicht veränderte sich auf dramatische Weise. »Ich lasse dir hier einiges durchgehen, weil du hin und wieder ganz gute Arbeit leistest ...«

»Aber?« Wegner klang vorsichtig. Er wusste bereits, was die Stunde geschlagen hatte.

»Ich bin nicht dein Popanz! Und ich lasse mich von dir weder rumschubsen noch beleidigen. Ist das klar?«

Wegner nickte und verzichtete vorsichtshalber auf jede Antwort.

»Und falls du’s genau wissen willst … wenn es um Kindermörder geht, dann platzt mir auch schnell die Hutschnur. Aber das ändert nichts daran, dass ich dein Chef bin!«

»Ist in Ordnung«, gab Wegner kleinlaut zurück.

Einen Moment lang war nur das Atmen der beiden Männer zu hören. Am Ende war es ein Anruf, der einen der beiden wenigstens vor einer weiteren Breitseite bewahrte. »Willst du lieber ...?« Wegner deutete auf das Telefon und zuckte mit den Schultern.

Kallsen lachte. »Leg los, Jungchen! Einer wie du muss hier noch was für sein Geld tun.«

Das Gespräch dauerte nicht mal zwei Minuten. Als der Hörer wieder auf die Gabel fiel, sah Wegner aus, als würde er sich das Telefon am liebsten schnappen und es aus dem Fenster werfen.

»Gibt’s kein Mädchen, auf das die Beschreibung passt?« Kallsen hatte natürlich nur Bruchstücke der Unterhaltung mitbekommen. Die wesentlichen Fakten schienen ihm jedoch nicht entgangen zu sein. Deshalb nickte Wegner nur und ließ seinen Chef fortfahren: »Was ist da mit der anderen Lütten?«

»Heute Nachmittag war eine Frau auf der Wache in St. Georg«, erklärte Wegner nach kurzem Zögern. »Normalerweise kommt solch ein Fall noch gar nicht in die Vermisstenkartei – aber die Frau ist wohl völlig ausgeflippt. Sie ist sich hundertprozentig sicher, dass ihrer Tochter etwas passiert sein muss.«

Kallsen zuckte mit den Schultern. Das kam der Aufforderung nach weiteren Informationen gleich.

»Die Lütte heißt Sarah Urban, ist gerade mal elf und heute Morgen nicht in ihrer Schule aufgetaucht.«

»Scheiße!«

»Das kannst du laut sagen.« Wegner saß kopfschüttelnd an seinem Schreibtisch und vergrub das Gesicht in den Händen. »Wir müssen irgendwas tun.«

Kallsen langte nach dem Hörer.

»Was hast du vor?«, wollte Wegner wissen.

Anstelle einer Antwort bölkte sein Chef schon ins Telefon. »Bei euch wurde heute ein Mädchen als vermisst gemeldet.« Eine kurze Pause entstand. »Was du nicht sagst, du Klugscheißer ... ihr schickt trotzdem jeden verfügbaren Beamten auf die Straße. Auch wenn es sich vielleicht nur um einen …« Erneut abruptes Schweigen. »Glaubst du etwa, ich brauch einen wie dich, der mir erklärt …?« Kallsen hielt wieder inne. »Mach einfach! Ansonsten rufe ich Klaus an und sorg dafür, dass er dir Riecher und Puper in dieselbe Richtung dreht. Verstanden?«

»Wer ist Klaus?«, erkundigte sich Wegner, nachdem Kallsen aufgelegt hatte.

»Der Chef von diesem Arschloch.«

»Und jetzt?«

»Legt das Arschloch hoffentlich los.«

5

Hjalmar Kruse saß kaum auf einem Stuhl im Büro der Mordkommission, da schleuderte ihm Wegner schon die erste Frage entgegen: »Was ist das für eine Spur, Doktor?«

Selbst Kallsen hatte stöhnend seine Prothese vom Schreibtisch gezogen und reckte sich in sämtliche Richtungen.

»Immer der Reihe nach, meine Herren!« Doktor Kruse war jemand, der sich von kaum etwas aus der Ruhe bringen ließ. Trotz schnaufenden Protests schlug er seelenruhig seine Ledermappe auf und begann mit mechanischer Stimme: »Was die Todesursache betrifft, lag ich richtig: stumpfe Gewalt gegen den Schädel. Ich kann es nicht genau sagen, tippe aber auf einen großen Stein ... oder sie ist mit dem Kopf gegen eine Wand gerammt worden. Wenn, dann mehrfach!«

»Zeitpunkt?« Kallsen klang ähnlich nüchtern.

»Auch da würde ich an meiner ersten Schätzung festhalten – eine Woche ... plus, minus.«

Wegner holte hörbar Luft und setzte zu einer weiteren Frage an. Die schwirrte vermutlich auch seinem Chef seit Beginn dieser Unterhaltung im Kopf herum: »Hat das Schwein sie …?« Er verzichtete auf das letzte Wort. Auch, weil das mit Sicherheit jeder im Raum sofort hätte buchstabieren können.

Doktor Kruse nickte widerwillig. Dabei krallten sich seine Augen an Rex fest. Aber der Schäferhund konnte ihm auch nicht helfen, denn der lag in seinem Korb und schnarchte.

»Mehr als ein Mal?«, schob Wegner mit leiser Stimme hinterher und erntete ein weiteres Nicken. Ein paar Sekunden verstrichen, bis ihm zu diesen Tatsachen ein endgültiges Statement einfiel: »Ich könnte kotzen.«

»Darüber hinaus ist der kleine Körper mit Blutergüssen übersät.« Doktor Kruse durchbrach damit bleierne Stille. »Die Hämatome sprechen dafür, dass ihr die Verletzungen über einige Tage hinweg ...«

»Lass gut sein, Jalle!« Kallsens Stimme klang ungewohnt brüchig. »Ich glaub, wir haben genug.« Der Hauptkommissar schaute zu Wegner hinüber, dessen Nicken er wohl als Zustimmung werten durfte. »Kommen wir lieber zu deiner Spur ...«

Hjalmar Kruse langte in seine Manteltasche und zog einen kleinen Plastikbeutel hervor. Bevor er zu dessen Inhalt etwas sagen konnte, kam Kallsen ihm zuvor: »Was ist das ... ein Zeitungsschnipsel?«

Wegner hatte sich die Tüte längst geschnappt und hielt das Corpus Delicti zwischen seinen Fingern. »Hier geht’s um einen Flohmarkt in Altona. Vorletzte Woche, Samstag – ist also neun Tage her.«

»Der Schnipsel klebte von innen in der Tasche ihres Regenmantels«, klärte Kruse die Kommissare auf. »Das Mädchen war nackt, aber der Mörder hat ihre Kleidungsstücke mit ihr zusammen vergraben. Deshalb auch die Strickjacke, die der Hund wohl gefunden hat.«

»Wenn ich das Schwein in die Finger bekomme, wird er mich anflehen, ihn nur im Wald zu vergraben.« Wegner klang zutiefst verbittert. »Wir müssen den Kerl ...«

»Ist das alles?«, fuhr Kallsen dazwischen. »Das würde ich nur mit ’ner Menge Fantasie als richtige Spur bezeichnen. Und wenn, dann ist die bestenfalls lauwarm.«

»Auf jeden Fall ist es mehr als in manch anderem Fall«, gab Kruse gelassen zurück. »Aber da sind schon noch ein paar Dinge. Vermutungen, nicht mehr.«

»Raus mit der Sprache, Jalle ... wir stochern bis jetzt ohnehin nur im Nebel herum.«

»Ich weiß nicht, warum ...«, begann der Rechtsmediziner betont vorsichtig aufs Neue. »Aber wenn ihr mich fragt, dann ist das Mädchen zweimal vergraben worden.«

»Und willst du uns vielleicht auch verraten, wie du darauf kommst?«, meinte Kallsen, gewohnt mürrisch. »Es muss doch einen Grund geben, warum du ...«

»Wir haben an ihrem Körper, unter ihren Fingernägeln und in ihren Haaren massenhaft Sand gefunden.«

»Und was ist daran so ungewöhnlich?«

»Das Loch im Volkspark – das war reiner Lehmboden. Von Sand keine Spur!«

Dieser letzte Satz führte zu langem Schweigen.

»Kann mir einer sagen, warum so ein Monster das Mädchen zweimal vergraben hat?« Wegner schaute seine Kollegen ratlos an.

»Ich hab einen Gedanken, aber den möchte ich nicht mal aussprechen«, sagte Doktor Kruse und hob dabei nicht mal seinen Blick. »Aber da ist noch etwas, das mir seltsam vorkommt.«

Kallsen räusperte sich lautstark, was den Rechtsmediziner zum Fortfahren anspornte: »Auch, wenn die Kleine eine Woche dort begraben lag, ihr Körper roch nach Seife. Und wie sie in diese Wolldecke gewickelt war, das sah irgendwie fast ...«

»... fürsorglich aus?«, beendete Wegner den Satz.

»Irgendwie schon, ja.« Hjalmar Kruse atmete vernehmlich. »Aber wie passt das zu all den Vergewaltigungen und Dutzenden von Wunden? Ich bin …« Der Doktor schwieg abrupt. Er schien nicht nur mit seinen Ausführungen am Ende zu sein.

Und es war Wegner, der sich entschlossen hochstemmte und Kruse seine Rechte entgegenstreckte. »Danke ... vielleicht hilft uns das weiter.«

»Und jetzt?«, fragte Wegner, nachdem Hjalmar Kruse das Büro lange verlassen hatte.

»Ist Feierabend!« Kallsen schickte ein Grinsen über die Schreibtische. »Bei meiner Nachbarin gibt’s heute Rouladen. Wenn ich ein gutes Wort für dich einlege, bekommst du eventuell auch eine ab.«

»Verzichte!«

»Was soll das denn bedeuten? Ich hab noch nie so gute Rouladen gegessen«, schwärmte Kallsen. »Liegt vermutlich an den zwei Gurken und zwei Scheiben Speck, die sie in jede einzelne rollt.«

»Ich frage mich, wie du ans Essen denken kannst.« Wegner schaute zu Irmgard, die mit gepackter Tasche abmarschbereit vor der Bürotür stand. Darüber hinaus schwieg sie schon den ganzen Nachmittag beharrlich.

»Zieht mich da nicht mit hinein!«, protestierte sie energisch. »Ich schreibe eure Briefe und koche Kaffee – mit toten Kindern will ich nichts zu tun haben. Niemals!«

Nachdem auch Irmgard sich in ihren wohlverdienten Feierabend verabschiedet hatte, erhob sich Kallsen stöhnend. »Ich kann dich verstehen, Manni ... sobald es um Kinder geht, ist das immer die Hölle.«

Wegner beschränkte sich auf ein Nicken. Für eine vernünftige Antwort fehlte ihm ohnehin jegliche Kraft.

»Du darfst die Sache nicht zu sehr an dich ranlassen«, ermahnte ihn sein Chef. »Wenn möglich musst du solch einen Fall wie einen ganz normalen ...«

»Wie soll das denn funktionieren?«, fauchte Wegner zurück. »So kann auch nur einer reden, der ...«

»Der was?«

»Nichts!«

Als Kallsen es mit ein paar letzten Worten versuchte, lag seine Hand auf Wegners Schulter: »Letztendlich musst du selbst entscheiden, was du tust. Aber versuch wenigstens, am Ende nicht hinter Gittern zu landen.« Der Hauptkommissar lachte kurz auf. »Und jetzt sag mir, was du vorhast. Du verzichtest doch nicht ohne guten Grund auf leckere Rouladen. Bessere macht nur deine Mutter ...«

»Womit wir beim Thema wären«, erwiderte Wegner grinsend. »Was ist eigentlich mit euch los?«

»Darüber will ich nicht reden!«, fuhr Kallsen dazwischen. »Sag mir, was du vorhast und dann mach ich mich vom Acker.«

»Ich fahr nach St. Georg, um mich mit der Mutter von dieser Sarah zu unterhalten.« Wegner knurrte zwar wie ein alter Bär, aber es war wohl vernünftig, seinen Chef zumindest ansatzweise einzuweihen. »Die Sache ist ganz frisch – vielleicht kann sie uns helfen.«

Kallsen hatte sich auf der Schreibtischkante niedergelassen. Die Rouladen hatten ihre Anziehungskraft augenscheinlich ein Stück weit verloren. »Meinst du, die beiden Sachen haben was miteinander zu tun?«

»Ein Mädchen ist tot und ein zweites verschwunden«, murmelte Wegner vor sich hin. »Und selbst wenn nicht, dann ist alles besser als Nichtstun.«

»Sieh zu, dass du nirgendwo unter die Räder kommst.«

»Mach ich! Und du grüß die Rouladen schön.«

***

»Du musst dich beruhigen, Susi.« Peter Roth versuchte schon seit einer geschlagenen Stunde, seine Schwester zu trösten. »Sarah ist nichts passiert – bestimmt nicht!«

»Und woher willst du das wissen?«

Ihr Bruder zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es eben! Pass auf ... gleich steht sie vor der Tür und alles erweist sich als ein Riesen-Irrtum.«

Wie bestellt, klingelte es nur ein paar Sekunden später. Die Geschwister wechselten fassungslose Blicke. Am Ende war es Peter Roth, der sich mit weichen Knien auf den Weg zur Tür machte.

»Nabend. Mein Name ist Wegner, Mordkommission.«

Susanne Urban stand in der Tür zur Küche. Spätestens nach dem Wort ›Mordkommission‹ fing sie zu taumeln an. Wegner schoss nach vorne und schaffte es gerade noch, die Frau an den Ärmeln ihrer Strickjacke zu packen. Zusammen mit dem Bruder verfrachtete er sie dann auf das einzige Sofa im Wohnzimmer. Ein Zweisitzer, der schon weit bessere Tage gesehen hatte.

»Es geht wieder«, protestierte Susanne Urban. »Am besten reden Sie mit Peter, meinem Bruder. Er weiß genauso viel oder wenig wie ich.«

»Was soll das bedeuten, Mordkommission?« Peter Roth beschränkte sich auf ein Flüstern, nachdem er mit Wegner in der Küche angekommen war. Zuvor hatte er seiner Schwester noch eine Wolldecke und einen Kamillentee gebracht. »Sie wollen damit doch nicht etwa sagen, dass ...«

»Ich will gar nichts sagen!«, fuhr Wegner energisch dazwischen. »Und hoffen will ich’s erst recht nicht.«

Peter Roths Gesicht verriet, wie sehr er sich vor der nächsten Frage fürchtete. Trotzdem presste er sie mühsam heraus: »Aber es wird doch sicher einen Grund geben, warum sich ausgerechnet die Mordkommission zuständig fühlt. Oder irre ich mich?«

»Stammen Sie etwa auch aus unserem Verein?« Wegner klang misstrauisch. Auch seine skeptische Miene passte dazu.

»Gott bewahre!« Zum ersten Mal huschte ein Lächeln um den Mund des Mannes. »Ich bin Sozialarbeiter.«

»Wo?«

»Dort, wo das Leben tobt – Hauptbahnhof, hier in St. Georg ... ich bin auch für einen Teil von Altona zuständig.«

Wegner atmete vernehmlich. Es wurde Zeit, zum Thema zu kommen: »Gibt es irgendeine Erklärung für Sarahs Verschwinden? Hatte sie Streit mit ihrer Mutter oder mit ihrem Vater?«

»Der lebt in Sasel ... wie ’ne Made im Speck.«

»Und kümmert sich nicht um sein altes Leben, richtig?«

»So in etwa.« Peter Roth garnierte seinen Kommentar mit freudlosem Lachen. »Ich hab drei Mal mit Rainer telefoniert, er hat auch keine Ahnung, wo Sarah geblieben sein könnte.«

»Glauben Sie ihm?«

»Gibt keinen Grund, es nicht zu tun.«

Wegner klappte sein Notizbuch zu. Sein Gegenüber schaute ihn immer noch erwartungsfroh an. Vielleicht wurde es Zeit für eine Antwort auf die wesentliche Frage: »Die Mordkommission kümmert sich deshalb um diesen Fall, weil wir heute die Leiche eines anderen Mädchens gefunden haben. Die Kleine war in etwa so alt wie Sarah.«

Peter Roth war anzusehen, dass er mit einem mächtigen Kloß im Hals kämpfte. Und weil jegliche Antwort ausblieb, fuhr Wegner einfach fort: »Ich kann es natürlich nicht mit Sicherheit sagen, aber ich müsste mich verdammt täuschen, wenn die beiden Fälle nichts miteinander zu tun haben.«

Plötzlich erklang ein lautes Schluchzen. Die Männer hatten nicht bemerkt, dass Susanne Urban in der offenen Küchentür stand. Fragte sich nur, wie lange schon?

Wegner und der Bruder hatten die Frau erneut auf das Sofa im Wohnzimmer verfrachtet. Sie jaulte und schluchzte abwechselnd.

»Ich würde mir gerne mal Sarahs Zimmer anschauen«, flüsterte Wegner. Er atmete schwer und schaute zu Frau Urban hinunter, die sich auf dem Sofa mittlerweile völlig zusammengerollt hatte.

Peter Roth nickte neben ihm eifrig und setzte bereits einen Schritt nach vorne. Dazu machte sich ein wenig Erleichterung in seinem Gesicht breit. Wahrscheinlich brauchte auch er eine kurze Auszeit von seiner Schwester, die restlos am Boden zerstört war.

»Sie scheint ein ordentliches Kind zu sein«, flüsterte Wegner und mühte sich um ein Lächeln. Die beiden Männer standen mitten im Kinderzimmer und schauten sich gemeinsam um. Wegner öffnete vorsichtig eine gläserne Schranktür, hinter der ihn eine ganze Monchhichi-Familie erwartete. Vater, Mutter und Kind. So, wie es eigentlich sein sollte.

»Ist Sarah gut in der Schule?« Wegners nächste Frage, die nur dazu dienen sollte, die angespannte Situation zu kaschieren.

»Weder besonders gut, noch schlecht«, gab Peter Roth nach kurzem Überlegen zurück. »Wieso?«

Er bekam keine Antwort. Wegner war vor einem kleinen Tischchen angekommen, auf dem ein Kassettenrekorder stand. Davor türmten sich kleine Schätze aus dem Hörspielverlag Europa auf, ›Hui Bui - Das Schlossgespenst‹, ›Kimba, der weiße Löwe‹ und ein paar einzelne Exemplare, die so schnell keiner Serie zuzuordnen waren. In einem Regal darüber fand Wegner eine ganze Reihe von Büchern, sorgsam in Reih und Glied sortiert. ›Pitje Puck‹, las er auf einem der Rücken. Er zog das Buch heraus und stellte fest, dass es sich bei diesem Pitje Puck um einen stets gut gelaunten Briefträger handelte. Ein fröhlicher Beamter? Beneidenswert!

»Was haben Sie vor?«, fragte Peter Roth und riss Wegner damit aus seinen rosaroten Gedanken. »Wie wollen Sie Sarah finden?«

»Wir haben – was sonst nicht üblich ist – bereits sämtliche Reviere informiert. Ab morgen früh gibt’s keinen Kollegen in Uniform, der Sarahs Namen nicht kennt und nicht wenigstens einmal ein Foto von ihr gesehen hat.« Er hielt kurz inne. »Apropos … ich brauche übrigens noch ein Bild von ihr.«

»Bekommen Sie! Aber glauben Sie denn, das kann wirklich helfen?«

»Würde ich nicht daran glauben, könnt ich’s auch gleich lassen.« Wegner hatte ein Poesiealbum aus einem anderen Regal gezogen und sofort die letzte Seite aufgeschlagen. »Der letzte Eintrag stammt von einer Andrea aus Sasel ... ist fast ein dreiviertel Jahr her.«

»Sarah fühlt sich in ihrer neuen Schule nicht unbedingt wohl«, gab Peter Roth schwer atmend zu.

»Haben Sie irgendwas unternommen?«

Roth schüttelte den Kopf. »Ich muss zugeben, dass ich in den letzten Monaten nicht besonders viel ...«

»Ist gut, ich hab verstanden!«

Wegner zog ein Foto aus dem Poesiealbum, das ganz vorne gesteckt hatte. »Wer ist das – eine Freundin von Sarah?«

Peter Roth langte nach dem Foto, schaute es kurz an und lachte. »Das ist keine Freundin, das ist Sarah!«

Wegner musste zweimal schlucken, bevor er fortfahren konnte: »Sarah ist ... schwarz?«

»Klar! Wussten Sie das nicht?«

6

»Mein Gott, Manni ... du siehst ja aus, als hätte dich ein Dinosaurier gefressen und wieder ausgesch...«

»Kalle!« Irmgard funkelte ihren Chef wütend an. »Lass Manfred in Ruhe, er hat bestimmt nur schlecht geschlafen.«

»Gar nicht«, fügte Wegner mit müder Stimme hinzu. »Dafür sind wir auf dem neuesten Stand, was vermisste Kinder angeht. Hab die Nacht durchgearbeitet.«

»Dann solltest du dein Wissen mit deinem großen Meister teilen«, gab Kallsen viel zu fröhlich zurück. Mit seiner Linken deutete der Hauptkommissar auf den Korb, in dem Rex eilig verschwand. Der Schäferhund gehorchte ihm mittlerweile sogar ohne Worte. »Leg los, Manni! Aber vorher brauch ich ’nen schönen heißen Kaffee.«

»Dann mach dir einen!«, fauchte Irmgard. Einen Atemzug später hämmerte sie wieder auf ihrer Schreibmaschine herum.

»Ich hab mal sämtliche Fälle der letzten fünfzehn Jahre überprüft«, begann Wegner aufs Neue. Mittlerweile saß ihm Kallsen mit einem Becher in der Hand gegenüber. Seine Prothese hatte der Hauptkommissar bereits auf der Schreibtischplatte geparkt und lag mehr in seinem Stuhl, als dass er saß.

»Nach welchem Raster bist du vorgegangen?«

Wegner nahm einen Zettel zur Hilfe. »Zunächst nur Mädchen, im Alter zwischen acht und vierzehn, die allesamt spurlos verschwunden sind.«

»Und ... wie viele haben wir da?«

»Insgesamt elf.« Wegner blätterte in seinen Aufzeichnungen. »Eine ist wieder aufgetaucht ...«

»Tot?«

Wegner schüttelte den Kopf. »Die Kleine ist mit dreizehn zu ihrem Vater nach Süditalien getürmt. Mit sechzehn ist sie nach Deutschland zurück, weil sie von dem anscheinend auch die Schnauze voll hatte.«

»Dann sag mir lieber, was mit den anderen zehn passiert ist!«

Die Antwort war nur ein Schulterzucken.

»Soll das heißen, wir haben in Hamburg zehn vermisste Mädchen, die sich bis heute nicht wieder angefunden haben?« Kallsen wirkte völlig perplex, beließ es aber zunächst bei dieser traurigen Feststellung. »Hast du denn auch irgendwas über unsere Tote herausgefunden?«

»Bis jetzt nicht«, gab Wegner mit leiser Stimme zu. »Aber wenn wir hier fertig sind, fahr ich raus nach Altona und drehe dort jeden Stein um, bis ich was finde.«

»Glaub ja nicht, dass ich mitkomme!«

Irmgards Gesicht tauchte hinter Kallsen auf. Ihr Kopfschütteln sprach Bände.

Und auch Wegner verzichtete lieber auf eine Antwort.

»Was ist mit dem anderen Mädchen – dieser Sarah?«, fragte Kallsen. »Ist die wenigstens wieder aufgetaucht?«

»Das ist unser zweites Problem«, murmelte Wegner. »Das Bild von der Kleinen liegt mittlerweile auf jeder Polizeiwache. Ihr Onkel – ein gewisser Peter Roth – ist Sozialarbeiter. Er und seine Kollegen wollen heute Morgen überall Fotos auf der Straße verteilen.« Wegner nahm sein eigenes Exemplar und hielt es Kallsen entgegen. Der langte danach und verzog erwartungsgemäß das Gesicht.

»Die Kleine ist ja ...«

»... schwarz, richtig!«

»Hast du etwa ein Problem damit?«, fragte Irmgard, die Wegner schon vorher eingeweiht hatte.

Kallsen schüttelte den Kopf und fuhr die Schreibkraft überraschend energisch an: »Warum sollte ich?«

Er bekam keine Antwort und wandte sich deshalb Wegner zu: »Ist die Lütte von einem GI?«

»Richtig! Ihr Vater war ein paar Jahre als US-Soldat in Ramstein und lebt längst wieder in den Staaten. Sarah ist hier in Deutschland mit fünf Wochen ins Heim gekommen und die Urbans haben sie kurz darauf adoptiert. Frau Urban kann selbst keine Kinder bekommen.«

»Solche Sprösslinge haben es nicht leicht hier bei uns«, fuhr Kallsen mit nachdenklicher Stimme dazwischen. »Aber vielleicht ist es für uns sogar ein Vorteil ...«

»Wieso?«, fragten Irmgard und Wegner wie aus einem Munde.

»Ganz einfach ... die Lütte ist schwarz. Und da müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir sie nicht finden und den Kerl, der sie entführt hat, bei den Eiern kriegen.«

Irmgards Kopf tauchte erneut hinter Kallsen auf. Sie wischte eine unsichtbare Mattscheibe vor ihrem Gesicht und verschwand sofort wieder.

»Darf ich fragen, was du heute vorhast?« Wegner schaute seinen Chef prüfend an. »Hast du auch irgendeinen Plan?«

»Ich telefoniere mal ein bisschen rum. Vielleicht hat einer unserer Informanten was gehört.«

Wegner stemmte sich hoch und hatte schon seine Tasche in der Hand. »Dann schlaf gut. Ich melde mich mal gegen Nachmittag aus Altona.«

***

Peter Roth hatte bei seiner Schwester geschlafen und war in aller Herrgottsfrühe aufgestanden. Nach einer Dusche und schwarzem Kaffee war er endlich in der Lage, seine Gedanken einigermaßen zu sortieren.

»Was hältst du von diesem Kommissar?«, fragte seine Schwester mit matter Stimme. Sie saß gegenüber am Küchentisch, völlig in sich zusammengesunken. Mittlerweile hatte sie aufgehört zu weinen. Aber vermutlich nur, weil ihre Tränendrüsen nichts mehr hergeben wollten. »Glaubst du, er kann uns helfen?«

Ihr Bruder brauchte nicht lange zu überlegen. »Für einen Polizisten scheint er ziemlich engagiert zu sein. Falls uns überhaupt einer helfen kann, dann der.«

»Wenn nicht bald irgendwas passiert, werde ich noch verrückt. Ich möchte gar nicht daran denken, wo Sarah jetzt ist und was sie durchmachen muss.« Susanne Urbans Hände kneteten nervös aneinander herum. Ihre Augen flogen durch die kleine Küche, wollten aber an nichts haften bleiben. »Falls Sarah – also, wenn sie ... das ertrage ich nicht. Dann mach ich auch Schluss.«

»Einen Teufel wirst du!«, protestierte ihr Bruder wütend. »Außerdem finden wir Sarah. Ich mache mich gleich auf den Weg und aktiviere meine Kollegen. Dieser Wegner hat mir einen ganzen Berg von Fotos versprochen. Die verteilen wir so lange, bis wir Sarah gefunden haben.«

»Und wenn nicht?«

Diese Frage hing eine ganze Weile wie ein dunkler Schleier über dem Küchentisch. Über eine eventuelle Antwort wollte Peter Roth nicht mal nachdenken. Deshalb stemmte er sich jetzt energisch hoch und versuchte, so etwas wie Tatendrang zu versprühen. »Während ich auf den Straßen unterwegs bin, bleibst du schön hier. Und falls Sarah auftaucht, erreichst du mich schon irgendwo.« Er beugte sich zu seiner Schwester hinunter und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Gleich danach noch einen. »Hast du mich verstanden, Susanne?«

Sie nickte kraftlos.

»Du darfst nicht aufgeben! Verstehst du ... niemals aufgeben.«

***

Wegner hatte seinen aktuellen Dienstwagen, einen altersschwachen Audi, direkt hinter dem Bahnhof Altona geparkt und war zu Fuß unterwegs. Schon am Abend vorher hatte es endlich zu regnen aufgehört. Stattdessen wehte ein eisiger Wind, der es sogar schaffte, die Leute von den Straßen zu scheuchen. Zumindest wirkte rundherum alles deutlich leerer als sonst. Tatsächlich schien eine Stadt ihre Bewohner mit einer Kostprobe ihres frostigen Atems auf den nächsten winterlichen Anlauf vorbereiten zu wollen. Und wenn man den Wettervorhersagen glaubte, dann stand der Winter erst richtig bevor.

Vor dem Haupteingang zum Bahnhof zog Wegner ein Foto aus der Tasche seines Parkas. Davon hatte er gleich am Morgen zehn Abzüge auf seinem Schreibtisch vorgefunden. Es handelte sich um ein Porträt. Aber keines von der Sorte, die man sich als Erinnerungsstück irgendwo hinstellte, damit es einem von Zeit zu Zeit das Herz ein Stück erwärmte. Und auch der Fotograf, ein gewisser Doktor Hjalmar Kruse, übte sich von Haus aus in einem ganz anderen furchterregenden Handwerk.

Wegner betrachtete das Bild in seiner Hand eine Weile. Kruse hatte ganze Arbeit geleistet. Die Haare des toten Mädchens waren gewaschen und leuchteten strohblond. Ihr Gesicht sah fast unversehrt aus. Natürlich war es kreidebleich. Aber es hätte ebenso gut sein können, dass die Kleine jeden Moment ihre Augen aufschlagen und nach ihrer Mutter fragen würde.

Eine schöne Vorstellung!

Wegner marschierte mit langen Schritten durch den Haupteingang des Bahnhofs. Zu seiner Linken fand er einige typische Geschäfte, bei denen er sich bis heute fragte, wie die ausgerechnet an einem Bahnhof überleben konnten. Dann setzte er den Fuß durch die Tür eines Schlüsselmachers und nahm zufrieden ein lautes Bimmeln zur Kenntnis.

»Ja?« Ein alter Mann schaute aus dem Hinterzimmer nach vorne. Dazu steckte er seinen Kopf durch einen dunkelgrauen Vorhang, der mit Sicherheit seit Jahren keine Waschmaschine mehr von innen gesehen hatte.

»Wegner, Polizei!«

Das Gesicht des Mannes veränderte sich keinen Deut. Vermutlich hatte er in seinem Leben schon ganz andere Überraschungen erlebt.

Wegner machte einen Schritt nach vorne und hielt ihm das Foto des toten Mädchens entgegen. »Schon mal gesehen?«

Die Augen des Mannes verengten sich zu Schlitzen. Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht hole ich lieber mal meine Brille.« Er wartete keine Antwort ab, sondern schob sich durch den Vorhang ins Hinterzimmer. Zwei Atemzüge später stand er wieder hinter seinem Verkaufstresen. Auf der Nase eine winzige Nickelbrille, deren schmutzige Gläser kaum auf eine zufriedenstellende Rückmeldung hoffen ließen.

»Ist die Lütte tot?«, wollte der Mann zuerst wissen.

»Darum geht es doch jetzt gar nicht!«, betonte Wegner Wort für Wort. »Die Frage ist, ob Sie das Mädchen kennen?«

»Noch nie gesehen«, erklang es, wie befürchtet. Das Gesicht des alten Mannes hatte sich verändert.

Um wertvolle Ressourcen zu sparen, verzichtete Wegner auf weitere Worte. Und er hatte sich sogar schon umgedreht, um den Laden wieder zu verlassen, als ihn eine energische Stimme stoppte: »An Ihrer Stelle würde ich es mal bei Alfons probieren ...«

»Wer bitte ist Alfons?«

»Der hat den Kiosk, ein paar Türen weiter.« Der alte Mann lachte und deutete nach links. Sein Gesicht sah aus, als würde er in Erinnerungen schwelgen. »Die Gören stehen jeden Tag nach der Schule Schlange bei ihm. Alles nur für einen Lutscher oder ein paar Gummibärchen.«

7

»Sind Sie sich sicher?« Peter Roth stand mitten im Verkaufsraum einer Bäckerei am Steindamm und schaute die junge Verkäuferin hinter dem Tresen mit offenem Mund an. Er hielt das Foto seiner Nichte ein weiteres Mal empor, um jeden Irrtum auszuschließen. »Ganz sicher?«

»Hundertprozentig!«, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. Die junge Frau drehte sich zu ihrer Kollegin um, schüttelte jetzt allerdings den Kopf. Und weil Peter Roth sie fragend anschaute, lieferte sie eilig die Erklärung: »Gestern hab ich zusammen mit Gabi gearbeitet. Die hat heute frei.«

Roth hatte sich am Tresen entlanggeschoben, bis er an dessen Ende stand. Er gestikulierte aufgeregt, bis die Verkäuferin vor ihm angekommen war. Danach ging es im Flüsterton weiter: »Es handelt sich um meine Nichte, Sarah.«

Die Verkäuferin schaute ihn mit großen Augen an. Ihr Gesicht brüllte die logische Frage heraus.

»Meine Schwester und mein Schwager haben sie adoptiert, deshalb ist sie ...« Peter Roth verstummte und warf erneut einen Blick auf das Foto von Sarah, das in seinen Fingern zitterte. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie wichtig es ist, dass wir sie ...«

»Ist sie verschwunden?« Das Gesicht der jungen Frau sprach eine eindeutige Sprache. Plötzlich schien sie sich an ein weiteres Detail zu erinnern, denn ihre Züge entglitten noch weiter. »Da war ein Mann bei ihr ...«

»Was für ein Mann?«, entfuhr es Peter Roth viel zu laut. An den Stehtischen der Bäckerei wurde es von einem Moment zum anderen still. »Was war das für ein Mann und wie hat er ausgesehen?«, erkundigte sich der besorgte Onkel jetzt nur noch flüsternd.

Die Verkäuferin schüttelte den Kopf. Dabei flogen ihre blonden Locken um ihre Schultern. Am Ende ihrer Überlegungen präsentierte sie ein nüchternes Fazit: »Keine Ahnung, groß war er.« Die Frau hob ihre Hand immer höher. Am Ende stand sie auf den Zehenspitzen, um ihre Schätzung originalgetreu zu präsentieren.

»Sind Sie sich sicher?« Ein anderes Gesicht deutete auf erhebliche Zweifel hin. »Schätze, das wären weit über zwei Meter.«

»Ich hab noch nie einen so großen Kerl gesehen. Ehrenwort!«

Peter Roth atmete schwer. Er versuchte, seine Aufregung zu zügeln. »Dann sagen Sie mir bitte, was mit dem Mann war.«

Die Verkäuferin schaute ihn mit großen Augen an und schüttelte den Kopf. »Die beiden waren zusammen hier, was denn sonst?«

***

Auch dieser Alfons und sein Süßwarenparadies namens ›Kiosk‹ mitten auf dem Altonaer Bahnhof hatten sich als weiterer Fehlschlag erwiesen. Mittlerweile kannte Wegner jedes Geschäft von innen. Sogar am Fahrkartenschalter der Bahn und auf den verschiedenen Gleisen hatte er alle gefragt, die sich von Berufs wegen regelmäßig hier aufhielten. Fehlanzeige! Außer ein paar betretenen Gesichtern und umso mehr neugierigen Fragen hatte die ganze Aktion nichts gebracht. Nullkommanichts!

Wegner hatte sich einen warmen Kakao geholt und stand erneut vor dem Haupteingang. Dort hatten sich zur Mittagszeit in erster Linie Obdachlose versammelt. Die kämpften an Ort und Stelle verzweifelt um ihren Lebensunterhalt. Einer davon, schätzungsweise Mitte fünfzig, graue Haare und passender Bart, schob sich an Wegners Seite und versuchte, ihm ein Gespräch aufzuzwingen: »Auch kein richtiges Zuhause?«

»Wie kommst du denn darauf?« Wegner schaute an sich herunter. Gut, er hatte nicht seine neuesten Jeans an und auch sein Parka erinnerte sich vermutlich besserer Tage. Aber insgesamt ...?

»Brauchst dich nicht zu schämen, Jungchen. Auf der Straße sind wir alle gleich.«

Wegner lachte und klopfte seinem selbst ernannten Lehrer auf die Schulter. »Mir haben sie die Bude angezündet und ich kann von Glück reden, dass ich überhaupt noch lebe. Ich muss nur warten, bis mein Vermieter mit der Renovierung fertig ist.«

»Klar!«, gab der Obdachlose lachend zurück. »Da wart ich auch drauf. Weiß nur noch nicht, ob ich mich für Fliesen oder Parkett entscheiden soll.«

»Willst du eine?« Wegner hielt dem Mann seine Zigarettenschachtel entgegen. »Mehr kann ich dir nicht bieten.« Er zögerte kurz, stellte dann aber doch die nächste Frage: »Hast du auch einen Namen?«

Der Obdachlose nickte, zog seinen rechten Handschuh aus und griff mit zitternden Fingern nach einem der Glimmstängel. Unter seinen Nägeln war der Schmutz der letzten vier Wochen erkennbar. »Erwin!«

Wegner hielt zwar nicht besonders viel von dieser Idee, zog aber trotzdem das Foto des toten Mädchens aus seiner Tasche. »Schon mal gesehen?«

Erwin langte nach dem Bild und betrachtete es eine Weile nachdenklich. Wegner glaubte schon, einen Aha-Effekt im Gesicht des Obdachlosen zu wittern, als der seine Hoffnungen mit nüchterner Stimme zunichtemachte: »Nö ... warum?«

»Lass gut sein!« Wegner hatte sich das Foto geschnappt und ließ es in der ausgebeulten Tasche seines Parkas verschwinden.

»Du läufst doch seit heut Vormittag hier rum«, stellte Erwin mit seltsamem Grinsen fest. »Suchst du schon länger nach dem Mädchen?«

Wegners Gesicht hatte sich auf dramatische Weise verändert. »Schleichst du mir etwa hinterher?«

Erwin schüttelte energisch den Kopf. »Haste sie nicht mehr alle?« Er nahm einen kräftigen Zug von der Zigarette und schnippte den Stummel auf die Treppenstufen vor dem Eingang. »Einer wie du fällt hier eben auf, Jungchen.«

Um klare Fronten zu schaffen, zückte Wegner kurzerhand seinen Dienstausweis und hielt den Erwin direkt unter die Nase.

»Hab ich’s mir doch gedacht – ein Jungbulle.«

Wegner musste lachen. Diesen Ausdruck hatte er für seinesgleichen auch noch nicht gehört. Trotzdem fuhr er mit ernster Stimme fort: »Vor ein paar Minuten hast du mich noch für einen von euch gehalten«, mahnte er den Obdachlosen lachend. »Was denn jetzt?«

Auf eine Antwort verzichtete Erwin. Stattdessen kam er mit der nächsten Frage daher: »Was ist mit der Lütten?« Er deutete auf Wegners Tasche, in der das Foto gerade erst verschwunden war. »Ist sie tot?« Sein Tonfall hatte sich eine Spur verändert. Tote Kinder wirken sich auf jedes Gemüt aus, und sei es noch so rau.

»Mausetot!« Wegner leerte seinen Kakaobecher und ließ seinen Zigarettenstummel hineinfallen. Das kurze Zischen wirkte wie ein Startschuss für weitere Worte: »Wäre möglich, dass sie hier in Altona gelebt hat. Aber es scheint niemanden zu geben, der das Mädchen vermisst.«

Erwins Augenbrauen wanderten nach oben. Jede davon hätte es mit einem strubbeligen Handfeger aufnehmen können. »Also bist du hier, weil du Hilfe brauchst?«

»Hilfe? Wie willst du mir denn helfen?«

Erwin lachte, als würde es sich bei dieser Frage um einen schlechten Scherz handeln. Jetzt deutete er auf seine Kollegen, die fast jede Ecke vor dem Bahnhof in Beschlag genommen hatten. »Hast du eine Ahnung, wie viele von uns alleine in Altona rumlaufen?«

Wegner schüttelte vorsichtig den Kopf. Er wusste, dass die Zahl der Obdachlosen in Hamburg permanent anwuchs. Aber wie viele es genau waren, konnte er natürlich nicht sagen.

»Einige Hundert, manch einer munkelt sogar, es wären schon an die Tausend. Nur hier in Altona!«

»Und?«

»Wenn du ein paar von den Fotos übrig hast, dann finden wir schon heraus, ob die Lütte von hier kommt oder nicht.«

Anstelle einer Antwort fischte Wegner den ganzen Batzen Fotos aus seiner Tasche. Eines davon stopfte er zurück, die anderen neun steckte er in Erwins Hand. Nach einem schweren Atemzug langte Wegner nach seiner Brieftasche. Das Fach für Scheine bot einen erbärmlichen Anblick. »Mehr als einen Zehner kann ich dir erst mal nicht bieten«, erklärte er mit frustrierter Stimme.

»Und selbst den kannste behalten, Jungchen.« Erwin wirkte ehrlich gekränkt. »Falls wir herausfinden, wer die Lütte ist, hab ich einfach nur was gut bei dir ...«

Wegner streckte dem Obdachlosen seine Rechte entgegen. »Und darauf hast du mein Wort, Kollege!«

8

»Was ist eigentlich mit Manfreds neuer Freundin?«, fragte Irmgard. Sie war gerade von der Mittagspause zurückgekehrt und hatte sich hinter Kallsen an ihren Schreibtisch verkrümelt.

»Meinst du die Stripperin?«

»Ich habe nach seiner Freundin gefragt und nicht nach ihrem Beruf«, fauchte Irmgard zurück. »Ich weiß nur, dass ...«

»Hat er dir die Sache von Heiligabend erzählt?« Kallsens Gesicht verriet bereits einiges über den vielleicht nicht ganz so lauschigen gemeinsamen Weihnachtsabend im Hause der Familie Wegner.

»Ich hab versucht, Manfred auszuhorchen, aber er wollte nicht mit der Sprache rausrücken.« Irmgard zögerte einen Moment, fuhr dann aber doch fort: »Ich hab mich nur gewundert, warum er am Mittwoch nach Neujahr mit einem blauen Auge zum Dienst erscheint.«

»Das war sein Bruder«, informierte Kallsen seine Kollegin lachend. »Manni hätte sich wehren können, aber ...«

»Aber was?«

Der Hauptkommissar zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung – hat wohl seiner Mutter wegen drauf verzichtet.«

»Und du?« Irmgards Ton verriet einiges über ihre Vermutungen, was Kallsens Rolle in dieser verrückten Geschichte anging. »Hättest du ihm nicht helfen können?«

»Soll ich mich mit meiner Prothese auf ’nen Faustkampf einlassen?«

»Du berufst dich doch sonst auch nicht auf deinen Status als Krüppel.« Irmgard war auf hundertachtzig. Mindestens. »Du kannst immer nur rummosern. Und wenn es mal hart auf hart kommt, dann ziehst du deinen ...«

Kallsens Hand war emporgeschossen und hatte es geschafft, seine Kollegin rabiat auszubremsen. »Sag mal ... euch geht es hier wohl zu gut. Erst muckt Manni auf und jetzt kommst du genauso daher. Wenn es euch hier nicht gefällt, könnt ihr euch gerne vom Acker machen! Verstanden?«

Das Telefon klingelte und bewahrte Irmgard vor weiteren Attacken. Während Kallsen nach dem Hörer langte, schaffte er es, seinen Kaffeebecher umzuwerfen. Das schwarze Nass ergoss sich über seinen Schreibtisch und sorgte für eine ausgewachsene Katastrophe. »Verdammte Scheiße!«

***

Nachdem er sich von Erwin verabschiedet und dem Obdachlosen seine Nummer hinterlassen hatte, wollte sich Wegner vom Bahnhof Altona in Richtung Elbe aufmachen. Auf dem Weg dorthin gab es genug Kneipen und Geschäfte, in denen er nach dem toten Mädchen fragen könnte. Aber vorher wurde es Zeit, im Büro anzurufen. Vielleicht warteten dort Neuigkeiten.

Endlich hatte Wegner eine funktionierende Telefonzelle gefunden, die sich auch widerwillig mit seinen Groschen anfreunden wollte. Während er die Wählscheibe drehte, betrachtete er die unzähligen Kritzeleien in Augenhöhe. Vor ihm hatte irgendwer ›Fuck jou‹ mit einem spitzen Gegenstand in den grauen Lack geritzt. Dem Kritzler würde ein bisschen Englischunterricht vermutlich nicht schaden.

»Mordkommission, Block.«

Wegner brauchte einen Moment, um den Schock zu verdauen. »Bist du es, Irmie?«

»Heißt hier sonst noch jemand Block?«, fragte die Schreibkraft in mürrischem Ton. »Was ist denn, Manfred?«

»Wo ist Kalle?«

»Eben raus! Hat seinen Kaffeebecher umgeworfen, telefoniert und sich danach aus dem Staub gemacht. Jetzt sitz ich hier mit der ganzen Bescherung.«

»Aber das ist doch sicherlich nur ein Teil der Geschichte, oder?« Wegner lachte vorsichtig. »Du bist noch nie ans Telefon gegangen, Irmie!«

»Warum hast du dich nicht gewehrt?«

Wegner war ein weiteres Mal völlig perplex. »Was heißt hier, gewehrt ... und gegen wen?«

Irmgard zögerte einen Moment und fuhr schwer atmend fort: »Gegen deinen Bruder … Weihnachten.«

»Hat Kalle dir also von unserem katastrophalen Heiligabend erzählt? Ich hätt’s wissen sollen. Er hat mir eigentlich versprochen dichtzuhalten!«

»Und, ist das alles?«

Wegner musste schon wieder lachen. »Hat er dir auch erzählt, dass er seitdem bei meiner Mutter Hausverbot hat?«

»Hab ich’s doch gewusst!« Wegner hörte im Hintergrund ein Klatschen. Das stammte vermutlich von Irmies Hand, die triumphierend auf dem Schreibtisch gelandet war. »Deshalb hat er auch so eine miese Laune.«

»Können wir das bitte später besprechen, Irmie?« Wegners Stimme hatte eine andere Farbe angenommen, klang dienstlich. »Gibt’s irgendwas Neues?«

»Du sollst schnellstmöglich nach St. Georg kommen.« Irmgard murmelte unverständliches Zeug und fluchte leise vor sich hin. »Ich kann Kalles Schrift mal wieder nicht lesen«, stellte sie wütend fest. »Hier steht ein Name. Ich glaube, es heißt ...«

»Peter Roth?«

»Könnte sein.«

»Und wo in St. Georg?« Wegner versuchte, seine Ungeduld zu zügeln, hatte aber seine liebe Not damit. »Sag schon, Irmie ... könnte wichtig sein.«

»Auf jeden Fall Steindamm. Also ... das ist ziemlich sicher. Aber den Rest kann ich nicht entziffern. Beim besten Willen nicht.«

***

Peter Roth war von der Bäckerei am Steindamm bis zum Hauptbahnhof und auf der anderen Seite bis zum Marienkrankenhaus gewandert. Er hatte es am Stehtisch mit Kaffee und Kuchen nicht lange ausgehalten und das Gefühl, jede Sekunde Zögern könnte zu ungeahnten Konsequenzen führen. Aber all die Fragerei hatte nichts gebracht. Das Foto von Sarah war mittlerweile abgegriffen. Von dem Mädchen und ihrem hübschen dunklen Gesicht war darauf immer weniger zu erkennen. Fest stand: Außer der Verkäuferin hatte niemand Sarah gesehen. Ein Fazit, wie es trauriger nicht hätte sein können.

Irgendwann – ihm war kalt und er hatte ein regelrechtes Loch im Bauch – war er in die Bäckerei zurückgekehrt und stand dort erneut an einem der Tische.

Wo blieb nur dieser Wegner? Vielleicht war der Kerl doch nicht so engagiert, wie es auf den ersten Blick schien.

Die junge Verkäuferin aus der Frühschicht stand ihm plötzlich gegenüber. Sie trug keine Schürze mehr, dafür aber eine Jacke, was auf Feierabend hindeutete. »Haben Sie irgendwo noch was herausgefunden?«

Peter Roth schüttelte träge den Kopf. Tatsächlich fehlte ihm sogar die Kraft für eine richtige Antwort.

»Wenn Sie mir ein paar Fotos bringen, kann ich die in den Geschäften rundherum verteilen.« Die junge Frau klang gequält und sah auch genauso aus. »Ich hab eine Schwester, die ist auch elf.«

Roth streckte seine Hand aus. Mehr als ein einzelnes Wort brachte er nicht zustande: »Danke.«